Über die Autorin
Sabine Weiß, 1968 geboren in Hamburg, war nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin tätig. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem fünf weitere folgten. Für Die Tochter des Fechtmeisters tauschte die Autorin Schreib- gegen Stahlfeder – und wurde mit Muskelkater und tieferen Einsichten über die Fechtkunst belohnt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide.
Sabine Weiß
Die Tochter des
Fechtmeisters
HISTORISCHER ROMAN
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg
Titelillustration: Johannes Wiebel | punchdesign, München,
unter Verwendung von Motiven von © shutterstock /DarkBird;
shutterstock /rticknor; © akg-images
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3058-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Erschrickst du gerne, das Fechten nimmer lerne.
Fechtbuch von Johannes Liechtenauer
ROSTOCK
Clarissa Nykrantz, Tochter des Fechtmeisters
Fritjoff und Lievke Nykrantz, Fechtmeister und seine Frau, Clarissas Eltern
Alf, Knecht
Hilde, Magd
Carl, Fritjoffs Bruder
Barbara, Bierbrauerin und Clarissas Freundin
Bernhard, Barbaras Mann und Rechtsgelehrter
Diethard von Reipenstein, Student
Gerold Grammig, Meister der Federfechter
GANZEKENDORP
Benedicta, Carls und Fritjoffs Mutter
Wutzow, Großbauer
SCHWERIN
Meister Thies, Messerschmied
Joachim Meyer, Fechtmeister*
Jodocus Thies, Messerschmied
Thekla, seine Frau
Maria, seine Schwester
FRANKFURT AM MAIN
Paulus, Christoff Rösener*, Levin und Gerd, Fechtmeister der Marxbrüder
Benjamin und Ezra, Fechtschüler aus Prag
Irmel, Paulus’ Frau
Salvator Fabris, Fechtmeister*
Rudolf Eisenhut, genannt Capo Ferro, Fechtmeister*
Gaukler
Leander Marvig, Klopffechter
Gallus Marvig, Baumeister und Klopffechter
Engelin, Gallus’ Geliebte, Seiltänzerin
Sixt, Klopffechter
Caspar, Feuerschlucker
Freihart, Grimassenschneider
Ursel, Wahrsagerin
PRAG
Arkadi, Spielmann
Donna Felicitas, jüdische Geschäftsfrau
David, ihr Sohn
Jaro, ihr Gehilfe
Rudolf II., Kaiser*
WIEN
Erzherzog Matthias*, Bruder des Kaisers
Dorle, Hure
Heinrich Julius, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg*
PASSAU
Erzherzog Leopold, Bischof von Passau*
Seraphim, Jesuitenpater
Jan, Novize
NÜRNBERG
Ambrosius, Leanders Kindheitsfreund und Bruder der tödlich verunglückten Ninchen
Grietgen, seine Frau
Meister Thomas, Baumeister
* Historisch verbürgte Persönlichkeiten
Ganzekendorp, nördliches Mecklenburg, Sommer 1566
Hüfthoch steckte der Mann im Erdloch. Obgleich er halb bewegungslos war, fürchtete sich der Junge vor ihm. In dem wutverzerrten Gesicht des Mannes bleckten die Lippen wundrot. Der dichte Bart gab die Zähne frei, als wären es Reißer, wie die Wölfe sie hatten, die ständig ums Dorf strichen. Noch mehr schüchterte den Jungen der Streitkolben ein. Es war eine scharfkantige, schwere Waffe, aber der Mann schwang sie über dem Kopf, als wöge sie nichts. Die Mutter des Jungen war dagegen nur mit einem Feldstein bewaffnet. Der Fünfjährige streckte die Arme nach ihr aus, doch sein großer Bruder hielt ihn fest. Die Frau wickelte sich das Ende ihres Tuchs um die Hand. In die Mitte hatte sie den Stein gebunden, ein Band sollte ihn an seinem Platz halten. Die Waffe wirkte wie ein Spielzeug auf den Jungen – lachhaft, verglichen mit dem gewaltigen Streitkolben.
Seine Mutter richtete sich auf. Würde sie zu ihnen kommen? Er wünschte es sich so sehr! Leinenwäsche spannte um ihren Leib, deutlich zeichnete sich ihr Körper darunter ab. Die mageren Arme und Beine, die weichen Brüste, an die er sich so gerne schmiegte. Ihre Haare waren von einer Haube bedeckt. Sie blickte ihren Gegner an, stolz trotz ihrer Notlage und ihres unschicklichen Aussehens. Der Junge liebte und bewunderte sie mehr denn je. Den Streitkolben senkend lachte ihr Gegner sie aus. Wutzow war der reichste Mann im Dorf, ein Großbauer, dem alle nur mit zu Boden gerichtetem Blick begegneten.
Am Rande der Lichtung johlten die Zuschauer. Der Junge erkannte die Dorfbewohner kaum wieder. Keiner von ihnen hatte für ihre Mutter eintreten wollen. Sein Bruder mit seinen zehn Jahren und er waren hingegen noch zu jung, um sie zu verteidigen. Das Kind ballte die Fäuste. Er würde für sie kämpfen, wenn er dürfte. Warum war er noch nicht groß?
Noch immer redeten der Dorfvorsteher und der Pfarrer. Bange wandte sich der Junge seinem Bruder zu. »Vielleicht lassen sie Mutter doch gehen?«
Das Scheppern des Schwerts auf einem Schild zerschlug seine Hoffnungen. So ungestüm drängten die Dörfler nach diesem Signal heran, dass sie von den Bütteln zurückgehalten werden mussten.
»Nein, das glaube ich nicht. Gott steh uns bei.« Sein Bruder sank auf die Knie. Der Blick des Jungen verschwamm. Obgleich er sich auf die Lippen biss, konnte er die Tränen nicht zurückhalten.
Nun trat der Dorfvorsteher in den Kreis und forderte die Zuschauer zur Ruhe auf. Er wartete, bis nur noch das Scharren der Füße auf dem staubigen Boden und vereinzeltes Hüsteln zu hören war. Dann führte er die Regeln des Kampfes auf. Es war ein Wortschwall, den der Junge kaum verstand. Eines aber begriff er: Gott führte die Waffen der Kämpfenden. Und Gott würde demjenigen zum Sieg verhelfen, der im Recht war.
