Über den Autor
Michael Wagner, Jahrgang 1968, ist diplomierter Ingenieur der Produktionstechnik und gelernter Journalist. Heute arbeitet er als PR-Experte für ein großes Industrieunternehmen und lebt in der Nähe von Marburg. Sein Krimi-Debüt um das skurrile Duo Theo Kettling und Lieselotte Larisch ist eine Liebeserklärung an seine Heimat, das Märkische Sauerland.
Michael Wagner
Lünsch-Mord
Ein Sauerland-Krimi
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Judith Mandt
Textredaktion: Christiane Geldmacher, Wiesbaden
Titelillustration: © shutterstock/Eric Gevaert; shutterstock/Petr Kopka;
shutterstock/ziviani; shutterstock/Markus Gann
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3075-5
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meinen Vater –
ich vermisse dich, Kumpel
Er saß auf dem alten, abgewetzten Sofa und sah auf die Standuhr, deren monotones Ticken die eisige Stille noch zu verstärken schien.
Wie lange schon? Zwei Stunden? Vielleicht drei, vier?
Er erinnerte sich schemenhaft, wie er das Büro panisch verlassen hatte und durch den schmalen Flur und das Treppenhaus nach draußen gelaufen war. War ihm jemand begegnet? Er wusste es nicht mehr; doch so spät am Abend war meist niemand mehr im Gebäude, und das beruhigte ihn.
An diesem Punkt hörte seine Erinnerung ganz auf. Wie hypnotisiert musste er in sein Auto gestiegen und nach Hause gefahren sein.
Seine Wahrnehmung hatte erst später wieder angefangen zu funktionieren, und ihm war bewusst geworden, dass er sich bereits in seiner Wohnung befand. Von da an war sein Verstand – erst ganz langsam, dann immer schneller – in seinen Kopf zurückgekehrt, und jetzt sah er alles ganz klar:
Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatte er ein falsches Leben leben müssen, in ständiger Ungewissheit und verdammt zum Nichtstun. Nun aber konnte er etwas tun, nun konnte er endlich handeln.
Er wartete, bis die Dämmerung anbrach und ein schwaches Licht in das Zimmer fiel. Dann stand er auf, nahm sich die Autoschlüssel und ging hinaus.
Cleo hatte keine Lust, Gassi zu gehen. Wie immer, wenn es regnete, versuchte sie sich unter ohrenbetäubendem Jaulen und mit vollem Körpereinsatz zu drücken. Und wie immer nutzte ihr das nichts, denn ihr Frauchen war äußerst resolut und prinzipientreu.
Lieselotte Larisch hatte die Deutsche Dogge zwei Jahre zuvor gekauft, kurz nachdem sie das alte Bauernhaus in Rölvede erworben hatte und dort eingezogen war. Früher, als vielbeschäftigte Rektorin der Grundschule Spormecke, hatte sie von einem solchen Leben auf dem Land geträumt, und nachdem sie in den Ruhestand gegangen war, erfüllte sie sich ihren Traum.
Zu den wenigen Störungen in ihren harmonischen, aber streng durchorganisierten Tagesabläufen gehörten die Kämpfe mit Cleo, wenn diese ein Bad oder, wie an diesem Abend, einen kurzen Fußmarsch im Regen verhindern wollte.
Lieselotte Larisch hatte freilich schon Erfahrung mit solch unerfreulichen Situationen und setzte zumeist auf den Überraschungseffekt.
So auch diesmal: Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – sie tat so, als suche sie etwas scheinbar Heruntergefallenes auf dem Fußboden der Diele – appellierte sie an Cleos Neugier. Die Hündin konnte, obwohl schon zigmal auf ähnliche Tricks hereingefallen, schließlich nicht widerstehen und kam näher.
Dann kam der Angriff. Mit einem schnellen und entschlossenen Griff bekam sie den rechten Vorderlauf Cleos zu fassen und stürzte sich im nächsten Augenblick, ihre ernst zu nehmenden Arthrose-Beschwerden ignorierend, auf die Knie. Schon umklammerte sie im Stil eines Ringers den Rumpf des stattlichen Tieres und zerrte es unter dessen energischem Protest in Richtung Haustür. Cleo versuchte immer wieder, mit ihren Läufen Halt auf dem glatten Parkettboden zu finden, rutschte aber stets ab und verlor dabei wertvolle Zentimeter. Zweimal zwickte sie Lieselotte Larisch sogar in die Hand, worauf jeweils ein gellender Schrei folgte. Davon kurzfristig beeindruckt, verfiel Cleo für einige Sekunden in völlige Erstarrung, was ihrer Besitzerin ebenfalls einen nicht unerheblichen Raumgewinn einbrachte.
Hund und Frauchen brachten zusammen gut und gerne 200 Kilo auf die Waage und füllten fast die gesamte Breite der Diele aus. Eine wild fuchtelnde, stöhnende und knurrende Masse, die sich langsam, aber kontinuierlich fortbewegte.
Endlich draußen angekommen, stieß Lieselotte Larisch mit dem linken Fuß und in artistischer Bewegung die Haustür zu. Wie gewohnt fand sich Cleo von diesem Punkt an mit der Situation ab und fügte sich, zwar ohne Begeisterung, aber auch ohne nennenswerten Widerstand, ihrem Schicksal. Lieselotte Larisch, nach Luft ringend und mit zerzauster Dutt-Frisur, entfuhr dennoch ein »Dämliches Mistvieh!« – eine völlig unangemessene sprachliche Entgleisung, für die sie sich im nächsten Moment selbst rügte, denn noch immer war sie mit jeder Faser ihres Körpers leidenschaftliche Deutschlehrerin.
Rölvede war eine kleine Siedlung, die seit der Kommunalreform des Kreises Altena vor drei Jahren zur Gemeinde Schalksmühle gehörte und auf einem langgestreckten Höhenkamm in unmittelbarer Nähe der neuen Autobahn 45, der Sauerlandlinie, lag. Obwohl die Lärmbelästigung, wohl durch die etwas höhere Lage der Fernstraße, sich in Grenzen hielt, hatte Lieselotte Larisch die Immobilie zu einem echten Schnäppchenpreis bekommen. Knapp ein Dutzend Häuser standen hier, zumeist alte Bauernhäuser, aber auch einige moderne im typisch unbeholfenen Stil der fünfziger und sechziger Jahre. Der Verkehr auf den beiden schmalen Straßen, die durch den Ort führten, war schon vor Fertigstellung der Sauerlandlinie mehr als überschaubar, seitdem aber tendierte er gegen null. Lieselotte Larisch boten sich hier zahlreiche Variationsmöglichkeiten sowohl für kurze als auch für ausgedehnte Spaziergänge zu den umliegenden Dörfern. Wegen des schlechten Wetters und weil es bereits dunkel geworden war, entschied sie sich an diesem Abend für eine ihrer Kurzstrecken, die aus dem Ort hinaus in Richtung Rummenohl zum Waldrand führte.
