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Elisabeth Dietrich-Daum | Michaela Ralser | Dirk Rupnow (Hg.)

Psychiatrisierte Kindheiten

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INHALT

VORBEMERKUNG

EINLEITUNG

Elisabeth Dietrich-Daum | Michaela Ralser | Dirk Rupnow

EINS Illustration HEILPÄDAGOGISCHE LANDSCHAFTEN

Die epochale Gründungswelle von Kinderbeobachtungen im Österreich der langen 1950er Jahre

Michaela Ralser

Das Panorama der heilpädagogischen Beobachtungsstationen Österreichs im Überblick

Ina Friedmann | Christine Hartig | Friedrich Stepanek

ZWEI Illustration HISTORISCHES ERBE

Die Vorgeschichte der Kinderbeobachtungsstation in der NS-Zeit und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren

Friedrich Stepanek

DREI Illustration DIE KINDERBEOBACHTUNG EINE KURZE INSTITUTIONENGESCHICHTE

Die Station und ihre Standorte

Die Station und ihre langjährigen Leitungspersonen

Michaela Ralser | Elisabeth Dietrich-Daum

VIER Illustration DIE KINDER DER KINDERBEOBACHTUNGSSTATION

Aufnahmen, Alter und Geschlecht, soziale und regionale Herkunft

Elisabeth Dietrich-Daum | Ina Friedmann | Michaela Ralser

FÜNF Illustration DIE AKTEURE DER ZUWEISUNG

Eltern, Pflegeeltern, Heime, Ärztinnen und Ärzte, Schulen und Behörden

Elisabeth Dietrich-Daum | Ina Friedmann | Michaela Ralser

SECHS Illustration AUF DER STATION

Tagesabläufe und Hausordnung, Beobachtung und Diagnosestellung, Behandlung und Medikation

Elisabeth Dietrich-Daum | Ina Friedmann | Michaela Ralser

SIEBEN Illustration EPIPHYSAN

Dimension der Verabreichung, diagnostische Begründung, Anwendungsräume und Anwendungsstopp

Ina Friedmann

ACHT Illustration SITTLICHKEIT – KLASSE – GESCHLECHT Diskurse über Sexualität,

Jugend und Moral in den Nachkriegsjahrzehnten

Alexandra Weiss

NEUN Illustration DIE GUTACHTEN

Funktion und Verwendungskontext, Fokus und Wirkmacht

Elisabeth Dietrich-Daum | Ina Friedmann | Michaela Ralser

ZEHN Illustration ENTLASSUNG

Entlassungsprozedere, Fluchten und drei Todesfälle, Aufenthaltsdauer und „Nachsorge“

Elisabeth Dietrich-Daum | Ina Friedmann | Michaela Ralser

ELF Illustration NARRATIVE REKONSTRUKTION

Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation in Interviews mit ehemaligen PatientInnen

Christine Hartig

NACHWORT

Dirk Rupnow

ANHANG

Hausordnung

Lehrveranstaltungen von Maria Nowak-Vogl

Literatur- und Quellenverzeichnis

VORBEMERKUNG

Dieses Buch entstand im Anschluss an ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das vom Land Tirol, von den Tirol Kliniken, von der Medizinischen Universität Innsbruck und von der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck (LFU) finanziert und im Auftrag des Landes Tirol zwischen 2014 und 2016 an der LFU durchgeführt wurde. Das Projekt resultierte aus einer Empfehlung der Medizin-Historischen ExpertInnenkommission (Vorsitz: Univ.-Prof. i. R. Günther Sperk), die im Zuge der öffentlichen Thematisierung und Kritik der Behandlungspraxis an der psychiatrischen „Kinderbeobachtungsstation der Maria Nowak-Vogl“ durch die Medizinische Universität Innsbruck eingerichtet worden war – in ihrem Schlussbericht vom 11. 11. 2013 erachtete diese Kommission eine weiterführende Untersuchung des Systems der Kinderbeobachtung für notwendig. Die AutorInnen dieses Buches sehen sich dieser Empfehlung sowie auch den Betroffenen, den ehemaligen PatientInnen der Kinderbeobachtungsstation, verpflichtet. Zahlreiche Gewaltmeldungen liegen bei den Opferschutzkommissionen von Land und Stadt vor, welche neben den Heimen der Fürsorgeerziehung im Kern auch die Praxis der Kinderbeobachtungsstation betreffen.1

Mit der Durchführung der Studie wurden das Institut für Erziehungswissenschaft, das Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie sowie das Institut für Zeitgeschichte der Innsbrucker LFU betraut.2 Die Projektleitung hatten Univ.-Prof.in Michaela Ralser, ao. Univ.-Prof.in Elisabeth Dietrich-Daum sowie Univ.-Prof. Dirk Rupnow inne. Die ersten beiden (Ralser/Dietrich-Daum) betreuten und verantworten die Kapitel EINS bis SIEBEN und NEUN bis ELF (sie entsprechen Projektteil eins und zwei des Antrags), letzterer (Rupnow, mit unterstützender Beratung durch Univ.-Doz. Dr. Horst Schreiber) verantwortet Kapitel ACHT (es entspricht Projektteil drei des Antrags). Die ForscherInnen, welche neben den HerausgeberInnen die einzelnen Kapitel verfasst haben, sind die Zeithistorikerin MMag.a Ina Friedmann, die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Dr.in des. Christine Hartig, der Historiker Mag. Friedrich Stepanek und die Politikwissenschaftlerin Mag.a Dr.in Alexandra Weiss. Die einzelnen Beiträge sind jeweils mit den Namen der ForscherInnen und AutorInnen gekennzeichnet.

Insgesamt standen dem Projekt für eine Laufzeit von zwanzig Monaten Projektmittel in der Höhe von 117.000 Euro (einschl. Nachtrag) zur Verfügung. Wegen der mehrfachen institutionellen Zugehörigkeit von Nowak-Vogl als Fürsorgeärztin des Landes, als Primarärztin des Landeskrankenhauses, als Wissenschaftlerin und als akademische Hochschullehrerin an den beiden Innsbrucker Universitäten, der Medizinischen und der Leopold-Franzens-Universität, stammen auch die Projektmittel anteilig vom Land Tirol (60.700 Euro), von den Tirol Kliniken (27.650 Euro), von der Medizinischen Universität (16.650 Euro) und von der Leopold-Franzens-Universität (10.000 Euro) sowie schließlich von der Historisch-Philosophischen Fakultät derselben Universität (2.000 Euro).

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Die Drucklegung des Buches wurde von denselben Institutionen in der Höhe von insgesamt 15.000 Euro gefördert – unter anderem deshalb, um den Ladenpreis des Buches so zu gestalten, dass es leistbar ist. Der Projektbericht wurde 2017 der Öffentlichkeit vorgestellt und stellt die Grundlage der vorliegenden Veröffentlichung dar.