Ein himmelblauer Schmetterling fing den Blick des Jungen ein. Wie schön er war! Halb tanzend flatterte er an der Menge entlang. Als ein Mädchen ihn einzufangen versuchte, konnte der Falter im letzten Augenblick entkommen.
Der Pfarrer sprach ein Gebet. Die Stimme seines Bruders im Ohr, öffnete der Junge den Mund, um ebenfalls zu beten, doch ihm fiel kein einziges Wort mehr ein. Die Angst vertrieb jeden klaren Gedanken. Jetzt wurde gesungen. In Gottes Namen fahren wir … Der Fünfjährige hob den Blick und sah in das lächelnde Gesicht seiner Mutter. Tapfer wischte er sich den Rotz von der Nase.
Kaum war das Lied verklungen, begann Großbauer Wutzow zu brüllen. Der Streitkolben pfiff durch die Luft. Die Mutter hob den Stein in ihrer Schlinge. Sie schwang ihn hin und her, bis er gleichmäßig kreiste. Ihr zarter Körper wurde mitgerissen wie ein Schilfrohr im Wind. Wie viel Kraft musste sie diese Bewegung kosten! Dann schlug sie zu. Der Junge schnappte nach Luft. Dumpf knallte der Stein in die Erde. Der Mann konterte. Nur knapp verfehlte der Kolben die Schulter der Mutter. Einen tiefen Krater hinterließ er in der Erde. Sie sprang zurück. Die Zuschauer juchzten, manche buhten auch. Erneut hob sie den Stein, kreiselte ihn und tänzelte um die Grube. Immer wieder schlug der Großbauer nach ihr, aber sie war außer Reichweite. Abrupt sprang sie vor. Der Stein sauste hinab und fuhr haarscharf an der Brust des Mannes vorbei. Ihr Tuch hatte sich um seine Streithand gewickelt. Geschickt versuchte sie, ihrem Gegner den Kolben zu entwinden. Gleichzeitig zog und zerrte der Mann an dem Band. Mit einem Ruck riss Wutzow sie auf die Grube zu. Einige Dorfbewohner zischten erregt. Der Junge umkrallte die Hand seines Bruders. Dieser hielt die Augen zusammengekniffen und murmelte ein Gebet. Die Mutter lag auf der Erde und rang verbissen mit ihrem Gegner. Der Junge konnte ihr schweres Atmen hören, sah die dunklen Flecken, die sich unter ihren Achseln ausbreiteten, den Schweiß auf ihrer Stirn. Die linke Hand des Mannes packte sie am Nacken, die rechte drehte den Streitkolben ihrem Leib entgegen. Sie wand sich, aber ihr Gegner war stärker.
»Mutter!« Der Angstschrei des Jungen wurde von den blökenden Schaulustigen übertönt.
Mit einem Ruck befreite sie sich aus dem Klammergriff und sprang den Mann an, packte seinen Hals. Knallrot schwoll dessen Gesicht an. Jetzt hatte sie ihn! Da buckelte Wutzow und warf sie halb herum. Sie strampelte mit den Beinen, wollte Abstand gewinnen. Das Band hatte sich im Ringen von seiner Streithand gelöst. Taumelnd kam sie auf die Füße, den Feldstein hinter sich herschleifend. In diesem Moment holte der Mann mit dem Streitkolben aus und traf sie zwischen den Beinen. Sie klappte zusammen. Leinen riss, Blut strömte. Die Hände vor das tränennasse Gesicht geschlagen, hörte der Junge das Stöhnen der Mutter. Er zwang die Finger auseinander und sah, wie sie sich etwas entfernt von der Grube sammelte. Zitternd tasteten ihre Finger nach den Wunden an Oberschenkel und Gesäß. Da war der Schmetterling wieder. Dicht flatterte er über die Erde.
»Maak se doot!«, forderte ein Mann aus der Menge den Tod der Mutter.
Der Junge wollte zu seiner Mutter laufen, aber eine Hand packte ihn an der Schulter. Die Nachbarin.
»Las dat. Du bis doch plietsch. Die geiht to’n Deuwel.«
Der Junge schluchzte. Der Großbauer tat seiner Mutter weh. Er musste ihr doch helfen!
Erneut wollte seine Mutter den Stein schwingen, brachte ihn aber kaum noch hoch. Schwerfällig ging sie auf ihren Gegner zu. Sie holte aus, täuschte an und verletzte ihn am Kopf. Gleichzeitig schwang der Mann den Streitkolben. Hart traf er ihre Seite. Sie ging in die Knie. Das Gesicht des Bauern war schmerzverzerrt und blutig. Wutzow drehte den Kolben und zog sie zu sich heran. Als er nahe genug war, riss er den Streitkolben aus ihrem Fleisch. Noch einmal schlug er zu. Sie fiel. Triumphierend zerrte er sie mit seiner Waffe in die Grube. Gott hatte den Kampf zu seinen Gunsten entschieden.
Wien, April 1606
Mit angehaltenem Atem legte sie das Ohr an die Tapetentür. Noch war es still. Hoffentlich hatte niemand sie gesehen! In der Wiener Hofburg wimmelte es nur so von Bediensteten, ein Zustand, den Dorle in den letzten Wochen schätzen gelernt hatte. Sie fühlte sich selbst schon wie eine Prinzessin! Umso dümmer war es von ihr, ins Zimmer des Leibkammerdieners einzudringen. Ohne ein Risiko einzugehen, wäre Dorle allerdings niemals dort gelandet, wo sie jetzt war. Und dem Statthalter Österreichs schien es gerade zu gefallen, dass sie nicht so zimperlich war wie die Damen bei Hofe.
Schritte. Verhaltene Männerstimmen.
