Rettet das Dorf!
Was jetzt zu tun ist
Mit s/w-Abbildungen
Dieses Buch will aufrütteln. Und aufzeigen, was dringend getan werden muss. Denn das Dorf ist in großer Gefahr. Weil es zunehmend Schwachstellungen und Fehlentwicklungen aufweist, die an seine Existenz gehen. Weil es zu viel Ohnmachtsgefühle und Resignation in der Bürgerschaft und Kommunalpolitik auf dem Lande gibt – und zu viele falsche Weichenstellungen in den Zentralen von Politik und Gesellschaft. Das Dorf ist es wert, dass man sich um seine Zukunft sorgt und streitet.
Trotz mancher Lobgesänge auf die Provinz und großer Nachfrage nach »Landlust«-Lektüren geht es der Masse der deutschen Dörfer nicht gut. Und angesichts gravierender Probleme fragen sich Politiker, Experten und Bürger immer häufiger, ob und wie es überhaupt noch gelingen kann, das Dorf lebensfähig zu halten und zukunftsfähig zu machen.
In unseren Dörfern hat in wenigen Jahrzehnten ein epochaler ökonomischer und sozialer Wandel stattgefunden. In den 1950er-Jahren – in meiner Kindheit – war das Dorf noch ein wirtschaftlich und sozial lebendiger und enger, überwiegend auf sich selbst bezogener Kosmos, und vor allem in mehrfacher Hinsicht voll: an Menschen, an Arbeitsplätzen, an öffentlicher und privater Infrastruktur. Heute werden die Dörfer immer leerer: an Menschen, an Arbeitsplätzen, an Schulen, Gasthöfen und Läden. Die Jugendlichen wandern ab, die Älteren bleiben allein zurück. Ein Teufelskreis von realen Verlusten und schlechter Stimmung prägt zehntausendfach das Dorfleben. Für viele Bewohner und Beobachter befindet sich das gegenwärtige Dorf eindeutig in einer Abwärtsbewegung. Nicht wenige sprechen von einer Existenzkrise des Dorfes. Nüchterne bis verzweifelte Weckrufe sind zu hören: »Wir haben doch keine Perspektive mehr!«
Im Kontrast dazu sind aber auch unzählige Aktivitäten und Erfolgserlebnisse in den Dörfern zu beobachten, die verdeutlichen, dass noch längst nicht alles verloren ist. Generell hat das Dorf mit dem Wandel nicht nur vieles verloren, sondern auch Wertvolles gewonnen. Durch Bildung und Mobilisierung ist die Bevölkerung heute wohlhabender, liberaler und weltoffener – Dorfbewohner sind Globetrotter geworden. Die ehemals schroffen Abgrenzungen und Anfeindungen zwischen sozialen Schichten, Katholiken und Protestanten oder Alt- und Neubürgern sind (fast) vorbei. Ländliche Lebensstile sind in, das Dorf wird von seinen Bewohnern geliebt und hat gegenwärtig vielleicht sogar die beste Phase seiner Geschichte.
Dieses Buch will aufzeigen, was passieren muss, damit das Dorf in Deutschland auch in Zukunft eine Chance hat. Was können und sollten Staat, Gesellschaft und Bürger jetzt tun, um das Dorf ökonomisch, demographisch, sozial und kulturell lebensfähig zu halten? Das Buch will Wege aufzeigen, aber auch aufmuntern und Hoffnung machen.
Die Zukunft des Dorfes entscheidet sich auf zwei verschiedenen Ebenen: der »unteren«, konkreten des Dorfes, die überwiegend von seinen Bürgern und der Kommunalpolitik gestaltet wird, und – ebenso wichtig: der »oberen« in den urbanen Zentralen von Politik und Gesellschaft, wo ebenfalls direkt oder subtil Dorfentwicklung betrieben wird. Auf beiden Ebenen werden Weichen gestellt, gibt es Fehlentwicklungen und Versäumnisse. Das Buch will die wesentlichen Schwachstellen der Dorfentwicklung aufzeigen, die sowohl »unten« als auch »oben« verursacht werden. Es werden jedoch nicht nur Diagnosen, sondern auch Strategien und konkrete Möglichkeiten des Umsteuerns präsentiert.
Diese zwei Ebenen, die beide ihre Verantwortung für die Dorfentwicklung tragen, finden sich auch in der Gliederung des Buches. Zuerst stehen das Dorf und die Gemeinde mit ihren Bewohnern und Politikern im Mittelpunkt der Betrachtung. Hier geht es sowohl um eine ungeschönte Darstellung der wichtigsten Probleme und »Baustellen« des heutigen Dorfes, als auch um konkrete Verbesserungen der Einstellungen und Rahmenbedingungen. Vor allem werden auch zahlreiche, bereits existierende positive Wege und Beispiele benannt und beschrieben, die lokal und regional den Dorfbewohnern und Kommunalpolitikern als Vorbild dienen können. Danach richtet sich der Blick auf die Zentralen in Politik und Gesellschaft, die das Dorf und Land »von oben« steuern und gestalten, häufig zu deren Nutzen, allzu oft aber zu deren Schaden. Diese Fernsteuerung und Fremdbestimmung des Landes durch die Politik des Bundes und der Länder, aber auch durch andere zentrale Institutionen wie Kirchen, Hochschulen, Medien, Verbände, Banken und Genossenschaften wird kritisch unter die Lupe genommen. Auch hier werden Verbesserungen der Einstellungen und Rahmenbedingungen zum Wohle des Dorfes angemahnt und aufgezeigt.
Der Autor ist tief überzeugt, dass es sich lohnt, sich für das Dorf und seine Zukunft einzusetzen. Dorf und Land haben einen hohen ökonomischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Mehrwert für den Gesamtstaat, auf den eine Gesellschaft nicht verzichten kann. Nicht zuletzt haben Bürger und Kommunalpolitiker auf dem Lande eine hohe Kompetenz, lokale Anforderungen ehrenamtlich oder genossenschaftlich anzugehen und Verantwortung für das Gemeinwesen zu tragen. Selbstverantwortung und Anpackkultur sind im Dorf tief verwurzelt. Der provokante Buchtitel ›Rettet das Dorf‹ wurde angeregt durch immer häufiger werdende Interview- oder Publikations-Anfragen an den Autor wie »Stirbt das Dorf?«, »Steht eine neue Wüstungsperiode für das Dorf bevor?« oder schlicht »Lasst das Dorf sterben!«. Meine knappe Entgegnung auf diese letztgenannte, fast polemische Aufforderung zu einer Stellungnahme findet sich im Schlusswort.