Sie spannte ihren Knirps-Automatikschirm auf, den sie vor der Auseinandersetzung mit Cleo in die Manteltasche gesteckt hatte, und marschierte los. Die Hündin lief dicht neben ihr und begnügte sich damit, ihrem Unmut durch gelegentliches Jaulen und Knurren Luft zu machen.
Bis zum Waldrand, der unmittelbar hinter einer sanften Kuppe lag, waren es etwa 400 Meter. Als Lieselotte Larisch das Ortsausgangsschild passierte und an den links und rechts der Straße liegenden Weiden entlangging, wurden Regen und Wind abrupt stärker. Sie versteckte sich hinter dem Schirm und kämpfte sich bis zum Forstweg vor, der den Beginn des dichten Fichtenwaldes markierte. Obwohl der Regen gleich darauf schon wieder etwas nachließ und auch der Wind nicht mehr so erbarmungslos blies, hielt sie den Schirm noch immer dicht vor sich. So wäre sie beinahe vor einen VW Käfer mit zerbeultem Kotflügel gelaufen, der, ungewöhnlich für diese Uhrzeit, an der Einfahrt zum Forstweg stand.
Wenn Cleo ihr Geschäft verrichten sollte, dann musste Lieselotte Larisch zumindest ein kleines Stück mit ihr in den Wald gehen. Sie selbst hatte das der Dogge im Welpenalter so beigebracht, und bei widrigen Witterungsverhältnissen rächte sich das nun. Die Hündin lief etwa zwanzig Meter voraus und begann gerade damit, sich einen geeigneten Platz zu suchen, als sie plötzlich laut bellte, um einen Moment später ängstlich zu jaulen.
»Nun hör doch mit dem Theater auf und stell dich nicht so an«, rief Lieselotte Larisch, die stehen geblieben war, weil sie einerseits im Innern des Waldes kaum die Hand vor Augen sah, andererseits aber keine Lust hatte, ihre stets mitgeführte Taschenlampe aus der Reißverschluss-Innentasche des Mantels zu kramen.
Wieder bellte Cleo, halb aus Angst, halb zornig, und im nächsten Moment hörte Lieselotte Larisch ein deutliches Knacken, als ob ganz in ihrer Nähe ein Ast gebrochen wäre. Nun knöpfte sie doch die oberen drei Knöpfe ihres Mantels auf und holte umständlich mit einer Hand – die andere hielt nach wie vor den Schirm – die Taschenlampe hervor.
Sie leuchtete links neben sich, konnte aber außer dem Labyrinth aus nass-schwarzen Baumstämmen nichts entdecken. Dann schwenkte sie langsam nach rechts und sah Cleo im Lichtkegel, die jetzt etwa zehn Meter von ihr entfernt stand, sie irritiert anstarrte und gleich wieder losbellte.
Lieselotte Larisch schwenkte die Taschenlampe weiter nach rechts und betrachtete für einige Sekunden einen etwa anderthalb Meter hohen und fünf Meter breiten Holzstapel, der von Forstarbeitern kürzlich nach Fällarbeiten angelegt worden war. Rechts daneben, im Schein der Taschenlampe gerade noch zu erahnen, stand ein hoher Baumstumpf.
Sie hatte sich schon umgedreht, um zu schauen, ob sie hinter sich etwas entdecken konnte.
Doch dann führte sie den Lichtstrahl noch einmal zurück – und erkannte, dass das, was da ein paar Schritte von ihr entfernt stand, kein Baumstumpf war, sondern der Oberkörper eines Menschen.
Ein Blitz fuhr durch Lieselotte Larisch. Ihre Finger umklammerten verkrampft den Griff der Taschenlampe, deren Licht eine unwirklich erscheinende, entstellte Fratze beschien.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der andere sie an, die Haut alt und faltig, doch mit einer wirren Lockenfrisur und riesigen, dicken Augenbrauen.
Lieselotte Larisch war alles andere als ein ängstlicher Mensch, aber in diesem Moment überfiel sie eine fremdartige Furcht. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren; er war, so schien es ihr, viel lauter als Cleos Bellen, das sie dumpf und wie durch einen Filter wahrnahm.
Und nun erkannte sie auch, warum nur der Oberkörper dieser grauenhaften Gestalt zu sehen war. Mit den Beinen stand ihr Gegenüber in einem Erdloch, offenbar selbst gegraben, denn die rechte Hand umfasste den Stiel einer Schaufel. Im Augenwinkel nahm Lieselotte Larisch Cleo wahr, die an ihr vorbei aus dem Wald rannte – vermutlich zurück ins Dorf, wie aus der Richtung des leiser werdenden Bellens zu schließen war.
Dann wich die Ohnmacht des Schockzustandes einer sich rasend schnell in ihrem Kopf ausbreitenden Panik. Sie versuchte noch einige Sekunden standzuhalten, ergriff aber schließlich wie fremdgesteuert die Flucht. Dabei nahm sie nicht den Forstweg, sondern rannte zur leicht erhöht liegenden Viehweide, die nur wenige Meter entfernt lag und schneller zu erreichen war als die Straße.
Der Sachschaden war dafür umso größer: Ihren noch immer aufgespannten Knirps-Schirm ruinierte sie sich, als sie damit zwischen zwei Ästen hängen blieb, und an einem vorstehenden Nagel im Zaunpfahl riss sie sich den teuren Lodenmantel auf einer Länge von rund 20 Zentimetern auf. Zu allem Überfluss bekam sie noch, am Weidezaun mit nassen Händen zerrend, mehrere Stromschläge. Den Zaun schließlich mit Mühe und Not niedergerungen, rannte sie zwischen einem Dutzend aufgeschreckter Fleckviehkühe schräg auf die Straße zu. Diesmal versuchte Lieselotte Larisch, den Elektrozaun durch einen beherzten Sprung zu überwinden, musste aber feststellen, dass sie ihre sportlichen Fähigkeiten dramatisch überschätzt hatte. So blieb sie mit beiden Beinen an den Drähten hängen und stürzte kopfüber die etwa einen Meter hohe Böschung hinunter. Die Brille fiel auf die Straße. Das Gestell zerbrach, und ein Glas sprang heraus. Lieselotte Larisch drehte hektisch den Kopf nach hinten, doch allmählich begriff sie, dass der Fremde ihr nicht folgte, und sie wurde ruhiger. Sie sammelte die Fragmente der Brille zusammen, dann ging sie schnellen Schrittes zurück zum Haus.
