Soraya Lane, Victoria Pade, Rebecca Winters

BIANCA EXKLUSIV BAND 322

IMPRESSUM

BIANCA EXKLUSIV erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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Erste Neuauflage in der Reihe BIANCA EXKLUSIV
Band 322 - 2020 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2011 by Soraya Lane
Originaltitel: „Soldier on Her Doorstep“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Marc Tannous
Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1874

© 2010 by Victoria Pade
Originaltitel: „The Bachelor’s Northbridge Bride“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Christa Stütz
Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1886

© 2012 by Rebecca Winters
Originaltitel: „The Seal’s Promise“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Patrick Hansen
Deutsche Erstausgabe 2013 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe BIANCA, Band 1891

Abbildungen: Ivanko_Brnjakovic / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 04/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733748753

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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Der Tag, an dem das Glück zurückkam

1. KAPITEL

Alex Dane brauchte keinen Arzt, um zu wissen, dass sein Puls gefährlich hoch war. Er drückte einfach zwei Finger auf sein Handgelenk und zählte mit. Gleichzeitig versuchte er, seine Atmung zu verlangsamen und sich wieder einigermaßen in den Griff zu bekommen.

Sein Herz donnerte wie ein Presslufthammer.

Ohne sein ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, hätte er einfach den Rückwärtsgang eingelegt und wäre wieder nach Hause gefahren.

Doch das konnte er nicht.

Rasch überprüfte er die Adresse auf dem zerknitterten Zettel, bevor er ihn wieder zusammenknüllte. Dabei wusste er sie längst auswendig. Und zwar seit jenem Tag, an dem sie ihm von seinem im Sterben liegenden Freund überreicht worden war.

Trotzdem trug er sie noch immer mit sich herum. Nach all diesen Monaten war es nun an der Zeit, den Zettel wegzuwerfen und sein Versprechen einzulösen.

Als er die braune Papiertüte in die Hand nahm, beschleunigte sich sein Herzschlag von Neuem, und Alex verfluchte sich dafür, dass er jemals versprochen hatte, hierher zu kommen.

Alles war genauso, wie er es sich vorgestellt hatte – und doch wieder ganz anders. Die frische Luft, die Bäume, das Gras … All diese ländlichen Eindrücke trafen ihn mit voller Wucht, als er aus dem Wagen stieg.

Ihn umgaben Düfte, nach denen er sich gesehnt hatte, als er sich noch durch Wüsten in weit entfernten Kriegsgebieten geschleppt hatte.

Jetzt konnte er schon das Haus sehen, das ein Stück weit von der Straße entfernt war. Cremefarbene Schindeln lugten unter einem Dach aus Baumkronen hervor. Alles war genauso, wie William Kennedy es beschrieben hatte.

Er versuchte, die Schuldgefühle zu ignorieren, die ihn heimsuchten, seit er wieder amerikanischen Boden unter den Füßen hatte. Dann ging er los und bemühte sich dabei, den militärischen Takt anzuschlagen, der ihm so vertraut war. Sich vorzustellen, es handle sich um einen beruflichen Auftrag, machte die Sache leichter.

Er musste ja nichts weiter tun, als sich vorzustellen, die Gegenstände zu überreichen, zu lächeln und sich dann zu verabschieden. Diesem exakten Ablauf musste er folgen. Die Einladung auf einen Kaffee ausschlagen. Kein Mitleid mit ihr empfinden. Und das Kind dabei nicht ansehen.

Da stand er auch schon am Fuße der Verandatreppe. Die Farbe blätterte von den Stufen ab, ohne sie dabei ungepflegt aussehen zu lassen.

Spielzeug lag auf dem Boden verstreut – zusammen mit einem ausgewetzten Bettvorleger, der wahrscheinlich dem Hund gehörte.

Alex blickte zur Tür, dann auf die Tüte in seiner Hand. Hätte er sich noch fester an sie geklammert, wäre sie womöglich zerrissen.

Er zählte bis vier und sog dabei so viel Luft in seine Lungen, wie nur irgend möglich. Dann klopfte er mehrmals hintereinander an die Holzvertäfelung der Tür.

Geräusche aus dem Innern verrieten, dass jemand zu Hause war. Die rasch näherkommenden Schritte bereiteten ihn darauf vor, dass es nun an der Zeit war, das lange Geübte in der Praxis anzuwenden.

