Inhalt

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Zitat
  5. Danksagung
  6. Prolog
  7. Kapitel 1
  8. Kapitel 2
  9. Kapitel 3
  10. Kapitel 4
  11. Kapitel 5
  12. Kapitel 6
  13. Kapitel 7
  14. Kapitel 8
  15. Kapitel 9
  16. Kapitel 10
  17. Kapitel 11
  18. Kapitel 12
  19. Kapitel 13
  20. Kapitel 14

Nina Ziegler

mit Andreas Micus

Schmerzenskind

Aus der Hölle meiner Kindheit in ein glückliches Leben

BASTEI ENTERTAINMENT

Man kann das Leben nur rückwärts verstehen,
aber leben muss man es vorwärts.

Søren Kierkegaard

Ich danke meinem Vater und meinem Lebensgefährten für ihre beispiellose Hilfe.

Ohne sie würde es mich heute nicht mehr geben.

Danke auch an meine Freunde Markus, Bella und Tatjana.

Prolog

Es sind nur noch knapp zwei Kilometer, die ich schaffen muss. Vorsichtig lenke ich den Wagen durch unser still daliegendes Wohngebiet.

Es ist Freitagabend kurz vor 18 Uhr. In den kleinen Einfamilienhäusern ist um diese Zeit schon Ruhe eingekehrt. Die Bewohner haben es sich in ihren vier Wänden gemütlich gemacht. Nur in wenigen Hauseingängen brennt noch eine Lampe. Die meisten Vorgärten sind stockdunkel. Aus Fenstern flackern die grellen Lichter der Fernseher, und in einem hell erleuchteten Wintergarten sitzt eine Familie am Tisch und spielt Karten.

Die Straßen sind um diese Zeit menschenleer. Kein Auto kommt mir entgegen, und auf dem Bürgersteig ist nur noch eine ältere Frau mit ihrem Hund unterwegs. Die wenigen Laternen hüllen die Welt in ein schummriges Licht, das der Abendstimmung um diese Zeit immer etwas Unwirkliches verleiht.

Noch einmal abbiegen, dann ist es geschafft.

Eigentlich bin ich eine gute Autofahrerin. Aber wenn mich diese verdammte quälende Angst packt, fühle ich mich unsicher. Dann fahre ich nur noch im Schritttempo, denn sie schnürt mir nicht nur die Luft ab, sie setzt auch meinen ganzen Körper unter Strom. Meine Muskeln erstarren, und mein Herz pocht so stark, dass mir der Gedanke kommt, ab einem bestimmten Punkt könne es seinen Dienst versagen und einfach aufhören zu schlagen.

Ich japse verzweifelt nach Luft. Das Fenster! Verdammt, warum lässt es sich nicht öffnen? Wo ist die Taste des Fensterhebers? Das Armaturenbrett ist schlecht beleuchtet. Ich kann kaum etwas erkennen.

Die erfolglose Suche bringt mein Herz noch mehr in Fahrt. Es überschlägt sich jetzt fast. Zu allem Unglück wird mir auch noch übel, speiübel. Meine Güte, ich muss mich übergeben. Soll ich bremsen? Nein, Nina, halte durch, es sind nur noch ein paar Meter. Dann hast du es geschafft, motiviere ich mich selbst auf den letzten Metern.

Gleich bin ich da. Ich sehe schon den gelblichen Schein meiner Straßenlaterne. Ich sage »meine Laterne«, weil ich sehr, sehr oft in ihrem warmen Schein stehe und der Parkplatz, den sie in ihr milchiges Licht taucht, mir seit Jahren vertraut ist.

Ich weiß nicht, wie oft ich hier schon mit meinem Wagen gestanden und geduldig darauf gewartet habe, dass diese schreckliche Angst verschwindet und mich zumindest vorübergehend freigibt für ein ganz normales Leben. Ich komme in manchen Wochen jeden Tag hierher und bleibe viele Stunden. Einmal habe ich sogar eine ganze Nacht auf dem Parkplatz verbracht. Aber es gibt auch Tage, an denen es mir so gut geht, dass ich die Auszeit hier unter meiner Laterne nicht brauche. Das sind die Tage, an denen ich wirklich glaube, ich könnte ein ganz normales Leben führen.