Würde sie wirklich etwas mitbekommen? Hoffentlich ging es nicht nur um langweilige Jagdgeschichten! Andererseits hatte Matthias sehr geheimnisvoll getan, was dieses Treffen anging. Vorhin, im Bett, hatte er bedeutungsschwanger verkündet, dass dieser Abend alles verändern könne. Während Dorle sich auf ihm abmühte, hatte er von seinen Verhandlungserfolgen mit den Ungarn und den Türken schwadroniert. Auch sein Bruder, der Kaiser, würde nicht umhinkommen, seine Leistungen zu würdigen, hatte er gesagt. Es war sein Lieblingsthema, und sie hatte allerlei Kniffe anwenden müssen, damit er sich ihr voll und ganz widmete. Ohnehin versagten seine Kräfte schnell, vor allem, wenn er, wie so oft, dem Wein zu stark zugesprochen hatte. Aber trotz ihrer jungen Jahre hatte sie einige Fertigkeiten, die Eheweiber ihren Männern nicht bieten konnten. Und damit brachte sie auch Matthias in Wallung. Am Ende hatte er sie bedauernd zurückgelassen; so sollte es sein. Dorle würde sich eilen müssen, um nach der Besprechung in die Schlafkammer zurückzukehren. Er würde keine Zeit verlieren, um ihr Liebesspiel fortzusetzen.
Geistesabwesend rieb sie über ihren gänsehautprickelnden Körper. Abgesehen von den gut beheizten Räumen der Herrschaften war es kalt und zugig in der Hofburg. Zudem trug sie das dünne Kleid, das der Erzherzog ihr geschenkt hatte und das ihm wegen seiner Schlitze so gut gefiel.
Dorle erstarrte. Vier Stimmen, nein fünf. Und da – das kriecherische Säuseln des Leibkammerdieners! Was, wenn er durch die Tapetentür treten würde? Aber nur ruhig. Matthias hatte gesagt, das Treffen sei so geheim, dass nicht einmal Diener in der Nähe geduldet würden.
»… die Verhandlungen auf einem guten Wege sind. Der Vertrag mit den Türken ist dank meines Geschicks so gut wie geschlossen.«
Erzherzog Matthias’ selbstgefällig vorgetragene Rede verklang. Tatsächlich ächzte das Habsburgerreich schon seit mehr als zehn Jahren unter den Kosten des zähen Türkenkrieges. Dass der Krieg nun mit einem Ausgleich statt mit einem Sieg enden sollte, verbitterte vor allem jene, die ihre Ehemänner und Söhne an der Grenze des Osmanischen Reiches verloren hatten.
»Wir werden allerdings nicht umhinkommen, den Ungarn Zugeständnisse zu machen«, fuhr Matthias fort. Eine weitere Stimme. Dorle kniff die Augen zusammen, um sich ganz aufs Lauschen zu konzentrieren. Wer war das? Kannte sie den Mann?
»Ja, mein ehrenwerter Ferdinand, ich weiß, es ist eine Zumutung. Ihr habt in Graz für unseren Glauben Großes geleistet. Aber in diesem Fall wird uns nichts anderes übrig bleiben. Wir werden den Protestanten schon noch früh genug die Ohren lang ziehen!«, verkündete Matthias.
Aha, Ferdinand – der Vetter des Kaisers. Erzherzog von Innerösterreich. Was Matthias als Großtat bezeichnete, war die Vertreibung Hunderter Protestanten, die Schließung evangelischer Kirchen und die Verbrennung lutherischer Bücher, das wusste selbst sie, die sich ansonsten aus Glaubensfragen heraushielt. Religion brachte nur Streit. Und sie musste schon genug kämpfen, um ihre eigene Zukunft zu sichern.
Ihre Ohrmuschel pulsierte von dem Druck gegen die Tür. Sie vernahm einen weiteren Mann, doch Dorle konnte sein Murmeln nicht verstehen. Vermutlich saß er im Gegensatz zu Matthias weiter von ihr entfernt.
»… stimme ich Euch voll und ganz zu, Exzellenz …«, antwortete Matthias seinem Gegenüber.
Er musste Melchior Klesl meinen, den Bischof von Wien. Matthias vertraute ihm. Nein, viel mehr: Er war froh, dass Klesl ihm den mühseligen Schreibkram und einen Großteil des politischen Strippenziehens abnahm. Klesl, Sohn eines Bäckers und früherer Protestant, war von den Jesuiten zum katholischen Glauben bekehrt worden und galt auf der Straße als gewiefte Ketzergeißel.
Sie wärmte ihre Brüste mit den Händen. Die kalte Haut schmerzte schon.
»Weshalb habt Ihr uns denn nun hierherbestellt? Wichtige Ordensgeschäfte warten auf mich.« Noch jemand. Gemessene Sprechweise, harter Tonfall. Ein weiterer Pfaffe?
»Nur die Ruhe, verehrter Maximilian.«
Sie lächelte. Ihr Liebhaber machte es ihr leicht: Erzherzog Maximilian, ein weiterer Kaiserbruder. Hochmeister des Deutschen Ordens und Statthalter von Tirol. Nur die Erzherzöge Albrecht und Leopold schienen zu fehlen, ansonsten war der engste männliche Familienkreis komplett. Tatsächlich eine illustre Runde.
Nachdem sie Matthias’ Gunst erlangt hatte, war sie eilends darangegangen, sich mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Casa d’Austria vertraut zu machen, doch noch immer hatte sie nicht ganz durchschaut, wer mit wem paktierte. Sie kannte nur einen, der das komplizierte Machtgeflecht bei Hof durchschaute, und sie konnte sich glücklich schätzen, dass dieser hohe Herr ihr Vertrauen schenkte.
Matthias räusperte sich, dann senkte er die Stimme. Nun verstand sie nur noch einzelne Wörter. Es schien um den Kaiser zu gehen. Von »Verzagtheit« war die Rede, von »Desinteresse« und von »Geistesblödigkeit«. Meinte er etwa, dass Kaiser Rudolf verrückt war?
»So kann es nicht weitergehen. Ich habe bewiesen, dass ich fähig bin zu regieren«, verkündete Matthias.
»… Niederlanden?«
»Ich verbitte mir das, Maximilian Ernst! Das ist Geschichte!«, brauste Matthias auf.
Es war also noch ein Habsburger anwesend. Ein Vetter, glaubte sie zumindest. Maximilian Ernst war ein kleines Licht. Dennoch: Sein Einwand musste einen wunden Punkt bei Matthias getroffen haben. Sie würde sich nach dieser Geschichte um die Niederlande erkundigen. Vielleicht konnte sie die Information zu ihrem Vorteil nutzen.
Leise schlugen Dorles Zähne aufeinander. Ihre Füße kribbelten. Seit dem vorletzten Winter waren zwei ihrer Zehen taub, und sie konnte Kälte nur schwer ertragen. Lange würde sie hier nicht mehr ausharren. Und wie sollte sie später im Bett Matthias ihren Zustand erklären? Er war zwar eitel, aber nicht dumm.