Das Buch kann und will die komplexe ländliche Realität nicht wissenschaftlich erschöpfend in Tiefe und Breite darstellen. Es soll durch seine Kürze auch für Entscheider und Praktiker aus Politik, Medien, Kirchen und Verbänden und möglichst viele Bürger attraktiv und lesbar sein. Die Freude am Lesen kann vielleicht auch durch meine zwischen den Zeilen erkennbare Grundüberzeugung vermittelt werden, dass ich das Dorf – trotz aller gegenwärtigen Hiobsbotschaften – prinzipiell für zukunftsfähig halte. Wer sich intensiver und tiefer mit der Entwicklung des ländlichen Raumes beschäftigen will, sei auf mein umfassendes Werk ›Das Dorf. Landleben in Deutschland gestern und heute‹ verwiesen.
Dieses Buch richtet sich an alle Bürger und Akteure in Politik und Gesellschaft, die sich für das Dorf interessieren und die etwas für das Dorf tun wollen und deshalb auch konkrete Tipps, Empfehlungen und Beispiele für die Planung und Gestaltung der Zukunft erwarten. Und außerdem an alle, die das Dorf in seinen gegenwärtigen Stärken und Schwächen sowie seinen Perspektiven und Chancen kennenlernen und verstehen wollen.
Es liegt auf der Hand, dass ein knappes, aber thematisch weit gefasstes Buch, das die sehr verschiedenartigen 35 000 deutschen Dörfer im Blick hat, stark generalisieren muss. Jedoch haben die unterschiedlichen Dorftypen und Dorfregionen auch viele Gemeinsamkeiten, bei den Stärken und Schwächen wie bei den Chancen und Perspektiven. Diese werden hier im Vordergrund stehen. Das individuelle Dorf wird aber auch in Hunderten von konkreten Beispielen aus allen Teilen des Landes zur Geltung kommen. Unter »Dorf« werden hier – generalisiert – alle ländlich geprägten Ortschaften bis etwa 10 000 Einwohner gefasst. Damit sind auch Tausende von Kleinstädten in die Betrachtung einbezogen, deren Probleme und Chancen mit denen der größeren Dörfer durchaus vergleichbar sind.
Ich hoffe, mit diesem Impuls-Buch für das zukünftige Dorf möglichst viele Leser zu erreichen und auch zum Mitdenken, Mitgestalten und Mitmachen anzuregen. Das Dorf braucht viele Akteure, aber auch den Respekt und die Unterstützung in allen Bereichen von Staat und Gesellschaft.
Wenn dem aufmerksamen Leser Fehler, Überzeichnungen oder Defizite auffallen sollten, bin ich für entsprechende Hinweise dankbar.
Gerhard Henkel, Fürstenberg/Westfalen im Sommer 2016
Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein Sachbuch über die Zukunft unserer Dörfer bereits nach gut einem Jahr in die 2. Auflage gehen kann. Noch nie zuvor habe ich nach Erscheinen eines neuen Buches so viele – fast ausschließlich positive bis begeisterte – Zuschriften bekommen. Aus vielen sprachen auch die Sorgen um die konkrete Entwicklung »ihrer« Dörfer und Kleinstädte. Mehrere Hundert Leser sprachen mir ihren Dank aus, luden mich zu Vorträgen, Interviews, Expertengesprächen oder schriftlichen Kurzbeiträgen ein, darunter sehr viele Bürgermeister, Gemeinderäte und engagierte Dorfbewohner, aber auch lokale und regionale Vereine sowie überregionale Verbände, Kirchen, Parteien, Ministerien und nicht zuletzt die Print- und Online-Medien sowie die Rundfunk- und Fernsehanstalten in allen Teilen der Republik. Aus Zeitgründen konnten leider längst nicht alle Anfragen erfüllt werden.
Das Buch hat offenbar vielen Bürgern aus der Seele gesprochen, aber auch zahlreiche politische und gesellschaftliche Institutionen erreicht und vielen Mut gemacht, sich für das Dorf zu engagieren. Durch die zahlreichen Beispiele und die Vorstellung alternativer Leitbilder hat es Wege aufgezeigt und Orientierung gegeben. Sicherlich hat es auch manche irritiert, vielleicht aber auch zum Nach- und Umdenken angeregt.
Bei meinen zahlreichen Reisen seit dem Erscheinen des Buches haben sich meine Kenntnisse vom ländlichen Deutschland nochmals erweitert. Einiges davon wird die 2. Auflage bereichern. Die Lage und die Stimmung auf dem Land sind weit gespannt: von ökonomisch stark bis schwierig, von zufrieden bis gereizt oder gar resigniert. Alles hat seine Gründe, die man wahrnehmen und auf die man reagieren sollte. Einige neue Studien zu den negativen Konsequenzen der kommunalen Gebietsreformen sind im letzten Jahr publiziert worden und werden natürlich in dieser Auflage präsentiert. Ebenso sind mehrere auffällige Entwicklungen in Dörfern und Kleinstädten oder positive Förderprogramme aus den Ländern wie in Rheinland-Pfalz zugunsten von Dorfläden und Altentreffpunkten in kleinen Gemeinden eingefügt worden.
Auch an dieser Stelle möchte ich allen Lesern, die mir geschrieben haben, danken. Es hat mich nicht nur fachlich bereichert, es macht mir auch Mut und bestärkt mich, die Interessen unserer Dörfer und Kleinstädte weiter zu vertreten.
Dem dtv Verlag danke ich herzlich für die stets wohltuende Betreuung und die Bereitschaft, dieses für unsere Gesellschaft wichtige Buch auch in der 2. Auflage in der schönen Buchform herauszugeben.
Gerhard Henkel, Fürstenberg/Westfalen, im Januar 2018
In unseren Dörfern und Landregionen sind heute zahllose Probleme und »Baustellen« zu beobachten. Sie zeigen sich direkt, wie zum Beispiel im leer stehenden traditionsreichen Gasthof, oder kaum sichtbar, wie der massenhafte Wegzug junger Menschen oder eine resignativ lähmende Stimmung in vielen, still leidenden Dörfern, die sich vernachlässigt fühlen. Die meisten Probleme hängen miteinander zusammen. Politiker und Wissenschaftler sprechen neutral von einem harten ökonomischen und sozialen Strukturwandel, andere von einem »Teufelskreis«, der sich ständig weiter nach unten dreht, und nicht wenige gar von einer beängstigenden Existenzkrise des Dorfes, die möglicherweise in einer großen Wüstungsphase (wie im Spätmittelalter) enden wird.
In diesem ersten Teil des Buches werden die wichtigsten Problembereiche in neun Themenblöcken in den Blick genommen, und zwar aus Sicht der lokalen Handlungsebene der Bewohner und Kommunen. Es geht darum, was Bürger und Kommunalpolitiker zur positiven Entwicklung des Dorfes in Zukunft tun können. Jedes Kapitel widmet sich zunächst den gegenwärtigen Schwächen, Versäumnissen und Fehlentwicklungen des Dorfes und zeigt dann konkrete Beispiele und Ideen, wie in vielen Dörfern Deutschlands durch kommunale und bürgerschaftliche Aktivitäten dem Abwärtstrend getrotzt wird, wie Läden gerettet oder ein neuer Aufschwung durch innovative Bürgervereine angezettelt werden. Die Beispiele sollen anregen und aufwecken und Hoffnung machen, dass Stagnation und fehlendes Selbstbewusstsein nicht von Dauer sein müssen. Die positiven Initiativen und Aufschwungbewegungen zeigen aber auch klar, dass Bürger und Kommunen in vielen Orten mehr als bisher tun können und müssen, um auch ihr Dorf aus einer weiteren Abwärtsspirale zu retten. Jedes Kapitel endet mit einem Fazit und der Frage: Was bleibt zu tun?
