Schmutztitel
Titel

1, 2, 3 – Halloween!

Maja von Vogel

KOSMOS

Umschlagillustration von Ina Biber, Gilching

Umschlaggestaltung von Sabine Reddig

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© 2020, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-50052-1

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Titel

Tatort Geisterhaus

Maja von Vogel

KOSMOS

Sonntagsausflug nach Billershausen

»Wer zuerst an der alten Eiche ist!«

Michi schoss auf seinem Fahrrad an Kim vorbei. Seine dunkelbraunen Haare flatterten im Wind.

»Na warte, dich krieg ich!« Kim beugte sich vor und trat in die Pedalen. Die Bäume am Wegesrand sausten vorüber, während sie immer schneller den Hügel hinabrollte. Irgendwo weiter vorne ertönte Michis siegessicheres Lachen. Aber wenn er dachte, sie würde sich kampflos geschlagen geben, hatte er sich geirrt. Kim schaltete einen Gang hoch und steigerte das Tempo, bis ihr der Fahrtwind Tränen in die Augen trieb. Langsam, aber sicher verringerte sich der Abstand zwischen ihr und Michi, bis sie gleichauf waren.

»Hilfe, Angriff von hinten!«, rief Michi in gespielter Angst.

Kim warf ihm einen schnellen Seitenblick zu. Ein Fehler, denn das Funkeln seiner blaugrünen Augen brachte sie wie immer völlig aus dem Konzept. Sie vergaß einen Moment zu treten und Michi zog jubelnd an ihr vorbei.

»Gewonnen!« Mit einer knappen Länge Vorsprung erreichte er die alte Eiche, ließ das Fahrrad ausrollen und hielt an.

»Aber nur, weil du geschummelt hast.« Kims Atem ging stoßweise, als sie neben Michi bremste. Sie stieg ab, lehnte ihr Rad gegen einen Baum und warf sich keuchend ins Gras am Wegesrand.

»Ich? Niemals!« Michi ließ sich neben ihr nieder und küsste ihr die Schweißtropfen von der Stirn.

»Doch!«, protestierte Kim schwach. »Du hast mich abgelenkt und dann …« Weiter kam sie nicht, denn Michis Lippen hatten ihren Mund erreicht und sie versanken in einem langen Kuss. Kim vergaß alles um sich herum. Sie hätte Michi ewig weiterküssen können, aber das schrille Läuten zweier Fahrradklingeln riss sie unsanft von ihrer rosaroten Wolke.

Marie und Franzi rollten auf ihren Rädern den Hügel hinab und kamen breit grinsend neben Kim und Michi zum Stehen.

»Sieh dir unsere zwei Turteltauben an, sind sie nicht süüüß?«, flötete Marie.

Franzi nickte. »Herzallerliebst! Und ich habe Kim noch nie so schnell radeln sehen – ab heute nenne ich dich nur noch ›roter Blitz‹!«

Kim strich ihre rote Kapuzenjacke glatt. »Liebe verleiht eben Flügel«, stellte sie fest und kuschelte sich an Michi. Die spöttischen Kommentare ihrer Freundinnen prallten einfach an ihr ab. Sie war viel zu glücklich, um sich zu ärgern. Genießerisch hielt sie ihr Gesicht in die Sonne, während eine leichte Brise mit ihren kurzen braunen Haaren spielte. »Ist das nicht ein herrlicher Tag für einen Ausflug?«

Michi nickte. »Wer hätte gedacht, dass es Ende September noch mal so warm wird?« Er legte den Arm um Kim und drückte sie an sich.

Franzi sah auf die Uhr. »Ich will ja nicht drängeln, aber wir sollten lieber weiterfahren, sonst wird es zu spät.«

»Du hast recht.« Michi erhob sich. »Das Licht ist perfekt zum Fotografieren. Es wäre schade, wenn wir es verpassen.« Er streckte Kim die Hand hin und half ihr beim Aufstehen.

Seufzend ging Kim zu ihrem Fahrrad und stieg auf. Vor lauter Verliebtheit hätte sie fast vergessen, dass ihre sonntägliche Radtour leider kein reiner Vergnügungsausflug war, sondern einen ernsten Hintergrund hatte. Sie war mit Franzi, Marie und Michi unterwegs nach Billershausen, um Fotos von Oma Lottis Haus zu machen. Franzis Oma hatte vor einiger Zeit einen Schlaganfall gehabt, war seitdem pflegebedürftig und lebte bei Franzis Familie. Es ging ihr zwar schon wieder etwas besser, aber es war klar, dass sie nie mehr alleine wohnen konnte. Deshalb hatte sie sich schweren Herzens dazu durchgerungen, ihr geliebtes Haus zu verkaufen.

»Wirklich nett von dir, Michi, dass du dich bereit erklärt hast, die Fotos für die Immobilienanzeige im Internet zu machen«, sagte Franzi, als sie in gemächlichem Tempo auf dem gewundenen Radweg nach Billershausen weiterradelten.

»Kein Problem.« Michi lächelte. »So kann ich gleich meine neue Kamera ausprobieren. Mein Vater hat sie mir zum Schnäppchenpreis verkauft, weil es ein Auslaufmodell ist.«

Herr Millbrandt, Michis Vater, betrieb ein kleines Elektrogeschäft in der Innenstadt, in dem Michi manchmal aushalf, wenn er nicht gerade damit beschäftigt war, für seine Ausbildung zum chemisch-technischen Assistenten zu lernen. Michi interessierte sich für alles, was mit Chemie zu tun hatte, und führte liebend gerne komplizierte Experimente durch. Kim, Franzi und Marie hatten seine Kenntnisse schon oft in Anspruch genommen, wenn sie mit ihrem Detektivclub Die drei !!! mal wieder einen kniffligen Fall lösten und einen Experten in chemischen Fragen brauchten.