Das Projekt wäre ohne die Unterstützung durch eben diese Fördermittel nicht zustande gekommen; ebenso wenig aber ohne die Unterstützung des Tiroler Landesarchivs, des Stadtarchivs Innsbruck, der landeskundlichen Bibliothek des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum und des Universitätsarchivs der LFU. Den MitarbeiterInnen der Archive und Bibliotheken sei hier unser herzlicher Dank ausgesprochen. Der Medizin-Historischen ExpertInnenkommission – insbesondere Dr.in Barbara Hoffmann-Ammann – danken wir für die Überlassung der im Rahmen der Kommissionsarbeit entstandenen Materialien und gehobenen Quellen. Und Andreas Fink danken wir für die redaktionelle Betreuung, die umfängliche Fotorecherche und die Infografiken, Margret Haider für das professionelle und sorgsame Lektorat.

Unser größter Dank und unsere Wertschätzung gelten aber den ZeitzeugInnen, die mit den uns gewährten Interviews wesentlich dazu beigetragen haben, über Dimension, Gestalt und Wirkung der Kinderbeobachtungsstation aufzuklären.

1 Die Bedingungen und wechselseitigen Verpflichtungen der vorliegenden Forschungsarbeit sind im Fördervertrag vom 22. 9. / 2. 10. / 15. 10. 2014 und im Zusatzfördervertrag vom 13. 8. / 14. 9. / 22. 9. 2015 grundgelegt.

2 Die Ergebnisse einer Parallelstudie zur Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation, die ebenfalls im Auftrag des Landes Tirol und der anderen Fördergeber von Sylvelyn Hähner-Rombach † durchgeführt wurde, sind bereits an anderer Stelle publiziert worden: Sylvelyn Hähner-Rombach, Patientinnen und Patienten der Kinderbeobachtungsstation Innsbruck: Einweisungen und Aufenthalt zwischen 1949 und 1989 im Spiegel der Krankenakten, in: Medizinhistorisches Journal 52 (2017), 4, S. 308–351; Sylvelyn Hähner-Rombach, Children and Young People in the Post-War Period as Patients in Psychiatric Child Observation Units. The Example of Innsbruck, in: Sylvelyn Hähner-Rombach, Karen Nolte (Hg.), Patients and Social Practice of Psychiatric Nursing in the 19th and 20th Century (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beiheft 66), Stuttgart 2017, S. 91–112; Sylvelyn Hähner-Rombach, Routinen psychiatrischer Begutachtung von Kindern und Jugendlichen in einer Beobachtungsstation zwischen 1949 und 1989, in: Sabine Schmolinsky, Diana Hitzke, Heiner Stahl (Hg.), Taktungen und Rhythmen. Raumzeitliche Perspektiven interdisziplinär (= SpatioTemporality/RaumZeitlichkeit 2), Berlin–Boston 2018, S. 109–142.

EINLEITUNG

Elisabeth Dietrich-Daum | Michaela Ralser | Dirk Rupnow

Ein Ort, der „der gesamten behördlichen Jugendfürsorge des Landes, den Schulen und den Eltern schwieriger Kinder zur Beobachtung, Diagnose, Prognose und heilpädagogische[n] Therapie zur Verfügung steht“,1 das sollte die 1954 durch das Land Tirol gegründete, dem Landesjugendamt unterstellte und der jungen Ärztin Maria Vogl verantwortlich übertragene stationäre Einrichtung in der Innsbrucker Sonnenstraße sein. Diese Zweckbestimmung der Kinderbeobachtungsstation, wie sie im Beschluss der Tiroler Landesregierung vom 6. 8. 1953 festgeschrieben wurde, benennt nicht nur deren Aufgabe, sondern auch die eigentliche Klientel der Einrichtung: die Erziehungsberechtigten. Es sind die Eltern und die Pflegeeltern, die Schulen und die Heime – und die (wieder eingerichteten) Jugendämter des Landes. Ihnen sollte die Kinderbeobachtungsstation in erster Linie „zur Verfügung“ stehen, ihnen sollte geholfen werden, in Gesundheits- und Erziehungsfragen oder bei der Lösung von Unterbringungsproblemen von als „erziehungsschwierig“ oder „verhaltensauffällig“ geltenden Kindern.

Es ging demnach nicht darum, Kindern und Jugendlichen in Problemsituationen oder akuten (familiären) Krisen medizinisch-therapeutische Hilfe angedeihen zu lassen, sondern in erster Linie darum, den anfragenden Erziehungsberechtigten und Behörden kinderpsychiatrisch-heilpädagogisch begründete Expertenempfehlungen für einzuleitende oder fortzusetzende Erziehungsmaßnahmen in die Hand zu geben. Die Kinder waren nicht die Hilfesuchenden. Sie waren das Problem. An ihren Körpern und Seelen wurde das verhandelt und ausgetragen, was die zeitgenössische Heilpädagogik und Kinderpsychiatrie als deren Auftrag ansahen: die biologischen Grundlagen kindlicher Entwicklung zu untersuchen und einzuordnen, um „dem Erzieher die Grenzen abzustecken, die dem Kind anlagemäßig gegeben sind, und deshalb das für es erreichbare Erziehungsziel [zu] modifizieren“.2 Kein Wort von Förderung, Ermächtigung oder Schutz. Es ging um Anpassung und Korrektur kindlichen Verhaltens an die Ordnungsvorstellungen der damaligen Nachkriegsgesellschaft.

Bereits in ihrer 1951 approbierten Dissertation3 hatte Maria Vogl eine „Kinderbeobachtungsstation“ nach Schweizer Vorbild gefordert. Dort aufgenommen werden sollten „Kinder, bei denen man aus irgendeinem Grund mit chronischen Erziehungsschwierigkeiten nicht fertig wird. Hierher gehören die unverbesserlich lügenden, stehlenden, bettnässenden Kinder, diejenigen, die mit ihrem Trotzalter nicht fertig werden, die neurotischen und psychopathischen Kinder im Allgemeinen, also alle jene, bei denen uns langsam die Geduld ausgeht.“4

Diese Kinder sollten aus ihrer Umwelt genommen und an der Station über mehrere Wochen beobachtet, behandelt und begutachtet werden, nicht zuletzt um der öffentlichen Hand künftig teure und aus Sicht der Ärztin in manchen Fällen inadäquate Heimunterbringungen zu ersparen. Im Anhang ihrer im Dezember 1954 – kurz nach der Eröffnung der Kinderbeobachtungsstation – verfassten „Denkschrift“ listete Vogl die Summen auf, die sie der öffentlichen Fürsorge durch ihre Arbeit bereits erspart hätte und noch ersparen würde.5 Ob die Ärztin, ein Jahr zuvor zur Fürsorgeärztin des Landes bestellt, mit dem ökonomischen Argument überzeugen konnte oder mit ihrem Vorschlag ohnehin im Strom der Zeit lag, muss dahingestellt bleiben. Denn nicht nur in Tirol, sondern in ganz Österreich wurde das Kinder- und Jugendfürsorgesystem neu geordnet, 1954 trat das Bundes-Jugendwohlfahrtsgesetz in Kraft,6 1955 folgte das entsprechende Landesgesetz für Tirol, das Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz.7

Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation war auch nicht die einzige Einrichtung dieser Art. Innerhalb weniger Jahre sollten in fast allen österreichischen Bundesländern ähnlich ausgerichtete Beobachtungen, Ambulatorien oder Beratungsstellen entstehen und den Anspruch erheben, die Entscheidungsvorgänge der Fürsorge auf eine (natur-)wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Es ging in dieser Zeit um die Rationalisierung des Kinder- und Jugendwohlfahrtswesens, um den Aufbau effizienter Fürsorgestrukturen, um die Professionalisierung der Fürsorge, aber auch um die Bearbeitung der sozialen Probleme der Nachkriegszeit mit Techniken der Psychiatrie und der in Österreich nach 1945 besonders wirkmächtig gewordenen, medikal orientierten Heilpädagogik. Maria Vogl, nach ihrer Verehelichung 1967 Nowak-Vogl, konnte bis in die Mitte der 1970er Jahre unangefochten und ohne von der Landesbehörde oder der Universitätsklinik kontrolliert zu werden, das heilpädagogisch-kinderpsychiatrische Feld bestimmen, und das auch über die Landesgrenzen hinweg. Erst 1974 öffnete die Innsbrucker Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde eine stationäre Abteilung für Kinder- und Jugendneuropsychiatrie und Pädiatrische Psychosomatik – auch als „Station Mangold“ bekannt – als alternatives Angebot.

