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Geleitwort

… und wieder entführt uns der Chirurg und Autor Volker Schumpelick in die Welt der früheren Ordinarien mit amüsanten Erzählungen aus seinen Kongressreisen rund um die Welt. Mit Originalität und Humor beschreibt er seine unzähligen Erlebnisse, fast möchte man sie auch Abenteuer nennen, die ihm im Dienste der Wissenschaft widerfuhren.

Wir alle wissen, dass Kongressreisen der Fortbildung dienen, der Präsentation der eigenen Daten, der Aufnahme neuester klinischer Entwicklungen, dem Erfahrungsaustausch über innovative Techniken und der Vermittlung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse. Man misst sich mit seinen Konkurrenten und lernt von den Kollegen. Einige herausragende Präsentationen motivieren, Vergleichbares zu Hause einzuführen oder stimulieren zu neuen wissenschaftlichen Projekten. Diese bleiben länger im Gedächtnis. Ansonsten stellt man zufrieden fest, dass man das meiste ja schon wusste und sich sehr wohl mit den Großen in der Welt messen kann.

Woran man sich aber auch nach Jahren noch erinnern wird, das sind die sozialen Kontakte, das Gewinnen von neuen Freundschaften, die Begegnungen mit einer anderen Kultur und natürlich die Kuriositäten, Dinge, die auf den ersten Anschein nicht perfekt waren. Aber gerade sie waren es, die im Rückblick das Leben farbig und reich gemacht haben.

In einer Zeit, als es noch keine Vorgaben für die Anzahl der jährlichen Kongressbesuche gab, die Mobilität über den Globus zu einer Selbstverständlichkeit wurde und die internationale Bekanntheit mit eingeladenen Vorträgen ein Ritterschlag war, entstanden diese Kongresserfahrungen. Man möchte den Autor um seine Erlebnisse beneiden, wenn man mit ihm die Zeitreise durch die Vergangenheit unternimmt. Ob es nun der Storchenkongress, die Hurtigruten oder die Fanfaren von Jaipur oder, oder, oder … waren. Es ist eine Freude, mit Volker Schumpelick in chirurgisch knappem, rheinisch-gefärbt humorvoll und – von der Persönlichkeit geprägt – lebendigem Schreibstil die Kongressreisen nachzuerleben.

Genießen Sie die Reise um die Welt. Es wird Ihnen nicht langweilig werden. Und oft werden Sie feststellen: Ja, das stimmt, so ähnlich war es bei mir ja auch, oder – fast wäre mir das auch passiert, oder – schade, so etwas habe ich nie erlebt.

Dank an den Autor! Viel Freude beim Lesen!

Prof. Dr. med. Gabriele Schackert, Dresden

Präsidentin der DGCH 2016

Vorwort

Einer aktuellen Statistik zufolge sollen etwa 20 Prozent der US-amerikanischen Chirurgen ständig auf Kongressreisen unterwegs sein, demnach sind nur 80 Prozent von ihnen für die erforderlichen Operationen an ihren Kliniken überhaupt verfügbar. Dies eröffnet die Diskussion über den realistischen Bedarf an Operateuren in den USA, der danach um etwa 20 Prozent von der tatsächlichen Stellenplanung der Krankenhäuser abweichen dürfte. Doch Kongressreisen dienen neben dem persönlichen Erfahrungsgewinn der Kollegen mindestens ebenso sehr der Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit und damit dem Erfolg ihrer Kliniken. Dies ist der Grund dafür, dass selbst in den straff organisierten und allein auf Wirtschaftlichkeit getrimmten chirurgischen Kliniken von heute eine kongressbedingte Abwesenheit prinzipiell gewünscht und aber zur Vermeidung eines Missbrauchs bereits im Einstellungsvertrag auf eine bestimmte Anzahl von Kongresstagen nach oben begrenzt wird.

Insgesamt sind Kongressreisen heute kürzer geworden und weichen von der früher häufig geübten Praxis einer unauffälligen Urlaubsverlängerung deutlich ab. Jede heutige Kongressreise bedarf vor dem Arbeitgeber einer stichhaltigen inhaltlichen Begründung und erfordert den Nachweis einer persönlichen Einladung zu einem angeforderten Referat oder der erklärten Notwendigkeit einer Präsentation neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse beispielweise auf dem Jahreskongress der Fachgesellschaft. – Viele meiner im Folgenden dargestellten Reisen erfolgten noch unter der früher großzügigeren Bewilligungspraxis und wären in manchem Einzelfall heute möglicherweise nur schwer zu begründen gewesen. Darum ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass unter meinen mehr als tausend weltweit gehaltenen Vorträgen keiner dieser Kongressveranstaltungen reinen Urlaubszwecken diente, wenngleich sich die wissenschaftlich notwendige Teilnahme gelegentlich gut mit den touristischen Annehmlichkeiten des Tagungsortes verbinden ließ. – Im konkreten Einzelfall lag jeder meiner Kongressreisen aber immer die Absicht zugrunde, die Fort- und Weiterbildung sowie die Kontakte zu den Kollegen zu intensivieren und die wissenschaftliche Botschaft meiner Klinik weltweit zu verbreiten. Ob und wie sehr mir dies gelungen ist, sollten andere beurteilen. Dass mir aber diese Reisen dank ihrer Vielfalt und des durch sie erzielten Erkenntnisgewinns in den über 40 Jahren meiner Kongressaktivitäten anhaltend Freude und intellektuellen Gewinn bereitet haben, lässt sich an den nachfolgenden Anekdoten unschwer ablesen.