Doch seine innere Stimme forderte ihn auf, die Tüte einfach vor die Tür zu legen und so schnell wie möglich abzuhauen.

Feuchter Schweiß glänzte auf seiner Stirn, als er seinen Füßen befahl, wie angewurzelt stehen zu bleiben.

Wäre er doch niemals hierhergekommen.

Lisa Kennedy überprüfte kurz ihren Pferdeschwanz, zog ihre Schürze enger und öffnete dann die Tür.

Vor ihrer Veranda stand ein Mann, mit dem Rücken zu ihr, als habe sie ihn gerade dabei erwischt, wie er sich aus dem Staub machen wollte.

Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass sie es mit einem Soldaten zu tun hatte. Die kurze Streichholzfrisur und seine kontrollierte, militärische Haltung sprachen eine deutliche Sprache.

„Kann ich Ihnen helfen?“

War er ein Freund ihres verstorbenen Mannes? Sie hatte bereits viele Grußkarten und Anrufe von Männern erhalten, die William gut gekannt hatten. War dies ein weiterer Kamerad, der nach all diesen Monaten sein Beileid bekunden wollte?

Mit einer knappen Drehung, ohne sich dabei vom Fleck zu bewegen, wandte sich der Mann um und sah sie an.

Lisa hörte kurz auf, mit der Schnur ihrer Schürze zu spielen. Die blonde Streichholzfrisur gehörte einem Mann mit den braunsten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Seine Schultern waren so breit wie die eines Footballspielers und auf seinen Lippen lag das traurigste Lächeln, das ein Mann wohl zur Schau stellen konnte.

Die Frau in ihr hätte ihn am liebsten in den Arm genommen und ihn gefragt, was er denn erlebt hatte, dass er so traurig geworden war.

Doch dem anderen Teil von ihr – der Ehefrau eines Soldaten – war klar, dass der Krieg sicher nicht zu den Dingen gehörte, an die er sich gerne erinnerte. Dazu blickte er zu gequält. Die Traurigkeit schien ihm aus allen Poren zu quellen.

„Lisa Kennedy?“

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, raubte ihr fast den Atem.

„Tut mir leid … Kennen wir uns …?“

Jetzt kam er langsam die beiden Stufen hinauf und blieb nur wenige Schritte von ihr entfernt stehen.

„Ich war ein Freund Ihres Mannes.“ Seine Stimme klang angespannt.

Sie lächelte. Deshalb wollte er sich also davonstehlen. Sie wusste, wie schwer es Soldaten fiel, den Hinterbliebenen eines Kameraden gegenüberzutreten. Lisa nahm an, dass er mit William in einer Einheit gewesen und gerade erst zurückgekommen war.

„Sehr freundlich von Ihnen, extra vorbeizukommen.“

Lisa streckte die Hand nach seinem Arm aus, doch ihre Finger hatten seine Haut kaum berührt, da zuckte er schon zurück, als habe sie ihn mit glühender Kohle gestreift. Als habe er noch nie die Berührung einer Frau verspürt.

Langsam zog sie die Hand zurück und verschränkte stattdessen die Arme.

Offenbar plagte ihn ein großer innerer Schmerz. Und diese Art der Kontaktaufnahme war er wohl nicht gewohnt. Lisa beschloss, ihn wie den Fremden zu behandeln, der er ja auch war.

Eine plötzliche Unsicherheit erfasste sie, als ihr bewusst wurde, wie attraktiv er eigentlich war – hätte er es nur verstanden, mal zu lächeln oder zu lachen.

Das Gesicht ihres Ehemannes war von tiefen Lachfalten gezeichnet gewesen. Und so offen, dass jeder Gedanke deutlich darin zu erkennen gewesen war.

Der Mann, der vor ihr stand, war dagegen wie eine leere Leinwand. Starke Wangenknochen, dickes, kurz geschnittenes Haar und eine goldbraune Haut, die von vielen Stunden im Freien zeugte.

Sie deutete sein Schweigen als Ausdruck von Schüchternheit – vielleicht auch von Nervosität.

„Möchten Sie hereinkommen? Ich könnte einen Eistee vertragen.“

Sie beobachtete dabei, wie er nach den richtigen Worten suchte. Es war ein trauriger Anblick. Ein so gut aussehender, so starker Mann, der so offensichtliche Schwierigkeiten hatte, sich in seine neue Rolle als Zivilist einzufinden.