»Als ältester der Erzherzöge bin ich bereit, Verantwortung zu übernehmen.«
»… Thronfolger. Mein Sohn …«, hörte sie Ferdinand einwenden.
»Natürlich werde ich die Heiratsverhandlungen entschlossen vorantreiben«, fiel Matthias ihm ins Wort. »Nachkommen werden nicht auf sich warten lassen. Ich bin noch jung genug …«,
Jung, nun ja, beinahe fünfzig war ihr Geliebter, und er scheute bekanntermaßen die Ehe wie der Teufel das Weihwasser. Erzherzog Ferdinand hatte einen Sohn, erinnerte sie sich jetzt. Doch genau wie Erzherzog Matthias war auch Kaiser Rudolf noch immer unverheiratet, ein unziemlicher Zustand, wie halb Österreich fand, weil die Thronfolge ungesichert war. Sie begann um ihre Zukunft zu bangen. Was würde mit ihr geschehen, wenn Matthias heiratete? Müsste sie auf die Straße zurück? Das wollte sie auf keinen Fall! Sie musste sich Matthias unentbehrlich machen. Noch nie hatte sie so gut gelebt wie als Geliebte des Erzherzogs. Vielleicht konnte er ja auch Kaiser werden, ohne zu heiraten. Sein Bruder machte es ihm doch vor. Es hieß, dass Kaiser Rudolf mit seinen verschiedenen Geliebten mehrere Kinder hatte. Wenn auch Matthias an ihr festhielte … Schon malte sie sich in schillerndsten Farben Gewänder, Kutschen und Schmuck aus. Warum sollte es ihr nicht gelingen, nach ganz oben zu kommen?
Matthias klang entschlossen: »Wir müssen unsere Bruder- und Vetternliebe vergessen und im Dienste des Reiches handeln. Rudolf muss Einhalt geboten werden. Er ist regierungsunfähig, das steht fest. Schon lange hätte er einen Nachfolger ernennen müssen. Aber er hat nur Alchemie im Kopf, Sternenkunde und die schönen Künste. In seinem Prager Schloss hat Rudolf sich verschanzt. Das allein ist doch schon ein Zeichen seiner Geistesblödigkeit – unser schönes Wien zu verschmähen! Es ist unverantwortlich, so einen an der Spitze des Staates zu belassen, wenn man die politischen Querelen in Ungarn und den Krieg mit den Türken bedenkt. Im ganzen Reich drohen die Protestanten, die Führung zu übernehmen. Im Norden sind weite Landstriche vollständig in protestantischen Händen. Sogar in den Erblanden kommen wir kaum noch gegen sie an. Es muss etwas getan werden, und zwar schnell!«
Einwände und Zustimmung brandeten auf. Erzherzog Matthias und Bischof Klesl dirigierten geschickt das Gespräch. Nach einer Weile schienen die Kritiker überzeugt. Der habsburgische Familienrat beschloss Rudolfs Absetzung und erkannte Matthias als Oberhaupt an. Beim spanischen König, dem Papst und anderen Fürsten wollten die Erzherzöge um Unterstützung nachsuchen – im Geheimen, verstand sich, denn schließlich planten sie ja nichts Geringeres als einen Sturz des Kaisers.
Dorle konnte ihr Zittern nicht mehr kontrollieren. Schnell unter die Federdecken und den Leib aufwärmen, bevor der Erzherzog zurückkam! Vorsichtig löste sie ihr Ohr von der Tapetentür und rieb die schmerzende Haut. Doch es war nicht nur die Kälte, die ihr zusetzte, es war auch das Gehörte.
Seine eigenen Brüder und Vettern wollten den Kaiser loswerden. Familienzusammenhalt schien keine Bedeutung für diese Männer zu haben. Dabei war Familie doch das Wichtigste, was man hatte! Sie, die als Waise aufgewachsen war, wusste das besser als jeder andere. Noch ein letztes Mal legte sie das Ohr an die Tür.
»… wenn nötig, mit Gewalt.« Dorle zuckte zurück. Würden seine engsten Verwandten Kaiser Rudolf tatsächlich etwas antun?
Rostock, Mecklenburg, August 1608
Der Kaufmann hieß den Knecht seinen Karren beiseitelenken, eine Patrizierin wechselte die Seite, selbst ein Ratsmann machte ihnen Platz, als sie forsch durch Rostocks Straßen schritten. Marius spürte das Wippen des Degens an seiner Seite, die bewundernden Blicke der Frauen auf seiner einnehmenden Gestalt und seinen Waffenbruder Alexander neben sich. Er fühlte sich unbesiegbar. Sogar Clarissa hatte ihn vorhin bewundernd angesehen. Sein neuer Radmantel aus tiefblauem Samt harmonierte aber auch ausgezeichnet mit seinen hellblauen Augen und seinem schulterlangen Blondschopf. Clarissa. Noch einmal spürte er den Gefühlen nach, die dieser Name in ihm auslöste. Die Tochter seines Fechtmeisters hatte ihn gleich fasziniert. Mit ihrer schwarzen Mähne, den tiefblauen Augen, ihrer vornehmen Blässe und den vollen Lippen strahlte sie eine Mischung aus Unnahbarkeit und Sinnlichkeit aus, die ihn ungeheuer reizte. Äußerlich würde sie einen hübschen Kontrast zu ihm abgeben. Und natürlich wäre sie eine gute Partie. Aber in den vier Wochen, in denen sie nun schon unter einem Dach lebten, hatte sie stets züchtigen Abstand zu ihm gehalten. Schon öfter hatte Marius versucht, sie allein abzupassen, aber stets war jemand dazwischengeplatzt. Heute musste es sein! Heute musste er herausfinden, ob sie ebenfalls etwas für ihn empfand! Schließlich würden sie bald getrennt.