Die Anhäufung der Katastrophen erfuhr allerdings noch eine Fortsetzung. Cleo, zwar heilfroh, ihr Frauchen wiederzusehen, jedoch völlig verstört, hatte vor lauter Aufregung ihr Geschäft vor der Haustür verrichtet. Lieselotte Larisch, ohne Brille fast blind, trat in den Haufen, bemerkte dies aber nicht sofort und ging eilig durch das gesamte Haus, um die Rollläden zu schließen. Dann griff sie zum Telefonbuch und suchte die Nummer der Polizei in Lüdenscheid heraus. Sie hatte die ersten Ziffern schon gewählt, als sie innehielt und den Hörer wieder auf die Gabel legte.
Vielleicht gab es für das alles eine ganz einfache Erklärung. In den Wald zu gehen und ein Loch zu graben war jedenfalls, für sich gesehen, kein Verbrechen.
Ein unangenehmer Geruch stieg in Lieselotte Larischs Nase. Sie erkannte, dass sie den Hundehaufen im ganzen Haus verteilt hatte, und beschloss, erst mal für Ordnung zu sorgen.
So gab es an diesem späten Abend des 9. Mai 1972 noch eine Menge zu tun. Der Boden musste gewischt, der Mantel genäht werden. Außerdem galt es, Cleo wieder aufzurichten, die noch immer wie Espenlaub zitterte: »Du bist mir eine schöne Beschützerin. Na, komm her, meine Dicke!«
Und dann dauerte es noch fast eine Stunde, bis Lieselotte Larisch ihre alte Ersatzbrille wiederfand.
Die Beschäftigungstherapie zeigte positive Wirkung. Zwar war sie nach wie vor recht aufgekratzt, doch es gelang ihr, wieder klar zu denken:
Diese bizarre Gestalt im Wald hatte zweifellos irgendetwas oder irgendjemanden vergraben wollen – wahrscheinlich Letzteres, dafür sprachen, soweit sie das in ihrem Zustand und im Schein der Taschenlampe hatte erkennen können, Form und Umfang des Erdloches. Andererseits war sie sich ziemlich sicher, weder eine Leiche noch eine Schatztruhe oder sonst etwas gesehen zu haben, was hätte vergraben werden können.
Sie schloss die Augen und versuchte, sich möglichst deutlich an das unheimliche Gesicht zu erinnern. Sie hatte das Gefühl, diese Gestalt schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
Lieselotte Larisch plagten plötzlich Selbstvorwürfe. Wäre es nicht doch ihre Pflicht gewesen, sofort die Polizei anzurufen? Ach was! Bis die da gewesen wären, hätte der Kerl längst das Weite gesucht und wäre über alle Berge gewesen. Sie würde gleich morgen früh zur Polizei fahren und alles zu Protokoll geben. Vorher aber würde sie die Stelle im Wald aufsuchen und schauen, ob das Grab noch offen war. Zwar hatte sie ein bisschen Angst davor, etwas Unschönes vorzufinden, doch ihre fast vollständig wiederhergestellte Entschlossenheit und ihre Neugier waren stärker.
Lieselotte Larisch ging gegen ein Uhr morgens ins Bett und schlief, angesichts des Erlebten, erstaunlich schnell ein.
Doch die Ruhe währte nicht lange. Nach einer halben Stunde schreckte sie hoch, weil sie wusste, wo sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte. Vor einigen Jahren hatte sie sich im Kino einen Film mit dem Titel »Das Testament des Dr. Cordelier« angeschaut, eine Art französische Version von »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«. Die Titelfigur verwandelte sich nach dem Verzehr einer selbst entwickelten Droge in ein Wesen namens Opale. Und genau dieser Opale, ein anarchistisches Ungetüm, das seine Umgebung während nächtlicher Streifzüge terrorisiert hatte, sah aus wie der Mann im Wald: Das wirre, lockige und zu allen Seiten abstehende Haar passte nicht zum Gesicht, die unnatürlich großen, buschigen Augenbrauen wirkten gruselig und Furcht einflößend.
*
Der Wecker klingelte um halb sieben, so wie jeden Morgen. Lieselotte Larisch hatte eine unruhige Nacht hinter sich; immer wieder war ihr das Gesicht des Fremden mit der Schaufel erschienen, manchmal auch das von Opale. Im Laufe der Nacht hatten sich beide Gesichter mehr und mehr angeglichen, bis sie schließlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden gewesen waren.
Pünktlich um sieben saß sie am Frühstückstisch in der Küche. Cleo lag neben ihr und wirkte gut erholt von dem Schrecken des letzten Abends; hin und wieder erbettelte sie sich ein Stückchen Wurst, was ebenfalls auf eine völlig intakte Konstitution des Tieres hinwies.
Die Morgennachrichten auf WDR 1 waren fester und unumstößlicher Bestandteil des Tagesablaufes von Lieselotte Larisch. Doch an diesem Morgen drehten sich ihre Gedanken nur um das, was sie am Vorabend erlebt hatte, und um das, was sie wohl bei der nahenden Inspektion des Tatorts entdecken würde. Auch dem Besuch bei der Polizei sah sie mit Spannung entgegen. So bekam sie nicht mit, dass die Sowjetunion und Nordvietnam die Seeblockade der Vereinigten Staaten gegen die nordvietnamesischen Häfen entschieden verurteilt hatten. Und auch nicht, dass der Landschaftsverband Rheinland in diesem Frühjahr mehr als zwei Millionen Mark für die Beseitigung der Spikes-Schäden auf den Autobahnen in seinem Gebiet würde ausgeben müssen.
Nach drei Tassen schwarzem Tee, zwei Scheiben Kommissbrot – eine mit selbstgemachter Erdbeermarmelade, die andere mit Salami –, drei Soleiern sowie einem ordentlichen Stück Schweizer Käse fühlte sie sich genügend gestärkt, um in den Wald zu gehen und nach dem Grab zu sehen. Cleo signalisierte keinerlei Widerstand, sondern schien im Gegenteil gut gelaunt zu sein – wohl aufgrund der nunmehr trockenen Witterung mit vereinzelten Sonnenstrahlen.
Lieselotte Larisch ging zunächst eiligen Schrittes bis zum Waldrand, verspürte aber ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und wurde langsamer. Auch Cleo sträubte sich, ins Innere des Waldes zu gehen, und so tasteten sich beide Stück für Stück an das Erdloch heran.