Im zweiten Teil des Buches wird der Blick auf die »da oben«, die Zentralen in Politik und Gesellschaft gerichtet. Und es wird insbesondere gefragt, ob und wie diese mit ihrer Fernsteuerung und Fremdbestimmung dem Dorf und Land nicht nur Nutzen, sondern allzuoft auch erheblichen Schaden zufügen. Auch diese Zentralen können und müssen also ihren Beitrag zur »Dorfrettung« leisten, wie in konkreten Forderungen und Wünschen in jedem Kapitel ausgeführt wird.
Was fällt dem aufmerksamen Dorfbesucher heute sofort ins Auge: leer stehende Gebäude – vor allem im alten Ortskern. Noch vor 50 oder 60 Jahren sah er das Gegenteil. Alle Dörfer in Deutschland waren im wahrsten Sinne des Wortes »voll«: Jeder Quadratmeter wurde genutzt – durch Wohnungen, Handwerks- und Gewerbebetriebe, Ställe für Tiere, Speicher für Erntevorräte und Schuppen für Maschinen. Da nicht genügend Platz in den Dorfkernen war, schuf man Neubaugebiete an den Rändern, verlegte landwirtschaftliche Betriebe in die Flur. Heute leiden die meisten deutschen Dörfer und Kleinstädte an Leerstand von Gebäuden, und zwar mit zunehmender Tendenz, die Leerstandsquote schwankt zwischen 5 und 40 %. Dorfbewohner und Experten sehen dies als Zeichen des Niedergangs. Vielen Orten scheint es an die Existenz zu gehen. In einer Presseanfrage einer überregionalen Zeitung vom 4.9.2014 wurde ich um eine Prognose gebeten, »wann das Dorf in Deutschland aussterben wird«.
In der langen Geschichte des Dorfes hat es immer wieder Leerstände durch Abwanderungen oder Zerstörungen gegeben. Am schlimmsten war es vor gut 600 Jahren, als in Deutschland etwa 40 000 Orte wüstfielen und in manchen Regionen wie der Paderborner Hochfläche, der Schwäbischen Alb oder dem Eichsfeld etwa drei Viertel aller bestehenden Dörfer zu Wüstungen und damit auf Dauer aufgegeben wurden. Sind wir bereits wieder auf dem Weg in diese Richtung? Tatsächlich taucht das Wort der modernen Wüstung in der aktuellen Leerstandsdiskussion – gerade unter Raumplanern – immer häufiger auf.
Die vorletzte moderne Leerstandsphase auf dem Land fand in den 1960er- und 1970er-Jahren statt. Durch einsetzende Landflucht, die Aussiedlung von Bauernhöfen in die Feldflur und die gleichzeitig boomende Neubautätigkeit an den Dorfrändern entleerten sich die Dorfkerne. Unternutzung und Slumbildung (Verwahrlosung und Verschmutzung) setzte ein, parallel zu ähnlichen Vorgängen in den Stadtkernen. Der Staat reagierte mit Förderprogrammen der Städtebauförderung, der Dorfsanierung und Dorferneuerung, mit denen viele Dorfkerne vor allem optisch aufgewertet wurden. In den 1980er- und 1990er-Jahren profitierte das Land außerdem von vermehrten Zuwanderungen vor allem durch Aus- und Übersiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, sodass viele Dörfer wieder etwas voller wurden.
Etwa seit der Jahrtausendwende erlebt das moderne Dorf nun durch Geburtenrückgang und Abwanderung eine neue Dynamik des Gebäudeleerstands. Betroffen sind vor allem die Ortskerne: ehemalige Bauernhöfe und Handwerkerhäuser, aufgegebene Schulen, Gasthöfe und Dorfläden, bisweilen sogar Kirchen. Oft handelt es sich um große Gebäudekomplexe, die nur schwer umzunutzen sind. Sie stehen entweder komplett leer oder werden nur noch von ein oder zwei älteren Personen bewohnt, wobei eine Nutzungsnachfolge höchst ungewiss ist. Durch die fehlende Nachfrage von Mietern und Käufern sinken die Immobilienwerte rapide. In kleineren Dörfern hat der zunehmende Leerstand vereinzelt schon zur völligen Aufgabe des Ortes geführt. Die erkennbare Abfolge Leerstand – Ruinen – Wüstung ist bisher noch eher eine Ausnahme. Aber der heutige Leerstand scheint in seiner Wucht deutlich stärker als in den 1970er-Jahren. Er betrifft generell nicht nur die wirtschaftsschwachen, sondern auch die prosperierenden Dorfregionen. Er geht – hier sind sich Dorfbewohner und Experten einig – an die Substanz des Dorfes, an den alten Gebäudekern, der das Dorfbild prägt und wesentlich zur Identifikation seiner Bewohner beiträgt.
Ein quasi »natürliches« Ende des gegenwärtigen Leerstands ist nicht in Sicht, da seine wesentlichen Ursachen als konstant erscheinen: Abwanderung und Geburtenrückgang, Verluste der dörflichen Arbeitsplätze und Infrastruktur sowie ein nach wie vor ungebrochener Boom neuer Wohnbauten »auf der grünen Wiese« am Dorfrand. Immer noch gehört es auf dem Land zum guten Image, »draußen« ein »modernes« Haus zu bauen. So kann man beobachten, dass sogar in Dörfern, die an Einwohnern zunehmen, der Leerstand im Kern wächst – zugunsten neuer Wohngebiete am Dorfrand. Generell sind daher nahezu alle Dörfer in Deutschland vom Leerstand in den Kernen betroffen. Allerdings gibt es erhebliche regionale Unterschiede. Besonders gravierend sind die Probleme in den abgelegenen und wirtschaftsschwachen Landregionen wie zum Beispiel im nordöstlichen Bayern, im nördlichen Hessen und südlichen Niedersachsen, in der brandenburgischen Uckermark oder im Landkreis Greiz in Thüringen. Generell sind auch die Dorflandschaften besonders vom Leerstand betroffen, in denen großvolumige Bauernhäuser und Gehöfte vorherrschen, die oft nur mit großem Aufwand zu sanieren und umzunutzen sind.