Wenn ihm nur sein Freund und Waffenbruder nicht in die Quere kam! Alexander, dieser Schwerenöter. Schon oft hatten sie um die Gunst einer Frau konkurriert. Mal hatte der eine obsiegt, mal der andere. Es war Geschmackssache: Alexander war ein muskulöser, übergroßer Mann. Stets perfekt in Auftreten und Haltung, hatte er etwas von einer gespannten Armbrust. Bart und Haare glänzten tiefbraun, und er war ein geschätzter, weil großzügiger Kunde bei den Bartscherern der Stadt. Auch jetzt umgab ihn der feine Duft von Seife, wie Marius feststellte. Im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht war Alexander geradlinig und ließ nichts anbrennen. Im Gegensatz zu Alexander betrachtete Marius sich als geschmeidig, charmant und gefällig. Glücklicherweise hatte sein Freund bislang kein Interesse an Clarissa gezeigt. Es gab allerdings auch so genügend Frauen, die ihm schöne Augen machten. Mit Alexander wurde es in dieser Hinsicht nie langweilig.
Sie hatten die Workrenterstraße und den Hafenbezirk hinter sich gelassen, in dem sich das Haus des Fechtmeisters befand. Inzwischen schritten sie an der Marienkirche vorbei auf den Neuen Markt zu. Zufrieden nahm Marius die Szenerie in sich auf. Seine Zeit in Rostock hatte seinem Leben eine neue Richtung gegeben. Von Anfang an hatte die alte Hanse- und Fürstenstadt ihn beeindruckt. Diese Fülle sattroter Giebelhäuser aus Backstein, die sich am Ufer der Unterwarnow ausbreiteten! Die unzähligen Kaufmannsläden und Braustuben! Die Vielfalt von Sprachen und Menschen! Rostock war eine quirlige Stadt. Schiffe aus dem gesamten Ostseeraum und darüber hinaus liefen den Hafen an. Auf den Straßen mischten sich Seeleute und Studenten aus verschiedensten Ländern mit den Einheimischen. Vor allem Holländisch und Brabantisch waren allerorten zu hören. Aber auch Schweden, Dänen und Norweger suchten die Hauptstadt des Landes Mecklenburg häufig auf, sogar Finnen und Isländer gab es hier. Viele schrieben sich an der Universität Rostock ein. Die Alma Mater Rostochiensis war die erste Universität im Ostseeraum gewesen und eine der ältesten und größten im ganzen Norden, was in Rostock gerne betont wurde.
Marius lüftete mit dem Zeigefinger die kleine Halskrause. Es war heiß, aber förmliche Kleidung war unabdingbar. Sie durften ihren Meister zu einem ganz besonderen Fest begleiten. Eine Doktorpromotion und Hochzeit auf einen Schlag, das kam nicht so oft vor. Es war ein feierlicher Abschluss ihrer Zeit in Rostock, dachte Marius. Hierhergekommen war er als einfacher Kürschner-Geselle aus dem mecklenburgischen Güstrow. Nun war er bald ein Meister des Schwerts. Er würde eine gehobene Stellung erringen, und niemand würde ihm mehr respektlos begegnen.
»Mach Platz da, du Schelm!«
Die Schulter des Entgegenkommenden rammte ihn. Marius wankte. Wer wagte es? Er griff nach seinem Degenknauf. Ein Pausbäckiger, ein Hagerer und ein Stämmiger bauten sich vor ihnen auf. Alle drei hatten sie die Hand am Degen. Diese Geste allein rechtfertigte schon einen Kampf! Es waren Studenten der Universität Rostock. Bestickte Wappen an den kurzen Überröcken, die sie zu Wams und Strumpfhosen trugen, wiesen sie als Adelige aus. Er hatte sie zu spät gesehen, gerade erst waren sie aus der Gasse gebogen.
Alexander stürzte vor. Oft suchten Studenten Streit mit Bürgern und Handwerkern. Gerade Adelige waren auf Ehrenhändel aus.
»Ihr Herren lasst es an Respekt mangeln«, sagte Alexander laut.
Der Pausbäckige schnaubte verächtlich. »Sagt einer, dem die Ehre versagt werden müsste, einen Degen zu tragen!«
»Ich verstehe gut, dass es Euch schwerfällt zu begreifen, dass Eure Zeit abgelaufen ist«, sagte Alexander maliziös lächelnd.
Eine alte Frau drängte sich mit ihrem Karren beinahe an die Häuserwand, um vorbei zu sein, bevor die Klingen gekreuzt wurden.
Der Hagere neigte sich zu seinen Kommilitonen. »Wie meint er das?«
»Ich meine, dass der Adel sich selbst zugrunde gerichtet hat, wie man ja an Euch sieht«, sagte Alexander laut, als wäre sein Gegenüber nicht nur begriffsstutzig, sondern auch taub.
»Du …« Zischend wurde der Stahl aus der Scheide gerissen.
Alexanders Körper spannte sich.
Marius’ Knie waren hingegen weich. Er hatte sich noch immer nicht an derartige Herausforderungen gewöhnt. Beschwichtigend legte er die Hand auf den Arm seines Waffenbruders. »Lass gut sein. Warum sollten wir wegen dieser Dummköpfe unsere Meisterprüfung gefährden?«, mahnte er leise.
Doch Alexander ignorierte ihn. Über seinen katzenfellglatten Bart streichend, lachte er seinen Herausforderer an. »Nur zu! Wenn Ihr Glück habt, finden sich bald Büttel ein, die Euch zur Strafe in den Finkenbauer oder den Karzer werfen. Ansonsten könnte diese Unverschämtheit auch Euer Leben kosten.«
Jahrelang war Studenten das Waffentragen verboten gewesen. Seit aber immer mehr Adelige auf die Universität drängten, verbreiteten sich die höfischen Sitten wieder. Inzwischen war es Studenten erlaubt, nachts einen Degen zu tragen, sofern gleichzeitig eine Laterne mitgeführt wurde. Diese Einschränkung wurde aber wenig beachtet, obgleich Raufhändel streng geahndet wurden.
Aus den Läden traten erste Schaulustige. Der Kampf würde sich schnell herumsprechen.
»Ein Ehrenkampf ist unausweichlich. Nenn mir Stunde und Ort für unseren Zweikampf!«
»Wir sind zu einer Festivität geladen. Seht uns also nach, dass wir für Raufereien keine Zeit haben.«
»Wir sind auch zu einem Fest eingeladen.«
Marius schwante, dass sie das gleiche Fest meinen könnten, auch wenn sie jetzt noch in unterschiedlichen Richtungen unterwegs waren. »Was für ein Zufall! Lasst uns also den Frieden wahren«, warf er dazwischen.
Aber es war zu spät.
Der Stahl fuhr in die Scheide zurück.