Die Aufregung war allerdings gar nicht nötig. Das Grab gähnte ihnen leer entgegen, die Schaufel war samt ihrem geheimnisvollen Benutzer verschwunden, und auch sonst entdeckte Lieselotte Larisch im Umkreis von bestimmt hundert Metern nichts Auffälliges. Zunächst hatte sie gehofft, drei in der Nähe weggeworfene Bierflaschen oder eine Fanta-Dose könnten vom »Täter« stammen. Doch die Dose war größtenteils verrostet, und auch die Flaschen mussten schon lange hier liegen; auf den stark ausgebleichten Etiketten konnte man gerade noch den Schriftzug »Andreas Pils« lesen.
Einerseits erleichtert, andererseits durchaus enttäuscht ging sie zurück ins Dorf. Cleo trottete zufrieden neben ihr her, hin und wieder abgelenkt durch ein paar Kaninchen, die in ziemlicher Entfernung über die Kuhweide hoppelten. Am Haus angekommen, ging Lieselotte Larisch gar nicht mehr hinein, sondern holte sofort ihren in »Mostana« – eine Art Ockergelb – lackierten Daf 44 aus der zur Garage umfunktionierten Scheune.
Bis zur Polizeiwache in Lüdenscheid waren es rund elf Kilometer. »Ein Königreich für meine richtige Brille«, brummte sie schon nach wenigen Metern, denn das Autofahren mit der seit vielen Jahren ihrer Sehstärke nicht mehr angepassten Ersatzbrille glich einem Blindflug. Auch Cleo, die wie immer auf der mit einer Sabberdecke ausgelegten Rücksitzbank lag, schien die Gefahr zu spüren und vergrub den Kopf zwischen Sitzfläche und Rückenlehne. Da Lieselotte Larisch selbst mit ihrer aktuellen Sehhilfe eine zwar sehr forsche, aber völlig untalentierte Fahrerin war, mussten am Ende beide glücklich darüber sein, dass trotz mehrerer haarsträubender Beinahe-Unfälle nichts passiert war.
Die Polizei hatte ihr Domizil im ehemaligen Direktionsgebäude der Kreis-Altenaer-Eisenbahn KAE, einer Schmalspurbahn, die früher Lüdenscheid mit den Nachbarstädten Altena und Werdohl verbunden hatte sowie die Gemeinde Schalksmühle mit der Stadt Halver. Vor fast fünf Jahren war der letzte Güterzug auf den Gleisen der KAE gefahren, den Personenverkehr hatte man, je nach Strecke, schon in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eingestellt.
Lieselotte Larisch stellte ihren Daf zwischen einem Opel Rekord und einem VW Käfer ab, beides Streifenwagen, und ließ Cleo heraus.
Die schwere Holztür des in einem hässlichen Grünton gestrichenen Gründerzeit-Gebäudes stand offen. Lieselotte Larisch trat ein und stand in einem langen Korridor mit einer auf der linken Seite liegenden Treppe, die in den ersten Stock führte, sowie mehreren Türen auf beiden Seiten. Die erste Tür rechts stand offen, und die Tippgeräusche einer Schreibmaschine drangen in den Korridor, plötzlich unterbrochen von einem Dialog zwischen zwei Männern.
Lieselotte Larisch betrat den Raum, der etwa sechs mal sechs Meter groß war und durch eine Art Theke Freunde und Helfer von gewöhnlichen Menschen trennte. Jenseits der Barriere waren zwei Uniformierte in eine lebhafte Diskussion vertieft und würdigten Lieselotte Larisch keines Blickes. Der eine – sie kniff die Augen zusammen, um die fehlenden Dioptrien zu kompensieren, und schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig Jahre – war offenbar der Verursacher der Tippgeräusche. Er saß an dem hinteren von zwei Schreibtischen und sah Lieselotte Larisch kurz an, um sich im nächsten Moment wieder dem Gespräch mit seinem Kollegen hinzugeben. Der zweite Polizist stand direkt hinter der Theke. Er war etwas älter, vielleicht Anfang dreißig, spindeldürr und sah in der viel zu großen Uniform ziemlich verkleidet aus. Das rotblonde Haar war unvorteilhaft zu einem strengen Seitenscheitel frisiert, was die lange und schmale Nase zusätzlich betonte.
In der hitzig geführten Diskussion ging es offenbar um einen Dienstwagen und um die Gründe für dessen abnorm hohen Benzinverbrauch.
»Und ich sage dir, die Karre braucht einfach so viel, da spielt es keine Rolle, wer hinterm Steuer sitzt«, ereiferte sich der Dünne.
Der andere konterte umgehend: »Aber mein Onkel fährt auch ’n 220er Mercedes, und der kommt immer mit dreizehn, vierzehn Litern aus.«
Lieselotte Larisch wollte nicht unhöflich sein und räusperte sich diskret, doch die beiden fuhren unbeeindruckt fort.
»Glaubst du vielleicht, es macht Spaß, sich dauernd rechtfertigen zu müssen? Gestern hat mich sogar der Alte angeblafft; wir könnten alle nicht richtig fahren, und das verdammte Ding würde nicht umsonst fast 30 Liter schlucken.«
»Trotzdem, bei meinem Onkel …«
Lieselotte Larischs Geduld war aufgezehrt, und sie beschloss, dem Disput freundlich, aber entschlossen ein Ende zu setzen:
»Entschuldigung, ich möchte ein …«, sie zögerte, »… einen Vorfall melden.«
Die Polizisten warfen ihr einen langen und vernichtenden Blick zu. Es war der Dünne, der schließlich das Wort ergriff:
»Ich hoffe doch, dass sich Ihr kleines Hündchen benehmen kann.«
»Seien Sie versichert, dass Sie keinen Grund zur Beanstandung haben werden. Platz, Cleo!«
Der Befehl war hinfällig – die Hündin hatte sich bereits neben die Füße ihres Frauchens gelegt.
Lieselotte Larisch schilderte, was sie am Abend zuvor erlebt hatte. Kurz und bündig, ohne aber etwas Wesentliches auszulassen.
»Ja und?«, fragte der Dünne, der zuvor mehrfach und aufreizend in die Ausführungen hineingegähnt hatte.
»Wie bitte?« Lieselotte Larisch wurde langsam ärgerlich, bemühte sich aber nach Kräften, die Fassung zu bewahren, und wollte mit der rein rhetorischen Frage etwas Zeit gewinnen, um sich zu sammeln.
»Gute Frau, können Sie sich vielleicht vorstellen, dass wir uns um wichtigere Dinge zu kümmern haben als um irgendwelche Verrückte, die nachts Löcher in die Erde buddeln? Im Übrigen gehört Rölvede seit der Kommunalreform zu Schalksmühle. Was halten Sie also davon, wenn Sie einfach dorthin zur Polizei fahren und Ihre kleine Geschichte erzählen?«
Lieselotte Larisch rang nach Luft. Vor allem der Beginn des Monologs hatte sie auf die Palme gebracht. Sie hasste es, geringschätzig mit »Gute Frau« angeredet zu werden. Rund ein halbes Dutzend Mal war ihr das bislang widerfahren, und stets hatte es einen gewaltigen Rüffel für ihren Gesprächspartner zur Folge gehabt.