„Ich … Äh …“ Er räusperte sich und bewegte sich unruhig am Fleck.

Lisa spürte, wie etwas an ihrem Hosenbein zog. Instinktiv streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus.

Seit Lilly erfahren hatte, dass ihr Daddy nie wieder nach Hause kommen würde, hatte sie mit niemandem außer Lisa gesprochen. Manchmal klammerte sie sich regelrecht an ihre Mutter, als wolle sie sie niemals mehr gehen lassen.

Der Blick des Mannes veränderte sich, wirkte jetzt angsterfüllt. Lisa hatte das Gefühl, dass er die Gesellschaft von Kindern nicht gewohnt war. Lillys Anblick hatte ihn offensichtlich aus der Bahn geworfen. Sein Blick wirkte jetzt sogar noch trauriger und gequälter, sofern das überhaupt möglich war.

„Lilly, geh und such Boston“, sagte sie und strich ihrer Tochter durch die langen Haare. „Im Kühlschrank liegt ein Knochen für ihn.“

Lisa warf dem Mann, dem es sichtlich die Sprache verschlagen hatte, einen weiteren Blick zu. Wenn er es gewohnt war, Befehlen zu folgen, dann würde sie ihm eben einen solchen erteilen.

„Setzen Sie sich, Soldat“, befahl sie und deutete auf eine alte Hollywoodschaukel auf der Terrasse. „Ich hol uns etwas zu trinken, und dann können Sie mir ganz genau erzählen, was Sie hierher nach Brownswood in Alaska verschlagen hat.“

Etwas huschte über sein Gesicht. Ein Anflug von Schuldbewusstsein. Doch sie ignorierte es.

Er ging zu der Hollywoodschaukel, und Lisa unterdrückte ein Lächeln. Wann hatte sie damit begonnen, sich in ihre eigene Mutter zu verwandeln? Mit jedem Tag klang sie ihr ähnlicher.

Dieser Mann wollte ihr nichts Böses, davon war sie überzeugt. Vermutlich litt er an einer Art Kriegstrauma und war wegen seines Besuchs bei ihr nervös. Doch damit konnte sie umgehen.

Außerdem geschah es nicht jeden Tag, dass ein gut aussehender Mann nach ihr verlangte. In jedem Fall wusste sie die Gesellschaft zu schätzen – auch wenn es nur darauf hinauslief, ein Glas Eistee mit einem Typen zu trinken, der nicht besonders mitteilungsbedürftig war.

Und gewiss gab es einen Grund für sein Kommen. Wieso hätte er sonst bis an ihre Türschwelle kommen sollen?

Alex bedachte sich innerlich mit jedem einzelnen Synonym für das Wort „Idiot“.

Wie ein Trottel hatte er dagestanden und die arme Frau angestarrt, während sie sich vermutlich gefragt hatte, welchem Irrenhaus er gerade entflohen war.

Was war mit seinem einstudierten Plan passiert?

Sein Blick fiel auf die Papiertüte neben ihm und er verfluchte sie. Genau wie damals, als er sie zum ersten Mal in Händen gehalten hatte.

William hatte ihm viel über seine Frau erzählt. Wie sehr er sie liebte, welche Art Mensch und was für eine tolle Mutter sie war.

Ihre Attraktivität hatte er jedoch bestimmt nie erwähnt.

Er wusste nicht genau warum, aber seine Schuldgefühle wurden dadurch sogar noch stärker. Das Bild von ihr, das er sich in Gedanken ausgemalt hatte, entsprach nicht im Entferntesten der Realität.

Vielleicht waren es die langen Haare. Die dicke, haselnussbraune Mähne, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Die tiefgründigen, haselnussbraunen Augen, die von langen Wimpern eingerahmt wurden. Oder die Art, wie ihre Jeans ihre Figur betonte und ihr Trägerhemd mehr Haut offenbarte, als dass es ihn nach so langer Zeit kalt ließe.

Vor allem ihre perfekte Figur ohne die Spur eines Schwangerschaftsbauches war ihm aufgefallen.

Jedem Mann wäre sie aufgefallen. Lisa war wunderschön, und zwar auf eine jugendlich frische, unschuldige Art. Er hätte schon äußerst gefühllos sein müssen, um das nicht zu bemerken.

Aber sie hätte einen Babybauch haben müssen. Oder hatte sie ihren Ehemann etwa belogen, was das Baby anging? Oder hatte Alex sich in der Zeit geirrt und das Kind war bereits auf der Welt?