»Mitternacht im Rosengarten«, forderte der Pausbäckige leise.
Alexander neigte das Haupt. »Es wird mir ein Vergnügen sein.«
Weit ausholend schritt Alexander weiter. Marius folgte ihm eilig.
»Bist du verrückt, dich auf eine Herausforderung einzulassen?«, flüsterte er und ärgerte sich darüber, dass seine Stimme bebte. »Morgen reisen wir gen Frankfurt ab! Willst du alles riskieren, was wir erreicht haben, nur um ein paar dummerhaftige Adelige zu maßregeln?«
Bei der großen Fechtschule der Bruderschaft Sankt Marx, dem Turnier, das alljährlich zur Herbstmesse am Main stattfand, würden sie in wenigen Wochen ihr Können unter Beweis stellen. Wenn es ihnen gelänge, sich vor den vier Hauptleuten der Fechtbruderschaft zu behaupten, würden sie zu Meistern des Schwerts ernannt. Danach folgte nur noch die Probezeit von zwei Jahren, in denen sie sich nichts zuschulden kommen lassen durften, und danach könnten sie selbst Schüler ausbilden. Ein einträgliches Geschäft.
Beinahe mitleidig lächelte Alexander ihn an. Seine Halsmuskeln spielten dabei. »Du bist mein Waffenbruder und mir lieb und teuer – aber du bist ein solcher Feigling!«
Alexander wich einem Mann aus, der das Pflaster mit Wasser aus den hölzernen Leitungen besprühte, damit es nicht so staubte. Dabei hatte das Jahr nass angefangen, hatte ihr Meister erzählt. Im Februar war das Hochwasser bis an das Mönchtor gestiegen. Der Sommer war kühl und feucht gewesen, gerade erst waren die Wolken gewichen. Jetzt brannte die Sonne allerdings so unbarmherzig, als wollte sie Versäumtes aufholen.
Aus den Brauereien zog der süßliche Duft von Getreide. Ein kühles Bier wäre jetzt genau das Richtige, dachte Marius sehnsüchtig. Er hatte in Rostock so manchen Humpen geleert. Aber selbst wenn er jeden Tag ein anderes probiert hätte, hätte er es nicht geschafft, alle Rostocker Biere zu kosten, schließlich fand sich in etwa jedem dritten Haus eine Brauerei. Ans Kniesenack, das Gersten-Starkbier aus seiner Heimat Güstrow, kam aber kaum eines der Biere heran, fand er.
»Ich bin kein Feigling! Ich bin nur vernünftig. Du weißt, dass der Rostocker Rat hart gegen derartige Kämpfe vorgeht.«
Sie passierten das Rathaus und bogen in die Wasserstraße ein. Zu ihrer Linken prangte ein prächtiges Giebelhaus mit glasierten Ziegeln und aufwendigem Figurenschmuck. Nun ging es bergab; Rostock war auf mehreren Hügeln erbaut, zwischen denen Flussarme und wasserreiche Gruben lagen.
»Es ist unser letzter Abend! Wer will uns was, wenn wir erst mal weg sind? Wir dürfen uns nur nicht erwischen lassen«, sagte Alexander.
Marius legte theatralisch eine Hand auf die Brust. Da er durch die Fechtausbildung derzeit nicht mit der Verarbeitung von Fellen beschäftigt war, hatten sich die Entzündungen an seinen Fingern beruhigt, sodass er sich nicht mehr für ihren Anblick schämen musste.
»Wir? Ich werde auf keinen Fall zum Rosengarten gehen. Die Nachtwächter haben die Plätze um den Wall im Blick – so oft, wie dort Kämpfe stattfinden!« Er tätschelte Alexanders Schulter. »Nein, ich werde unseren Abschied gebührend feiern.«
Alexander lachte so laut, dass sich die Frauen, die auf dem Neuen Markt beim Garbrater anstanden, nach ihnen umdrehten. Es roch gut, sodass Marius das Wasser im Mund zusammenlief.
»Und der einen oder anderen Jungfrau das Herz brechen? Bei Hochzeiten sind die Jungfern ja immer besonders aufgeschlossen.«
Sie liebten nun mal die Frauen. Ihr Fechtmeister tolerierte ihre Eskapaden, denn Fritjoff war den Freuden des Leibes ebenfalls nicht abgeneigt. Regelmäßig waren die Schüler unfreiwillig Zeugen der Ehedramen in seinem Haus geworden. Wenn Fritjoff nach fremdem Duftwasser riechend nach Hause kam, machte ihm seine Frau stets die Hölle heiß. Sie schrie und weinte und zog sich dann schmollend zurück. Wenn Fritjoff ihr folgte, gelang es ihm allerdings schnell, sie zu besänftigen – bis zum nächsten Mal.
Marius erinnerte sich an einen Abend, an dem sich Fritjoff und seine Frau in ihrer Kammer gestritten hatten. Clarissa hatte, wie so oft, Laute gespielt, doch die Trauer auf ihrem Gesicht war nicht zu übersehen gewesen. Also hatte er versucht, sie mit einer Partie Tric-Trac abzulenken, was ihm auch gelungen war. Sie war ihm gewogen, das spürte er. Leider hatte die Magd ihnen Gesellschaft geleistet. Aber heute Abend würde er Clarissa ganz für sich haben, dafür würde er schon sorgen.
Er grinste. »Wie du schon sagtest: Es ist unser letzter Abend.«
Jemand rannte im Obergeschoss hektisch hin und her, bei Clarissa jedoch war es still. Noch einmal ließ sie die Finger über ihre Laute tanzen. Die Musik perlte durch das, was ihr Vater den Fechtsaal nannte. Tatsächlich war die Diele ihres Giebelhauses, abgesehen vom Waffenschrank und den Schilden, leer. Clarissa hoffte, dass die Musik ihre Mutter entspannen würde. Doch da hörte sie von oben Lievkes Stimme: »Meine Haare – die Flechten lösen sich!«, beschwerte sich ihre Mutter.
»Und mein Hut ist verschwunden!«, murrte nun auch noch Clarissas Vater lautstark.