»Seht mal, dort drüben!« Marie zeigte auf ein Riesenrad, das sich in der Ferne hinter den Baumwipfeln langsam drehte. Daneben waren die geschwungenen Schienen einer Achterbahn zu sehen. Sie glänzten im Sonnenlicht. »Im Freizeitpark herrscht bei dem Wetter bestimmt Hochbetrieb.«

Der Freizeitpark Sugarland lag vor den Toren Billershausens und war ein richtiger Touristenmagnet. An den Wochenenden und in den Ferien war das Gelände oft völlig überlaufen.

Franzi seufzte und starrte stur geradeaus. Kim ahnte, woran ihre Freundin dachte. »Du vermisst Felipe, oder?«, fragte sie leise.

Franzi nickte. »Er ist jetzt schon zwei Wochen weg. Und es dauert noch schrecklich lange, bis er zurückkommt.«

Franzis Freund Felipe war Halbmexikaner. Seine Mutter Juana betrieb ein Restaurant im Sugarland und Franzi hatte ihn oft dort besucht. Aber vor vierzehn Tagen war Felipe in den Flieger gestiegen, um in Mexiko ein mehrmonatiges Praktikum zu absolvieren.

»Wie geht es Felipe denn so in seiner alten Heimat?«, erkundigte sich Michi, der hinter Franzi und Kim radelte. »Gefällt ihm das Praktikum?«

Franzi seufzte noch einmal. »Und wie! So begeistert, wie er mir bei unserem letzten Telefonat von seiner Arbeit im Museum erzählt hat, hatte ich beinahe Angst, dass er gar nicht mehr wiederkommen will.«

»Unsinn!« Marie fuhr an der Spitze und trat gleichmäßig in die Pedale. »Wetten, dass Felipe dich mindestens genauso vermisst wie du ihn?«

»So oft, wie er dir simst und mailt, ist es erstaunlich, dass er überhaupt noch Zeit für sein Praktikum hat«, stellte Kim kichernd fest.

Franzi musste lachen. »Stimmt eigentlich. Heute Abend sind wir mal wieder zum Skypen verabredet. Ich freu mich schon!«

»Grüß ihn von mir«, bat Michi, der auch mit Felipe befreundet war. Beide beschäftigten sich begeistert mit Pyrotechnik und hatten gemeinsam schon einige beeindruckende Feuerwerkshows konzipiert und durchgeführt.

»Mach ich.« Franzis Laune schien sich augenblicklich zu bessern, sobald das Riesenrad hinter den Bäumen verschwunden war. Rasant nahm sie die nächste Kurve und rief Marie zu: »Was macht denn Holger heute?«

»Er packt.« Jetzt war es Marie, die mit düsterer Miene auf die Straße starrte.

»Wieso denn?«, fragte Kim erschrocken. »Er zieht doch nicht etwa schon wieder um?«

Maries Freund war erst vor Kurzem mit seiner Mutter und seinen kleinen Geschwistern von Billershausen ins Ostviertel gezogen, ganz in Maries Nähe. Seitdem konnten sich die beiden so oft sehen, wie sie wollten, was sie sehr genossen.

»Nein, er fährt morgen in ein Sportcamp, das seine Schule organisiert«, verkündete Marie mit Grabesstimme. »Er wird eine ganze Woche fort sein.« Sie seufzte theatralisch. »Wie soll ich das nur aushalten?«

Kim und Franzi wechselten einen belustigten Blick und prusteten los. Marie – Tochter des berühmten Schauspielers Helmut Grevenbroich – wollte später selbst Sängerin oder Schauspielerin werden und liebte das ganz große Drama. Aber manchmal schoss sie ein wenig übers Ziel hinaus.

»Und ich dachte schon, es wäre etwas Ernstes«, sagte Franzi spöttisch.

»Es ist ernst!«, verteidigte sich Marie. »Ohne Holger wird mein armes Herz vertrocknen wie eine Primel in der Wüste.«

»Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?«, fragte Kim vorsichtig. »Holger ist doch nur eine Woche verreist.«

»Genau, und das ist wirklich keine Ewigkeit«, ergänzte Franzi leicht genervt. »Was soll ich denn sagen? Felipe ist schließlich mehrere Monate weg.«

»Du hast recht.« Marie warf ihrer Freundin einen mitfühlenden Blick zu. »Entschuldige, das war wirklich nicht besonders sensibel von mir.«

»Kein Problem«, sagte Franzi versöhnlich. Sie war zwar manchmal etwas aufbrausend, aber dafür alles andere als nachtragend. »Zum Glück haben wir ja noch uns und unseren Club. Detektivarbeit ist die beste Ablenkung bei Liebeskummer, die man sich vorstellen kann.«

»Ja, aber dafür brauchen wir erst mal einen neuen Fall«, stellte Kim fest. »Im Moment herrscht leider totale Flaute.«

»Keine Sorge, der nächste Fall kommt bestimmt«, sagte Franzi zuversichtlich.

»Wir sind da, Mädels!«, rief Michi von hinten. Tatsächlich fuhren sie gerade am Ortseingangsschild vorbei.

»Na endlich.« Kim atmete erleichtert auf. Nach dem Wettrennen mit Michi waren ihr auf den letzten Kilometern die Beine ganz schön schwer geworden. Sie hatte sich noch nie sonderlich für Sport begeistern können und die Strecke nach Billershausen brachte sie körperlich ziemlich an ihre Grenzen. Zum Glück hatte sie ihre Fitness im Sommer durch regelmäßige Radtouren und Besuche im Waldschwimmbad etwas steigern können.