Sie, die sich alles in ihrem Leben hart hatte erarbeiten müssen, die es nach der Flucht aus ihrer Heimat im Sudetenland mit Fleiß und Beharrlichkeit bis zur Rektorin der Grundschule Spormecke gebracht hatte – nein, sie war nicht gewillt, sich von einem Milchgesicht mit schlechten Manieren derart zurechtweisen zu lassen.
»Hören Sie, junger Mann, ich weiß nicht, ob Ihr rüpelhaftes Benehmen auf eine schlechte Kinderstube oder auf irgendetwas anderes zurückzuführen ist. Ich darf Ihnen aber versichern, dass Sie mit einer solch verlotterten Einstellung zu Ihrem Beruf niemals Karriere machen und stattdessen in dieser schäbigen Polizeistation alt und grau werden.«
Das saß. Dem Dünnen fehlten offensichtlich die Worte. Er starrte Lieselotte Larisch mit offenem Mund an – ebenso wie sein jüngerer Kollege.
»Komm, Cleo, hier haben wir nichts mehr verloren«, sagte sie und stürmte zu ihrem Auto. Zwei Beamte, die ihren Streifenwagen nicht in der dafür vorgesehenen Parkbox vor dem Gebäude abstellen konnten, beäugten gerade kritisch den Daf. Jeder andere Autofahrer, der sein Kraftfahrzeug hier abgestellt hätte, wäre zweifellos zur Rede gestellt worden; beim Anblick der vor Wut krebsrot angelaufenen älteren Dame aber hielten beide Gesetzeshüter inne und ließen den Kleinwagen anstandslos passieren.
Lieselotte Larisch folgte nicht dem polemischen Rat des Dünnen, zur Polizei in Schalksmühle zu fahren und ihre Beobachtungen dort weiterzugeben. Stattdessen suchte sie ihren Augenoptiker in der Wilhelmstraße auf, der unter Einsatz seiner gesamten handwerklichen Fähigkeiten in fast einstündiger Arbeit die in Mitleidenschaft gezogene Brille wieder zusammenklebte. Das Ergebnis ließ aus rein ästhetischer Sicht zwar zu wünschen übrig – Lieselotte Larischs Gesicht wirkte völlig asymmetrisch und windschief –, aber dafür konnte sie nun wieder richtig sehen. Außerdem suchte sie sich noch gleich ein todschickes Gestell aus Leichtmetall für eine neue Brille aus. In einer Woche, so der Optiker, könne sie die fertige Brille abholen.
Dank der nunmehr wieder klaren Sicht verlief die Heimfahrt nach Rölvede ohne ernste Zwischenfälle.
Zu Hause angekommen, bereitete sich Lieselotte Larisch ein nicht gerade kalorienarmes Mittagessen zu; es gab Mohnschluschken. Nachdem sie Kartoffeln gekocht und durch den Fleischwolf gedreht hatte, gab sie heißes Wasser, Mehl und eine Prise Salz hinzu und knetete unter Einsatz ihrer beeindruckenden Körperstärke alles kräftig durch. Dann formte sie aus dem Teig die Schluschken – länglich und an den Enden spitz zulaufend, optisch an Kipferln erinnernd, allerdings nicht gebogen. Während die Schluschken kochten, machte sie Butter warm, quetschte den Mohn mit einem Mörser und vermischte ihn mit Zucker. Zum Schluss nahm sie die Schluschken aus dem kochenden Wasser und goss die zerlassene Butter sowie die Mohn-Zucker-Mischung darüber. Das Rezept für diese sudetenländische Spezialität hatte sie von ihrer Mutter übernommen, die bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren immer mit der Tochter zusammengelebt hatte.
Gegen halb eins waren alle dreiundzwanzig Mohnschluschken weggeputzt, wobei Lieselotte Larisch mehrfach dem Betteln Cleos nachgegeben und, aus tiermedizinischer Sicht unvernünftig, eine insgesamt beachtliche Portion an die Hündin abgetreten hatte.
Nach dem Mittagsschlaf, wie jeden Tag ziemlich genau eine Stunde lang, ging sie wieder in den Wald. Zwar hatte sie aufgrund des Disputs mit der Polizei weitgehend mit dem zunächst so spannend erschienenen Abenteuer abgeschlossen, doch ein gerüttelt Maß an Neugier war bei der Schulrektorin a. D. stets vorhanden. Aber nichts hatte sich verändert.
Noch zwei oder drei Wochen lang ging Lieselotte Larisch täglich mit Cleo dorthin, wo sie die Gestalt mit der Schaufel gesehen hatte.
Das Grab aber blieb offen und leer.
Gegen fünf wurden die Schmerzen so stark, dass er aufstehen musste. Überhaupt hatte er nur deshalb so lange im Bett bleiben können, weil er am späten Abend zwei Spalt-Tabletten eingenommen hatte – zusätzlich zu den Medikamenten, die ihm sein Orthopäde verschrieben und dessen ausdrückliche Warnung er ignoriert hatte.
Auch wenn es ihm enorm zusetzte, dass tagsüber kaum eine Viertelstunde verging, in der er sich ungestört auf etwas anderes als den Schmerz konzentrieren konnte, war das mit Abstand Belastendste an seiner Situation, dass er keine Nacht mehr durchschlief. Und ihm war klar, dass die Schlafstörungen viele weitere Probleme auslösten: seine ständige Gereiztheit, seine häufig auftretenden grippalen Infekte und seine Magen-Darm-Beschwerden. Es war ihm zuletzt enorm schwer gefallen, die Tätigkeit als Konditor mit den starken Rückenschmerzen und der eingeschränkten Bewegungsfreiheit zu bewältigen; doch den Ausschlag für seine Arbeitsunfähigkeit hatten letztlich nicht irgendwelche körperlichen Symptome gegeben, sondern das ständige Gefühl der Überforderung und die nicht in den Griff zu bekommende Angst vor dem Versagen.
Seit seinem Bandscheibenvorfall und der anschließenden missglückten Operation vor drei Jahren hatte sich das Leben von Theo Kettling in beinahe jeder Hinsicht verändert.
Und als ob nicht alles schon schlimm genug wäre, gab es seit knapp einer Woche ein weiteres, überaus beunruhigendes Problem. Im Treppenhaus breitete sich mehr und mehr ein widerlicher Gestank aus.