Ihnen verehrter Leser möchte ich mit diesem bunten Bukett der Erlebnisse auf meinen Kongressreisen spannende Unterhaltung und ausführliche Information darüber vermitteln, was jeden Teilnehmer erwartet, ob er nun als Referent, Zuhörer, Pharmavertreter, Pflegepersonal, Student oder auch als interessierter Laie an einem Kongress teilnimmt. Gerade unter diesen so unterschiedlichen Kongressbesuchern hoffe ich auf eine ebenso geneigte Leserschaft wie bei den Anekdoten aus der praktischen Chirurgie, die ich mit so wohlwollender Resonanz meiner Leser in den letzten Jahren im gleichen Verlag in drei Bänden mit dem Titel „Unterm Messer I–III“ publizieren konnte. Darum hoffe ich, mit diesen neuen Anekdoten meiner Kongressreisen auf ein ähnliches Interesse, wie bei den bereits publizierten Geschichten aus der täglichen Chirurgie.

Insgesamt verspreche ich, verehrter Leser, Ihnen mit diesen neuen Geschichten wieder spannende und kurzweilige Unterhaltung zu bieten. Darum lade ich Sie herzlich ein, mich mit diesem Buch auf meine abwechslungsreichen Kongressreisen in alle Welt zu begleiten. Auch kann ich Sie versichern, dass es sich für Sie lohnen wird, nach den mehr „blutigen“ Anekdoten der Bände „Unterm Messer I–III“ jetzt auch die andere, nämlich die unblutige, auf den ersten Blick nicht so spektakuläre Seite der Chirurgie in den Vorträgen und Diskussionen auf den Kongressreisen kennen zu lernen. Sie werden das bunte Spektrum der Chirurgie aus allernächster Nähe erleben und die vielfältigen Impressionen und Herausforderungen eines Chirurgen auch außerhalb der selbstgewählten Klausur seines Operationssaals hautnah miterleben. – Sie werden zwischen Taschendieben, Sultanen, königlichen Hoheiten, Bordells, Schlangen, Skorpionen, Elefanten, Kamelen, Rosenblättern und Weihrauchdüften und vielen anderen Erlebnissen hin und her gerissen sein und damit einen der faszinierendsten Berufe aus nächster Nähe kennenlernen nämlich, nämlich den des Chirurgen. Und das erreicht Sie in der schlichten Sprache der anekdotischen Erzählung, also in einer Sprache, die seit alters her von jedem verstanden wird, da sie als die Sprache des Geschichtenerzählers weltweit fast ohne jeden Übersetzer auskommt. Später werden Sie mir zugeben, dass diese „unblutige“ Seite der Chirurgie auf den Kongressen mindestens so spektakulär, interessant und vielseitig sein kann wie ihre andere, jedem wohl bekannte „blutige“ Seite dieses unvergleichlichen Berufes des Chirurgen.

Für den interessierten Patienten unter den Lesern eröffnet sich mit diesem Buch zugleich die Antwort auf seine häufig gestellte Frage, was denn den „Doktor“ auf seiner Kongressreise an Ereignissen und Belastungen erwarte, ja gelegentlich geradezu so erschöpfe, dass er nicht ohne eine kleine Verschnaufpause bereits am nächsten Tag wieder vollen Einsatz bringen könne.

Hamburg, im Winter 2015/2016

Volker Schumpelick

Per Anhalter reisen

Jeder wird es immer wieder sagen, zufällige Anhalter mitzunehmen, sei zu gefährlich. Abgesehen vom Problem der Insassen Haftung für den unbekannten Mitfahrer ist das persönliche Gefährdungspotential des Fahrers durch einen etwaigen Überfall nur schwer kalkulierbar. Die zarte junge Studentin mit ihrem Semestergepäck oder Reiseutensilien wird einem kräftigen Autofahrer schon nicht in Gefahr bringen, es sei denn sie würde ihn mit Pfefferspray oder einer Schusswaffe angreifen, aber warum sollte sie? Ein verwahrloster, ungepflegter Mann mit auffälligem Piercing oder plakativen Tätowierungen ist sicher kein Wunschkandidat für das Mitnehmen, besonders dann, wenn er eine offene Bierflasche mit sich führt oder schon betrunken auf das Fahrzeug zu torkelt. Greise und ältere Menschen pflegen nicht per Anhalter zu reisen, sind aber doch gelegentlich aus Zeit- oder Geldmangel dazu gezwungen. Für sie sind lange Fußwege strapaziöser als für jüngere Personen, darum ist es eine wirklich gute Tat, ihnen durch eine großzügige Mitnahme zu helfen. Gleiches gilt für Mütter mit Kindern oder auch einzelne Kinder, die zum Beispiel den Schulbus verpasst haben, und anstatt etwa eine dreiviertel Stunde lang zu Fuß zu laufen, mutig den Daumen rausstrecken, um mitgenommen zu werden. Jeder, der einmal selbst getrampt ist, und die Mühen der ermüdenden und staubigen Wegstrecke am eigenen Leibe erfahren hat, ist in Notsituationen ein potentiell per Anhalter Reisender.