Noch einmal drücke ich vorsichtig auf das Gaspedal. Der Wagen rollt fast schon von selbst auf den Parkplatz, der mir einen Hauch ersehnte Sicherheit verspricht. Es ist geschafft! Ich komme vor der hohen Friedhofsmauer zum Stehen. Uff, ich bin da. Gott sei Dank! Doch kaum habe ich den Zündschlüssel auf Aus gestellt, beginnen meine Hände ganz heftig zu zittern. Mir wird heiß, fürchterlich heiß. Mein Körper scheint innerlich zu brennen, und gleichzeitig spüre ich kalten Schweiß auf meiner Haut. Ich bekomme keine Luft mehr, greife mir mit beiden Händen an den Hals, als ob ich mir die quälende Enge einfach wie einen zu fest gewickelten Schal wegreißen könnte. Mein Mund ist trocken. Ich fürchte zu ersticken.

Oh mein Gott, heute packt mich die Angst besonders schlimm. Hektisch krame ich in meiner Handtasche nach meinem Notfallbeutel, der alle Medikamente enthält, die mir während einer dieser schlimmen Angstattacken helfen. Ich weiß genau, was ich jetzt brauche, und schiebe mir viel mehr als die normale Dosis in den Mund. Die Pillen beruhigen mich und helfen, die Situation wieder zu beherrschen. Denn am schlimmsten ist für mich der Kontrollverlust. Wenn die Angst heraufkriecht, kann ich nicht mehr garantieren, dass ich alles im Griff habe. Ich fühle mich dann ausgeliefert und hilflos. Den Pillen aber kann ich vertrauen. Beruhige dich, Nina. Es wird gleich wieder alles gut sein, beschwöre ich mich selbst.

Wie lange es heute dauert, bis die Angst verschwindet, weiß ich nicht. Es kann in einer halbe Stunde sein oder in drei Stunden oder auch erst in zehn Stunden.

Es ist Januar, und draußen weht ein eisiger Wind. In der Frühe hat es geschneit. Die Straßen sind längst freigetaut, aber auf den Grabsteinen ist der Schnee liegen geblieben und schmiegt sich an wie ein Sahnehäubchen auf einem Kuchen.

Ob ich heute noch zurück nach Hause kann? Es geht mir nicht gut. Ich habe im Radio ein Lied gehört, das mich an früher erinnert hat. Verdammte Angst! Sie nimmt mir mein Leben.

Ich schließe die Augen und versuche, mich ganz auf meine Atmung zu konzentrieren. Das habe ich in all den Therapien unzählige Male geübt. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Ich fokussiere mich dabei auf mein Zwerchfell, das sich langsam hebt und senkt, immer wieder und wieder.

Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und nichts tue, außer zu atmen und auf mein Zwerchfell zu achten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Einatmen, bis drei zählen und ganz langsam die Luft auspusten. Aber es bewirkt nichts. Ich werde kein bisschen ruhiger. Im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, mein Körper könne jeden Moment explodieren. Wumm! Und dann war es das mit meinem Leben.

Mir ist plötzlich fürchterlich heiß, und ich habe Angst zu sterben. »Nina«, sage ich laut zu mir selbst und versuche, mich zur Raison zu rufen. »Nina, komm! Halte durch. Atme. Zähle. Atme.«

Nina! Nina?

»Nina, was ist los? Du rutschst ständig auf deinem Stuhl hin und her. Das ist ja schlimm. Musst du mal Pipi machen? Dann geh bitte auf die Toilette.«

Ich bin sieben Jahre alt und sitze an einem Sechsertisch im Kinderhort in Frankfurt. Wir sollen alle ein Osterbild malen. Doch das Blatt vor mir ist immer noch leer. Während die anderen Kinder ihre Bilder schon fast fertig haben, sitze ich ganz vorn auf dem Stuhlrand und starre auf das Papier. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich kann einfach nicht an Häschen und Ostereier denken. Es tut mir alles so weh. Meine Beine, mein Po, und ganz schlimm brennt mein Rücken.

»Nina? Hörst du bitte. Ich habe dich etwas gefragt.«

Ich höre Frau Bitterbergs Stimme deutlich, aber ich will sie nicht verstehen.