Theo Kettling hatte diesen Geruch als Kind kennengelernt, und er hatte ihn sofort wiedererkannt. Damals hatte er beim Spielen mit seinem besten Freund einen toten Igel im Wald gefunden. Der Rücken mit seinen zahllosen braun-schwarzen Stacheln war noch völlig unversehrt gewesen. Doch neugierig hatten die Kinder das Tier mit einem Ast umgedreht – und im Körper des Igels hatte es vor Maden gewimmelt.
Dieses Bild hatte sich zusammen mit dem charakteristischen Verwesungsgeruch tief in Theo Kettlings Gedächtnis eingebrannt.
Vor vier Tagen, am Montag, den 5. Juni, hatte er den Geruch zum ersten Mal im Treppenhaus wahrgenommen, und im nächsten Moment war ihm eingefallen, dass er den alten Rott, seinen Etagennachbarn, schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Dass man von diesem Scheusal tagelang nichts sah und hörte, war völlig normal, und niemand im Haus oder in der Nachbarschaft legte auch nur im Entferntesten Wert darauf, ihm zu begegnen. Doch wann hatte er sich das letzte Mal darüber geärgert, dass der Alte den Wäschekeller mit Zigarettenqualm vollräucherte? Wann war das letzte Mal diese scheußliche Marschmusik bis zum Anschlag aufgedreht gewesen? Vielleicht vor zwei Wochen? Oder drei oder vier?
Eigentlich hatte Theo Kettling längst keinen Zweifel mehr daran, dass der alte Rott in der Wohnung vor sich hin moderte. Dennoch hatte er gezögert, die Polizei anzurufen, hatte sich sogar mit Frau Kuhbier aus dem zweiten Stock abgesprochen, noch zwei oder drei Tage zu warten, da es vielleicht eine ganz andere Erklärung für den Geruch hätte geben können. Nun aber wollte und konnte er nicht länger warten. Spätestens um acht – dann müssten die bei der Polizei doch wohl im Dienst sein – würde er anrufen.
Vorher aber wollte er eine halbe Stunde durch die noch ruhige Stadt spazieren gehen – so wie jeden Morgen, wenn die durch das Liegen verursachten Schmerzen zu stark wurden. Und wie jeden Morgen wollte er beobachten, wie das Leben in den Häusern und Straßen langsam erwachte.
So sehr er es manchmal hasste, kein Teil der arbeitenden Gesellschaft mehr sein zu können, so sehr genoss er morgens diese Außensicht – frei von jedem Zwang und mit der Aussicht auf eine oder zwei weitere Stunden Schlaf, wenn nach dem Spaziergang die Schmerzen zurückgegangen sein würden.
Er zog sich an, schloss die Tür auf und trat hinaus.
Doch diesmal kam Theo Kettling nicht weit; der frühmorgendliche Ausflug endete nach fünf Metern vor der Wohnungstür des alten Rott.
Auf der Fußmatte lag etwas. Weiße Stofffusseln, dachte Theo Kettling. Aber die Fusseln bewegten sich und waren in Wirklichkeit Maden. Vier oder fünf krochen über die Fußmatte, zwei weitere kamen gerade aus dem Spalt zwischen Tür und Fußboden. Jede von ihnen war etwa eineinhalb Zentimeter lang und wirkte gut genährt.
Theo Kettling flüchtete zurück in seine Wohnung.
Er fühlte sich zurückversetzt in seine Kindheit, wie er mit dem Ast den Igel umgedreht hatte, und dann hatte er das Loch in dem kleinen Tierkörper gesehen und die unzähligen Maden, die darin herumkrochen. Wenn die Sequenz zu Ende war, begann sie wieder von vorn. Zwanzig- oder dreißigmal ging das so, bis es ihm schließlich gelang, sich loszureißen.
Er fasste sich ein Herz, suchte aus dem dicken Telefonbuch die Nummer der Polizeiwache heraus und rief an.
»Polizei Lüdenscheid, guten Morgen.«
»Kettling mein Name mein Nachbar ist tot glaube ich erst der Geruch und jetzt auch noch die Maden aber ich habe da nichts mit ich kann da nichts für und …«
»Jetzt beruhigen Sie sich erst mal. Sagen Sie mir, was passiert ist; ohne Eile und von Anfang an.«
Die Worte des Mannes am anderen Ende der Leitung wirkten auf Theo Kettling tatsächlich beruhigend. Er atmete tief durch und erzählte, diesmal erstaunlich strukturiert, von dem Geruch und den Maden und davon, dass seit längerer Zeit niemand mehr den alten Rott gesehen hatte.
»Hat jemand einen Zweitschlüssel für die Wohnung?«, wollte Theo Kettlings Gesprächspartner wissen.
»Nein, das ist ja das Problem. Hier im Haus hat sonst jeder einen Nachbarn, bei dem er einen Schlüssel hinterlegt hat. Nur der Rott, der war … ist so misstrauisch, der hat ja noch nie jemanden in die Wohnung gelassen. Nie im Leben hätte der den Schlüssel abgegeben.«
Es hätte sich auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keiner im Haus gefunden, der den Schlüssel angenommen hätte, aber das verschwieg Theo Kettling geflissentlich.
Er selbst war es übrigens, der mit Abstand am häufigsten von seinem Notschlüssel Gebrauch machen musste. Mit schöner Regelmäßigkeit schloss er sich aus, seit seiner Krankheit noch öfter als zuvor. So konnte er von Glück sagen, dass bei Frau Kuhbier praktisch immer jemand anzutreffen war. Wenn nicht sie selbst, dann eine der beiden halbwüchsigen Töchter.
»Gut, Sie warten bitte in Ihrer Wohnung. Ich schicke gleich zwei Kollegen raus, die melden sich dann bei Ihnen.«
»In Ordnung … aber ich habe da wirklich nichts mit zu tun.«
»Das glauben wir Ihnen doch. Auf Wiederhören. Und vielen Dank, dass Sie uns informiert haben.«
Der war aber wirklich nett, dachte Theo Kettling.
Doch schon im nächsten Augenblick setzten die Befürchtungen ein. Was war, wenn die anderen Polizisten nicht so nett sein würden? Allein beim Gedanken an uniformierte Ordnungshüter beschleunigte sich sein Puls, und er bekam, warum auch immer, ein schlechtes Gewissen. So wartete er voller Ungeduld, ging von der Diele in die Küche, von der Küche in die Diele, von der Diele ins Wohnzimmer und vom Wohnzimmer wieder zurück in die Diele. Dabei schaute er in Abständen von höchstens einer Minute immer wieder auf seine Armbanduhr – eine Gruen Curvex aus 14-karätigem Gold; das einzig einigermaßen Wertvolle, das ihm sein Vater hinterlassen hatte, und das einzig einigermaßen Wertvolle, das er besaß.