Das gilt auf ebener Strecke mindestens so sehr wie im Gebirge, in dem lange Fußwege bergauf den Wanderer rasch an seine physische Grenze führen können. Ihm, durch das Mitnehmen die Mühe des Weges zu ersparen, ist ein Gebot praktizierter Menschlichkeit. Aus diesem Grunde bin ich ein überzeugter „Mitnehmer“ und lasse keinen am Wegesrand stehen, der durch einen ausgestreckten Daumen seinen Wunsch zum Trampen artikuliert. Diese Einstellung gewann ich bei einem frühen persönlichen Erlebnis im Kindesalter: An einem, schönen Sommertag in den großen Ferien entschloss ich mich im Alter von zwölf Jahren zusammen mit meinen beiden zwei bis drei Jahre älteren Schwestern auf unseren Kinderfahrrädern von Hamburg nach Duhnen bei Cuxhaven in unser Sommerhaus an der Nordsee zu fahren. Die 130 Kilometer lange Strecke war eigentlich mit dem Auto ein „Klax“, nicht aber so auf Kinderfahrrädern bei dem permanenten westlichen Gegenwind an der Küste, so dass wir zwischen Stade und Cuxhaven auf der vielbefahrenen Bundesstraße 73 auf halber Strecke völlig erschöpft unseren Plan aufgeben mussten. So standen wir drei Kinder mit unseren Fahrrädern verzweifelt am Straßenrand und schwenkten unsere Daumen, wie wir das von den Erwachsenen abgeschaut hatten. Und tatsächlich hielt bald ein Kiestransporter, der uns drei in seiner geräumigen Fahrerkabine aufnahm, und unsere geliebten Fahrräder auf der Ladefläche sanft in weichem Kies bettete um uns dann bis nach Cuxhaven zu bringen. Wie selig waren wir darüber und vergaßen dabei alle Vorschriften der Eltern, nicht zu fremden Menschen ins Auto zu steigen. Dieser freundliche LKW-Fahrer hatte sogar Bonbons im Handschuhfach, die unseren ersten Hunger stillten. Indem wir diese annahmen, verletzten wir das zweite häusliche Verbot, nichts von Fremden anzunehmen. Aber der Kapitän der Landstraße war so sympathisch und verständnisvoll für unsere Situation der abgebrochenen Fahrradtour, da er, wie er sagte, selbst eigene Kinder in unserem Alter zu Hause habe, die auch gerade einen sommerlichen Fahrradausflug planten.

Seither nehme ich relativ großzügig Tramper mit, von denen ich mir vorstellen kann, mit ihnen zusammen in einem engen Auto zu sitzen. Aber unappetitliche Personen oder Tramper mit ausladenden Gepäck sowie sichtbar alkoholisierte oder bereits torkelnde Passanten finden bei mir keine Berücksichtigung. Mit ihnen möchte ich nicht den Wohn- und Atemraum meines Autos selbst auch nur kurzfristig teilen. Mein Haus ist nun einmal zum Zeitpunkt ihres Anhalter-Begehrens mein Auto, sie haben sich in der kurzen Zeit ihrer Mitnahme nach meinen Regeln zu richten. „Home sweet home“ gilt auch für diese von ihnen beanspruchte kostenfreie und freiwillige Mitnahme durch mich.

Schwierig wird die Situation bei großem Gepäckaufkommen der Tramper, bei mehreren Personen und bei jenen sinistren Typen, die einem nicht gerade in die Augen schauen können oder sich sogar durch Verschleierung unkenntlich machen. Sie finden bei mir keine Berücksichtigung. Für mich ist nun einmal die Visitenkarte eines für eine Mitnahme geeigneten Trampers sein offenes Gesicht und sein der Situation angepasstes, zugewandtes Verhalten. – Paare trampen häufig zusammen, wobei der Erstkontakt der Akquisition meist von einem hübschen Mädchen als Eyecatcher angebahnt wird und der Partner erst beim tatsächlichen Stopp des Autos gewissermaßen hinter dem Busch auftaucht. Ist er ein unappetitlicher Kleiderschrank mit dem Ausdruck beträchtlicher Brutalität, so ist der Kontakt schon damit beendet. Man hat eben nicht für beide ausreichend Platz im Wagen, was das Pärchen einsehen muss. Fördert er nach dem Stopp des Wagens großes Gepäck hinter den Büschen hervor, so ist die Entscheidung für eine Mitnahme letztlich eine Frage des Maßes der Gepäckstücke. Mein eigenes Gepäck hat natürlich Vorrang, aber ein Umstauen der Koffer und Taschen ist bei sympathischen Trampern für mich durchaus denkbar und bereits häufig praktiziert worden.

Junge Mädchen können bei mir auf mehr Verständnis rechnen als ältere Männer. Greise haben andere Gesetze, hier gilt in dubio pro reo. Es zählt für mich die nüchterne Absicht, ihnen die letzten Jahre auf Erden möglichst angenehm zu gestalten, bevor sie irgendwann gegebenenfalls verbittert diese Welt wieder verlassen müssen. Diese Maximen und Grundregeln sind für mich nicht in Stein geschnitten, sie gelten immer nur cum grano salis und werden häufig genug in praxi auf den Kopf gestellt. – Ganz entscheidend ist aber die Mitsprache meines Beifahrers, der sich ja mehr mit dieser Person wird auseinandersetzen müssen als der Fahrer. Ist er hierzu nicht bereit, so bleibt der Anhalter an der alten Stelle stehen oder fliegt bei der nächsten Kurve wegen schlechten Betragens aus der sich als ungeeignet erwiesenen Fahrgemeinschaft. Dies betraf eine Psychologiestudentin aus Hamburg, die bei mir sozusagen als ihrem ersten Patienten bei 160 Stundenkilometer auf der Autobahn von Göttingen eine komplette Persönlichkeitsanalyse machen wollte und trotz meines bekundeten Desinteresses hiervon nicht abzubringen war und damit mich so sehr nervte, dass sie mich nachhaltig vom Fahren ablenkte. – Ein anderer Tramper setzte alles dran, mich als Mitglied für seine politische Partei zu gewinnen, damit ich es dadurch später leichter haben würde. Ich nahm ihn aber trotzdem weiter mit, da er mir alle Zusammenhänge und Hintergründe der Fußballbundesliga erstmals auch für mich verständlich erklären konnte.