In Gedanken ging er noch einmal seinen Plan durch und verfluchte seine Entscheidung, hierher zu kommen.

Er hatte sich nicht vorgestellt. Hatte nicht gelächelt. Weder hatte er ihr die Tüte gegeben noch ihre Einladung ausgeschlagen.

Sein ganz persönliches Fazit? Er war ein absoluter Dummkopf. Und wenn die junge Frau auch nur ansatzweise sensibel war, würde sie Angst vor ihm haben. Er hatte sie angeglotzt wie irgendein exotisches Tier, das darauf aus war, sie umzubringen.

Im Einsatz war er stets den Anweisungen gefolgt. Nie war er davon abgewichen.

Und jetzt reichten eine junge Frau und ein süßes Kind, um ihm völlig die Sprache zu verschlagen.

Aber vielleicht war es auch das Familienleben, dessen er hier Zeuge wurde. Vielleicht hatte ihn das aus der Bahn geworfen. Immerhin war das genau die Art von Leben, der er sich stets verweigert hatte.

Alex blickte auf, als er leise Schritte auf der Veranda vernahm. Er atmete tief ein und zwang sich zu einem Lächeln.

Auch das war etwas, das er erst wieder lernen musste: einfach nur aus Spaß zu lächeln. Klang einfach, aber aus irgendeinem Grund fiel ihm das in letzter Zeit unglaublich schwer.

Seine Mühe erwies sich jedoch als umsonst. Das einzige Wesen, das ihn beobachtete, war vierbeinig. Und wenn es darum gegangen wäre, mit ihm um die Wette zu lächeln, hätte Alex eindeutig den Kürzeren gezogen. Das Grinsen im Gesicht des schwanzwedelnden Golden Retriever war so breit, dass Alex jeden einzelnen Zahn im Maul des Hundes erkennen konnte.

„Hey, Kumpel“, sagte er und merkte dabei, wie dämlich er sich anhören musste. Bei Lisa hatte es ihm noch die Sprache verschlagen. Und jetzt sprach er mit ihrem Hund!

Boston hingegen schien Gefallen an der Unterhaltung zu finden. Er streckte seine Pfote aus, hielt sie in die Luft und winkte damit. Wollte er, dass Alex ihm die Hand gab?

„Sehr erfreut, dich kennenzulernen.“

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn knapp vor Bostons Pfote innehalten. Lisa kam mit einem Tablett heraus.

Alex tat, als würde er ihr kurz aufflackerndes Lächeln nicht bemerken. Na, immerhin sorgte er für ein wenig Nachmittagsunterhaltung. War er sich zuvor noch fast wie ein Geisteskranker vorgekommen, so fühlte er sich jetzt wie der Klassenclown.

Lisa stellte den Krug mit Eistee und einen Teller mit Keksen vor ihm auf den Tisch.

„Boston haben Sie bereits kennengelernt, wie ich sehe.“

Alex nickte langsam. Wie lange stand sie schon dort drüben?

„Er ist sehr gut erzogen“, sagte er schließlich.

Lisa lachte.

Alex reagierte überrascht. Es war eine Ewigkeit her, seit er eine Frau so ausgelassen erlebt hatte.

„Lilly liebt es, ihm Tricks beizubringen. Und er ist ein sehr gelehriger Schüler.“ Sie warf dem Hund ein Stück Keks vor die Pfoten. „Vor allem, wenn er mit Essen belohnt wird.“

Einen Moment lang saßen sie schweigend da. Alex suchte krampfhaft nach den Worten, die er ihr sagen wollte. Die Tüte schien ihn regelrecht anzustarren, zu pulsieren, als würde ein Herz in ihr schlagen.

Er wusste, dass der Small Talk vorbei sein würde, wenn er es ihr sagte. Seit Monaten zehrte es nun schon an ihm. Jetzt musste er es einfach loswerden.

Sie zog sich einen abgewetzten Stuhl heran und nahm Platz. Alex sah dabei zu, wie sie ihnen beiden ein Glas Tee einschenkte.

„Sie und mein Mann haben zusammen gedient, nehme ich an?“

Mit dieser Frage hatte er gerechnet, dennoch traf sie ihn hart und versetzte ihm einen Schmerz in der Schulter, der nicht ganz leicht abzuschütteln war.