Gemächlich radelten die drei !!! und Michi durch das kleine Dorf bis zu Oma Lottis Haus. Es lag etwas außerhalb direkt am Waldrand. Die Sonne stand knapp über den Baumwipfeln und ihre schrägen Strahlen ließen die Fenster aufblitzen. Kim war schon oft hier gewesen und wieder einmal kam ihr der Gedanke, dass das Haus von Franzis Oma wie ein verwunschenes Hexenhäuschen wirkte.

»Ich mache schnell ein paar Fotos, ehe die Sonne hinter dem Wald verschwunden ist.« Michi sprang vom Rad, packte seine neue Kamera aus und begann sofort zu knipsen.

Kim lehnte ihr Rad gegen den Gartenzaun und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Septembersonne hatte noch erstaunlich viel Kraft und die lange Radtour hatte Kim durstig gemacht. Sie holte eine Wasserflasche aus ihrem Rucksack und trank gierig. Dann gab sie die Flasche an Marie weiter und beschloss, sich als Belohnung für die Strapazen einen Schokoriegel zu genehmigen. Kim liebte Schokolade und Süßigkeiten über alles und hatte immer eine Notration dabei, falls sie unterwegs eine Heißhunger-Attacke überkam.

Franzi stand neben Kim am Zaun und blickte wehmütig auf den verwilderten Garten. Oma Lottis Gemüsebeet war von Unkraut überwuchert und der Rasen stand viel zu hoch. »Früher war der Garten immer picobello. Das Gemüsebeet war Omas ganzer Stolz, sie hätte auf keinen Fall zugelassen, dass es so herunterkommt. Und nun wird sie nie wieder in ihrem geliebten Garten Unkraut zupfen.« Franzis Stimme klang ziemlich wackelig.

Kim legte ihr den Arm um die Schultern. »Dafür wohnt sie jetzt bei euch und ihr könnt euch jeden Tag sehen.«

»Genau.« Marie hatte einen Schluck Wasser getrunken und reichte Franzi die Flasche. »Ist doch toll, dass sie nach dem Schlaganfall wieder sprechen gelernt hat und sogar allmählich immer besser laufen kann.«

»Stimmt.« Franzi lächelte tapfer, während sie mit der Wasserflasche herumspielte. »Gestern haben wir einen kleinen Spaziergang durch unseren Garten gemacht. Mit dem Gehwagen hat es ganz gut funktioniert. Aber bei den Mahlzeiten braucht sie noch Hilfe und eigentlich darf man sie nie allein lassen. Ich sag’s euch, Mama ist ganz schön gestresst.« Frau Winkler trug die Hauptlast der Pflege, aber ihr Mann, Franzi und ihre älteren Geschwister Stefan und Chrissie halfen, wo sie konnten.

»Das wird bestimmt bald besser«, sagte Kim zuversichtlich. »Hat Stefan denn inzwischen ein Zimmer in Aussicht?«

Franzis Bruder suchte schon länger eine eigene Bleibe, um endlich frei und unabhängig zu sein. Leider war es für ihn als Studenten nicht leicht, etwas Bezahlbares zu finden. Doch allmählich gab es ein akutes Platzproblem bei Winklers, da Franzi für Oma Lotti ihr Zimmer geräumt hatte und seitdem mit ihrer sechzehnjährigen Schwester Chrissie zusammenwohnte – was zu täglichen Reibereien führte und Franzis Nerven manchmal bis aufs Äußerste strapazierte.

Franzis Miene hellte sich auf. »Stimmt, das hab ich euch ja noch gar nicht erzählt! Stefan hat endlich ein günstiges WG-Zimmer in der Innenstadt gefunden, ganz nah bei der Uni. Er kann schon nächstes Wochenende einziehen.«

»Toll!« Marie lächelte Franzi zu. »Dann musst du dich ja bald nicht mehr mit Chrissie herumärgern.«

Franzi nickte froh. »Und das Beste ist: Stefans Zimmer ist viel größer als meins, da hab ich jede Menge Platz. Ich freu mich schon total darauf, es einzurichten.«

»Das sind doch wirklich gute Neuigkeiten«, stellte Kim fest.

Während Marie ihren Schminkspiegel hervorholte und ihr Make-up auffrischte, beobachtete Kim, wie Michi ein Bild nach dem anderen schoss. Er wirkte völlig versunken, wie immer, wenn ihm etwas wirklich Spaß machte. Das Sonnenlicht malte helle Kringel in sein dunkles Haar und eine vorwitzige Strähne fiel ihm immer wieder in die Stirn. Kim wurde warm ums Herz. Am liebsten wäre sie zu Michi gegangen und hätte ihm einen Kuss auf die Lippen gedrückt, aber sie wollte ihn nicht beim Fotografieren stören.

Stattdessen folgte sie Franzi durch das kleine Tor in den Garten. Franzi schnappte sich eine mit Regenwasser gefüllte Gießkanne und goss die Rosen, die in einem kleinen Beet vor dem Haus immer noch so üppig blühten, als wollten sie es nicht wahrhaben, dass der Sommer eigentlich schon zu Ende war.

»Papa muss wirklich bald mal herkommen und den Rasen mähen«, sagte Franzi. »Das hat er schon seit Wochen vor, aber es kommt immer etwas dazwischen.«

»Sollen wir drinnen kurz nach dem Rechten sehen, wo wir schon mal hier sind?«, fragte Kim.

Franzi stellte die Gießkanne ab und zog nachdenklich die beiden Haargummis fest, die ihre roten Zöpfe zusammenhielten. Sie sah zu den schmutzigen Fenstern empor, hinter denen die leere Stille von Oma Lottis Haus lauerte. Im Küchenfenster, wo früher immer ein frischer Blumenstrauß gestanden hatte, prangte jetzt gut sichtbar das ZU-VERKAUFEN-Schild mit der winklerschen Telefonnummer. Da bisher kein einziger Interessent angerufen hatte, waren Franzis Eltern zu dem Entschluss gekommen, es nun mit einer Immobilienanzeige im Internet zu versuchen.