Frau Bitterberg ist meine Betreuerin.

Sie sieht mich jetzt fragend an. Frau Bitterberg kennt mich und weiß, wie gern ich male. Ich male schöne Bilder. Sie sind immer ganz bunt. Oft schaffe ich sogar drei, vier, die Frau Bitterberg dann in meine Kunstmappe legt. Aber heute geht es nicht. Heute funktioniert mein Kopf nicht. Weil mir alles so wehtut. Ich will mich zusammenreißen, wirklich. Ich will nicht, dass jemand etwas merkt, schon gar nicht Frau Bitterberg. Deshalb schüttle ich den Kopf und sage nichts. Ich schaue zu Boden und hoffe, dass sie schnell weitergeht und sich die Bilder der anderen Kinder ansieht.

Aber Frau Bitterberg lässt sich nichts vormachen. Sie sieht genau, dass etwas nicht stimmt mit mir.

Ich versuche jetzt, ganz ruhig zu sitzen. Vielleicht lässt sie mich dann in Ruhe. Aber es geht nicht. Ich kann nicht. Es tut zu sehr weh. Meine beiden Pobacken sehen fast so aus wie das Kotelett, das meine Oma mir kürzlich gebraten hat. Ganz rot. Die Haut ist eingerissen und blutet. Die Schläge, die ich gestern Abend von Heiko bekommen habe, waren schlimmer als alle davor.

Er hörte einfach nicht auf. Wieder und wieder klatschte seine Riesenhand auf meinen nackten Po. Ich versuchte wie immer, mir etwas Schönes vorzustellen, an meinen Stoffteddy Bärchen zu denken. Bärchen ist mein bester Freund. Ich erzähle ihm alles, und er hört mir zu und versteht mich. Wenn ich weinen muss, drücke ich mein Gesicht an Bärchens flauschiges Fell, und wenn ich nicht einschlafen kann, nehme ich ihn ganz fest in den Arm.

Bärchen ist kein normaler Teddybär. Er kann sprechen und sogar singen. Am liebsten singt er mit mir. Und er möchte mir auch helfen, wenn mich Heiko schlägt. Aber das kann er nicht, weil Mama ihn im Schrank wegsperrt. Sie will mich damit bestrafen, wenn ich etwas falsch gemacht habe.

Ich versuchte auch an die süßen Tierbilder aus dem Malbuch zu denken, das ich von Oma Elisabeth zu Weihnachten bekommen habe. Darin sind kleine Hunde abgebildet, genauer gesagt Schnauzer. Solche, die Opa züchtet. Und so süße Rehe, wie ich sie mal mit Opa bei einem Spaziergang gesehen habe. Aber lange konnte ich nicht an die Tiere denken. Denn mit jedem Schlag schmerzte es mehr, brannte wie Feuer. Flapp, flapp, flapp, traf mich seine große Hand. Ich konnte an nichts mehr denken, weder an Bärchen noch an all die anderen Tiere. Erst tat nur mein Po weh, dann mein ganzer Körper und später sogar mein Kopf. Es war, als ob ich ein Feuer in meinem Kopf hätte, das alles verbrannte.

Wenn es so wehtut, dass ich an gar nichts mehr denken kann, dann weiß ich, dass ich bald ohnmächtig werde.

Früher hatte ich Angst davor, aber mittlerweile freue ich mich darauf. Denn dann ist es endlich vorbei.

Aber gestern war alles anders. Mein Blut hielt mich bei Bewusstsein. Ich sah es auf den Boden tropfen, direkt neben Heikos karierten Hausschuhen. Bloß nicht, nein, nein, hämmerte es in meinem benommenen Kopf. Mein Blut macht den Boden schmutzig. Ich wusste, dass es dafür weitere Schläge geben würde. Er würde nicht mehr aufhören, mich zu schlagen. Er würde einfach weiterschlagen, bis ich tot war.

Mama? Mama?!

Ich sah schemenhaft ihre Füße. Sie steckten in zwei pinkfarbenen Sandalen. Sie hatte sich auf meinen Kinderstuhl gesetzt, um zuzusehen, wie Heiko mich bestrafte. Das macht sie immer: Sie steht daneben, nicht teilnahmslos, nein, sie sieht interessiert zu.