In der Regel bin ich mit allen Anhaltern bisher gut gefahren und würde immer wieder Tramper mitnehmen. Ich habe viele extreme Beispiele erlebt, die aufzuzählen hier der Platz fehlt. Wenn ich irgendwann mit zerschlagenem Schädel in meinem Auto angetroffen werden sollte, so ist das ein Schicksal, das ich bewusst eingegangen bin angesichts der guten Geschichten, der vielfältigen Anregungen und der lebendigen Erzählungen, die ich von Trampern erfahren habe. Doch gibt es auch völlig averbale Personen, wie eine Greisin von mindestens 80 Jahren, die ich mitten in der Gebirgsregion Kretas über 75 Kilometer mitgenommen habe und die sich bei jeder Kurve bekreuzigte, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. – Es gab einen Tramper mit wehenden, schulterlangen, wüsten Haaren und einem starken Ziegengeruch (wohl durch sein Leben in einem Ziegenstall!), der im kalifornischen Yosemite Nationalpark unter äußerst knapper Bekleidung in Form eines zerlumpten Buschhemdes, eines Hüftgurts und einfacher Holzsandalen, wie aus dem Nichts am Straßenrand auftauchte und nach dreißig Kilometern wieder im Nichts auszusteigen begehrte. Hier konnte ich meine Frau als Mitfahrerin nur zur Zustimmung bewegen, als ich wegen seines Hippie-Erscheinungsbild argumentierte, dass der Anhalter beispielsweise ein neuer Jesus sein könne, der ja auch kein Fahrzeug zur Verfügung gehabt hätte und darum hätte trampen müssen.

Auf den langen und heißen Wüstenstrecken Afrikas hat man uns vor Trampern gewarnt, da man sie nie wieder loswerden würde. Gerade hier aber gab es eine zehnköpfige Familie in Namibia, die wir auf Teilstrecken über zwanzig Kilometer mitgenommen haben und die sich später von uns mit Tränen der Dankbarkeit verabschiedeten. Derart positiv motiviert nahmen wir auf einer der nächsten Wegekreuzungen einen jungen Buschmann aus Südafrika mit, der sehr manierlich aussah und nur zur nächsten Stadt mitgenommen werden wollte. Er flog allerdings auf dem zehn Kilometer langen Weg dorthin aus dem Wagen, nicht weil er sich ungebührlich benahm oder frech wurde, sondern weil einfach sein Körpergeruch im heißen geschlossenen Wagen unerträglich wurde. Die Ursache war, dass er in seinem Rucksack ein vor drei Tagen gehäutetes Antilopenfell zum Verkauf in der nächsten Stadt mit sich führte, dessen Geruch nach Aas in der Gluthitze des engen Wagen nicht zu ertragen war. Mit dem Zeichen der von uns zugehaltenen Nase, musste er es einfach verstehen, weshalb er wieder ausgesetzt wurde.

Bei hunderten von Trampern bin ich bis heute gut gefahren. Ich wurde nie überfallen, beraubt, belästigt oder bestohlen oder durch lästige Reden abhaltend vom Fahren abgelenkt. Einmal ging mir auf der Autobahn in Jugoslawien eine junge Anhalterin an die Wäsche, was daran lag daran, dass ich den Straßenstrich für Lastwagenfahrer auf der Autobahn nicht gekannt und bedacht hatte, andere Länder haben eben andere Sitten und Gewohnheiten. Ich würde dennoch immer wieder einen Tramper mitnehmen. Enttäuscht wurde ich von keinem meiner Anhalter bis heute. Dafür wurde ich aber reichlich beschenkt durch das direkte Erlebnis unterschiedlichster Menschen in ihrem eigenen Land, die inter­essanten aus ihrem Umfeld stammenden Erklärungen und Geschichten aus ihrem Munde. Wie langweilig ist es demgegenüber, einem europaweit immer gleichen Radioprogramm mit Charts, Reklamen und stündlichen News zu zuhören. Ich kann nur jedem empfehlen, sich nach obiger gewissenhafter Prüfung dieser Chance einer landespezifischen Bewusstseinserweiterung durch ein Gespräch mit einem Anhalter nicht aus Ängstlichkeit von vornherein zu verschließen. Man kann durch Mitnahme entsprechend ausgesuchter Anhalter nach meiner Erfahrung nur gewinnen!

Engel der Lüfte

Nach der Enttarnung der Gelben Engel als schnöde Geschäftemacher unter dem Deckmantel eines vor allem auf Profit ausgerichteten Automobilclubs, nach dem Auslaufen der TV-Serie „Drei Engel für Charlie“ und nach der persönlichen Schutzengel-Reklame für einen Versicherungskonzern, ist es um Engel im täglichen Leben eng geworden. Will man nicht auf den religiösen Hintergrund oder die Ikonographie in der Kunst zurückgreifen, nicht auf das engelhafte Erscheinungsbild mancher jugendlichen Filmstars oder das Plattencover etwa der Neuaufzeichnung des Thomanerchors so wird man im täglichen Leben nur äußerst selten einem wirklichen Engel begegnen. Das beginnt schon mit der Definition: Für mich ist ein Engel derjenige, der ohne allen Eigennutz oder jedwede Eitelkeit Gutes tut, um seinen Mitmenschen zu helfen. Sein Motiv kann hierbei religiöser Art sein aber auch der ernsthafte Wunsch, unabhängig von jeder Weltanschauung, einfach Gutes zu tun. Hierfür waren die drei Neffen von Dagobert Duck, Tick, Trick & Track ein überzeugendes Beispiel, da es ihr Vorsatz war, zumindest eine gute Tat an jedem Tag zu tun. Und derartige Menschen sind gar nicht so selten, man muss sie nur erkennen, um ihre gute Tat und ihre Charakterfestigkeit zu würdigen und verstehen zu lernen. In einer sogenannten aufgeklärten modernen Welt ohne feste ethische Verankerung in Religion oder verantwortungsbewusster Weltanschauung, in der die Staatsfinanzen und damit auch das Wohlbefinden der Bevölkerung nicht nach an den an Verantwortung orientierten Maximen wie dem Kant’schen kategorischen Imperativ festgemacht werden, sondern beispielsweise der Beliebigkeit der Spieltheorie eines griechischen Finanzministers folgen, sind Engel zur absoluten Rarität verkommen. Heute herrscht die Welt der Egomanen und Autisten, für die ihr menschliches Umfeld im besten Falle ein Versuchslabor ihres Lebensentwurfs, im schlimmsten Falle die unwichtige und darum zu negierende Randarabeske eines allein intellektuell ausgerichteten egomanen Lebens sind. Zwischen meinem Engel und ihnen würde totale Sprachlosigkeit herrschen, weil sie sich absolut nichts zu sagen haben. Herrn Varoufakis aus Athen und meinen Engel trennen Welten, die auch in langen Verhandlungen nicht überbrückbar sein würden. Es ist die Kluft zwischen Faust und Mephistopheles, an der sich Goethe schon abgearbeitet hat.