»Nein, ich glaube, ich will lieber nicht ins Haus.« Franzi zögerte. »Ohne Oma Lotti ist es einfach nicht dasselbe.«

Kim nickte langsam. »Das kann ich gut verstehen. Es ist schwer vorstellbar, dass bald andere Leute hier leben werden.« Aber es war mehr als das. Ohne Lotti Winkler hatte das Haus seine Seele verloren. »Ich schau mal nach, wie weit Michi ist.« Kim drückte kurz Franzis Arm, dann marschierte sie um die Hausecke in den rückwärtigen Teil des Gartens. Am besten, sie machten sich zügig auf den Heimweg, sobald Michi mit den Fotos fertig war, damit Franzi nicht noch trauriger wurde.

Aber hinter dem Haus war niemand. Der Garten lag bereits im Schatten des Waldes, der direkt an den Zaun grenzte. Er wurde Märchenwald genannt und viele alte Legenden rankten sich um ihn. Wie stumme Wächter ragten die hohen Bäume hinter dem Garten auf und zwischen ihren Stämmen sammelte sich bereits die Dunkelheit. Eine kühle Brise ließ das lange Gras rascheln. Kim fröstelte und schlang beide Arme um den Oberkörper.

»Michi?«, rief sie leise und ärgerte sich, weil ihre Stimme so unsicher klang. Sie konnte sich die Angst, die sie auf einmal überkam, nicht erklären. Es war später Nachmittag und dies war Oma Lottis Garten. »Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten«, sagte Kim laut, um sich selbst Mut zu machen.

Sie beschloss, zu den anderen zurückzugehen. Als sie sich zum Haus umdrehte, fiel ihr Blick auf eins der Fenster im oberen Stockwerk. Ein letzter Sonnenstrahl ließ die schmutzige Scheibe aufblitzen. Kim zuckte zusammen. Was war das? War da nicht eine Bewegung gewesen? Sie trat einen Schritt zurück und meinte, einen Schatten hinter der Scheibe wahrzunehmen. Aber dann versank die Sonne endgültig hinter dem Wald und das Fenster starrte dunkel und trübe auf Kim herab, als wäre es fest entschlossen, sein Geheimnis nicht preiszugeben.

Kim schüttelte den Kopf. »So ein Unsinn«, murmelte sie. »Wahrscheinlich hab ich mir alles nur eingebildet.«

Sie versuchte, die Gänsehaut zu ignorieren, die sich auf ihren Armen ausgebreitet hatte, und hastete mit gesenktem Kopf um die Hausecke. Plötzlich stieß sie mit jemandem zusammen und schrie auf.

»Immer mit der Ruhe, ich bin’s doch nur«, sagte eine vertraute Stimme.

Kim blickte auf. »Michi!«

Michi grinste. »Wen hast du denn erwartet?« Er wurde ernst. »He, was ist los? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Kim lächelte gequält. »Nein, ich hab nur …« Sie winkte ab. »Vergiss es, meine Fantasie hat mir einen Streich gespielt, nichts weiter.«

Michi legte den Arm um Kims Schultern und drückte sie sanft an sich. »Das wundert mich gar nicht. Ich kenne niemanden, der so viel Fantasie hat wie du. Darum wirst du später bestimmt auch eine supererfolgreiche Autorin.«

Michis Nähe beruhigte Kim augenblicklich. Ihr Herzschlag normalisierte sich wieder und die Gänsehaut verschwand. Sie verzog das Gesicht. »Das erinnert mich daran, dass ich schon ewig keine Schreibübung mehr gemacht habe. Wenn ich weiter so faul bin, kann ich meine Schriftstellerinnen-Karriere vergessen.«

Es war schon lange Kims Traum, irgendwann eine berühmte Krimiautorin zu werden. Früher hatte sie regelmäßig Kurzgeschichten geschrieben, aber seit sie den Detektivclub gegründet hatte, fehlte ihr meistens die Zeit dazu.

»Du schaffst das schon«, sagte Michi zuversichtlich, während sie eng umschlungen zur Vorderseite des Hauses schlenderten.

»Da sind ja unsere zwei Verliebten!« Marie stand neben ihrem Fahrrad und strich sich grinsend eine lange, blonde Haarsträhne hinter das Ohr.

»Können wir?« Franzi saß bereits auf ihrem Rad. »Ich muss pünktlich zu Hause sein. Meine Eltern haben heute Abend noch einen Termin und ich soll bei Oma Lotti bleiben.«

»Klar, ich hab alles im Kasten.« Michi nahm den Arm von Kims Schultern und packte die Kamera, die noch um seinen Hals hing, vorsichtig wieder ein. »Ich lade die Fotos nachher hoch und mail dir die besten rüber, okay, Franzi?«

Franzi nickte. »Toll, danke. Komm doch morgen Nachmittag mit uns ins Café Lomo, dann spendier ich dir einen Kakao Spezial als kleine Gegenleistung.«

»Morgen hab ich leider keine Zeit«, sagte Michi bedauernd. »Mein Bruder wird aus dem Gefängnis entlassen und ich hab versprochen, ihn abzuholen.«

Marie zog eine Augenbraue hoch. »Frank wird entlassen?«

Michi nickte. »Ich freu mich total darauf, ihn endlich wiederzusehen. Ich hab ihn zwar ein paar Mal im Gefängnis besucht, aber das ist einfach nicht dasselbe.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Franzi. »Hoffentlich hat er was aus der Haft gelernt.«

»Und ob«, versicherte Michi eifrig. »Er hat sich völlig verändert. Er will ein neues Leben anfangen und sein Geld nur noch mit ehrlicher Arbeit verdienen.«

»Ein weiser Entschluss«, stellte Marie fest, während sie auf ihr Fahrrad stieg.