Kennzeichnend für die ersten Nachkriegsjahrzehnte war – und das gilt allgemein für die klinische Praxis bis in die 1990er Jahre – der rechtlich schwache Status von PatientInnen, während ÄrztInnen allgemein großes Ansehen genossen. Die in der Bevölkerung weit verbreitete Expertengläubigkeit ließ zudem wenig Spielraum für Kritik oder ein Hinterfragen der angeordneten Behandlungsanweisungen. Gleichzeitig waren in dieser Zeit ethische Richtlinien, etwa Empfehlungen in Bezug auf die Verabreichung von Medikamenten, unverbindlich und Patientenrechte im heutigen Sinn noch nicht verankert. Diese Schieflagen im Arzt-Patienten-Verhältnis gaben den behandelnden ÄrztInnen nicht nur viel Macht in die Hand, sie ermöglichten gleichermaßen Gewalt und Missbrauch sowie permanente Eingriffe in die Freiheitsrechte der PatientInnen. Dass Übergriffe dieser Art an der Kinderbeobachtungsstation stattfanden, hat die Forschung schon gezeigt. Diese werden in diesem Buch erneut belegt.

In den 1970er Jahren schienen sich die Verhältnisse allmählich zu ändern, wenngleich die von MitarbeiterInnen formulierte Kritik noch nicht nach außen gelangte. Erst mit der Rückübersiedelung der Kinderbeobachtungsstation an den Klinikstandort am Innrain (1979) und nach Ausstrahlung des Dokumentarfilms Problemkinder (Kurt Langbein, ORF 1980) wurden die Befugnisse Nowak-Vogls erstmalig beschränkt. Die alten Regeln und Verfahrensweisen konnten nicht mehr umstandslos durchgesetzt werden: Sowohl Klinikleitung wie auch Personal forderten eine Reform der kinderpsychiatrischen Versorgung. Zu einer solchen kam es aber lange nicht. Die Berücksichtigung der Ansprüche von Kindern und Jugendlichen in Schwierigkeiten und Krisen blieb noch für Jahrzehnte randständig. Reformen griffen langsam, erkennbar erst ab den 1990er Jahren.8

Fraglos blieben die Kinder und Jugendlichen in diesem Prozess auf der Strecke. Die Klagen der ehemaligen KinderpatientInnen bei den verschiedenen Opferschutzkommissionen und Anlaufstellen geben ein eindrückliches Zeugnis darüber ab. Bis zur Jahresmitte 2019 hatten sich bei der Tiroler Anlaufstelle für Opferschutz 212 Betroffene gemeldet, die über psychische und physische Gewalt, über demütigende und angsteinflößende Erziehungsmaßnahmen, über erzwungene Medikamenteneinnahmen oder über folgenschwere Begutachtungen durch die damalige Kinderbeobachtungsstation berichteten.9

Die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation ist im Rahmen und im Anschluss an die jüngere Heimgeschichteforschung nach der Jahrtausendwende im Vergleich zu den Einrichtungen in den anderen Bundesländern früh thematisiert worden. Bereits 2010 widmete Horst Schreiber in seinem Buch Im Namen der Ordnung10 der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation ein ausführliches Kapitel, bevor Reinhard Sieder und Andrea Smioski 11 das System der Wiener Fürsorgeerziehung sowie Ingrid Bauer, Robert Hoffmann und Christina Kubek die Salzburger Kinderbeobachtungsstation unter Ingeborg Judtmann vorstellten.12 Drei Jahre nach Schreibers Publikation legte die Medizin-Historische ExpertInnenkommission der Medizinischen Universität Innsbruck ihren Bericht zur Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation vor. Diese ExpertInnenkommission war es auch, die eine fortgesetzte und systematische Untersuchung der Geschichte der Kinderbeobachtungsstation forderte und die verantwortlichen Institutionen benannte: das Land Tirol, die Medizinische Universität Innsbruck, die Leopold-Franzens-Universität und die Tirol Kliniken. Die Ergebnisse dieser im Herbst 2014 an der Universität Innsbruck begonnenen Untersuchung liegen nun umfänglich redaktionell bearbeitet in Buchform vor.

Das Buch soll ein weiteres Stück zur Aufklärung jener Verhältnisse beitragen, welche die Innsbrucker psychiatrische Kinderbeobachtungsstation in den 1950er Jahren hervorbrachten, sie über drei Jahrzehnte nahezu unverändert erhielten und ihre Nachgeschichte bestimmten. Es gibt Einblick in Praxis und Wirkung der Station, bestimmt die herausgehobene Stellung ihrer langjährigen Leiterin Maria Nowak-Vogl und beschreibt die mediko-pädagogischen Raum- und Wissensordnungen, die dieser hybride Ort etablierte, sowie die rigorosen Beurteilungs-, Behandlungs-, Bestrafungs- und Verteilungsregime, die lange dreißig Jahre über 3.000 Kinder und Jugendliche betrafen. Es wurde das Ziel verfolgt, die Kinderbeobachtungsstation möglichst präzise und umfassend zu beschreiben, dazu auch die Erinnerungen von ZeitzeugInnen als wichtige Erkenntnismittel heranzuziehen und eine mehrfache Kontextualisierung der Station vorzunehmen: einmal hinsichtlich ihrer (auch ideologischen) Herkunftsgeschichte, zum anderen hinsichtlich ihrer Verortung in der „heilpädagogischen Landschaft“ verwandter Einrichtungen in Österreich, schließlich hinsichtlich der zeitgenössischen Diskurskonstellationen zu Sexualität, Geschlechterbeziehung, Jugendschutz und Jugendkultur, in welche die Denk- und Handlungsmuster der ärztlichen Stationsleiterin Nowak-Vogl einzuordnen sind. In elf Kapiteln – ergänzt durch zahlreiche Tabellen, Infografiken und Fotos – legt das Buch seine Argumentation dar.