Ich bin Ihnen die Antwort schuldig, wo ich in dieser lädierten Welt einen Engel gefunden habe. Die Ortsangabe könnte Sie zufrieden stellen, es war dort, wo man schlechthin auch Engel vermutet, im Himmel über unserer Erdenwelt, genau genommen in 12 000 Metern Höhe an Bord eines Fluges von Santiago de Chile nach Frankfurt. Hintergrund war, dass ich mir nach einem anstrengenden Kongress mit Vorträgen an der Universität von Santiago, wegen des abrupten Klimawechsels eine fieberhafte Erkältung eingefangen hatte, die mich mit über 41 Grad Fieber somnolent machte und nur noch den Wunsch auf eine rasche Rückreise artikulieren ließ. Hierzu erklärte sich die Lufthansa trotz meines Economy-Tickets mit Flugbindung dankenswerterweise bereit, so dass ich schon die Abendmaschine über Buenos Aires nach Frankfurt nutzen konnte. Der Zubringerflug nach Argentinien war kurz und unproblematisch, ich erlebte ihn im Halbschlaf eines Fieberkranken ohne Besonderheiten. Das Problem war der lange Flug von Argentinien nach Deutschland, der schon bei voller Gesundheit sehr strapaziös ist, wenn man sich mit 1,92 Meter Körpergröße in die Sitzreihen der „Holzklasse“ des Economy-Tickets kringeln muss. Da die Maschine bis auf den letzten Platz besetzt war, war eine Umplatzierung nicht möglich. So galt es, über zwölf Stunden auf einem engen, unbequemen Sitz als Kringel auszuhalten, wenn ich nach Hause wollte. Und ich wollte es, der Stalldrang war stärker als jede medizinische Vernunft. Wir kennen dieses Phänomen durch die von uns häufig praktizierte Notaufnahme akut erkrankter Europäern auf ihrer Sommerreise durch Aachen. Wie häufig habe ich diesen Stalldrang meiner Patienten immer wieder verspottet, da Gesundheit auch im Ausland in der gleichen Qualität erzielbar ist. Doch darf das emotionale Element der Heimat für die Heilung einfach nicht unterschätzt werden. Und genauso verhielt ich mich mit meinem fieberhaften Infekt, der verursacht war durch die Klimaanlagen im Flugzeug und im Kongresshotel. Mit dieser Fieberattacke setzte aber die kritische Vernunft aus. Was mit zwei Tagen Bettruhe im Hotel sicher und wesentlich bequemer ausgestanden wäre, musste jetzt an Bord der Lufthansa erlebt werden. Aber nur so hatte ich das Glück, einen Engel kennen zu lernen, der mir ohne dieses Ereignis sicherlich nicht begegnet wäre.

Es waren weder blondes Haar, noch ihr engelsgleiches Gesicht oder ihre sanft streichelnden Hände, die diese ältere Stewardess für mich den Status eines Engels erlangen ließ. Es waren ganz irdische Dinge, wie die zahlreichen, ständig wiederholten kalten Getränke, die Nackenwickel mit eiskalten Tüchern, die mindestens fünf aufgelösten Tabletten Aspirin und als Krönung die vom Engel selbstständig applizierten Wadenwickel mit Eiswasser in halbstündigem Abstand. Das alles geschah auf einem engen Mittelsitz der Holzklasse, wobei die Mit-Passagiere unwillentlich in dieses Geschehen einbezogen wurden. Erst nach zwei Stunden kam das Angebot eines Passagiers am Ende der Sitzreihe zum Platztausch, da er auf diesem interkontinentalen Nachtflug unbedingt schlafen wolle, um in Frankfurt für seine Verhandlungen wieder fit zu sein. – Während der ganzen Zeit war der Engel der Lüfte damit beschäftigt, mir die Atemwege und vor allem den Mund feucht zuhalten, mir eiskalte Getränke einzuverleiben und die kalten Wadenwickel ständig zu erneuern. Auch gab es ein extra von ihm zubereitetes Rührei aus der Bordküche und dazu so viel kalte Coca-Cola wie ich nur wollte. Allmählich verfiel ich in den gewünschten erquickenden Schlaf, aus dem ich immer wieder vorübergehend kurzzeitig erwachte wegen der kalten Waden- und Nackenwickel, der angebotenen eiskalten Getränke und der anhaltenden Versuche des Engels mich aus meiner zusammengekringelten Sitzposition immer wieder aufzurichten.