Kim schwieg. Michis älterer Bruder war den drei !!! bei ihrem allerersten Fall begegnet. Sie hatten seine kriminellen Machenschaften aufgedeckt und ihn hinter Gitter gebracht. Lange war Frank ein absolutes Tabuthema zwischen Kim und Michi gewesen. Kim hatte lieber verdrängt, dass ihr Freund mit einem verurteilten Verbrecher verwandt war. Doch kürzlich hatten sie sich endlich ausgesprochen. Trotzdem machte Kim die Sache immer noch zu schaffen. Was, wenn Franks Versprechungen nur leere Worte waren?

»Kommst du, Kim? Wir wollen los!« Franzis Stimme riss Kim aus ihren Grübeleien.

»Bin schon da!« Hastig schwang sich Kim in den Sattel und trat in die Pedale. Der Fahrtwind blies die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf. Sie beschloss, nicht länger über Frank nachzudenken, dafür war dieser Tag viel zu schön.

Lachend und schwatzend bogen die drei !!! und Michi um die Ecke. Oma Lottis Haus blieb einsam zurück. Im Schatten des Waldes wirkte es mehr denn je wie ein Hexenhaus.

Eine unheimliche Entdeckung

Geheimes Tagebuch von Kim Jülich
Montag, 18:03 Uhr

▶ Achtung: Lesen für Unbefugte (alle außer Kim Jülich) streng verboten! Das gilt auch für Ben und Lukas, die nervigsten Zwillingsbrüder aller Zeiten. Wehe, ihr vergreift euch an meinen privaten Aufzeichnungen, dann könnt ihr was erleben! ◀

Ich bin total durcheinander. Gerade hat Michi angerufen und ganz begeistert von seinem Wiedersehen mit Frank erzählt. Er hat seinen Bruder vom Gefängnis abgeholt und ihn zur Feier des Tages in die Eisdiele eingeladen, in der er manchmal jobbt. Offenbar haben sich die beiden prima verstanden und jetzt will Michi seinem Bruder helfen, im normalen Leben Fuß zu fassen.

Ich finde es ja eigentlich total süß von Michi, dass er seinen Bruder unterstützen will. Aber jetzt kommt’s: Michi hat gefragt, ob wir morgen zu dritt ins Lomo gehen wollen, damit ich Frank richtig kennenlernen kann. Vor lauter Überraschung hab ich einfach zugestimmt, doch jetzt würde ich Michi am liebsten anrufen und das Date absagen. Wenn ich an Frank denke, habe ich immer noch so ein komisches Gefühl. Ich kann einfach nicht vergessen, wie er Marie, Franzi und mich bei unserem ersten Fall kaltblütig im Keller des Elektroladens eingesperrt und bedroht hat. Ob er wirklich ein anderer Mensch geworden ist?

Was soll ich nur tun? Ich will Michi nicht vor den Kopf stoßen, aber ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es schaffe, Frank unvoreingenommen gegenüberzutreten …

Mist, mein Handy klingelt, ich muss Schluss machen. Bis später!

Hastig speicherte Kim die Datei und schloss das Dokument, damit es vor den neugierigen Zwillingen sicher war. Ihr geheimes Tagebuch war Kim absolut heilig, nicht einmal Marie und Franzi durften es lesen. Dann griff sie nach ihrem Handy.

»Hallo, Franzi, was gibt’s?«

»Kim! Du musst herkommen! Sofort!« Franzis Stimme klang abgehackt und außer Atem.

Kim setzte sich auf. »Was ist los?«, fragte sie alarmiert. »Steckst du in Schwierigkeiten?«

»Nein, ich …« Franzi holte tief Luft. »Ich habe etwas Unglaubliches entdeckt.«

»Was denn?«

»Nicht am Telefon! Komm so schnell wie möglich her, okay?«

»Das geht nicht. Mama ist einkaufen und ich bin allein mit den Zwillingen.«

»Na gut, dann komme ich eben zu dir. Sag Marie Bescheid, ja? Bis gleich!«

»Aber …«, begann Kim, doch Franzi hatte schon aufgelegt. Irritiert betrachtete Kim ihr Handy. »Typisch!«, murmelte sie. »Dass es bei uns in einer halben Stunde Abendessen gibt, ist Fräulein Winkler natürlich komplett egal.«

Kims Mutter nahm es mit den Essenszeiten leider ziemlich genau. Und sie legte großen Wert darauf, dass die ganze Familie gemeinsam am Tisch saß. Aber Kim würde Franzi trotzdem nicht hängen lassen, das war Ehrensache. Außerdem war sie auch ein klitzekleines bisschen neugierig. Was hatte Franzi entdeckt?

Sensationelle zehn Minuten später klingelte es. Kim spurtete zur Haustür.

»Wahnsinn!« Kim sah beeindruckt von Marie zu Franzi. »Bist du geflogen, Franzi? Oder wie hast du es sonst so schnell hierher geschafft?«

Franzi grinste. »James Bond hat mich in seinem Superflitzer mitgenommen. Wir haben auf der Fahrt alle Gangster mit Überschallgeschwindigkeit abgehängt.« Sie winkte ihrem Bruder Stefan zu, dessen alter, klappriger Opel vor dem jülichschen Gartentor stand. Stefan hupte kurz, dann knatterte der Opel davon.

»Was ist denn das für eine alte Gurke?« Kims kleiner Bruder Ben war neben ihr auf der Türschwelle aufgetaucht. Er sah dem Opel mit gerümpfter Nase nach.

»Der Schrotthaufen fällt ja fast auseinander«, fügte sein Zwillingsbruder Lukas hinzu und drängelte Kim zur Seite, um auch einen Blick auf die Straße werfen zu können.