Um 6 Uhr 13 war das quälende Warten fürs Erste vorbei. Ein Streifenwagen hielt auf dem Bürgersteig vor dem Haus, ein schwarzer Mercedes der Baureihe W114/W115. Theo Kettling hatte zwar keinen Führerschein, interessierte sich aber dennoch leidenschaftlich für Autos. Alle zwei Wochen kaufte er sich die neueste Ausgabe der auto motor und sport und hielt sich mit deren Lektüre auf dem Laufenden. Dem Heck-Schriftzug des Polizeiautos konnte er entnehmen, dass es sich um einen 220er handelte.
Zwei uniformierte Männer stiegen aus und gingen in Richtung Haustür, nicht gerade eilig, aber auch nicht auffallend langsam. Ein paar Sekunden später ertönte die Klingel in Theo Kettlings Wohnung. Da er allen gebotenen Förmlichkeiten Rechnung tragen wollte, fragte er »Ja, bitte?« in die Gegensprechanlage.
»Polizei, Sie hatten uns angerufen.«
Theo Kettling drückte auf den Türöffner und hörte, wie mehrfach und dabei immer heftiger gegen die Haustür gestoßen wurde, ohne dass diese sich öffnete. Verdammte Scheiße, dachte er und fühlte, wie sein Schuldgefühl konkreter wurde. Innerhalb von Sekundenbruchteilen übernahm es die alleinige Herrschaft in seinem Kopf.
»Moment, ich schließe … ich komme und … es ist noch abgeschlossen«, schrie er halb in die Gegensprechanlage, halb in den Hausflur. Er riss den Schlüssel an sich und stolperte die drei Treppen hinunter. Mit zittrigen Händen fuchtelte er am Schloss herum, drehte den Schlüssel von links nach rechts, dann umgekehrt und dann wieder umgekehrt, bis es ihm schließlich gelang, die Tür zu öffnen.
Draußen standen zwei Polizisten, deren Erscheinung nicht gegensätzlicher hätte sein können. Der eine recht klein und untersetzt, um die fünfzig Jahre alt, gemütlich und freundlich wirkend. Der andere vielleicht dreißig Jahre alt, groß und auffallend dünn, rotblonde Haare mit Seitenscheitel. Machte der kleine Polizist einen überaus sympathischen Eindruck, so erschien der große ziemlich griesgrämig.
Der Freundliche übernahm die Begrüßung.
»Guten Morgen, Herr Kettling. Sie haben also einen Kleintierzoo im Treppenhaus entdeckt?«
»Ja … äh … tut mir leid, dass es so lang gedauert … wegen der abgeschlossenen…«, stammelte Theo Kettling, der vor lauter Aufregung den Scherz nicht verstanden hatte.
»Das macht doch nichts. Schließlich hat man ja nicht jeden Tag mit der Polizei zu tun.«
»Eben … Sie sagen es. Kommen Sie, wir müssen in den dritten Stock. Die Maden, die kriechen … na ja, sie werden ja sehen.«
Oben angekommen, merkten die beiden Polizisten in der Tat schnell, dass Theo Kettling nicht übertrieben hatte. Der Geruch, schon im Erdgeschoss wahrzunehmen, war nach jeder Treppe stärker geworden, und hier, in der obersten Wohnetage, war er fast schon penetrant. Außerdem waren aus den sechs oder sieben Maden vor der Tür des alten Rott mittlerweile rund ein Dutzend geworden. Die Gesichtsfarbe des unfreundlichen Polizisten verwandelte sich von blass in altweiß. Der Freundliche war offenbar härter im Nehmen, er ließ sich überhaupt nichts anmerken und wandte sich an seinen sichtlich angegriffenen Kollegen.
»Mir ist ziemlich klar, was uns da drinnen erwartet. Geh runter, und ruf in der Wache an. Die sollen einen Schlüsseldienst und einen Arzt kommen lassen.«
»Jawohl, sofort«, erwiderte der Unfreundliche und stürzte die Treppen hinunter, froh, sich entfernen zu dürfen.
»Du meine Güte, was ist denn hier los?«
Frau Kuhbier hatte das große Talent, sich völlig lautlos anzuschleichen und einen dann fast zu Tode zu erschrecken. »Morgen, zusammen, Morgen, Herr Kettling. Hatten wir also doch Recht mit unserer Befürchtung, was? Ich habe mir ja schon gedacht, dass etwas passiert sein muss, so wie Sie durch das Treppenhaus gebrüllt haben.«
Theo Kettling lief rot an. Dann deutete er auf die Maden. Frau Kuhbier ging einen Schritt näher heran und beugte sich hinunter. Sie zuckte zusammen, und auch ihre sonst so gesunde Gesichtsfarbe verflüchtigte sich innerhalb von Sekunden. Zuerst dachte Theo Kettling, sie würde jeden Moment einen spitzen Schrei ausstoßen. So wie die Frauen in den Jack-Arnold-Filmen, wenn der Kiemenmensch plötzlich auftaucht oder die Riesenspinne Tarantula. Früher liebte er es, mit Freunden ins Kino zu gehen und sich bei Popcorn und Bier diese Gruselfilme anzusehen. Für derart extrovertierte Auftritte aber war Frau Kuhbier denkbar ungeeignet; deshalb begnügte sie sich mit einem eindrucksvoll angewidert vorgetragenen »Uaah, das ist ja eklig«, lief die Treppe hinunter und verschwand in ihre Wohnung.
Der freundliche Polizist wandte sich an Theo Kettling: »Es ist wohl das Beste, wenn auch Sie uns jetzt allein lassen. Je nachdem, was wir gleich vorfinden, kommen wir später noch mal auf Sie zu.«
Theo Kettling tat, wie ihm geheißen, und hatte anschließend große Mühe, von seiner Wohnung aus alles Wesentliche mitzubekommen. So musste er immer wieder seinen Standort wechseln, schaute mal aus dem Wohnzimmerfenster, um zu beobachten, was auf der Straße vor sich ging, mal aus dem Fensterchen in der Wohnungstür, um das Geschehen im Treppenhaus zu verfolgen.
Zunächst aber tat sich gar nichts. Erst nach etwa zwanzig Minuten hielten, beinahe zeitgleich, ein BMW 2000 und ein Ford 12 M Kombi vor dem Haus. Ein älterer und ein noch ziemlich junger Mann, vermutlich die angeforderten Kriminalpolizisten, entstiegen dem BMW. Aus dem Ford Taunus schwang sich ein Handwerker im typischen grauen Kittel. Er war von sehr massiger Statur, bewegte sich im Gegensatz dazu aber erstaunlich dynamisch. Zweifellos war das der Mann vom Schlüsseldienst. Die drei begrüßten einander kurz und gingen zur Haustür. Theo Kettling verließ eilig seine Position, ging vom Wohnzimmerfenster zur Wohnungstür mit ihrem kleinen Ausguck. Die Männer kamen herauf, und nun machte sich doch das Übergewicht des Handwerkers bemerkbar. Während die beiden Kripo-Beamten in guter Verfassung eintrafen und den freundlichen uniformierten Polizisten mit Handschlag begrüßten, rang der Herr über geschlossene und offene Türen nach Luft, bekam einen beängstigend ausufernden Hustenanfall und musste sich sogar kurzzeitig am Treppengeländer abstützen, um sich auf den Beinen halten zu können.