Warum lässt sie das zu?

»Mama, Mama«, wimmerte ich kaum hörbar. Warum half sie mir nicht einmal jetzt?

Dann spürte ich nichts mehr. Es wurde dunkel. Ich schwebte. Es war vorbei …

*

Ein Auto fährt jetzt auf den Parkplatz und kommt wenige Meter neben mir zum Stehen. Ein junger Mann steigt aus. Er hat sich die dicke Strickmütze so tief ins Gesicht gezogen, dass man ihn kaum noch erkennen kann. Eilig holt er zwei voll bepackte Plastiktüten aus dem Kofferraum und geht mit schnellen Schritten durch die Dunkelheit zu einem der kleinen Reihenhäuser am Ende der Straße. Als er das eiserne Gartentörchen öffnet, geht die Beleuchtung an. Wenige Sekunden später öffnet sich die Haustür, und ein kleines Mädchen springt ihm direkt in die Arme.

»Nina, Nina, sag doch was!« Ich höre von Weitem eine Kinderstimme. Sie gehört Silke, meiner zehn Monate jüngeren Schwester.

Wo bin ich? Von draußen dringt etwas Licht durch die Gardine. Ich bin in meinem Kinderzimmer. Silke hat sich über den Flur zu mir geschlichen, steht jetzt an meinem Bett und sieht mir ins Gesicht.

»Sei bloß leise«, murmle ich gequält. »Du weißt, wir dürfen nachts nicht sprechen.«

Silke nickt und sieht mich mit weit aufgerissenen Augen an. »Du hast nichts mehr gesagt gestern. Mama und Heiko haben dich ins Bett gelegt, und du warst wie tot. Sie meinten, dass du zur Strafe die ganze Nacht nichts trinken dürftest und ich dich in Ruhe lassen solle. Aber ich will doch wissen, wie es dir geht.«

Silke weint jetzt. Dicke Tränen schießen ihr aus den Augen. Ich greife nach ihrer Hand, drücke sie fest.

»Ich lebe noch«, sage ich leise. »Aber es tut so furchtbar weh. Ich glaube, er hat mir gestern etwas gebrochen.«

»Nina, da ist Blut auf der Matratze.«

Und dann höre ich Silke herzzerreißend schluchzen. »Nina«, murmelt sie mit zittriger Stimme. »Wenn sie das sehen, dann kommt Heiko morgen früh gleich wieder und haut dich weiter. Sieh doch, das viele Blut. Wir dürfen doch nichts schmutzig machen!«

Ich weiß. Und wenn Silke noch länger mit mir spricht, bekomme ich die Schläge gleich. Heiko hört alles, und wenn er nichts hört, hört es Mama, und die sagt ihm dann sofort, dass er mich bestrafen muss. Für zu lautes Sprechen, für das Aufstehen, für das Umdrehen im Bett, für egal was. Ich weiß längst nicht mehr, warum ich immer geschlagen werde. Warum sagt Mama ihrem Freund nicht einfach, dass er mich gleich totschlagen soll?

»Silke, geh ins Bett, bitte, wir dürfen nicht sprechen … Wo ist Bärchen?«

»Auf dem Schrank. Mama hat ihn ganz oben auf den Schrank gelegt. Du darfst doch nicht mit ihm spielen, wenn du etwas falsch gemacht hast. Dafür hast du doch auch die Schläge bekommen.«

Ich weiß, ich habe am Tisch beim Abendessen gesprochen. Wir dürfen nicht sprechen, wenn wir essen. Wir dürfen nur wortlos hinunterschlucken, was Mama uns hinstellt, stumm, leise, das Gesicht dem Teller zugewandt. Und wenn wir fertig sind, schickt uns Mama in unser Zimmer.

Ich wollte beim Essen erzählen, dass Frau Bitterberg eines meiner Bilder in den Flur gehängt habe, weil es ihr so gut gefiel. Aber ich durfte das nicht. Mama ist sofort wütend geworden, und ich musste ins Zimmer gehen und auf Heiko warten …

Ich liege die restliche Nacht auf dem Bauch. Nur so bekomme ich Luft. Ich spüre den Schmerz bis in die Zehenspitzen.