Kim seufzte. Das war mal wieder typisch. Die Zwillinge waren wie Pech und Schwefel und tauchten leider immer im Doppelpack auf. Entgegen jeder mathematischen Logik entwickelten sie dabei allerdings das zehnfache Nervpotenzial.

Marie beugte sich zu den Jungs hinunter. »Ihr habt echt keine Ahnung!« Sie senkte die Stimme. »Das war James Bond in seinem Superflitzer mit Düsenantrieb und Spezialausstattung.«

»Ach ja?« Ben grinste herausfordernd. »Und warum sah die Karre dann aus wie ein rostiger Opel?«

Marie verdrehte die Augen. »Weil Geheimagenten natürlich immer inkognito unterwegs sind. Sonst würde sie ja jeder Ganove sofort erkennen.«

»Ehrlich?« Lukas sah leicht verunsichert aus.

»Und ob!« Marie zwinkerte ihm zu. »Aber das ist streng geheim, klar? Wenn ihr die Mission von 007 auffliegen lasst, kriegt ihr es mit dem britischen Geheimdienst zu tun. Und die Jungs sind nicht gerade zimperlich. Also kein Wort zu niemandem, okay?«

»Okay«, hauchte Ben. Auch Lukas nickte mit offenem Mund.

Kim musste sich das Lachen verbeißen. So durchtrieben die Zwillinge waren, wenn sie Kim ärgern wollten – manchmal waren sie noch erstaunlich naiv. Allerdings konnte Marie auch sehr überzeugend sein. Wenn sie es darauf anlegte, würde sie den Weihnachtsmann glatt dazu bringen, seine Geschenke an Ostern zu verteilen.

»Kommt, wir gehen nach oben«, sagte Kim. Die Detektivinnen liefen die Treppe hinauf, während die Zwillinge ihnen beeindruckt nachsahen, ohne einen Mucks von sich zu geben.

Erst als Kim die Zimmertür hinter sich und ihren Freundinnen geschlossen hatte, prustete sie los. »Marie, du bist einfach unmöglich! Jetzt spielen die Zwillinge bestimmt wochenlang James Bond.«

Marie zuckte mit den Schultern. »Ist doch prima! Dann sind sie beschäftigt und gehen dir nicht auf die Nerven.« Sie schlüpfte aus ihrem taubenblauen Herbstmantel, der farblich perfekt mit ihren neuen Stiefeln harmonierte. Marie Grevenbroich verließ das Haus nur makellos gekleidet und gestylt, ganz egal, ob sie zu einer feierlichen Theaterpremiere, einem Date mit Holger oder einem außerplanmäßigen Detektivclub-Treffen unterwegs war.

Kim seufzte. »Schön wär’s!«

Franzi hielt sich gar nicht erst damit auf, ihre Jacke abzulegen, sondern zog sofort einen USB-Stick aus der Tasche und drückte ihn Kim in die Hand. »Hier, das müsst ihr euch ansehen! Ich sag’s euch, da fallen euch glatt die Augen aus dem Kopf.«

»Jetzt bin ich aber wirklich gespannt …« Kim schloss den Stick an ihren Computer an. Mehrere Ordner tauchten auf dem Bildschirm auf.

»Geh auf ›Fotos‹«, sagte Franzi, die Kim über die Schulter sah.

Kim klickte auf den Ordner. Ein Bild von Oma Lottis Haus öffnete sich. Es wirkte in den goldenen Strahlen der Septembersonne richtig einladend und gemütlich. Der verwilderte Garten war nicht zu sehen, nur die Rosen rankten üppig blühend ins Bild. Michi hatte es tatsächlich geschafft, die Atmosphäre des Hauses einzufangen, wie sie vor Oma Lottis Schlaganfall gewesen war.

»Tolles Bild«, stellte Marie fest. »Michi hat eindeutig Talent als Fotograf.«

Kim drehte sich zu Franzi um. »Und was ist daran jetzt so sensationell?«

»Klick weiter«, befahl Franzi ungeduldig. »Es ist eins der hinteren Bilder.«

Kim scrollte sich gehorsam durch die Fotos.

»Stopp!«, rief Franzi. »Das ist es!«

Kim starrte auf den Bildschirm. Auf den ersten Blick sah das Foto wie die anderen aus. Es war eine Frontalaufnahme des Hauses. Neben der Eingangstür blühten die Rosen, im Küchenfenster stand das ZU-VERKAUFEN-Schild und ein Sonnenstrahl ließ den Wetterhahn auf dem Dach aufblitzen.

»Was ist das denn?« Marie zeigte mit gerunzelter Stirn auf das Fenster neben der Haustür.

Kim beugte sich vor. »Das gibt’s doch nicht!«, flüsterte sie.

»Kannst du den Bildausschnitt vergrößern?«, fragte Franzi.

Kim nickte. Ihre Hand zitterte, als sie das Fenster heranzoomte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Hinter der schmutzigen Scheibe zeichnete sich ganz deutlich etwas ab. Ein Schatten. Der Schatten einer Gestalt. »Das ist doch …«, begann Kim.

»Ein Geist!«, vollendete Marie tonlos den Satz.

Fast hätte Kim laut losgelacht. »Unsinn! Geister gibt es nicht. Es könnte ein kleiner Junge sein.«

»Aber wie sollte der in Oma Lottis Haus gelangt sein?«, fragte Franzi. »Es ist immer alles gründlich abgeschlossen.«

»Das stimmt«, gab Kim zu. »Aber es muss trotzdem eine logische Erklärung geben.«

»Muss es nicht«, widersprach Marie. »Das ist ein Geist, ganz klar. Er hat sich irgendwie aufs Bild gemogelt. So etwas gibt es häufiger. Im Internet tauchen immer wieder Fotos von Geistererscheinungen auf.«

Kim seufzte. Marie interessierte sich brennend für Hexen, Geister, Tarotkarten und andere übersinnliche Dinge – obwohl jedes Kind wusste, dass das nichts als Humbug war. »Diese Fotos sind doch alle manipuliert«, stellte Kim fest.