Dafür lief er bei der anschließenden Ausübung seiner Tätigkeit wieder zur Hochform auf. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet und irgendwas aus dem Werkzeugkasten gekramt hatte – Theo Kettling konnte kaum etwas erkennen, weil der kräftige Mann im grauen Kittel direkt vor dem Schloss stand – sprang nach wenigen Sekunden die Tür auf. Beinahe synchron hielten alle den Arm vor das Gesicht. In diesem Moment kam eine Frau die Treppe hochgeeilt, in der Hand eine große Ledertasche. Der angeforderte Arzt war eine junge Ärztin – eine überaus attraktive Erscheinung, soweit Theo Kettling das in seinem angespannten Zustand und durch den winzigen Spalt zwischen Raffgardinchen und Türblatt beurteilen konnte. Im krassen Gegensatz zu den im Hausflur versammelten Männern zeigte sich die Medizinerin von dem Gestank völlig unbeeindruckt und stürmte geradewegs in die Wohnung. Die drei Polizisten fühlten sich offenbar bei der Ehre gepackt, verabschiedeten den Mann vom Schlüsseldienst und folgten ihr. Theo Kettling warf gerade noch einen flüchtigen Blick in die Diele des alten Rott, sah ein paar Möbel und einen dunklen Fußboden mit unzähligen weißen Punkten. Dann konnte er nicht mehr hinsehen, genauso wie er manchmal bei den Jack-Arnold-Filmen nicht hatte hinsehen können und bei den unerträglich spannenden Szenen die Augen zusammenkniff.
So beschloss er, seinen Beobachtungsposten ein vorerst letztes Mal zu wechseln und nur noch vom Wohnzimmerfenster aus das Geschehen vor dem Haus zu verfolgen. Hier stand immer noch der unfreundliche Polizist. Hin und wieder setzte er sich in den schwarzen Mercedes und sprach in das Mikrofon des Funkgerätes. Theo Kettling vermutete, dass er den Knopf beim Sprechen gar nicht drückte, sondern sich nur eine Legitimation für das Fernbleiben vom eigentlichen Ort des Geschehens verschaffen wollte.
Wieder tat sich lange Zeit nichts, außer dass Herr Mazzarello aus dem ersten Stock das Haus verließ, um sich auf den Weg zur Arbeit zu machen.
das
Und vermutlich wären Theo Kettling gleich die nächsten Bandscheiben herausgerutscht, hätte er auch nur versucht, einen einzigen Liegestütz hinzubekommen.
Doch er hatte schon lange keine Lust und auch keine Kraft mehr, mit all den so verdammt fürsorglichen Leuten zu diskutieren und ihnen zu erklären, dass ihre Ratschläge in seinem Fall nicht anwendbar waren. So beschränkte er sich darauf, für die Empfehlungen zu danken und zu versichern, sie zu beherzigen. Auf diese Weise gelang es ihm am schnellsten, die vereinigten Quacksalber und Laienmediziner ruhigzustellen.
Er schloss die Tür und ging zurück ins Wohnzimmer. Beim Blick aus dem Fenster sah er, wie Hauptkommissar Nölle draußen von seinem jüngeren Kollegen erwartet wurde. Ohne ein Wort zu wechseln, stiegen beide in den BMW und fuhren davon. Auch der Leichenwagen war mittlerweile weg.
Theo Kettling blickte gedankenverloren auf die Straße, auf der das Leben wie an jedem Morgen eines Wochentages pulsierte, als Frau Kuhbier mit ihrem gleichermaßen charakteristischen wie nervigen Sturmläuten Einlass begehrte.
»Ich müsste ja eigentlich schon auf dem Weg zur Arbeit sein, aber ich wollte doch noch mal schnell vorbeigucken. Stellen Sie sich vor, der Kommissar hat mich befragt, aber nur ganz kurz, er wollte wissen, ob der alte Rott Angehörige oder Freunde hatte. ›Na, Freunde hatte der bestimmt keine‹, hab ich gesagt. ›Und wohl auch keine Angehörigen.‹ Und dass im Haus auch keiner Kontakt zu ihm hatte, es sei denn, er hat mal wieder Streit mit irgendjemandem von uns angefangen. Und dann wollte er noch wissen, warum niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte. ›Na, Moment mal‹, hab ich gesagt, ›was heißt denn, dass keiner was mit ihm zu tun haben wollte, wollte doch nicht. Herr Kommissar‹, hab ich gesagt, ›Sie hätten den alten Miesepeter mal erleben müssen‹, und dann wollte er …«
»Hat er Sie auch gefragt, ob Sie glauben, dass der Alte sich umgebracht hat?« Wie gewöhnlich musste Theo Kettling Frau Kuhbiers Redefluss unterbrechen, um zu Wort zu kommen.
»Nein, Sie etwa?« Ihre Stimme klang freudig erregt.
»Ja. Ich habe ihm gesagt, dass ich das eigentlich nicht glaube, obwohl wir beide uns darüber schon mal Gedanken gemacht hätten.«
»Und?« Frau Kuhbier schien vor Neugier fast zu platzen. »Nun lassen Sie sich doch nicht jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen! Finden die heraus, was da passiert ist? Und geben die es dann auch bekannt?«
»Ich glaube schon. Wahrscheinlich wird eine Obduktion angeordnet, und dann wird wohl die Presse informiert werden … glaube ich jedenfalls.«
»Da bin ich aber wirklich gespannt, vielleicht hat er sich ja tatsächlich …« Frau Kuhbier deutete mit Zeige- und Mittelfinger an ihre Kehle und bewegte die Hand unter Darbietung eines hässlich krächzenden Geräusches von links nach rechts. »Na, jedenfalls umgebracht wird ihn wohl keiner haben, obwohl man ihm ja manchmal wirklich am liebsten den Hals umgedreht hätte.«
Beide mussten laut lachen.
»Nein, umgebracht wurde er bestimmt nicht. Es sei denn … Sie werden doch nicht etwa die Nerven verloren haben, Frau Kuhbier?«
Nach all der Aufregung wirkte das gemeinsame Lachen befreiend, und beide hatten Mühe, sich wieder einzukriegen.