Aus ähnlichen Gründen leiden Tausende von Kleinstädten in ganz Deutschland unter erheblichem Leerstand in den Kernen, wo sich die oft riesigen Gebäudekomplexe ehemaliger Läden, Gasthöfe, Banken oder Amtshäuser nur schwer umnutzen lassen. Beispiele sind Birkenfeld in Rheinland-Pfalz, Brüssow in Brandenburg, Geisa in Thüringen, Hardegsen in Niedersachsen oder Lommatzsch in Sachsen.
Seit etwa 15 Jahren gerät der zunehmende Gebäudeleerstand in den Dörfern mehr und mehr in den Fokus der Politik und der öffentlichen Diskussion. Zu den Pionieren, die mit gezielten Programmen wie MELAP (Modellprojekt Eindämmung des Landschaftsverbrauchs durch Aktivierung des innerörtlichen Potenzials) oder MELANIE (Modellvorhaben zur Eindämmung des Landschafsverbrauchs durch innerörtliche Entwicklung) gegen den Leerstand vorgingen, gehörten die Länder Baden-Württemberg und Saarland. In den ländlichen Kommunen wurden die Probleme anfangs weniger beachtet bzw. verdrängt. Kollegen aus dem Baden-Württembergischen Ministerium für den ländlichen Raum berichten von ihren ersten Gesprächen mit Bürgermeistern in den Jahren 2002 bis 2004: »Wir haben keinen Leerstand« war die erste Reaktion. Aber letztlich betrug der Leerstand überall zwischen 20 und 35 %, was auch heute generell der Wirklichkeit entsprechen dürfte, wenn man denn genau hinschaut und auch die partiellen Leerstände der Gebäude einbezieht.
Fast alle Bundesländer haben inzwischen ihre dörflichen Förderprogramme komplett umgestellt auf Leerstandserfassungen und Umnutzungskonzepte und -maßnahmen. Zwei gewichtige Ziele möchte man mit der Fokussierung auf die brachliegenden Ortskerne erreichen: Man will zunächst einmal die identitätsstiftende Mitte stärken und damit dem Verfall der Baukultur und der Versorgungseinrichtungen begegnen, zum anderen will man einen ebenso notwendigen Beitrag zur Eindämmung des Landschaftsverbrauchs an den Dorfrändern leisten.
Das neue Motto der Kommunalpolitik »Innenentwicklung statt Außenentwicklung« ist für manche ländlichen Gemeinden noch ungewohnt, seine Umsetzung erfordert einen hohen personellen Aufwand. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass man zunächst viel Geduld und Geld für die Beratung und konkrete Unterstützung der – meist älteren – Eigentümer der leer stehenden Immobilien in den Ortskernen aufbringen muss, um eine Neunutzung zu ermöglichen. Eine Reihe positiver Beispiele zur Wiederbelebung der Ortskerne machen Mut und regen zur Nachahmung an.
Zu den frühen Pionieren im Kampf gegen Leerstand gehört das im Nordpfälzer Bergland gelegene Dorf Bärweiler. Seine beste Zeit hatte das Dorf offenbar – nach der Einwohnerstatistik – in der Mitte des 19. Jahrhunderts und nach dem Zweiten Weltkrieg (1864: 450 Einw., 1950: 420 Einw.). In den 1970er- und 1980er-Jahren ging die Bevölkerungszahl durch Abwanderung nach Schrumpfungsprozessen in Land- und Forstwirtschaft und im Dorfhandwerk auf unter 300 zurück. Die Schule schloss 1973, der letzte Dorfladen zehn Jahre später. In einer Studie der Universität Mainz von 1986 wurde für Bärweiler ein Gebäudeleerstand von 25 % festgestellt. Gleichzeitig wurde in einer Vorausschau auf weitere 20 Jahre eine Leerstandsquote von 30 bis 40 % prognostiziert. In der Regionalzeitung und im Fernsehen erschien die Schlagzeile »Bärweiler – ein sterbendes Dorf«. Dieses Menetekel rüttelte das Dorf auf, ließ eine ungeahnte Aufbruchstimmung entstehen (Motto: »Das wollen wir so nicht hinnehmen!«) und mobilisierte schließlich den kleinen Gemeinderat und die Bewohner der autonomen Ortsgemeinde zu ungewöhnlichen und dauerhaften Aktivitäten. Mithilfe der Dorferneuerungsförderung wurden zahlreiche Wohnhäuser im Ortskern saniert und ehemalige Landwirtschaftsgebäude zu Wohnzwecken umgebaut. Die alte Schule wurde in ein Bürgerhaus umgewandelt, das historische Backhaus renoviert. Der Bevölkerungsrückgang konnte schließlich gestoppt, der Leerstand weitestgehend behoben werden. Die wichtigsten Gründe für die Wiederbelebung Bärweilers liegen für den heutigen Bürgermeister Hans Gehm im unermüdlichen Bürgerengagement (seit nunmehr 30 Jahren!) und im reichhaltigen sozialen und kulturellen Leben insbesondere der Vereine und der Kirchengemeinde.1
Dass bereits totgesagte Dörfer längst nicht auf Dauer verloren sind, zeigt auch das 570-Einwohner-Dorf Spessart in der Hohen Eifel. 1952 war dem Ort von Wissenschaftlern sein nahes Ende prophezeit worden, so hoffnungslos erschien die Zukunft. Durch permanente Anstrengungen der kleinen selbstständigen Gemeinde gelang es Spessart jedoch, der Landflucht und dem Leerstand zu trotzen. Im aktuellen 4. Bericht der Landzeitstudie ›Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel‹ heißt es nun: Der Unterschied zu 1952 könnte kaum größer sein, Spessart macht heute einen »agilen und wohlhabenden Eindruck«.2
Ein anderes Beispiel ist das Dorf Münster (rund 250 Einwohner) bei Creglingen in Baden-Württemberg, das ebenfalls unter erheblichem Leerstand und Bevölkerungsschwund litt. Mithilfe der MELAP-Förderung des Landes konnten hier zwischen 2003 und 2008 in 24 konkreten Maßnahmen die vorhandene und zum Teil verfallene Bausubstanz modernisiert und innerörtliche Baulücken geschlossen werden. Gleichzeitig wurde der Verbrauch von neuem Bauland an den Ortsrändern gestoppt. Der wichtigste Effekt neben der Beseitigung des Leerstands: Die Einwohnerzahl ist seit 2003 um 8 %, der Anteil der Einwohner unter zehn Jahren um zwei Drittel gestiegen.