»Mama, Mama, es tut so weh«, wimmere ich, und mein Kopfkissen ist pitschnass von meinen Tränen. Ich weine nach meiner Mutter, obwohl ich längst weiß, dass Mama meine Tränen nicht sehen und auch mein Wimmern nicht hören will. Mama liegt mit Heiko im Bett und schläft bestimmt ruhig und fest, so wie mit all den anderen Männern auch, die immer bei uns sind.

Und dann falle ich aus Erschöpfung doch in einen kurzen unruhigen Dämmerschlaf.

»Nina, komm, wir müssen zur Schule!« Silke zupft an meinem Schlafanzugärmel. Ich kann sie kaum sehen. Meine Augen sind ganz verquollen von den Tränen.

»Hat Mama schon gerufen?«, presse ich ängstlich heraus.

Silke nickt.

»Ja, komm schnell. Sonst kriegen wir wieder Ärger. Los, du musst kommen«, quengelt sie weiter und zieht mir schon die Bettdecke zur Seite. Tränen schießen ihr in die Augen, ängstlich presst sie sich die Hand vor den Mund. »Nina, sieh, das Bett, es ist alles voller Blut. Er bringt uns jetzt um, uns beide, ganz bestimmt!«

Silke hat recht. Das Bettlaken, das Betttuch, alles ist voller Blut. Mein Höschen ist rot durchnässt.

»Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragt mich Silke, und ihre Stimme zittert heftig.

»Ich weiß es nicht«, antworte ich verzweifelt. Ich bin doch erst sieben Jahre alt. Ich kann nichts machen. Ich kann nur warten, bis es eines Tages vorbei ist und ich morgens nicht mehr aufwache, wenn Silke an meinem Schlafanzug zuppelt.

»Ich komme«, sage ich knapp und habe jetzt so weiche Knie, dass ich mich beim Aufstehen kaum auf den Beinen halten kann. Aber ich muss jetzt aus dem Bett, ganz schnell, damit Mama nicht gleich wieder böse wird. Wenn wir Mädchen nicht pünktlich um zehn nach sieben in der Küche sind, gibt’s Schläge.

Heiko liebt Schläge mit der Handkante. Er donnert sie uns ins Genick, und wenn wir unter der Wucht der Schläge das Gleichgewicht verlieren und ihm dabei nicht weiter in die Augen schauen, schlägt er gleich noch mal zu.

Bitte, bitte, nicht heute. Ich weiß nicht, wie ich auf den Beinen bleiben soll. Ich will mir nicht vorstellen, was passiert, wenn ich hinfalle und ihn deshalb nicht ansehen kann. Nein, bitte nicht, ich will es mir nicht vorstellen.

»Komm, Nina, wir müssen ins Bad!« Silke weint jetzt so bitterlich, dass ich Mühe habe, sie zu verstehen. Es ist die Angst, die sie so weinen lässt. »Nina, bitte, bitte komm«, fleht sie, und ich quäle mich ins Badezimmer. Jeder Schritt schmerzt. Aber ich darf mir nichts anmerken lassen. Ich muss mich zusammenreißen, egal, wie weh es tut. Ich darf nicht weinen, nicht das Gesicht verziehen, ich muss es aushalten. Beim Frühstück, auf dem Weg zum Bus und auch in der Schule und später im Hort.

Irgendwie schaffe ich es. Die Lehrer scheinen nichts zu bemerken. Aber jetzt im Kinderhort steht Frau Bitterberg vor mir.

»Was ist los mit dir?«, will sie jetzt wissen und hakt gleich wieder nach. »Musst du auf die Toilette?«

Ich schüttle unsicher den Kopf. Aber Frau Bitterberg nimmt mein Kopfschütteln nicht ernst. Sie greift einfach nach meiner Hand und zieht mich auf den Flur.

»Komm, du kleiner Zappelphilipp, es ist besser, wenn wir das erst einmal erledigen. Du hast heute noch keine Minute still gesessen. Ist es denn so dringend?«

Obwohl ich weiter den Kopf schüttle und mich, so gut es eben geht, sträube, schiebt mich Frau Bitterberg bestimmt vor sich her auf den Flur.