Kapitel EINS mit der Überschrift „Heilpädagogische Landschaften“ wurde zu einem Teil von Michaela Ralser, zum anderen von Ina Friedmann, Friedrich Stepanek und Christine Hartig verfasst und zeigt die Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation als Teil einer größeren Entwicklung. Mit Ausnahme von Wien, wo eine frühe heilpädagogische Institutionenbildung schon 1911 einsetzte, entstand in unmittelbarer zeitlicher Folge zur Errichtung der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation eine ganze Reihe funktionsgleicher Einrichtungen in Österreich. Die Beiträge dieses Kapitels rekonstruieren – zumeist erstmals – die Entstehungsgeschichten dieses höchst machtvollen heilpädagogischen Panoramas samt seinen Ambulatorien, Beratungsstellen, Abteilungen und Kinderbeobachtungen in den einzelnen Bundesländern einschließlich der Berufsbiografien ihrer mehrheitlich sozial-, gesundheits- und bildungspolitisch äußerst einflussreichen ExponentInnen. Diese waren angetreten, das Feld der Fürsorge zu professionalisieren und den Entscheidungsvorgängen und Maßnahmenempfehlungen zur Erziehung der als verhaltensauffällig geltenden Kinder und Jugendlichen eine psychiatrisch-pädiatrisch-heilerzieherisch informierte, wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen: mit dem Effekt, die Lebensäußerungen und Bewältigungsstrategien der Kinder als entwicklungsgestörte, psychiatrische Auffälligkeiten festzuschreiben wie insgesamt normabweichendes Verhalten im Passepartout krankhaft anlagebedingter Disposition zu verorten.

In Kapitel ZWEI mit dem Titel „Historisches Erbe“ unternimmt Friedrich Stepanek eine weitere Kontextualisierung. Der Beitrag rekonstruiert an bisher nicht berücksichtigtem Quellenmaterial die Vor- und Frühgeschichte der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation und zeigt seine Vorläufereinrichtungen in der Zeit des Nationalsozialismus auf. Es ist dies Friedrich Stumpfls Erziehungsberatungsstelle samt späterem Hort, und es ist dies Adele Judas Psychiatrisches Kinderzimmer. Stumpfls Erziehungsberatungsstelle wird ab 1947 als Ambulanzstelle für Erziehungsberatung an der Universitätsklinik fortgeführt, Judas Einsatz für psychiatrische Vor- und Nachsorge wird an die außerklinische, von Juda, Stumpfl und dem Arzt Rudolf Cornides gemeinsam gegründete Einrichtung, die Zentralstelle für Familienbiologie und Sozialpsychiatrie, verlegt. Das „Kinderzimmer“ an der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik schließlich übernimmt die junge Hilfsärztin Maria Vogl, sie baut es zur eigentlichen Kinderbeobachtungsstation am Höttinger Standort aus. Motivation und Konzept stehen in einer Entwicklungslinie mit den Vorläufereinrichtungen.

In Kapitel DREI mit dem Titel „Die Kinderbeobachtung. Eine kurze Institutionengeschichte“ beschreiben Michaela Ralser und Elisabeth Dietrich-Daum die verschiedenen Räume, in denen die Kinder untergebracht waren, je nachdem, ob sie in den 1940ern, 50ern, 60ern, 70ern oder 80ern an die Station gelangten. Und sie geben Auskunft über die beiden Personen, welche die Einrichtung maßgeblich prägten: über die langjährige Leiterin der Station, die Nervenärztin und Heilpädagogin Maria Nowak-Vogl; und über ihren Stellvertreter, den Psychologen Robert Höllebauer – samt berufsbiografisch akademischem Werdegang und publizistischer Tätigkeit.

Nach dieser knappen Raum- und Personengeschichte der Station stellen Elisabeth Dietrich-Daum, Ina Friedmann und Michaela Ralser in sechs Kapiteln, Kapitel VIER bis SIEBEN und NEUN bis ZEHN, die Ergebnisse ihrer umfassenden, vorwiegend quantitativen Analyse der 3.654 im Tiroler Landesarchiv verwahrten Kinderkrankenakten respektive der daraus gezogenen Stichproben vor. Die Analyse fragt etwa in Kapitel VIER – „Die Kinder der Kinderbeobachtungsstation“ – danach, wann die Kinder und Jugendlichen aufgenommen wurden, woher sie kamen, wer sie waren und was sie besonders vulnerabel für die Aufnahme auf der Beobachtungs-station machte. Wenig überraschend ist der Befund, dass wie in allen österreichischen Kinderbeobachtungen mehrheitlich Buben aufgenommen wurden und dass Kinder aus Erziehungsheimen sowie in Sonderbeschulung unter den Zugewiesenen überproportional vertreten waren.

In Kapitel FÜNF mit dem Titel „Die Akteure der Zuweisung“ werden die Zuweisungsprozesse eingehender analysiert und die für die Zuweisungen Verantwortlichen benannt. Die hohe Beteiligung der Jugendämter in diesen zumeist hochkomplexen Prozessen ist eines der Ergebnisse dieser Analyse, das intensive Zusammenwirken von Fürsorgebehörden, Erziehungsheimen und der Kinderbeobachtungsstation ein anderes.

In Kapitel SECHS mit der Überschrift „Auf der Station“ gehen die AutorInnen der alltäglichen Routine in der Einrichtung nach, die auf den reibungslosen Ablauf des Stationsbetriebes ausgerichtet war: Tagesabläufe, Hausordnung, Formen der Beobachtung und Diagnosestellung, Behandlungsmethoden und Medikation. Es wird deutlich, dass regulierende und disziplinierende Interventionen im Zentrum der therapeutischen Palette der Kinderbeobachtungsstation standen. Diese Interventionen waren einem konservativ-pädagogischen Modell verpflichtet und dienten mehr der Anpassung der Kinder an die Erziehungswünsche der Eltern und der Umwelt als der Linderung der das Kind belastenden Symptomatik. Das pädagogische Klima einschließlich einer ausagierten Strafpraxis erklärt auch, warum Betroffene die Station als ein „Heim“ erinnerten, einzelne diese auch mit einem Gefängnis verglichen. Besonders aufschlussreich ist die Analyse der verabreichten Medikamente. Dass Medikamente häufig und ab den 1970er Jahren in zunehmendem Maße gegeben wurden, kann die Analyse sicher belegen, ebenso die ab dieser Zeit vermehrte Gabe von Psychopharmaka und Beruhigungsmitteln.

Ein zentrales Thema der Medikamentenverabreichung wird von Ina Friedmann in Kapitel SIEBEN aufgegriffen: der viel kritisierte Einsatz des Hormonpräparats Epiphysan. Der Beitrag verdeutlicht den Versuchscharakter dieser Medikation, er kann darüber hinaus aber auch belegen, dass Epiphysan nicht nur an der Kinderbeobachtungsstation verabreicht wurde, sondern auch in den Landeserziehungsheimen. Diese Epiphysan-Gaben wurden von Nowak-Vogl unmittelbar veranlasst, was zum einen die schon bei der Analyse der Zuweisungsprozesse festgestellte enge Kooperation der Kinderbeobachtungsstation mit den Landeserziehungsheimen bestätigt, zum anderen die damalige Akzeptanz der Therapieverordnungen der Kinderbeobachtungsstation unterstreicht.