Die seit Jahren schrumpfende Landgemeinde Hiddenhausen im nördlichen Westfalen hat 2007 das kommunale Förderprogramm »Jung kauft Alt« aufgelegt, um den Verfall der Altimmobilien und der Infrastruktur in den Ortslagen zu stoppen und zugleich den Freiflächenverbrauch zu reduzieren. Die kommunale Förderung besteht im Wesentlichen aus relativ kleinen finanziellen Anreizen (um die 10 000 Euro pro Familie) und großem Informations- und Beratungseinsatz. Sie beginnt mit der Erstellung eines Altbau-Gutachtens, um die Nutzungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Umbau- und Sanierungskosten der leer stehenden Immobilien fachkundig abschätzen zu lassen. Mit dem Programm wurden bis Januar 2015 schon 323 Familien angelockt und gefördert, um alte Häuser in den Dorfkernen zu übernehmen anstatt auf der grünen Wiese ein Eigenheim zu errichten. Seit 2011 wurden keine Neubauflächen mehr ausgewiesen. Inzwischen gibt es in Hiddenhausen mehr Zu- als Wegzüge. Wegen des großen Erfolges hat der Rat der Gemeinde Hiddenhausen einstimmig beschlossen, »Jung kauft Alt« unbefristet fortzuführen.3
Seit 2004 geht die Verbandsgemeinde Wallmerod in Rheinland-Pfalz mit dem Konzept und Slogan »Leben im Dorf – Leben mittendrin!« konsequent und lösungsorientiert gegen die weitere Verödung der Ortskerne vor. Statt Geld für neue Baugebiete am Rande der Dörfer auszugeben, werden alle Kräfte und Mittel für die Wiederbelebung der Ortskerne eingesetzt. Wobei man hier bewusst und konkret auf die Wünsche der Interessenten eingeht: Um Platz für einen kleinen Garten am Wohnhaus zu gewinnen, darf man auch mal einen alten Stall abreißen. Bis 2014 wurden bereits rund 150 Förderobjekte realisiert, der Anfang ist gemacht bei etwa 800 Problemgrundstücken. Die Erfolge in der Verbandsgemeinde Wallmerod sind sowohl finanziell messbar (1 Million Euro Ersparnis und null Flächenverbrauch) als auch am gewandelten Image zu erkennen: Objekte in Dorfkernen sind hier wieder gefragt! Wissenschaftler und Politiker sprechen von »sozialer Dorfrendite«, die neben dem ökonomischen Gewinn erwirtschaftet wurde. Ein Fazit, das für alle erfolgreichen Beispiele gilt: Die »Innenentwicklung« der Dörfer ist mühsam (die Alternative »Baulandausweisung am Ortsrand« ist einfacher), Erfolge sind nur in kleinen Raten möglich, ein langer Atem von Bürgermeister, Rat, Verwaltung und möglichst vielen ehrenamtlich engagierten Bürgern ist vonnöten.
Betrachtet man die zitierten und zahlreiche andere vergleichbare Beispiele aus allen Regionen der Republik, könnte man zu der Einsicht kommen, dass die Leerstandsproblematik energisch genug angepackt und in absehbarer Zeit flächenhaft behoben sein wird. Leider kann diese positive Zwischenbilanz nicht gezogen werden. Die Wahrnehmungsschwäche der Jahrtausendwende »Wir haben keinen Leerstand!« ist zwar auf allen Ebenen der Politik vom Bund bis zu den Kommunen vorbei. Leerstand (und demographischer Wandel) ist inzwischen ein Dauerthema in Hochschulen, Parteien, Medien, bei Kongressen, Workshops und in LEADER-Konzepten. Aber es gibt immer noch viel zu wenige Gemeinden, die den Leerstand zu einer kommunalen Kernaufgabe gemacht haben. Bärweiler, Spessart, Hiddenhausen und Wallmerod sind zwar Leuchttürme, bleiben aber mit Blick auf die etwa 35 000 deutschen Dörfer eher Ausnahmen.
Der Leerstand hat wie eine hochansteckende Seuche das ganze Land befallen, diese wird aber noch nicht flächenhaft und mit allen notwendigen Kräften bekämpft. Woran liegt das? Viele Kommunen warten ab und schielen auf einschlägige Förderprogramme, um damit an Gelder und Fachberatungen zu gelangen. Andere entschließen sich zwar – z. B. durch Mithilfe von Hochschulseminaren, Masterarbeiten oder LEADER-Projekten – zu einem Leerstandskataster, zu einer Strategie oder gar zu Maßnahmen des Gegensteuerns kommt es dann aber nicht mehr. Den meisten ländlichen Kommunen fehlt dafür offenbar die Kraft und das Geld oder auch das Wissen, wie man am besten vorgeht. In vielen Großgemeinden kommt die Schwierigkeit hinzu, die gleichzeitigen Interessen aller eingemeindeten Dörfer zu erfüllen bzw. zu koordinieren. Man ist ja auch mit vielen anderen wichtigen Themen wie Arbeitsplatz- und Infrastruktursicherung oder Windkraft beschäftigt. Außerdem ist der Leerstand für viele Bürgermeister und Gemeinderäte immer noch eher ein privatwirtschaftliches Problem von Eigentümern, die für ihre ungenutzten Immobilien selbst verantwortlich sind, als eine vorrangige kommunale Aufgabe. Der Leerstand wird in vielen Dörfern erst dann ein öffentliches Thema, wenn durch eine Bürgeraktion ein markantes und für die Grundversorgung wichtiges Gebäude – wie die alte Schule oder der Gasthof – »gerettet« und mit neuem Leben gefüllt wird.4 Die Kommunen sollten mehr als bisher die Leerstände als ihre Kernaufgabe ansehen und vor allem auch die niedrigen Immobilien- und Mietpreise auf dem Land – in Richtung potenzieller Zuwanderer – besser vermarkten.
Die prekäre Situation des Leerstands von Immobilien in ländlichen Regionen hat zu teilweise extremen Vorschlägen der Raumordnung geführt. Besonders das sogenannte »Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung« hat wiederholt dafür plädiert 5, ganze Dörfer und strukturschwache Teilregionen aufzugeben und abzusiedeln und diesen Prozess gar mit staatlichen Mitteln, »Abwrackprämien« genannt, zu beschleunigen.6 Hilfreich sind derartige Gedankenspiele über die »Vorteile der geordneten Wüstung« oder Empfehlungen zu einer »aktiven Aufgabe eines Ortes«7 nicht, wie sie hin und wieder in der Raumordnung oder der Immobilienwirtschaft zu hören sind. Ulf Hahne, Professor für Ökonomie der Stadt- und Regionalentwicklung an der Universität Kassel, hat dagegen zurecht ethische und rechtliche Bedenken angeführt. Außerdem hat er sich genauer mit den ökonomischen Kosten von Absiedlungen beschäftigt und festgestellt, dass auch aus volkswirtschaftlicher Sicht eine Aufgabe von Dörfern für den Staat viel zu teuer ist.8
Wie kann der Teufelskreis Leerstand, der unsere Dörfer von innen her erodieren lässt, energisch und flächendeckend bekämpft werden? Die ländlichen Gemeinden brauchen entschiedene Anreize, das Problem anzupacken. Vonnöten ist ein groß angelegtes, bundesweites kommunales Initiativ- und Förderprogramm, das allen ländlichen Gemeinden offensteht und diesen nicht nur Geld, sondern auch Leitbilder und Beratung zur Verfügung stellt, um auch unter den gegenwärtigen Schrumpfungsbedingungen lebens- und zukunftsfähige Dörfer zu erhalten.