Alex zögerte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. Reden war noch nie seine Stärke gewesen.

„Lisa.“ Er wartete bis sie sich wieder gesetzt und an ihrem Tee genippt hatte. „Als Ihr Mann aus dem letzten Fronturlaub zurückkam, wurden wir zusammen in eine Einheit versetzt.“

Sie war so schön, so herzerweichend schön, und das auf eine so sanfte und unaufdringliche Art, die es noch schwerer machte, es ihr zu sagen.

Er wollte nicht sehen, wie sich ihre freundlichen Gesichtszüge verkrampften, während er ihr von den letzten Momenten ihres Mannes erzählte. Er wusste nicht, ob er es ertragen konnte, diese Frau weinen zu sehen. Mitzubekommen, wie Tränen in diese haselnussbraunen Augen stiegen.

„Wir kamen uns während dieser Tour sehr nahe, und er hat mir viel von Ihnen erzählt. Und von Lilly.“

„Reden Sie weiter“, bat sie und beugte sich vor.

„Lisa, ich war bei ihm, als er starb.“ Er sprach diese Worte sehr hastig, als könne er es nicht erwarten, sie loszuwerden. „Es ging alles sehr schnell und ich war bis zum Ende bei ihm.“ Den Teil, dass die tödliche Kugel eigentlich für ihn bestimmt war, ließ er aus. Auch, wie William Alex warnen wollte, ihn aus der Gefahrenzone bugsierte und dabei erschossen wurde.

Er würde für seine Männer durchs Feuer gehen. Das hatte man in der Army über ihn gesagt. Und Alex konnte es aus eigener Erfahrung bestätigen.

Er sah Lisa wieder an. Eigentlich hatte er Tränen erwartet, ein unkontrolliertes Schluchzen gar, doch sie wirkte ganz ruhig. Ihr Lächeln war nun ein trauriges, doch die Verzweiflung, vor der er sich gefürchtet hatte, blieb aus.

Ihre Gelassenheit half ihm dabei, wieder zu Atem zu kommen und die Worte, die er so lange geübt hatte, auszusprechen.

„In seinen letzten Minuten hat er Ihre Adresse aufgeschrieben. Er bat mich, zu Ihnen zu fahren und nach Ihnen zu sehen. Ihnen zu sagen, dass …“

Lisa wechselte von ihrem Stuhl auf die Hollywoodschaukel und setzte sich dicht neben ihn.

Alex spürte, wie sich ihr Gewicht in die Polster drückte. Spürte die Wärme ihres Körpers, der seinem nun so nah war. Als sie dieses Mal die Hand auf seinen Arm legte, wich er nicht zurück. Stattdessen sah er sie an. „Er bat mich, Ihnen zu sagen, dass er Sie und Lilly geliebt hat. Dass Sie die Frau waren, nach der sich immer gesehnt hat.“

Jetzt hatte sie Tränen in den Augen. Sie quollen bereits über ihre Wimpern. Sie lächelte ihn knapp und mit bebenden Lippen an.

„Und er sagte: ‚Ich will, dass sie glücklich wird.‘“, endete Alex.

Während er diese Worte aussprach, spürte er, wie ein Tonnengewicht von seiner Seele genommen wurde. Diese Worte, die in seinem Kopf widerhallten, seit er sie zum ersten Mal gehört hatte. So als habe er Angst davor gehabt, sie zu vergessen.

„Typisch“, sagte sie, während sie einen Fuß anwinkelte und sich mit der Rückseite ihres Fingers die Augen abtupfte.

Seinen Arm ließ sie jetzt los, aber an der Stelle, an der sie ihn berührt hatte, konnte Alex noch immer die Wärme spüren. „Er geht und verlässt mich, und dann erklärt er mir, dass ich glücklich werden soll.“

Alex wich ihrem Blick aus. Ihm fiel nichts Tröstendes ein, das er hätte sagen können.

Dann nahm er die Tüte, die er neben sich gelegt hatte.

„Ich habe hier ein paar Dinge von ihm“, sagte er. „Hier.“ Er reichte ihr die Tüte und eine weitere Woge der Erleichterung überkam ihn.

Es fühlte sich so gut an, sie ihr endlich überreichen zu können. Seine Schuldgefühle hätten ihn noch bei lebendigem Leibe verzehrt, hätte er nicht den Mut dazu aufgebracht. Und was er wirklich nicht brauchen konnte, waren noch mehr Schuldgefühle.