Im Anschluss und mit unmittelbarem Bezug darauf unternimmt in Kapitel ACHT mit dem Titel „Sittlichkeit – Klasse – Geschlecht“ die Politikwissenschaftlerin Alexandra Weiss eine dritte Kontextualisierung der Kinderbeobachtungsstation. Der umfangreiche Beitrag reflektiert aus klassen- und geschlechtertheoretischer Perspektive die Frage, inwieweit die langjährige Leiterin der Station im Strom der Zeit handelte und an den als erziehungsschwierig und verhaltensauffällig geltenden Kindern und Jugendlichen, die in ihre Kinderbeobachtung gelangten, ausagierte, was weitgehend der Haltung der politischen und kirchlichen Eliten des Landes entsprach. Das kann bis in die erste Hälfte der 1960er Jahre noch als zutreffend beurteilt werden, gilt aber – insbesondere hinsichtlich der rigorosen Sexualmoral und bezogen auf die Pathologisierung nicht-konformen Sexualverhaltens – schon ab den späteren 1960er und frühen 1970er Jahren nicht mehr. Nowak-Vogls Vorstellungen von Sexualität stehen zunehmend im Gegensatz zu jenen eines Großteils der Bevölkerung. Im Laufe der 1970er Jahre geraten sie auch in der Kirche allmählich in Diskussion, und von Seiten der Landesregierung wird auf deren direktive Durchsetzung ab den 1980er Jahren mehr und mehr verzichtet. Nowak-Vogl steht in diesem Kontext für eine autoritäre und mitunter gewaltvolle Durchsetzung moralischer Standards, die – insbesondere in den beiden letzten Jahrzehnten ihrer Tätigkeit – als schon zeitspezifisch unangemessen beurteilt werden müssen. Angesichts der sich ändernden Zeitverhältnisse spiegelt ihre Arbeit ein Bild anachronistischer Beharrung. Die Autorin analysiert an bislang weitgehend unbearbeitetem Material, etwa anhand der Eheratgeber der 1940er, 1950er und 1960er Jahre, die reglementierende Thematisierung von insbesondere weiblicher Sexualität und ihre Aufwertung im Rahmen der heterosexuellen Paarbeziehung. Sie identifiziert die zeitgenössische Rede über Jugendverwahrlosung und Jugendkultur als konservative Kritik an der Wohlstandsgesellschaft und der Bedürfnisse, die sie weckt, und qualifiziert die gesetzlichen Regelungen der Zeit vom Landesjugendschutz- bis zum Tiroler Lichtspielgesetz als Disziplinierungsversuche an Arbeiterjugendlichen. Die kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Befunde werden schließlich in die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und seiner geschlechter- und klassenspezifischen Implikationen eingeordnet.

Kapitel NEUN mit dem Titel „Die Gutachten“ kehrt zur Auswertung der Krankenakten zurück: Es erläutert das Aufschreibesystem der Kinderbeobachtungsstation, beschreibt die Funktion und Wirkmacht der Gutachten und gibt Einblick in die Begutachtungspraxis ihrer Leiterin. Sichtbar werden dabei die besonderen Aufmerksamkeitsregime der Psychiaterin und Heilpädagogin, aber auch die vielfach verächtlichen Beschreibungen und Beurteilungen der spezifisch ins Visier geratenen PatientInnengruppen. Wie die Ergebnisse der Analyse zeigen, entfalteten die Gutachten gerade in Fragen der Fremdplatzierung von Minderjährigen sowie als Wegweiser für fürsorgerische Maßnahmeanordnungen eine enorme Wirkmacht.

Mit Kapitel ZEHN – „Entlassung“ – beschließt das Buch seinen quantifizierend-analytischen Teil. Überdeutlich wird die Zunahme der Aufenthaltsdauer ab den 1970er Jahren, wodurch Nowak-Vogl die abnehmende Zahl der Aufnahmen aufgrund der rückläufigen Nachfrage kompensieren und für eine befriedigende Auslastung der Station sorgen konnte. Der Beitrag thematisiert außerdem das Entlassungsprozedere, die Fluchtversuche und drei Todesfälle, die sich auf der Station ereigneten.

Das letzte Wort haben die Betroffenen. Im Kapitel ELF mit dem Titel „Narrative Rekonstruktion“ widmet sich Christine Hartig den Erinnerungen der ZeitzeugInnen: den ehemaligen PatientInnen und BewohnerInnen der Beobachtungsstation. Der umfangreiche Beitrag thematisiert einleitend die spezifischen Interviewbedingungen im Rahmen einer mittlerweile durch Berichterstattung alarmierten Öffentlichkeit und reflektiert die auch durch wissenschaftliche Beiträge gelenkten Aufmerksamkeiten, die es nicht allen ehemaligen Kinderpatientengruppen gleichermaßen und umstandslos ermöglichten, ihre Erfahrungen öffentlich zu äußern. Das theoretische Sampling der Interviewstudie soll helfen, ehemalige PatientInnen aller Altersgruppen, jeden Geschlechts und eben auch aller sozialen Herkunftskontexte und Erfahrungskonstellationen für ein Interview zu gewinnen. Die Erinnerungen der ZeitzeugInnen zeigen die Station in ihrer Kernzeit als eine von minutiösen Tagesabläufen durchherrschte Einrichtung, als angsteinflößenden und aversiven Ort, als Raum zwischen „Kinderheim, Gefängnis und (Versuchs-)Klinik“, an dem wiederkehrende Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen, gepaart mit körperlicher Strafandrohung und auch statthabenden empfindlichen Strafen, als die Regel erscheinen.

Im Anschluss an das Nachwort von Dirk Rupnow folgt eine Auswahl zeithistorisch relevanter Dokumente zur Kinderbeobachtungsstation. Ein umfassendes Verzeichnis der gedruckten Quellen, relevanten Gesetze, abgedruckten Bilder und verwendeten Literatur beendet die vorliegende Publikation.

1 Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Organisation und Personal, Beschluss der Tiroler Landesregierung vom 6. 8. 1953, liegt im Personalakt von Maria Nowak-Vogl.

2 Maria Vogl, Die Notwendigkeit der kinderpsychiatrischen Arbeit, in: Wiener Zeitschrift für Nervenheilkunde und deren Grenzgebiete 9 (1954), 1–2, S. 29–32, hier S. 30.

3 Maria Vogl, Die Bedeutung der kurzfristigen Umweltsveränderung [sic] in der Erziehung, phil. Diss. [Manuskript], Innsbruck 1951.

4 Ebd., S. 74.

5 Universitätsarchiv Innsbruck (UAI), Personalakt Maria Nowak-Vogl: Denkschrift. Entwicklung der kinderpsychiatrischen Station an der Nervenklinik, Innsbruck, den 2. 12. 1954.

6 Bundesgesetz vom 9. 4. 1954, womit Grundsätze über die Mutterschafts-, Säuglings- und Jugendfürsorge aufgestellt und unmittelbar anzuwendende Vorschriften über die Jugendwohlfahrt erlassen werden (Jugendwohlfahrtsgesetz – JWG.), BGBl. Nr. 99/1954.