Der Leerstand in den Dörfern gefährdet die Lebensqualität auf dem Lande. Er ist somit ein gesamtstaatliches Problem. Bund und Länder sind nach dem Grundgesetz verpflichtet, für eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Stadt und Land zu sorgen. Stadt und Land driften aber in Deutschland immer stärker auseinander, so titelte die FAZ am 14.2.2014. Während die Preise und Mieten für Immobilien in den großen Städten weiter dynamisch ansteigen, verfallen sie auf dem Lande mehr und mehr. Bund und Länder sind also nicht nur gehalten, den Großstädten zu helfen, die durch die permanente Landflucht immer mehr überlastet werden und wo den zugewanderten Bürgern unbezahlbare Mieten zugemutet werden: zum Beispiel durch Förderung von Infrastrukturausbau und Mieten. Sie sind genauso verpflichtet, sich mit den verheerenden Folgen der Landflucht für das Dorf und die Gesamtgesellschaft zu beschäftigen. Durch den Verfall der dörflichen Gebäude und der entsprechenden Infrastruktur – Verkehrswege, Schulen, Gewerbegebiete, Freizeiteinrichtungen – entstehen große volkswirtschaftliche Verluste für den Gesamtstaat.
Ein großes staatliches »Leerstandsbekämpfungsprogramm« für Dörfer und Kleinstädte würde dem drohenden Niedergang der Lebensqualität auf dem Land entgegenwirken und damit ein wichtiges Staatsziel erfüllen. Als weitere flankierende Steuerungsmittel des Bundes wären eine Wiedereinführung der Eigenheimzulage oder eine Erhöhung der Pendlerpauschale denkbar, um die nachlassende Attraktivität und Lebensqualität der Dörfer wieder zu stärken. Reiner Braun vom Forschungsinstitut Empirica begründet den notwendigen Einsatz des Staates gegen Landflucht und Leerstand unmissverständlich: »Besser als eine Mietpreisbremse, die das Wohnen in der Stadt vergünstigt, wäre eine neue ›Zonenrandförderung‹, die das Leben auf dem Land attraktiver macht. Warum nicht ein Bonus zur Entfernungspauschale für Menschen außerhalb der Wachstumsregionen? Landflucht ist volkswirtschaftliche Verschwendung: Sie entwertet Immobilien und Infrastruktur.«9
Grundsätzlich steht das Leben auf dem Land deutlich an der Spitze der Wohnwünsche der Bundesbürger. Auf die Frage, wo sie – unabhängig von ihrer finanziellen Situation oder anderen Rahmenbedingungen – am liebsten wohnen würden, sagen 45 % der Bürger, dass sie sich eine ländliche Gemeinde wählen würden. Jeder Dritte (33 %) würde sich für eine Klein- oder Mittelstadt entscheiden, und nur jeder Fünfte (21 %) für eine Großstadt. Besonders attraktiv ist das Wohnen auf dem Lande für Personen ab 30 Jahren.10
Es ist zu hoffen, dass deutsche Dörfer – durch andauernde Leerstände – nicht zu Tausenden zu Wüstungen werden müssen. Und das wohlgemerkt in einer ökonomischen Wohlstandsphase und geordneten politischen Verhältnissen und nicht wie vor 600 Jahren im Spätmittelalter in einer wirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Ohnmachtsphase! Beim Einsatz gegen den Leerstand in den Dörfern und Kleinstädten geht es um das Grundsatzgebot der Raumordnung, für eine Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in Stadt und Land zu sorgen. Für die Dörfer und Kleinstädte selbst stellt sich jeweils auch die konkrete Frage, an welchem Leitbild sie sich zukünftig entwickeln werden: an den überlieferten und das Ortsbild prägenden Kernen oder an den Neubausiedlungen am Rande.
Noch vor 60 Jahren war das Dorf ein nahezu geschlossener Wirtschaftsraum. Es versorgte sich selbst mit Nahrungsmitteln, Gütern und Dienstleistungen. Fast alle Erwerbstätigen arbeiteten im eigenen Ort: in Betrieben der Land- und Forstwirtschaft sowie im Handwerk und Handel, nur wenige wie Lehrer und Geistliche in Dienstleistungsberufen. Inzwischen hat das Dorf den Großteil seiner agraren und handwerklichen Arbeitsplätze verloren. Die an Zahl geschrumpften dörflichen Betriebe produzieren heute für den nationalen und internationalen Markt. Viele Dorfregionen haben den verlust- und schmerzreichen Strukturwandel der letzten 60 Jahre gemeistert. Andere nicht, sie befinden sich in einem wirtschaftlichen Teufelskreis von Schrumpfung und Abwanderung. Wie kann die ökonomische Basis des Dorfes in allen Regionen stabilisiert oder gar verbessert werden? Generell haben Land und Dorf auch heute viele wirtschaftliche Potenziale.
Der Wandel von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, der in Deutschland in den letzten 200 Jahren und endgültig seit 1945 vollzogen wurde, hat insbesondere das agrargeprägte und -definierte Dorf in dramatischer Weise verändert. In nur wenigen Jahrzehnten gab es millionenfache Verluste an Arbeitsplätzen und Betrieben im Agrarbereich und dörflichen Handwerk. Allein in der Landwirtschaft ging die Zahl der Betriebe von 1950 bis heute von ca. 2, 4 Millionen auf etwa 300 000, die Zahl der Erwerbspersonen von 7,1 Millionen auf knapp 1 Million zurück. Ähnlich stark verlief die Schrumpfung in der Forstwirtschaft und im Landhandwerk. Nahezu alle Familien des Dorfes waren von diesen harten Wandlungsprozessen betroffen, Millionen Dorfbewohner verließen das Land. Die ökonomischen, psychologischen, sozialen und baulichen Wunden dieser Veränderungen sind in den Dörfern und bei vielen seiner Menschen bis heute erkennbar. Durch den starken Rückgang der lokalen Arbeitsplätze und Betriebe ist der Dorfbewohner sehr häufig zum Auspendler geworden.