Alex spürte, wie Lisa sich aufrichtete.

„Was ist da drin?“

„Einige Briefe, ein Foto von Lilly. Und seine alten Dienstmarken.“

„Er bat Sie, sie zu mir zu bringen?“

Alex nickte.

„Haben Sie die Briefe gelesen?“, fragte sie, während ihre Finger bereits nach dem Papierbündel im Innern der Tüte tasteten.

„Nein, Ma’am.“

Sie steckte sie in die Tüte zurück und beugte sich vor, um sie dann auf dem Tisch abzulegen.

„Mein Mann hat Ihnen vertraut, mir einen Besuch abzustatten, dabei kenne ich nicht einmal Ihren Namen“, sagte sie leise.

Alex stand auf. „Alex Dane.“

„Alex“, wiederholte sie. Ihr Lächeln löste in ihm den Wunsch aus, das Weite zu suchen. Noch mehr als vorhin, als sie ihm die Tür geöffnet hatte. Diese Frau sollte doch eigentlich trauern, traurig sein oder sogar deprimiert. Nicht so schön und gelöst.

Er war völlig verwirrt.

„Danke für den Tee, aber ich geh dann mal besser“, verkündete er völlig abrupt.

„Oh, nein, kommt nicht infrage.“

Als sie nach seinem Handgelenk griff, verzog er das Gesicht, wehrte sich jedoch nicht dagegen.

„Sie bleiben zum Essen. Ein Nein akzeptiere ich nicht.“

Bereitwillig ließ er sich von ihr zur Vordertür führen. Er hätte nie hierherkommen dürfen.

Am anderen Ende des Ganges linste ein Paar blaue Augen unter einem blonden Pony hervor und beobachtete ihn. Der Duft von Frischgebackenem strömte aus dem Haus. Williams gerahmtes Bild lächelte ihm von der Wand aus entgegen.

Er war hier im Haus eines anderen Mannes. Mit der Frau und dem Kind eines anderen Mannes. Er war in das Leben eines anderen getreten und das war nicht richtig.

Doch obwohl er wusste, dass es falsch war, hatte er das seltsame Gefühl, nach Hause zu kommen.

Nicht, dass er gewusst hätte, wie sich ein Zuhause anfühlte.

Lisa füllte den Wasserkocher und stellte ihn an. Trotz seines sonderbaren Verhaltens fühlte sie sich in Alex’ Gesellschaft völlig entspannt.

Nicht, dass es ihr an Besuchern gemangelt hätte – seit der Nachricht von Williams Tod kamen ständig Freunde und Familienmitglieder vorbei. Ganz zu schweigen von ihrer Schwester, die sie wie ein Kind behandelte, das einer besonderen Betreuung bedurfte. Irgendwie hatte sie immer eine Ausrede parat, um kurz vorbeizukommen.

Außerdem hatte sie viele Besuche von Soldaten gehabt, wenn auch nicht mehr in letzter Zeit.

Sie warf Alex einen kurzen Blick zu. Er saß nur wenige Schritte von ihr entfernt, doch er hätte sich genauso gut in einem anderen Staat aufhalten können. Seine Miene wirkte verschlossen, und Lisa vermutete, dass er sich dessen gar nicht bewusst war.

Nach allem, was sie über heimgekehrte Soldaten gelesen hatte, erholten sich viele von ihnen nie von den Dingen, die sie im Krieg gesehen hatten. Andere wiederum brauchten einfach etwas Zeit. Lisa hoffte, dass das bei Alex der Fall war. Jedenfalls spürte sie, dass er Hilfe benötigte.

Ein Teil von ihr war einfach nur neugierig. Der andere – ihr aufdringlicher Teil – wollte Alex über Williams Tod ausfragen. Und über die Dinge, die ihm auf der Seele lagen.

Sie nahm an, dass sie noch dazu kommen würde. Doch wie viele Fragen konnte sie ihm an einem einzigen Nachmittag stellen?

„Nehmen Sie Zucker?“ Sie sah ihn an, während er unsicher den Kopf hob.

„Ein Stück. Danke.“

Sie füllte Kaffeegranulat in jede der beiden Tassen, fügte Zucker hinzu, dann schüttete sie das kochende Wasser darüber.

Lisa spürte, wie er sie beobachtete, aber es machte ihr nichts aus. Die Tatsache, dass er bei Williams Tod an seiner Seite gewesen war, empfand sie seltsamerweise als tröstend.