7 Tiroler Jugendwohlfahrtsgesetz 1955, LGBl. Nr. 28/1955.

8 Zu den entscheidenden Verbesserungen der Situation der Minderjährigen in Österreich gehörte das 1989 normierte Gewaltverbot in der Erziehung. Dieses Gewaltverbot ist mit dem BVG Kinderrechte, das seit 16. 2. 2011 in Kraft ist, auch in Verfassungsrang. 1992 wurde durch die österreichische Bundesregierung die UN-Konvention über die Rechte des Kindes, die in 54 Artikeln Rechte von Kindern und Jugendlichen normiert, ratifiziert, wodurch sich der Staat zu deren Umsetzung in nationales Recht verpflichtete. 1989 trat ebenso das neue Jugendwohlfahrtgesetz in Kraft. Darin wurden etwa auch die Kinder- und Jugendanwaltschaften in den Ländern als Vertretungen für die Minderjährigen und ihrer Interessen eingeführt.

9 Für diese Information danke ich der Tiroler Anlaufstelle für Opferschutz.

10 Horst Schreiber, Im Namen der Ordnung. Heimerziehung in Tirol (= transblick. Sozialwissenschaftliche Reihe 6), Innsbruck–Wien–Bozen 2010.

11 Reinhard Sieder, Andrea Smioski, Der Kindheit beraubt: Gewalt in den Erziehungsheimen der Stadt Wien, Innsbruck– Wien–Bozen 2012.

12 Ingrid Bauer, Robert Hoffmann, Christina Kubek, Abgestempelt und ausgeliefert. Fürsorgeerziehung und Fremdunterbringung in Salzburg nach 1945. Mit einem Ausblick auf die Wende hin zur Sozialen Kinder- und Jugendarbeit von heute, Innsbruck–Wien–Bozen 2013.

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Der Pädiater Hans Asperger war die dominierende Figur der heilpädagogischen Landschaft bis in die 1970er Jahre. Hier im Kreis der ÄrztInnen der Wiener Kinderklinik 1933 (erste Reihe, Erster v. r.).

Quelle: Medizinische Universität Wien, MUW-FO-000670-0729 (Asperger-Gruppenfoto von der Kinderklinik).

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Heilpädagogische Landschaften

Die epochale Gründungswelle von Kinderbeobachtungen im Österreich der langen 1950er Jahre

Michaela Ralser

Tirol ist mit der Gründung einer eigenen Kinderbeobachtungsstation in den 1950er Jahren nicht allein. In unmittelbarer zeitlicher Folge zur Errichtung der Innsbrucker Kinderbeobachtungsstation 1954 entstehen vergleichbare Einrichtungen in bald jedem Bundesland. Parallel zur enormen Intensivierung der Fürsorgeerziehung in den beiden Nachkriegsjahrzehnten – mehr Kinder und Jugendliche denn je und so viele wie nie wieder gelangen in eben diesen Jahrzehnten in eines der vielen Erziehungsheime der Zeit1 – entsteht ein österreichweites Netz von heilpädagogischen Ambulatorien, Beratungsstellen, stationären Einrichtungen und Kinderbeobachtungen.

Mit zwei Ausnahmen, einer Frühgründung in Wien (1911) und einer Spätgründung in Vorarlberg (1977/1981), konzentriert sich die österreichische Geschichte heilpädagogischer Institutionenbildung auf die langen 1950er Jahre. Wo sie im Unterschied zu Tirol, Salzburg und Niederösterreich nicht unmittelbar zu einer stationären Einrichtung führte, etablierte sie sich im Wege eines weitgreifenden, mehrheitlich an die Schuluntersuchung gekoppelten fürsorgeärztlichen Dienstes, wie in Kärnten oder der Steiermark, und führte dort erst in den 1960er Jahren zu einer eigentlichen heilpädagogischen Station. Die Kombination von abklärender Ambulanz und aufnehmender Station aber bleibt für alle in der Zweiten Republik entstehenden heilpädagogischen Einrichtungen konstitutiv, ebenso wie ihre enge Verbindung zur Kinder- und Jugendfürsorge.

Eine solche kennzeichnete auch die frühe Gründung einer heilpädagogischen Abteilung noch in der Habsburgermonarchie, „die erste ihrer Art in Europa“.2 Es ist dies die Wiener Heilpädagogische Abteilung der Pädiater Erwin Lazar (1877–1932) und Clemens von Pirquet (1874–1929), die 1911 an der Universitäts-Kinderklinik entstand und von Anfang an in erster Linie von Fürsorgevereinen mit Kindern und Jugendlichen beschickt wurde. Sie stellt – so unsere These – den österreichischen Beginn einer umfassenden Entwicklung dar, die Fürsorgeerziehung durch eine medizinische Heilpädagogik zu flankieren, das in die Nähe der Fürsorge geratene Kind einer heilpädagogischen Begutachtung zu unterziehen, schließ-lich dem Fürsorgeerziehungssystem eine (natur-)wissenschaftliche Grundlage zu verschaffen und es im medikalen Paradigma der sogenannten „Verwahrlostenwissenschaften“3 neu zu positionieren. Die Wiener Heilpädagogische Abteilung etablierte sich als erste Begutachtungsinstanz, die kraft ihrer medizinisch-akademisch professionellen Autorität sowie durch ihre enge Kooperation mit den staatlichen Stellen der dann Ersten Republik – den neu errichteten Jugendgerichten, Jugendämtern und Jugend-heimen – weitreichenden Einfluss auf die Konzeption von Normalität und den Umgang mit davon abweichenden Minderjährigen gewann. Es wäre – so ihr Leiter Erwin Lazar – „die abnorme Konstitution“ der Kinder möglichst früh zu erfassen und man sollte, „bevor noch überflüssige Zeit und Mühe vergeudet waren“, „Aufschluss über die Persönlichkeit des jugendlichen Missetäters oder Verwahrlosten haben“.4

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Erwin Lazar, Gründer der Heilpädagogischen Abteilung der Wiener Kinderklinik und ihr Leiter von 1911 bis 1932.

Quelle: Hans Asperger, Erwin Lazar und seine Heilpädagogische Abteilung der Wiener Kinderklinik, in: Heilpädagogik 34 (1962), 3, S. 34–41, hier S. 34.

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Clemens Peter Pirquet, Leiter der Wiener Kinderklinik und Förderer der Heilpädagogischen Abteilung. Hier mit einem Patienten in den 1920er Jahren.

Quelle: Wellcome Collection, CC BY.