Den genannten Verlusten stehen auch Gewinne gegenüber. Für die meisten Dorfbewohner ist die tägliche harte und körperlich schwere Arbeit, die die Menschen früh altern ließ, heute vorbei. Wer sich diese arbeits- und entbehrungsreiche Zeit in Erinnerung rufen möchte, greife zu den eindrucksvollen Schilderungen von Anna Wimschneider in ihrem Buch ›Herbstmilch. Lebenserinnerungen einer Bäuerin‹ von 1984. Durch die großen technischen Fortschritte und den Maschineneinsatz in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Handwerk ist vieles zumindest körperlich leichter geworden. Zudem haben Freizeit und Muße als Errungenschaften der Moderne (für das breite Volk) auch Eingang ins Dorf gefunden. Die jüngere Dorfbevölkerung kann sich heute kaum vorstellen, dass das Dorfleben jahrhundertelang bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts durch überwiegend Armut, Not und den Kampf um das tägliche Brot geprägt war. Aus heutiger (ökonomischer) Sicht war die »Gesundschrumpfung« der deutschen Agrarwirtschaft – begleitet durch agrarpolitische Maßnahmen wie Flurbereinigung und Betriebsaussiedlungen in die Feldflur – notwendig. Mit ihren kleinbäuerlichen Strukturen war sie zum Beispiel gegenüber den europäischen Nachbarländern mit ihren größeren Betrieben nicht konkurrenzfähig. Nur so konnte auch hierzulande der Weg vom Selbstversorger zum Produzenten für den nationalen und internationalen Markt erfolgreich beschritten werden. Die inzwischen sehr produktive und erfolgreiche deutsche Agrarwirtschaft ist heute selbst im ländlichen Raum nur noch die dritte Kraft gegenüber dem sekundären und tertiären Wirtschaftssektor. Nichtagrare Gewerbe-, Industrie- und Dienstleistungsbetriebe sind auf dem Land sesshaft geworden bzw. haben sich dort aus den Anfängen im Handwerk und Handel entwickelt. Die an Zahl deutlich geringeren Gewerbebetriebe in unseren Dörfern haben sich – sowohl in der Agrarwirtschaft als auch im Handwerk und Gewerbe – auf die modernen Anforderungen eingestellt und arbeiten überwiegend für den überdörflichen und regionalen, nicht selten sogar nationalen und internationalen Markt.
Viele ländliche Regionen haben in den letzten 20 Jahren eine über dem jeweiligen Landesdurchschnitt liegende ökonomische Entwicklung genommen. Der ländliche Raum verfügt durch seine Industrie- und Handwerksbetriebe insgesamt über eine hohe wirtschaftliche Leistungskraft. Und häufig auch über eine robustere Wirtschaftsstruktur, was auf die hier vorherrschenden flexibel agierenden mittelständischen Betriebe zurückgeführt wird, die inzwischen vielfach erfolgreich auf dem Weltmarkt agieren. Auch die Arbeitslosenquote ist überwiegend niedriger als im Landes- oder Bundesdurchschnitt.1 Ein Plus der ländlichen Räume sind offenbar auch seine bodenständigen, zuverlässigen und motivierten Arbeitskräfte, wie mir vor Jahren ein Arbeitsamtsdirektor aus dem Sauerland versicherte. Ein weiterer positiver Aspekt ist die überdurchschnittlich hohe Zufriedenheit der Landbewohner mit ihrem Wohnumfeld, was als weicher Wirtschaftsfaktor des ländlichen Raumes gelten kann.
Neben den Betrieben mit ihren Arbeitsplätzen tragen informelles Wirtschaften und soziales Kapital wesentlich zum Wohlstand in den Dörfern bei. Im Vergleich zur Stadt besteht auf dem Land noch ein hohes Maß an »Selbstversorgungskultur« gerade durch den eigenen Garten oder das »Holzmachen« im Walde. Dabei helfen die Menschen sich gegenseitig oder tauschen sich aus – mit Gütern und Dienstleistungen. Dies gilt traditionell für Garten-, Haus- und Bauarbeiten oder die Betreuung von Kindern, kranken und älteren Menschen. Die Wissenschaft spricht von »lokalen Wertschöpfungsketten«, die oft zugleich einen ökologischen und sozialen Mehrwert erbringen.2 Das vielfache Geben und Nehmen im Rahmen von Nachbarschafts- und Verwandtschaftshilfe sowie die vielfältigen Gemeinwohlleistungen der Vereine machen das Dorf nicht nur sozial, sondern auch ökonomisch attraktiv.
Der relativ hohe Wohlstand im ländlichen Raum basiert nicht zuletzt auf einer Eigenheimquote (ca. 80 %), die mehr als doppelt so hoch liegt wie in den Großstädten. Auch bei den Mieten klaffen Stadt und Land weit auseinander: Während die Menschen in Großstädten wie München, Hannover, Freiburg oder Heidelberg 25–45 % ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen, sind es in Landregionen wie Südwestpfalz, Vulkaneifel, den Kreisen Höxter oder Birkenfeld nur etwa 8 %.3 Nach einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), die nicht nur das Einkommen, sondern auch die Lebenshaltungskosten – und damit zum Beispiel auch die Mieten – in den verschiedenen Regionen berücksichtigt, hat in den teuren Großstädten ein deutlich höherer Bevölkerungsanteil als arm zu gelten als auf dem Land, wo man günstiger wohnen und leben kann.4 Damit werden die Landbewohner heute als wohlhabender eingestuft als die Großstädter.
Eine generelle Schwäche der ländlichen Wirtschaft besteht darin, dass es zu wenig Arbeitsplätze für höher qualifizierte Erwerbspersonen gibt, vor allem im Dienstleistungsbereich. Dieser Mangel gilt vor allem im Medizin-, Sozial- und Kulturbereich, was dazu führt, dass besonders viele hoch qualifizierte Frauen das Land verlassen. Die höher qualifizierten Dienstleistungsberufe sind nun einmal überwiegend in den Großstädten im Umfeld der Universitäten, Ministerien, Konzernverwaltungen, Medienhäuser, Bildungs- und Kultureinrichtungen wie Opernhäuser und Museen angesiedelt.
Insgesamt sind ländlicher Raum und Dorf nicht generell zum Armenhaus oder zum Wirtschaftszwerg der Nation geworden. Man kann sagen: Der dramatische Strukturwandel ist sowohl in der Land- und Forstwirtschaft als auch im dörflichen Handwerk und Gewerbe weitgehend gemeistert worden. Die ländlichen Räume erbringen heute insgesamt 57 % der Wirtschaftsleistung des Staates.5 Viele ländliche Regionen wie das niedersächsische Emsland oder das südliche Westfalen liegen mit ihrer Wirtschaftskraft über dem jeweiligen Landes- und Bundesdurchschnitt, dies gilt generell auch für die neuen Bundesländer.
Andere Landregionen sind jedoch – in allen Teilen der Republik – durch den Strukturwandel und fehlende ökonomische Alternativen ins Abseits geraten. Hier finden – in einem wirtschaftlichen Teufelskreis – eine verstärkte Schrumpfung der Betriebe und der Infrastruktur und folglich Abwanderung und letztlich Leerstand und Verfall statt. Häufig sind Landregionen betroffen, die teilweise seit Jahrhunderten starke wirtschaftliche Standbeine in der (aus dem Handwerk hervorgegangenen) Textil-, Glas- oder Porzellanindustrie hatten, die nun im Zuge der globalisierten Wirtschaftskreise aufgegeben werden. Ein Beispiel ist das Fichtelgebirge mit seiner traditionellen Porzellanherstellung. Im Dorf Schirnding leben heute noch 1300 Menschen, vor 40 Jahren waren es doppelt so viele. Im Herbst 2012 schloss der letzte größere Arbeitgeber und Porzellanproduzent, 200 Arbeitsplätze fielen weg. Die Kommunal-, Regional-, Landes- und Bundespolitik, aber auch die Kirchen und dörflichen Vereine stehen hier wie in vielen anderen Dorfregionen vor großen Herausforderungen.