»Nicht alle!«, widersprach Marie.

»Auf jeden Fall müssen wir der Sache nachgehen.« Franzi klang fest entschlossen. »Ich will wissen, wer oder was sich in Oma Lottis Haus herumtreibt.«

»Ich auch«, sagte Kim. »Am besten rede ich zuerst mit Michi, er hat das Foto schließlich gemacht. Wir treffen uns sowieso morgen im Lomo.« Kim verzog das Gesicht, als sie an das bevorstehende Wiedersehen mit Frank dachte. Schnell drängte sie die unangenehme Vorstellung zurück. Jetzt musste sie sich voll und ganz auf die Detektivarbeit konzentrieren, alles andere lenkte sie nur ab.

»Vielleicht hat Michi das Foto ja manipuliert«, überlegte Franzi.

»Spinnst du?« Kim warf ihrer Freundin einen wütenden Blick zu.

Franzi hob abwehrend die Hände. »Du brauchst nicht gleich durchzudrehen, okay? War nur so ein Gedanke. Könnte doch sein, dass er sich einen Scherz mit uns erlauben wollte.«

»Da kennst du Michis Humor aber schlecht«, murmelte Kim immer noch leicht verärgert. »Ich tippe eher darauf, dass beim Hochladen etwas schiefgelaufen ist.«

»Frag ihn auf jeden Fall, ob ihm beim Fotografieren etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist«, bat Marie.

»Was denn?« Kim zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Geisterhafte Schwingungen?«

»Zum Beispiel«, gab Marie etwas beleidigt zurück. »Hat es alles schon gegeben.«

Plötzlich musste Kim an den Zwischenfall in Oma Lottis Garten denken. Hatte sie sich die Bewegung am Fenster wirklich nur eingebildet? Oder gab es einen Zusammenhang mit der geheimnisvollen Gestalt auf dem Foto? Kim spürte, wie ihr eine Gänsehaut über die Arme kroch. Sie zuckte zusammen, als es laut an der Tür klopfte.

»Kim?«, rief eine energische Stimme.

Kim stöhnte. »Meine Mutter!«

Die Tür öffnete sich, ehe Kim »Herein« sagen konnte, und Frau Jülich erschien auf der Schwelle. Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Oh! Hallo, Franzi, hallo, Marie. Ich wusste gar nicht, dass ihr hier seid.«

Kims Freundinnen begrüßten Frau Jülich.

»Was ist denn, Mama?«, fragte Kim leicht genervt. Immer platzte ihre Mutter einfach herein, wenn es gerade überhaupt nicht passte.

»In fünf Minuten gibt es Abendbrot«, verkündete Frau Jülich. »Und danach höre ich dich die Englisch-Vokabeln ab. Ihr schreibt doch morgen einen Test, oder?« Kim verdrehte die Augen, was ihre Mutter zum Glück nicht mitbekam, weil sie sich gerade an Marie und Franzi wandte. »Möchtet ihr mitessen?«

Beide schüttelten synchron die Köpfe.

»Nein, danke.« Marie griff nach ihrem Mantel. »Ich muss jetzt nach Hause, wir essen auch bald.«

»Und ich werde gleich von meinem Bruder abgeholt«, sagte Franzi. »Er wollte nur kurz in seine neue WG, um dort etwas auszumessen.«

»Dann macht’s gut, ihr zwei!« Frau Jülich nickte den Mädchen zu und verschwand wieder.

Kim seufzte. »Damit wäre das Clubtreffen beendet.« Sie speicherte das verdächtige Foto, fuhr den Computer herunter und gab Franzi ihren Stick zurück.

Franzi steckte ihn ein und grinste. »Reg dich nicht auf, meine Mutter ist manchmal genauso nervig.«

Marie knöpfte ihren Mantel zu. »Fällt euch was auf, Leute? Wir haben endlich einen neuen Fall!«

Kims Miene hellte sich auf. »Stimmt! Und dafür brauchen wir jede Menge Power.« Sie streckte den Arm aus.

Franzi und Marie legten ihre Hände auf Kims Hand. Feierlich sprachen sie die Worte, die ihnen immer wieder neue Energie gaben.

»Die drei !!!«, sagten alle drei im Chor.

Kim sagte: »Eins!«, Marie »Zwei!« und Franzi »Drei!«.

Zum Schluss hoben sie gleichzeitig die Hände und riefen: »Power!!!«

Schlechter Start im Café Lomo

Kim zögerte, bevor sie die Tür zum Lomo öffnete. Normalerweise betrat sie ihr Lieblingscafé immer voller Schwung und Vorfreude auf entspannte Stunden mit ihren Freundinnen, aber heute wäre sie am liebsten umgekehrt und zurück nach Hause gegangen.

»Stell dich nicht so an, Kim«, murmelte sie. »Es sind doch nur Michi und sein Bruder, die dadrinnen auf dich warten.«

Ein Pärchen, das gerade das Café betreten wollte, warf Kim einen seltsamen Blick zu und Kim biss sich auf die Lippe. Na toll, jetzt fing sie schon an, Selbstgespräche zu führen! Das ging eindeutig zu weit. Sie hatte bereits ganz andere Situationen gemeistert, sie würde es auch schaffen, Frank gegenüberzutreten.

Kim atmete einmal tief durch und folgte dem Pärchen ins Café. Im Eingangsbereich blieb sie stehen und sah sich nach Michis braunem Haarschopf um. Die Inneneinrichtung des Lomo war vor einiger Zeit erneuert worden. Mit den Wandtattoos, den schicken Hockern und den bequemen Sitzsäcken sah es jetzt viel moderner aus. Aber zum Glück war das Café immer noch genauso gemütlich wie vorher. In der Sitzecke, dem Stammplatz der drei !!!, ließ sich gerade das Pärchen nieder. Der Biergarten im Innenhof war geschlossen, das weiße Sonnensegel, unter dem Kim und ihre Freundinnen im Sommer oft gesessen hatten, eingerollt. Michi war nirgendwo zu sehen.