Das Wissen, das diesen Aufschluss hätte geben können, entstammte der mehrheitlich biologisch orientierten frühen klinischen Psychiatrie und Psychopathologie, der Kriminalbiologie und der an der Konstitutionslehre ausgerichteten Charakterologie ab 1900.5 Diese Wissensbestände werden das diagnostische Inventar der medizinischen Heilpädagogik bleiben, auch noch, als Jahre später, im Jahr 1935, wieder ein heilpädagogisch ausgewiesener Pädiater, Hans Asperger (1906–1980), die Station übernehmen, ihr für mehr als zwei Jahrzehnte vorstehen und die einflussreiche Zweite Wiener Heilpädagogische Schule begründen wird. Sie ist es, welche die heilpädagogische Landschaft der Zweiten Republik bis in die späten 1970er Jahre bestimmen wird. Mit Ausnahme der Innsbrucker Beobachtungsstation, welche von der hierorts ausgebildeten Nervenärztin und späteren Heilpädagogin Maria Nowak-Vogl (1922–1998) geleitet wird, entstammen alle maßgeblichen AkteurInnen der österreichischen Heilpädagogik nach 1945 der Wiener Schule und sind allesamt SchülerInnen von Hans Asperger. Inzwischen sind die wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten zahlreich, die den Zusammenhang zwischen der Jahrhundertwendepsychiatrie um 1900 als pädagogischer Ratgeberin (Ralser 2010) und Hüterin bevölkerungspolitischer Sozialprophylaxe (Wolf 2008/2018; Ralser 2010), zwischen der Medizinierung der Schwererziehbaren-Pädagogik (Bergmann 2014) und dem Modus und der Effizienz des Zusammenwirkens von Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, Justiz und Biopolitik als epistemische Gewalt und Dispositiv der Fürsorgeerziehung (Sieder/ Smiosky 2012, Ralser/Sieder 2014, Ralser/Becher/Guerrini 2014) thematisieren. Zuletzt auch jene, die den Anteil der Gesundheits- und Fürsorgepolitik des Roten Wien eines Julius Tandler (1869–1936) an der vermeintlich produktivitätssteigernden Verwissenschaftlichung und damit der hier interessierenden Heilpädagogisierung der Kinder- und Jugendfürsorge (Sieder 2014/2018) problematisieren. Auf diese Arbeiten kann hier bloß hingewiesen werden.6 Sie bilden an mehreren Stellen den theoretischen Hintergrund der Auseinandersetzung mit der für den vorliegenden Band im Zentrum stehenden Kinderbeobachtungsstation des Allgemeinen Öffentlichen Landeskrankenhauses in Tirol.7

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Hans Asperger, Leiter der Heilpädagogischen Abteilung Wien von 1935 bis 1957 und Gründer der Zweiten Wiener Heilpädagogischen Schule. Portrait aus den 1950er Jahren.

Quelle: Archiv der Universität Wien, Bildarchiv, Sig. 106.I. 1054; Foto: Wilhelm Hlosta.

Unmittelbar nach Gründung eben dieser Station unter Maria Vogl entstehen: 1954 die „Heilpädagogische Ambulanz und Heilpädagogische Beobachtungsstation“ im Landeskinderheim Salzburg-Taxham unter Ingeborg Judtmann (1922–1985), 1955 die „Heilpädagogische Station“ des Landes Niederösterreich in Mödling (ab 1978 in Hinterbrühl) unter Erwin Schmuttermeier (1921–2013), 1962 die „Heilpädagogische Station“ des Landes Steiermark in Graz unter der Leitung von Irene Plaß (1922–2013), 1969 die „Heilpädagogische Abteilung“ des Landeskrankenhauses Klagenfurt unter Franz Wurst (1920–2008) und schließlich – weitab – 1977 die „Heilpädagogische Ambulanz“ an der Kinderabteilung des Landeskrankenhauses Feldkirch sowie 1981 das „Heilpädagogische Zentrum Carina“ unter Neuropädiater Wolfgang Menz. Innerhalb von nur 15 Jahren bildet sich also ein ganzer Archipel von heilpädagogischen Einrichtungen in Österreich heraus. Sie alle entwickeln sich aus einem gestuften System von Erziehungsberatung, fürsorgeärztlichem Dienst, ambulanter Untersuchung und schließlich stationärer Beobachtung. In den meisten Fällen bleibt diese Organisationsform auch nach erfolgter vollständiger Institutionalisierung aufrecht. Wenn sich die Namen der stationären Einrichtungen auch unterscheiden und keine außer dem Innsbrucker Beispiel explizit den Titel Kinderbeobachtungsstation trägt, alle außer letzterem aber die Beifügung „heilpädagogisch“ führen, so ist dennoch offensichtlich, dass es sich um funktionsgleiche Einrichtungen handelt. Ihre sie einende Aufgabe ist die an Psychiatrie, Kinderheilkunde und Bevölkerungswissenschaft geschulte mediko-pädagogische Erfassung und Beobachtung von als erziehungsschwierig und verhaltensauffällig geltenden Kindern und Jugendlichen, fallweise die Entwicklung eines Heil- und Hilfeplans, jedenfalls aber das Stellen entsprechender Diagnosen samt (Sozial-) Prognose sowie das Abgeben von Maßnahmenempfehlungen: im gelinderen Fall einen Erziehungsratschlag oder eine der freiwilligen Erziehungshilfen, im schwerwiegenderen Fall eine verordnete Fürsorgeerziehungsmaßnahme in einer der geschlossenen Erziehungsanstalten des Landes. Über Jahrzehnte werden die Gutachten, die aus diesen heilpädagogischen Einrichtungen hervorgehen, über die Fremdunterbringung Tausender Kinder und Jugendlicher in Österreich entscheiden.

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Die frühe heilpädagogische Station von Erwin Lazar im Escherich-Pavillon der Universitäts-Kinderklinik Wien, aufgenommen 1921.

Quelle: Wellcome Collection, CC BY.

Es ist bezeichnend, dass alle Beobachtungsstationen – wie schon die erste in Wien – eine strategische Stellung im Fürsorgeerziehungswesen einnehmen, konzeptionell wie strukturell: sei es, dass ihre LeiterInnen schon vor Beginn der Aufgabe in den Beobachtungsstationen im fürsorgeärztlichen Dienst standen (Nowak-Vogl, Plaß und Wurst), sei es, dass die Einrichtungen räumlich an Fürsorgeerziehungseinrichtungen angegliedert waren (Niederösterreich, Salzburg und Steiermark) respektive mit solchen konziliarärztlich (Tirol) oder ärztlich leitend (Kärnten, Niederösterreich) in enger Verbindung standen, sei es, dass ihre Leistungen auch dann, wenn sie im klinischen Kontext erfolgten, von den Landesstellen der Jugendfürsorge bezahlt wurden. Dabei verwundert weniger die Überschneidung der Felder – diese mag für eine wesentlich das Gegenstandsfeld der psychosozialen Abweichung bearbeitende österreichische Heilpädagogik durchaus einleuchten –, es überraschen vielmehr das Ausmaß der Verbindung, die rollenüberschneidende, von wechselseitigen Loyalitätsbeziehungen getragene Wahrnehmung der Aufgabe und schließlich die Monopolstellung, welche die österreichische Heilpädagogik im Feld der Fürsorgeerziehung gewinnen konnte.