Wo zeigt der ländliche Raum seine heutige Wirtschaftskraft? Die originäre Stärke des Landes liegt in seinen weitflächigen natürlichen Ressourcen: nutzbarer Boden für Ackerbau, Viehzucht, Holz- und Energiewirtschaft, Wasser als Rohstoff und Energielieferant, Sonne und Wind als Energiequelle, abwechslungsreiche Kultur- und Naturlandschaft für Freizeitnutzung und Tourismus. Die deutsche Land- und Forstwirtschaft hat durch jahrzehntelange Reformen und Wandlungsprozesse ihre Produktivität und ihre internationale Konkurrenzfähigkeit auf einen guten Stand gebracht. Eine prosperierende Agrarwirtschaft ist immer noch die Basis der ländlichen Wirtschaft. Vergessen sind die Zeiten der 1970er-Jahre, als in manchen Regionen nutzbare Agrarflächen bis zu 40 % brachfielen, was man seinerzeit »Sozialbrache« nannte. Heute ist das nutzbare Land knapp und kostbar. Die Kauf- und Pachtpreise für landwirtschaftliche Böden haben sich in den Agrarlandschaften Norddeutschlands innerhalb von 10 Jahren verdoppelt.
Die deutsche Agrarwirtschaft profitiert heute von seinen inzwischen durch Größe und Technik gut ausgestatteten Betrieben, die sich mit ihren Produkten auf dem nationalen und internationalen Markt behaupten können. Der Trend geht immer noch zu größeren Betrieben ab 100 Hektar Land, die als ertragsstark gelten und auch an Zahl zunehmen, während die kleineren Betriebe abnehmen. Gerade für die Landwirtschaft haben sich in jüngerer Zeit neue Chancen und Aufgaben ergeben. Neben der Nahrungsmittelproduktion sind attraktive wirtschaftliche Nischen wie Hof- und Regionalvermarktung oder größere Bereiche wie Energiegewinnung und Tourismus oder auch die Kultur- und Naturlandschaftspflege hinzugekommen.
Immer häufiger anzutreffen ist die Direktvermarktung landwirtschaftlicher Produkte in Hofläden, wo besonders gern die Städter einkaufen. In Deutschland dürfte es inzwischen an die 10 000 direktvermarktende Betriebe geben, die überwiegend ihre eigenen Produkte anbieten. Ein Beispiel ist »Fannerls Bauernladen« in Essenbach bei Landshut in Bayern.6 Auf dem Hof werden alle Tiere auf Stroh gehalten. Zusätzlich zum Angebot des Hofladens fahren die Kleinbauern mit ihrem Verkaufswagen mehrfach in der Woche in das 80 km entfernte München, um dort auf Bauernmärkten das hofeigene Fleisch zu verkaufen. Offenbar rechnet sich das Geschäft. Ein Milchbauer aus Brandenburg berichtet, im Direktvertrieb bekomme er 80 Cent anstelle der von Molkereien derzeit gezahlten etwa 40 Cent pro Liter. Hier verdient keine Molkerei, kein Großhändler und kein Supermarkt mit. Und der Kunde bekommt unbehandelte Milch, die schmeckt wie zu Großmutters Zeiten. Hofläden und Direktvermarktung auf städtischen Märkten sind vor allem in der Gruppe der Kleinbauern eine beliebte ökonomische Nische, die aber in Deutschland im Vergleich etwa zu Österreich durchaus noch ausbaufähig ist.
Seit etwa 20 Jahren nutzt das Land verstärkt (wieder) die ihm eigenen Energiepotenziale wie Wind- und Solarkraft, Biomasse und Wasserkraft. In allen Regionen Deutschlands sind inzwischen große und kleinere Windparks entstanden. Einige Dörfer wie Jühnde in Südniedersachsen sind heute in der Lage, ihren Strom- und Wärmebedarf durch ein Blockheizkraftwerk auf Biomassebasis vor Ort selbst herzustellen. Andere setzen auf Solarenergie wie die nordhessische Landgemeinde Alheim, die damit 73 % ihres Energiebedarfs für ihre 5280 Einwohner in zehn Dörfern selbst produziert. Neben Jühnde und Alheim haben weitere energetisch autarke Dörfer wie Feldheim in Brandenburg (durch Biogas), Effelter im nordbayerischen Frankenwald (durch Biogas) oder Mastershausen im Hunsrück in Rheinland-Pfalz (durch Windkraftanlagen) überregionale Aufmerksamkeit erlangt. Vielfach gelingt es wie in diesen Beispielorten, durch lokale Bürgergenossenschaften oder kommunale Beteiligungen die Erträge den Dorfbewohnern oder kommunalen Einrichtungen zugutekommen zu lassen und damit im jeweiligen Dorf zu halten. Bioenergiedörfer sind lokale Innovationskerne und stärken die Wirtschaft.7 Der ländliche Raum profitiert eindeutig von der Energiewende. Mit zunehmender Nutzung der lokalen und regionalen »Ökoenergie« kann er einen wesentlichen Teil seiner früheren Rolle (vor dem Zeitalter der fossilen Brennstoffe Kohle und Öl) als dezentraler Energieproduzent zurückgewinnen und damit auch unabhängiger von externen Kosten und Steuerungen werden.
Eine zusätzliche Einnahmequelle bietet sich für viele landwirtschaftliche Betriebe im Bereich Freizeit und Tourismus. Schon seit Jahrzehnten erfolgreich und besonders bei Familien mit Kindern beliebt sind die »Ferien auf dem Bauernhof«, die in Deutschland von rund 25 000 landwirtschaftlichen Betrieben angeboten werden. Viele Bauernhöfe haben sich – vor allem im stadtnahen Bereich – dem Reitsport geöffnet und damit ein zweites Standbein geschaffen. Andere haben Bauernhauscafés/ -restaurants in ihren Hofgebäuden eingerichtet, die mit dem Charme alter Bauernhöfe und -gärten und Angeboten wie selbst gebackenen Torten und landtypischen Gerichten punkten und nicht selten zu regionalen Attraktionen geworden sind.
Neben den vom Verbraucher bezahlten Produkten und Dienstleistungen erbringt die Landwirtschaft zunehmend auch von der Gesellschaft gewünschte Leistungen. Hier geht es insbesondere um traditionelle und wertvolle Kultur- und Naturlandschaften wie zum Beispiel die Lüneburger Heide oder die als Weidegrünland genutzten Täler und Hochplateaus der Mittel- und Hochgebirge sowie des Alpenvorlands.8
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