Da war wohl Hilfe nötig. Clarissa legte auf dem Weg zur Treppe eine Hand auf den Hausbaum und drehte sich ein paar Mal um die tragende Säule im Kreis. Sie freute sich auf das Fest, war aber auch nervös. Ihre Mutter hielt sie von Vergnügungen fern. Sie fürchtete stets, Clarissa könnte etwas zustoßen oder sie könne in schlechte Gesellschaft geraten. Jetzt war Clarissa achtzehn Jahre alt, und die meisten Eltern hätten sich wohl darangemacht, einen geeigneten Ehemann zu finden. Ihre Eltern jedoch nicht. Clarissa war froh darüber. Sie liebte die Welt des Vaters, an der sie teilhaben durfte, solange sie in seinem Haus lebte. Wer wusste schon, ob es ihr mit einem Ehemann ebenso gut gehen würde?
Am Treppenfuß huschte Clarissa an dem Spiegel vorbei, den ihr Vater für seinen Unterricht benötigte. Sie sah nur flüchtig hinein. Sie hatte weder das grazile Aussehen, das sie bei manchen anderen Frauen bewunderte, noch eine besonders weibliche Figur mit ausladenden Hüften, weichen Armen und prallem Busen, wie viele Männer sie zu schätzen schienen. Die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen und viele Männer überragte sie um Haupteslänge. Tiefschwarz wellten sich ihre Haare den Rücken hinab. Das Einzige, was sie an sich bemerkenswert fand, waren ihre Augen – sie hatten das Meerblau von Aquamarinen und waren von langen Wimpern eingerahmt. Vor allem aber hielt die Kleidung sie vom Blick in den Spiegel ab: Ihre Mutter bestand auf üppigen Roben und buntem Haarschmuck. Auch heute baumelten Bommeln und Borten an ihrem Kleid. Das breite, noch zusätzlich wärmende Hüftpolster und das enge Mieder trugen auch nicht zu ihrem Wohlbefinden bei. Clarissa hatte schon oft versucht, schlichtere Gewänder durchzusetzen, aber ihre Mutter hatte darauf immer so empfindlich reagiert, dass Clarissa sich ihr zuliebe fügte.
Sie eilte die Stufen empor. Ihre Eltern waren oft spät dran, heute jedoch könnten sie das Beste verpassen. Noch nie waren sie zu einer Doktorfeier mit anschließender Hochzeit eingeladen worden. Nur weil es ihre Freundin und Nachbarin Barbara war, die heiratete, waren sie überhaupt in den Genuss einer Einladung gekommen. Der halbe Rat würde da sein, dazu die akademischen Stände und einige Herrschaften von Adel. Als wohlhabende Witwe eines Brauers, deren Vater zudem im Rat gewesen war, war Barbara eine gute Partie. Mehrere Doktoranden hatten um sie geworben. Sie alle verfügten über viel Wissen, aber über wenig Geld, um sich nach dem Studium eine Existenz aufzubauen. Barbaras Familie hatte den Vielversprechendsten ausgesucht, obgleich die Braut noch immer um ihren ersten Mann trauerte.
»Hilde, wo ist mein … Ach, verdammt, da hab ich den Hut ja!«, hörte sie ihren Vater brummen.
Clarissa trat in die Schlafkammer der Eltern, wo ihre Mutter auf einem Schemel saß. Die Magd stand hinter ihr und mühte sich mit den Haarnadeln. Hildes Unterlippe bebte, sie war vierzehn und erst seit wenigen Monaten bei ihnen angestellt.
»Als heute Morgen eine schwarze Katze über den Fenstersims spazierte, wusste ich, das bedeutet Unglück! Und nun die vielen Verzögerungen! Vielleicht sollten wir lieber im Haus bleiben.« Clarissas Mutter umklammerte den Talisman, den sie an einer Kette um den Hals trug. Es war ein silbernes Röhrchen mit einem Kreuz darauf. Als Kind hatte Clarissa oft darum gebeten, einmal das Röhrchen öffnen zu dürfen, aber ihre Mutter hatte es stets verweigert. Lievke war furchtbar abergläubisch.
Aufmunternd lächelte Clarissa sie an. »Aber Mutter, das bedeutet vermutlich nur, dass wir Mäuse unterm Dach haben. Wir sollten uns lieber selbst eine weitere Katze zulegen.« Sie war in all den Jahren Expertin für das Widerlegen böser Omen geworden. Aberglaube fand in ihr keinen Platz. Für unerklärliche Phänomene oder seltsame Zusammenhänge gab es immer eine vernünftige Erklärung, davon war sie überzeugt.
»Ich weiß nicht … Nicht einmal meine Haare wollen sitzen«, haderte Clarissas Mutter. Mit ihren neununddreißig Jahren war Lievke recht eitel. Sie war Näherin am Hof des Herzogs von Mecklenburg gewesen und wollte am liebsten alle anderen Bürgerinnen mit ihrem Aussehen übertrumpfen. Auch heute war sie sorgfältig zurechtgemacht und geschminkt. Sie streckte die Arme nach Clarissa aus. »Komm her, meine Blume. Wie schön du musiziert hast!«
Clarissa freute sich über das Lob; sie hatte das Lied nur einmal auf dem Jahrmarkt gehört und lange geübt, bevor sie es fehlerfrei nachspielen konnte. »Darf ich helfen?«, bot sie an.
»Lieber nicht! Du ruinierst meine Frisur noch ganz!« Lievke war überzeugt davon, dass Clarissa ein Pechvogel war und zudem zwei linke Hände hatte. Woher dieser Glaube rührte, wusste Clarissa nicht, aber seit frühester Kindheit ließ ihre Mutter sie kaum eine wichtige Aufgabe übernehmen. Allmählich glaubte Clarissa selbst, dass sie ungeschickt war.
Die Magd stocherte mit den verzierten Nadeln im Haar ihrer Herrin. Lievke warf Clarissa einen zweifelnden Blick zu. »Also gut, sonst zieht dein Vater noch ohne uns los.« Das kam natürlich nicht infrage. Eifersüchtig wachte Lievke über jeden Schritt ihres Mannes, was Fritjoff umso öfter zum Ausbüxen verleitete. Clarissa fand es furchtbar, wenn ihr Vater mit anderen Frauen poussierte. Andererseits konnte sie seinen Freiheitsdrang nachfühlen. Wer wollte schon ständig kontrolliert werden?
Nach wenigen Minuten waren die Haare geflochten und hochgesteckt. Statt eines Dankes blickte Lievke ihre Tochter prüfend an.