Da ertönte eine Stimme hinter Kim. »Hallo, hier bin ich!«

Kim fuhr herum. »Michi! Musst du mich so erschrecken?«

»Sorry, war keine Absicht.« Michi drückte Kim einen Begrüßungskuss auf die Lippen.

Kim sah sich nervös um. »Wo ist Frank?«

»Er kommt etwas später, weil er noch einen Termin beim Arbeitsamt hat.« Michi nahm Kims Hand und führte sie zu einem Tisch am Fenster, auf dem bereits zwei dampfende Becher Kakao Spezial standen. »Ich hab dir schon mal einen Kakao bestellt.«

Seufzend ließ sich Kim auf einen orangefarbenen Lederhocker fallen. Sie merkte, wie ihre Anspannung vorübergehend nachließ. »Danke!« Sie griff nach dem Becher, nahm einen großen Schluck und genoss den süßen Kakaogeschmack mit der leichten Vanillenote, der sich auf ihrer Zunge ausbreitete. »Das ist genau das, was ich jetzt brauche!« Nicht umsonst war Kakao Spezial, den es im Sommer auch als eisgekühlte Variante gab, das Lieblingsgetränk der Detektivinnen.

Michi grinste. Dann wurde er ernst. »Danke, dass du gekommen bist.« Er sah Kim direkt an. »Ich weiß, es fällt dir nicht leicht, dich mit Frank zu treffen. Du hast immer noch Vorbehalte gegen ihn.« Kim wollte protestieren, aber Michi schüttelte den Kopf. »Ich kann das gut verstehen. Mir ging es anfangs auch so. Aber Frank ist nun mal mein Bruder, darum will ich ihm helfen. Und ich finde es toll, dass du mich dabei unterstützt.«

Michis Blick ging Kim durch und durch. In seinen blaugrünen Augen lag so viel Liebe, dass sie förmlich dahinschmolz. »Das ist doch selbstverständlich«, murmelte sie etwas kleinlaut bei dem Gedanken, dass sie das Treffen beinahe abgesagt hätte. Michi war so ein großherziger, hilfsbereiter Mensch und sie benahm sich wie eine kleinliche Zicke. Kim nahm sich vor, Frank so offen wie möglich zu begegnen. Sie würde ihm eine zweite Chance geben. Wenn Michi das konnte, konnte sie es auch.

»Nein, das ist nicht selbstverständlich.« Michi griff über den Tisch nach Kims Hand und drückte sie. »Aber du bist eben etwas ganz Besonderes. Das wusste ich schon immer!«

»Darf’s bei euch noch etwas sein?«

Kim hatte Mühe, sich von Michis liebevollem Blick zu lösen. Widerstrebend sah sie auf. Sabrina, die Bedienung des Lomo, stand neben dem Tisch und grinste fröhlich.

»Hallo, Sabrina«, sagte Kim schwach. »Danke, wir sind noch versorgt.«

»Prima! Meldet euch einfach, wenn ihr was braucht.« Sabrina drehte sich um. Beim Weggehen stieß sie so heftig gegen den Nachbartisch, dass die zierliche Vase mit der hübschen Rose gefährlich schwankte. »Ups, sorry!« Kichernd verschwand Sabrina in Richtung Theke.

Kim schüttelte den Kopf. Sabrina passierten häufiger kleine Missgeschicke, aber Kim mochte sie trotzdem. Leider hatte sie das Talent, genau im falschen Moment aufzutauchen. Die romantische Stimmung, die gerade noch zwischen Kim und Michi geherrscht hatte, war verpufft. Michi zog seine Hand zurück, um einen Schluck Kakao zu trinken. Beim Anblick der blühenden Rose auf dem Tisch musste Kim an Oma Lottis Haus denken – und an ihren neuen Fall. Sie beschloss, die Zeit zu nutzen, bis Frank auftauchte, um Michi auf das Foto anzusprechen.

»Übrigens sind die Bilder, die du von Oma Lottis Haus gemacht hast, richtig toll geworden«, begann Kim.

»Findest du?« Michi lächelte geschmeichelt. »Ja, die Kamera ist nicht schlecht. Es macht richtig Spaß, damit zu fotografieren.«

»Auf einem der Fotos ist uns allerdings etwas Seltsames aufgefallen.« Kim zog einen vergrößerten Ausdruck des Geisterfotos aus ihrer Tasche und legte ihn auf den Tisch. »Kannst du dir das hier erklären?« Sie deutete auf den Schatten am Fenster.

Michi nahm das Foto in die Hand und betrachtete es eingehend. Er runzelte die Stirn. »Da steht jemand!«

Kim nickte. »Sieht so aus. Obwohl das eigentlich nicht sein kann. Hast du die Gestalt bemerkt, als du das Bild gemacht hast?«

Michi schüttelte den Kopf. »Nein, da war niemand. Sonst hätte ich euch sofort Bescheid gesagt. Könnte das ein Einbrecher sein?«

»Das glaube ich nicht, dafür ist der Schatten zu klein.«

»Stimmt, sieht mehr nach einem Kind aus.«

»Marie meint, es sei ein Geist.« Kim grinste schief.

Michi lachte. »Typisch Marie! Ich glaube eher, es ist eine Spiegelung in der Glasscheibe.«

Daran hatte Kim noch gar nicht gedacht. »Keine schlechte Idee! Der Spur werden wir auf jeden Fall nachgehen. Könnte eventuell auch beim Hochladen etwas schiefgelaufen sein?«