In Frankfurt schließlich fühlte ich mich schon viel besser, das Fieber war unter 38 Grad gesunken aber mein Bewusstsein war noch stark eingeschränkt, so dass ich das Abholen durch meine Frau kaum mitbekam, die mich noch somnolent im Autos in vorbereitete Kissen unter Eispackungen platzierte. Von meinem Engel hatte ich keine Gelegenheit mehr, mich persönlich zu verabschieden, sein Bild blieb mir unscharf in Erinnerung. Um mich für diese wunderbare Nacht zwischen den Kontinenten und ihre liebevolle Hilfe zu bedanken, schrieb ich ein Dankesschreiben an den damaligen Vorstandsvorsitzenden Weber, der meinen Dank unmittelbar an sie weiterleitete, sich bei ihr für ihren Einsatz für die Lufthansa bedankte, und seine Wertschätzung mit einem Geldgeschenk und einem Sonderurlaub zusätzlich ausdrückte. Ich selbst habe mich zudem bei ihr auch schriftlich und mit einem Geschenk bedankt, sie aber bis heute nicht wiedergesehen. – Engel sind eben flüchtige Wesen, sie sind selbstlos und auf keinen Gewinn orientiert. Es liegt in ihrer Natur, ohne Erklärung Gutes zu tun, was sie dann ohne Eitelkeit oder Streben nach materiellem Gewinn zielstrebig verfolgen. Sie sollten uns alle Vorbild sein, wir können viel von ihnen lernen. Das muss einfach einmal lobend erwähnt werden, wenn die Piloten und auch das Kabinenpersonal der Lufthansa durch ihren 13. Streik auf Betreiben der Gewerkschaft Cockpit auf dem Weg sind, ihren letzten Rest an Sympathie in der Bevölkerung zu verspielen.

Geldwechsel

Pass, Visum und ausländische Zahlungsmittel waren die essenziellen Bestandteile jeder Kongressreise ins Ausland. Ohne Devisen und ohne Reisepass war man ein Nichts, selbst dort, wo kein Visumzwang bestand. Umso großartiger war es, als das Schengener Abkommen generell die Visumpflicht für die meisten Länder in Europa abschaffte und man allein mit seinem Pass oder teilweise sogar mit dem Personalausweis überall in Europa und sogar bis in die Türkei reisen konnte. Dies war eine unbeschreibliche Erleichterung der wissenschaftlichen Reisetätigkeit. Wenn es noch vorher Wochen bis Monate für die Erlangung eines Visums gedauert hatte, war es jetzt in einem Europa ohne Grenzen völlig unproblematisch nach Belieben auf dem Kontinent herum zu reisen. Insgesamt stand schon zuvor die Visumpflicht in keinem Verhältnis zur geographischen Entfernung des besuchten Staates. Im Gegenteil schien die größte Nähe wie im Fall der deutsch-deutschen Reisetätigkeit gerade die größten Schwierigkeiten zu bereiten, obwohl es manchmal nur wenige Schritte waren, um die Staatsgrenze offiziell zu überwinden. In einem Wochen bis Monate dauernden vorausgehenden Genehmigungsverfahren wurde anscheinend mit großer Genauigkeit geprüft, ob eine Reise in das andere Deutschland erlaubt oder überhaupt zu genehmigen war. Diese Vorgänge im Hintergrund der eingereichten Bitte um Genehmigung einer Reise in das andere Deutschland waren alles andere als transparent und mit gesundem Menschenverstand überhaupt nicht nachvollziehbar. Selbst bei der heutigen Aufdeckung der damals zugrunde gelegten Aktenlage des Genehmigungsprozesses, zeigt sich keinerlei andere rationale Begründung, als das Bemühen der Staatsmacht zur Einschüchterung seiner Untertanen und die Beschneidung ihres freien Willens, durch nicht nachvollziehbare völlig undurchsichtige Entscheidungsprozesse. Wer heute diese Staatsform in ihrer tatsächlichen Durchführung immer noch als Rechtsstaat und mit der Menschenwürde vereinbar zu beschreiben versucht, der war nie dort oder dem ist wirklich nicht zu helfen. Ähnliche Staatsdiktaturen wie in den Zeiten der DDR gibt es heute nur noch, wie man hört, in der Volksrepublik Nordkorea.

Doch mit dem Visum und der Einreiseerlaubnis in die DDR war nur der Anfang geschafft. Man reiste in einen Polizeistaat der permanenten Kontrolle, wobei die Rechtsunsicherheit den Reisenden ständig begleitete. Es verging kein Tag, an dem man sich nicht bei der Volkspolizei melden musste und diese täglich über seine Reiseroute auf dem Laufenden zu halten hatte. Überall regierte die Willkür kleiner Beamten die mit Humor und Freundlichkeit sparsamer umgegangen sind, als der Nomade mit seinen Wasservorräten in der Wüste. Je höher in der Hierarchie, desto lockerer war die jeweilige Umgangsform. Ganz oben in der Hierarchie konnte man den Eindruck gewinnen, es mit richtigen Menschen zu tun zu haben. Hier wurde sogar gescherzt oder wurden auch politische Witze erzählt, doch dann war allerhöchste Vorsicht geboten, um nicht auf die Leimrute der Intriganten und der Verführer im DDR-System zu geraten. Man lief Gefahr, sich in diesen freundlichen Gesprächen verstanden und zuhause zu fühlen, doch war das Erwachen in der erschütternden Realität der sogenannten DDR mit allen ihren Verstellungen und Lügen danach umso schmerzlicher.

Mit dem Übertreten der Grenze wurde alles anders als in der westdeutschen Heimat, nicht nur der geringere Lebensstandard, nicht nur die Unmöglichkeit der freien Meinungsäußerung, sondern auch die Gewissheit einer ständigen Überwachung veränderten nachhaltig das Wohlbefinden eines Westdeutschen als Besucher der sowjetischen Besatzungszone. Von Kindheit auf wurde mir von meinen Großeltern in Magdeburg eingetrichtert, was ich sagen durfte, was ich sagen sollte oder besser, was ich partout nicht sagen dürfte. Für ein Kind ist diese Freiheitseinschränkung mindestens so gravierend, wie für einen Erwachsenen. Der einschneidende Moment kam aber, als mir mein Großvater in Vertretung meines Vaters mein wöchentliches Taschengeld von zwei Mark in Ostwährung auszahlte, und ich diese dünnen Aluminiummünzen unschlüssig in der Hand hielt. Diese später „Aluchips“ genannten Zahlungsmittel der Ostzone konnten das werthaltige Gefühl unserer westdeutschen Mark stücke für mich nicht ersetzen, so dass ich über diesen Verlust weinte. Als ich dann später für dieses Aluminiumgeld in den HO-Läden nichts kaufen konnte und mir zudem gesagt wurde, dass ich es nicht sparen könnte, da ich am Ende meines Urlaubs bei den Großeltern vor dem Verlassen der DDR das nicht ausgegebene Geld vollständig zurückgeben müsste, brach für mich eine Welt zusammen. Jegliches Mitnehmen meines Taschengeldes sei verboten und als Devisenvergehen unter Strafe gestellt und könnte sogar zu einer Gefängnisstrafe führen. Als ich nach dieser Mitteilung total verängstigt war, angelte ich nachts mit der Pinzette die Aluchips aus meiner verschlossenen Sparbüchse wieder heraus.