Ich mag Frau Bitterberg. Sie ist lieb, streichelt mir manchmal über den Kopf, und dann schmiege ich mich ganz fest an ihre Beine. Für einen Moment fühlt es sich dann an wie bei einer Mutter, die ihre kleine Tochter in den Arm nimmt.

Frau Bitterberg ist so, wie ich mir meine Mutter wünsche: Sie schenkt mir Wärme und vermittelt mir ein Gefühl der Geborgenheit. Sie passt immer auf mich auf, wenn mich andere Kinder ärgern oder mir meine Malstifte wegnehmen wollen, besonders die schönen, die ich auch so gern nehme. Dann schreitet sie gleich ein und sorgt dafür, dass ich die Stifte zurückbekomme.

Ich wünsche mir schon lange so schöne Malstifte für zu Hause, nur für mich. Aber Mama kauft mir keine. Ich habe einmal gefragt, und da hat sie mir gesagt, dass ich schon welche hätte. Ja, ich habe welche, aber es sind gerade mal vier Farben, und die Stifte sind schon bis auf wenige Zentimeter heruntergespitzt.

Ich habe kein zweites Mal gefragt, weil ich weiß, dass sie das nicht mag. Umso mehr liebe ich die Stifte im Hort. Es gibt alle nur erdenklichen Farben, und bei Frau Bitterberg darf ich meine Bilder in all den herrlichen Farben auch zu Ende malen …

Jetzt steht sie mit mir in der engen Toilettenkabine.

»So, Nina, jetzt mach erst einmal Pipi, damit du ruhiger wirst. Du bist ja wie ein kleiner Flipper«, scherzt sie und knufft mir liebevoll in die Wange, während sie mir die Hose herunterziehen will. Ich versuche mich zur Seite zu drehen. Ich will das nicht. Sie soll mich nicht ausziehen. »Nein, bitte nicht«, stammle ich und weine. »Nein, nein, nicht!« Aufgeregt schiebe ich ihre Hände zur Seite.

Doch es ist zu spät, die Hose hängt in Höhe der Knie. Jetzt zieht sie an meinem Slip. Das ist furchtbar. Frau Bitterberg wird sehen, wie mein Po aussieht.

Jetzt wird alles noch schlimmer werden! Ich zittere am ganzen Körper und habe grauenvolle Angst. Ich darf doch niemandem sagen, was sie zu Hause mit mir machen. »Ich schlage dich dann so, wie du es noch nie erlebt hast!«, hat Heiko mir für diesen Fall angedroht, und ich weiß, dass er es auch so meint.

Frau Bitterberg setzt mich jetzt ganz vorsichtig auf die Toilettenbrille und streichelt dabei liebevoll meine beiden Arme.

Komisch, sie sagt kein Wort, nichts. Sie muss gesehen haben, wie ich aussehe. Ganz sicher! Aber sie spricht nicht darüber. Sie sieht mich nur die ganze Zeit an, und dann nimmt sie mich in die Arme, ganz fest, und ich sehe, dass ihre Augen feucht sind. Weint sie? Wegen mir?

»Komm, Nina, wir gehen jetzt wieder zu den anderen. Ich gebe dir ein weiches Kissen, dann kannst du besser auf dem Stühlchen sitzen.«

Ihre Stimme ist jetzt ganz weit weg. Es ist die Angst, die mich so umhüllt, dass ich nicht mehr richtig höre, nichts mehr richtig wahrnehme. Wie in Watte gehüllt gehe ich über den Flur zum Gruppenraum zurück. Ich stakse, weil mir jeder Schritt Schmerzen bereitet. Was wird passieren, wenn ich nach Hause komme? Erst das blutige Bett und jetzt vielleicht ein Anruf oder gar ein Besuch von Frau Bitterberg. Das ist das Ende. Ich habe keine Chance. Heiko wird mich so lange schlagen, bis ich zusammengekrümmt am Boden liege, und Mama wird geduldig zusehen, wie immer, und dabei lächeln, wie immer. Auf jeden Fall wird sie mir nicht helfen. Sie wird das alles geschehen lassen. Warum nur liebt sie mich nicht?