Neben dieser – die heilpädagogischen Kinderstationen einende – engen Verbindung zu den Agenturen der Jugendwohlfahrt ebenso wie zu ihren Einrichtungen, den Erziehungsheimen der Region, fällt noch ein weiteres Kennzeichen auf. Alle heilpädagogischen Beobachtungsstationen standen – ein österreichisches Spezifikum – unter allein ärztlicher Leitung.8 Alle Leitungsfiguren hatten eine medizinische Fachausbildung absolviert. Sie waren entweder FachärztInnen der Psychiatrie, wie Nowak-Vogl, oder der Kinderheilkunde, wie der einflussreiche Hans Asperger in Wien und seine in den anderen Bundesländern verteilten SchülerInnen: Judtmann in Salzburg, Wurst in Klagenfurt, Schmuttermeier in Mödling (später: Hinterbrühl) und Plaß in Graz. Der Vorrang einer medizinischen Ausbildung hat einen einfachen Grund: die spezifisch medikale Gestalt der österreichischen Heilpädagogik. Das anfängliche Übergewicht der Pädiatrie im Verhältnis zur Psychiatrie allerdings ist einer zufälligen Konstellation geschuldet. Die österreichische Heilpädagogik kennzeichnete – mit wenigen Ausnahmen9 – eine spezifische Engführung des Fachs: ihre Konzentration auf die (Psycho-)Pathologie des Kindes- und Jugendalters sowie auf die Fürsorgearbeit. Das Hilfs- und Sonderschulwesen spielte in der Konstituierungsphase der österreichischen Heilpädagogik eine weit geringere Rolle. Im Ringen der beiden ärztlichen Subdisziplinen in der Begutachtung und Behandlung der als erziehungsschwierig und verhaltensauffällig geltenden Kinder und Jugendlichen wird schließlich auf längere Sicht die Psychiatrie die Diskursführerschaft übernehmen. Die Dominanz des ärztlichen Blicks aber führte schon früh zu einer Hybridisierung des Fachs der Heilpädagogik ebenso wie zur Hybridisierung der in ihrem Rahmen entstandenen Einrichtungen: der heilpädagogischen Stationen. Es entstehen „Schwellenräume“ zwischen Medizin und Pädagogik. Sie zeigen sich als „Übergangsbereiche von fragiler Gesundheit zu sicher konstatierter Erkrankung“.10 Das um 1900 entwickelte Psychopathiekonzept11 ist der Schlüssel für den Transfer. Aus der Unbestimmtheit einer Normabweichung wird eine psychiatrisch beschreibbare Disposition.12 Diese medikale, vorwiegend psychiatrische Umklammerung der Heilpädagogik gilt für den gesamten deutschsprachigen Raum, am wenigsten vermutlich für die Schweiz.13 Mit Blick auf das österreichische Beispiel fällt allerdings auf, dass die Heilpädagogik – mit einer sehr frühen Ausnahme zur Mitte des 19. Jahrhunderts14 – nicht nur im besonderen Maße von der Medizin dominiert war, sondern auch in ihrem Rahmen ihre ersten akademischen Forschungs- und Lehrstätten etablierte. Und dies, obwohl die in Wien wirkenden Namensgeber dieser Subdisziplin, der Pädagoge Jan-Daniel Georgens (1823–1886) und der Philosoph Heinrich Marianus Deinhardt (1821–1880), für einen ganzheitlich pädagogischanthropologischen Weg plädierten.15 Bis in die 1980er Jahre hinein war die österreichische Heilpädagogik nicht an philosophischen oder sozialwissenschaftlichen Fakultäten angesiedelt, sondern an medizinischen, sie wirkte in heilpädagogischen Abteilungen an Kinderkliniken und (Kinder-) Psychiatrien. Die Sache, die sie meinte, wurde auch „unter den Bezeichnungen ‚Pädagogische Pathologie‘ und ‚Medizinische Pädagogik‘ betrieben. Ihr Gegenstand waren die sogenannt ‚anormalen‘ Kinder und ihre erzieherische Behandlung“.16

Die Wirkung der Heilpädagogik ging aber weit über das mediko-pädagogische Feld der heilpädagogischen Ambulatorien und Stationen hinaus. Asperger sowie später sein Schüler Wurst und in Tirol, unabhängig davon, Nowak-Vogl – alle drei auch als akademische Lehrer tätig – bestimmten über Jahrzehnte, was SonderschullehrerInnen, KindergärtnerInnen, Fürsorgerinnen, HeimerzieherInnen und JugendrichterInnen über das Kind und den Jugendlichen in Schwierigkeiten wissen sollten. Mehreren Generationen von PraktikerInnen vermittelten sie die vermeintlich sicheren biologischen Grundlagen einer sogenannt verfehlten kindlichen Entwicklung oder jugendlichen Verhaltensauffälligkeit. Und sie ließen keinen Zweifel daran, dass die Beurteilungsmacht dabei zuallererst beim Arzt zu liegen hätte. Alle ExponentInnen äußern sich dazu an der einen oder anderen Stelle. Beispielhaft hier ein Zitat der Primaria Vogl aus dem Jahr 1951: Dem Psychologen oder Pädagogen stünde bei der Diagnose „kein Urteil zu, weil [ihre] Ausbildung allein auf einem Teil des Psychischen ausreichend ist und das Gebiet der Geisteskrankheiten zu wenig und die körperlichen Störungen überhaupt kaum berücksichtigt. Wie will ein Nichtarzt einen Schwachsinn beurteilen ohne z. B. Maßnahmen zur hormonellen Untersuchung, wie kann er den so häufigen kindlichen Kopfschmerz von einem wachsenden Hirntumor unterscheiden? Aber auch abgesehen von diesen durchaus einleuchtenden Fällen ist der Arzt zuständig: Eine Neurose, eine Psychopathie sind ausschließlich von ihm zu diagnostizieren und unter seiner Aufsicht zu behandeln.“17

Es sind insbesondere die heilpädagogischen Überblicksarbeiten von Asperger und später jene von Wurst/Hartmann/Hartmann, die ab den 1950er Jahren in ständiger Wiederauflage als Lehr- und Handbücher in der österreichischen ErzieherInnenausbildung, aber auch an Universitäten zum Einsatz kamen.18 Flankiert höchstens noch von dem an die AkteurInnen der Behindertenhilfe gerichteten Lehrbuch des Neuropädiaters und Leiters der Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder, zuerst in Lainz, dann am Wiener Rosenhügel,19 Andreas Rett (1924–1997): Das hirngeschädigte Kind.20 Sie dienten weniger der wissenschaftlichen Diskussion von Ergebnissen denn dem Wissenstransfer „innerer Strukturgesetze“ und „Kräfte“21 kindlicher Entwicklung an das nichtärztliche Personal der Kinder- und Behindertenhilfe. Ergänzt durch Erziehungsratgeber wie etwa jenem von Nowak-Vogl aus dem späten Jahr 1979, avancierte die Heilpädagogik zu einer mächtigen Einflussgröße bezogen auf die praktische Pädagogik des Nachkriegsösterreichs und darüber hinaus.22 Die österreichische Heilpädagogik und ihre exponiertesten akademischen VertreterInnen der Nachkriegsjahrzehnte waren politisch einflussreich, sozial gut vernetzt und genossen in weiten Gesellschaftsteilen bis in die späten 1970er Jahre nahezu uneingeschränkte fachliche Autorität. Sie einte nicht nur eine durchwegs christlich-wertkonservative Grundhaltung kulturpessimistischer Prägung, sondern auch eine gemeinsame politische Sozialisation.

Mit Ausnahme von Menz23 in Vorarlberg verband alle LeiterInnen der heilpädagogischen Einrichtungen Österreichs eine Bildungssozialisation im Nationalsozialismus. Judtmann, Nowak-Vogl, Plaß, Schmuttermeier und Wurst machten ihre wesentlichen Ausbildungsschritte in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, von zweien ist eine aktiv nationalsozialistische Involvierung überliefert.24 Hans Asperger – heute vor allem wegen des nach ihm benannten Asperger-Syndroms bekannt, das eine Autismus-Spektrum-Störung beschreibt2526272829