Was war das für ein Staat, in dem man nicht einmal sein Taschengeld ausgeben, geschweige denn sparen konnte. In diesem Staat wollte ich nicht leben und bedauerte dafür meine Großeltern. Das änderte sich auch nicht, als ich erwachsen wurde und als Student die „Wohltaten“ Ost-Berlins kennen lernte, wo man mit einem Zwangsumtausch von fünf DM für einen Besuch im Deutschen Theater und ein Abend essen mit Spiegelei und Bratkartoffeln gerade auskam. Auch hier war Sparen nicht angesagt, die Mitnahme von Ostdevisen war streng verboten und weiter unter Strafe gestellt. Als ich das Portemonnaie meiner Tanzpartnerin eines Festes am Müggelsee beim Tanzen auf ihre Bitte hin eingesteckt hatte und dies bei der Passage des Palastes der Tränen um Mitternacht vergessen hatte, da beging ich ein schweres Devisenvergehen, da ich absichtlich Devisen von 600 Ostmark aus der DDR ausgeführt hatte. Dass dieses Geld im Westen absolut nichts wert war und darum im Westen damals noch nicht einmal ein Umtauschwert hatte, scherte die unerbittlichen Vopos nicht im geringsten, wegen meines Devisenvergehens hatte ich die Chance einer sofortigen Verhaftung dann zu entgehen, wenn ich mich bereit erklärte, als Informant über meine Kommilitonen und die Freie Universität Berlin die Stasi hinfort regelmäßig zu informieren. Wie glücklich war ich, als der MAD mich vor dieser Konsequenz bewahrte und mir durch ein permanentes großzügiges Flugticket zwischen Hamburg und Berlin fortan den Kontakt mit diesen Ostgesellen ersparte.

Der Ostblock hatte unter Einschluss der DDR immer ein besonderes Verhältnis zu den eigenen Devisen, als wenn er sie lieber versteckte als sie den Ausländern stolz zu präsentieren. DM, Dollar oder Schweizer Franken konnte man überall tauschen oder mit sich führen. Rubel oder Zloty wurden unter dem Tisch gehandelt. Auf meinen Kongressreisen war ich ständig mit den unterschiedlichsten Währungen konfrontiert, wobei Mark und Dollar auch in Russland und China die wichtigste Stellung einnahmen. In den letzten 20 Jahren hat der Euro zunehmend diese Vorrangstellung eingenommen, wenngleich das noch nicht überall gilt. Mit Freude sehe ich, dass mit der heutigen Entscheidung am 13. Juli 2015 die Stellung des Euros auch für Griechenland und die 18 weiteren europäischen Staaten festgezurrt wurde, so dass wir auf eine einheitliche Währung mit teilweise schmerzhaften Schritten zukünftig zu gehen werden. Allerdings ist hierfür die Voraussetzung, dass sich alle Teilnehmer regelkonform verhalten und nicht versuchen andere Mitglieder durch Lüge, Übervorteilung oder einfach Betrug auszutricksen. Die Schlauheit, Verschlagen- und Gerissenheit des Griechen Odysseus ist doch durch die über 2000 Jahre alte Odyssee heute so sehr Allgemeinwissen, dass eigentlich keiner mehr darauf reinfallen sollte.

Geldwechsel ist stets mit der Gefahr der Übervorteilung verbunden. Was hier über oder unter dem Tisch passierte, war nicht immer ein lupenreines Tauschgeschäft. Jeder kann hierzu Erlebnisse beitragen, wenn er über große Reiseerfahrungen verfügt. Tauschgeschäft in den Banken und Wechselstuben sind allemal der sicherste Weg aber selten auch der preisgünstigste. So ist das Devisentauschen in Bahnhöfen, in Hauseingängen, auf der Straße oder in Kneipen gerade im Ostblock unter Umgehung des offiziellen Wechselkurses wohl der häufigste Weg. Zieht man eine Bilanz der bei diesen Umtauschmanövern Erfolgreichen und zieht die Zahl der hierbei Betrogenen hiervon ab, so gewinnt man den Eindruck, dass sich überwiegend das freie Umtauschen lohnt. Bedingung ist aber, dass man mit Niederlagen und Verlusten umzugehen versteht.