»Wo ist deine neue Schnebbe, Blümchen?«, fragte sie. Clarissa störten die ständigen Kosenamen. Es war, als wäre sie acht, nicht achtzehn. Hoffentlich hielt sich ihre Mutter später beim Fest damit zurück.
»Ich muss sie verlegt haben«, schwindelte Clarissa. Sie hatte die scheußliche Haube mit den aufdringlichen Spitzen, deren drei Ecken auf der Kopfhaut pieksten, unter ihrem Bett verschwinden lassen.
Ihre Mutter schürzte schmollend die Lippen. »Clarissa?«
»Aber Mutter …«
»Ich habe die Haube eigens für diese Hochzeit gefertigt. So viel Mühe habe ich mir gemacht! Willst du mir das wirklich antun?«
Willst du mir das wirklich antun? Die anderen Jungfern werden sich über mich lustig machen, hätte Clarissa gerne geantwortet, aber ihre Mutter war dünnhäutig und konnte leicht in Tränen ausbrechen, was nicht nur die Schminke zunichtemachen würde. Also fügte sie sich und ging, um angeblich nach der Schnebbe zu suchen.
»Es ist so still im Haus. Wo ist Alf?«, wollte die Mutter wissen, als sie wenig später die Haube auf Clarissas Kopf zurechtrückte.
Alf war der Gehilfe des Vaters, ein älterer Mann, der die Schüler mit seiner schroffen, urwüchsigen Art stets zunächst einschüchterte. Er verfügte über eine unendliche Geduld, die man als Schüler hasste, wenn man zum hundertsten Mal die vier Prinzipalhäue wiederholen sollte, später aber schätzen lernte. »Je mehr du dich im Spiel übst, desto mehr denkst du daran im Ernst«, zitierte ihr Vater oft die alten Fechtmeister. Clarissa hatte viel von Alf gelernt, was ihr hoffentlich helfen würde, wenn sie sich in den nächsten Wochen um die Schüler kümmerte.
»Alf lässt die Jungen vor den Toren der Stadt ihre Übungen machen«, berichtete Clarissa und folgte ihrer Mutter die Treppe hinab.
Vier Jungen zwischen zehn und zwölf Jahren lernten derzeit bei Fritjoff die Grundzüge der Fechtkunst. Sie stammten aus Familien, die nicht wohlhabend genug waren, sich eigene Fechtmeister zu leisten, aber dennoch auf diesen Teil der Ausbildung für ihre Kinder nicht verzichten wollten. Clarissa bewunderte ihren Vater für seine Fechtkunst und sein Geschick als Lehrer. Sie mochte viele der Fechtschüler, gerade die kleinen rührten sie. Einige waren während der Lehrzeit wie Brüder für sie geworden. Ihre Mutter umsorgte die Jungen liebevoll; dass sie keine weiteren Kinder hatten, war der wunde Punkt in der Ehe ihrer Eltern. Clarissa mied das Thema, soweit es ging. Sie hatte selbst lernen müssen, sich nicht mit zu viel Herz auf die Schüler einzulassen, um nicht jedes Mal traurig zu sein, wenn sie wieder gingen.
Lievke strich über ihre mit Kol nachgezogenen Augenbrauen. »Hoffentlich lässt er sie sich müde laufen. Ich will keinen Schlamassel im Haus, wenn wir unterwegs sind. Und die Herren Alexander und Marius?«
»Sie sind vorausgegangen.«
»Wenn das man gut geht! Bei jungen Männern weiß man nie! Die Katze heute Morgen … Ob meine Nerven das aushalten?«
Clarissas Vater polterte die Treppe hinunter. Für einen Mann, der sich beim Fechten so geschmeidig zu bewegen vermochte, war Fritjoff ohne Schwert in der Hand eher grobschlächtig. Er war siebenundvierzig, und seine buschigen Haare waren mehr grau als schwarz. Mit seinem muskelbepackten Körper, dem roten Gesicht und den lachenden Augen sah man ihm an, dass er das Leben liebte. Nun ging er zu seiner Frau und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Lievke protestierte schwach, doch er küsste sie auf Wangen und Mund.
»Deinen Nerven wird die Feier guttun, warte nur ab. Wunderschön seht ihr beide aus!« Ihr Vater zwinkerte Clarissa zu; er wusste genau, wie sie diese Kleider hasste. Am Kannentisch schenkte er sich Bier ein. »Und übrigens: ›Die jungen Männer‹ wissen sich schon zu benehmen«, verteidigte er seine Schüler, als er getrunken hatte.
»Das hoffe ich sehr. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen!«, erwiderte Lievke. Nervös zupfte sie an ihrem Mühlsteinkragen. »Wir sollten gehen. Hast du das Geld?«
Die Glocken der sieben Rostocker Kirchen begannen zu läuten. War es schon so spät?
Eilig wandten sie sich der Tür zu. Im Nebenraum lagen die ersten Reisebündel für Frankfurt. Eine Tür führte zur Schmiede des Vaters. Fritjoff war ausgebildeter Schwertfeger, die Endfertigung von Schwertern und Dolchen hatte er inzwischen allerdings seinem Altgesellen Tietke überlassen, um sich selbst ganz der Fechtschule zu widmen.
»Nur ein Schlückchen noch. Wenn ich an den Sermon in der Kirche denke, ist meine Kehle schon jetzt ausgetrocknet!« Er stürzte das Bier hinunter. Bedauernd tätschelte er den Beutel an seinem Gürtel. »So viel muss es ja wohl sein. Selbst eine reiche Witwe kann arm werden, wenn sie für ihren Zukünftigen Promotionsfeier und Hochzeit bezahlen muss – von dem Strafgeld ganz zu schweigen.«
Clarissa wusste nicht, was er damit meinte, und hakte nach: »Strafgeld?«.
»Das Strafgeld wird fällig, weil Barbara und ihr Zukünftiger so etwas Hehres wie die Promotion durch eine profane Vermählung entweihen. Die Regeln der Universität Rostock sind strikt. Deshalb weiß ich ja auch nicht, ob sie mit mir altem Querkopf auskommen würden.«
»Wie meinst du das?«, wunderte sich Clarissa.
»Es heißt, die Universität wird einen neuen Fechtmeister einstellen. Darüber will ich mit dem Vizekanzler sprechen.«