Auf dem polnischen Chirurgenkongress hatte mir ein Kollege geraten, in der und der Straße in dem und dem Hauseingang mit einem Einheimischen Kontakt aufzunehmen und ihm meinen Wunsch zum Geldumtausch klarzumachen. Es ging hierbei um den Betrag von 100 Euro. Zum Beweis seiner Liquidität öffnete er seinen langen Regenmantel und präsentierte mir zahlreiche mit Sicherheitsnadeln an seinem Mantelfutter befestigte Geldbündel, die meinen kleinen Wechselbetrag fast ins Lächerliche verkehrte. Wir einigten uns rasch auf einen zehn Prozent höheren Kurs als dem in der Bank und das Geschäft war perfekt. Gewarnt, dass diese Straßenhändler vor Betrug nicht zurückschrecken und man darum das ausgehändigte Geld immer noch einmal nachzählen sollten, stellte ich beim Nachzählen fest, dass er mir 20 Prozent zu wenig Zloty gegeben hatte. Das sei ihm unendlich peinlich, da er um seinen guten Ruf fürchten müsse. Aber ich hätte recht, es seien wirklich 20 Prozent zu wenig Zlotys, wovon er sich selbst beim eigenen Nachzählen habe überzeugen lassen müssen. Deshalb erlaube er sich, als Kompensation mir 30 Prozent mehr Zlotys auszuhändigen, die er großzügig dem Geldhaufen hinzufügte. Er bäte vielmals um Entschuldigung, ich solle nicht den Eindruck bekommen, dass er ein Betrüger sei. Und so händigte er mir den deutlich verstärkten Haufen an Zlotys aus und entschuldigte sich mit Handschlag noch einmal bei mir in aller Form. Dass er hierbei die im Bündel drunter liegenden großen Scheine weg geblättert und seine zusätzliche Zlotys den kleinen Scheinhaufen zufügte und die großen Scheine durch einen Taschenspielertrick in seinem Ärmel hatte verschwinden lassen, entging meinem hierin ungeschulten Auge. Zu stolz war ich darauf, seinen ersten Trick durch Nachzählen aufgedeckt zu haben, als dass ich glauben konnte, durch einen sehr viel raffinierteren Trick in Form des unauffälligen Wegblättern der großen Geldscheine unter die bereitwillig von ihm ergänzten kleinen Scheinen erneut betrogen zu werden. Als ich das merkte, war er natürlich schon über alle Berge – ich um einige Geldscheine ärmer aber um eine Erfahrung reicher, die da lautet, dass du am besten jemand betrügen kannst, wenn er von dir bei einem Betrug entlarvt aber dennoch nicht oder nur milde betraft wurde und damit zu einem wohlwollenden und dankbaren Geschäftspartner geworden ist. – Dies ist ein uraltes chinesisches Theorem, das offensichtlich weltweit, so auch in Polen, immer noch seine Gültigkeit hat.

Heimweh

In der heutigen mobilen, bestens vernetzten und digitalen Welt, ist Heimweh das typische Problem von Kinderheimen, Klassenreisen oder Zeltlagern für Jugendliche und gelegentlich der starken Verlust- und Trennungsgefühle unter frisch verliebten Ehepartnern sowie das Resultat der Ungastlichkeit und Fremdheit unvertrauter Aufenthaltsorte von Kindern und Jugendlichen oder des Fremdelns im anderssprachigen Ausland in der Bedrückung durch feindliche oder einfach unfreundliche Umgebung für sensible Menschen. Eng verknüpft mit dem Begriff des Wohlbefindens im häuslichen Heim, schwindet das Gefühl für Heimweh mit der Wanderschaft in die Welt. Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, formulierte Friedrich Schiller den Übergang des Heranwachsenden vom trauten Heim zur feindlichen Welt, und befreite in der nächsten Zeile gleichzeitig die Frau von diesem Zwang zur Wanderschaft. Während der Mann, um ein wahrer Mann zu sein, hinaus muss ins feindliche Leben, also gleichsam abgenabelt sein muss, bleibt das Heim die Heimat der Frau, die hier waltet als tüchtige Hausfrau und Mutter der Kinder. – So war es, als noch der alte Lindenbaum am Brunnen vor dem Tore stand, und die jungen Burschen Haus und Hof verlassen mussten, um ihre Erfahrungen zu machen, sich in der Welt durchzusetzen und ganz ehrlich gesagt auch, um den nachfolgenden Geschwistern Platz zu machen. Das war einmal so, wird der soziologisch informierte Leser sagen. Realistisch gesprochen leben, trotz der sehr viel geringeren absoluten Zahl an Kindern heute, über 30 Prozent der jungen Erwachsenen zumindest in Südeuropa noch zuhause, also in der Pension Mamma, und strecken notgedrungen auch weiter ihre Beine unter den Tisch der Eltern. Darüber würden die Störche lachen, die geradezu brutal ihre Kinder, wenn sie fliegen können, aus dem Nest werfen. Und wenn sie dann am Ende des Sommers, immer noch nicht so weit für die große Reise sind, dann lassen die Eltern ihre Kinder als Nesthocker zurück und fliegen einfach alleine los, um sich dann später eventuell auf dem Balkan oder erst in Afrika wieder mit ihnen zu treffen, falls sie diesen langen Flug überhaupt überstehen.

Weniger brutal als im Tierreich ist die Abnabelung der jungen Menschen heute, was in den Volksliedern und Gedichten der Romantik noch als herzlose Trennung à la Storch nacherzählt wird. Sie hat heute generell ihre damalige naturgewollte Härte verloren, niemand wird mit dem Eintritt des beginnenden Erwachsensein heute zumindest in Europa aus dem Haus geworfen, da zum einen heute nicht mehr eine so große Zahl etwaiger nachfolgender Geschwister drängelt und zum anderen die heutigen häuslichen Verhältnissen einen Daueraufenthalt im Hotel Mama möglich machen. Kinder ohne eigenes Einkommen haben hier ein permanentes Wohnrecht, solange sie noch nicht vollständig abgenabelt sind. Die Tatsache, dass sie dieses gelegentlich auch dann noch beanspruchen, wenn sie ihren Lebenspartner gefunden oder mit ihm bereits Kinder in die Welt gesetzt haben und mit ihm sogar in Kleinfamilie zusammenleben, macht alles noch komplizierter für Eltern und Kinder. Die normative Kraft des faktischen Zwanges von Wohnungsnot und Rezession ist dabei, uralte Gesetze der frühzeitigen Trennung von Eltern und Kindern auszuhebeln und eine neue Form der Großfamilie mancherorts zu etablieren. Wieweit dieses Modell langfristig trägt, bleibt abzuwarten. Die Störche mindestens würden darüber nur verständnislos ihre Köpfe schütteln, aber Not macht eben erfinderisch, wäre ihr weiser und zurückhaltender Kommentar.