Als sie Alex den Kaffee reichte, sah sie, dass er den Blick über ihren Körper schweifen ließ. Dennoch kam es ihr nicht so vor als würde er sie begaffen. Es war mehr, als würde er etwas überprüfen, nach etwas suchen.

„Ich trage keine Waffe, wenn es das ist, was Sie besorgt.“ Sie lachte, doch er zeigte noch nicht mal ein Lächeln. Stattdessen begann sein Gesicht rot zu glänzen.

Und auch Lisa verspürte eine ungewohnte Nervosität. Vielleicht war sie schon so lange aus dem Spiel, dass es ihr gar nicht mehr auffiel, wenn ein Mann sie ansah.

Es war ein seltsames Gefühl. Nicht unangenehm, aber auch nicht so, als wäre sie schon bereit dafür. Allerdings hatte sie mit ihrer Reaktion erreicht, dass er sich offensichtlich unwohl fühlte. „Es tut mir leid, Alex. Das war nur Spaß.“

Er wandte den Blick ab. „Ich bin etwas durcheinander, das ist alles.“

Fragend hob sie eine Augenbraue.

Alex seufzte und griff nach der heißen Tasse. „William hat erwähnt, dass Sie ein zweites Baby erwarten.“

Aha. Das war es also. Nun war sie beinahe enttäuscht, dass Alex sie doch nicht einfach so angesehen hatte. Doch für eine Witwe gehörte es sich ohnehin nicht, Interesse für einen anderen Mann zu entwickeln.

Es war nur so, dass der Tod ihres Mannes schon einige Monate her war. Und sie … sich wieder wie eine Frau fühlen wollte. Nicht wie eine Witwe oder eine Mutter oder eine Ehefrau. Wie eine Frau.

Was nicht hieß, dass sie ihren Mann nicht mehr liebte. Das tat sie. Sehr sogar.

Sie blinzelte ihre Verwirrung beiseite und lächelte Alex beruhigend an.

Ihr war klar, wie unwohl er sich fühlen müsste, sie das zu fragen. Nicht, dass sie ihm eine Erklärung geschuldet hätte, doch der Mann war von Wer-weiß-wo angereist, nur um sie zu besuchen und den letzten Wunsch ihres Mannes zu erfüllen.

Außerdem machte ihr es nichts aus, es ihm zu verraten. Nicht, wenn es ihm ein Stück seines Seelenfriedens zurückgab, bevor er abreiste und zu seiner eigenen Familie zurückkehrte.

„Ich wurde schwanger, als William gerade auf Fronturlaub zu Hause war. Ich hatte schon so ein Gefühl und machte am Tag vor seiner Abreise einen Test.“

Alex’ Gesicht war noch immer gerötet. Vermutlich war er es nicht gewohnt, sich mit der Frau eines Anderen über Schwangerschaften und Babys zu unterhalten.

„Ich habe das Kind im ersten Trimester verloren, wusste jedoch nicht sofort, wie ich es William beibringen sollte. Er war so begeistert darüber, dass wir endlich ein zweites Kind haben würden. Ich wollte ihn nicht enttäuschen. Doch dann ist er gestorben und hat es nie erfahren.“ Lisa hielt inne. „Wenn ich das Baby nicht verloren hätte, wäre es vor ein paar Monaten auf die Welt gekommen.“

Sie nippte an ihrem Kaffee und ihr Blick verlor sich in den Tiefen des schwarzen Gebräus.

Das Wissen, dass William niemals wieder zurückkehren würde, machte es noch immer schwer, über ihn zu sprechen. Doch ganz allmählich kam sie immer besser damit zurecht. Sie hatte das Gefühl, dass die größte Trauer überstanden war, auch wenn sie noch so manche schwere Stunde durchmachte. Diese Traurigkeit war … so erschöpfend. Und deshalb musste sie weniger werden.

„Das tut mir leid“, entgegnete er. „Wenn man weg ist, vergeht die Zeit wie im Flug.“

Lisa nickte.

„Glauben Sie, es war richtig, ihm nicht zu sagen, was mit dem Baby passiert ist?“

Alex’ Frage überraschte sie. Es war keine Anklage, keine Meinungsäußerung. Die Frage schien sich einfach nur anzubieten.

„Ja, ich glaube schon.“ Ihre Stimme klang sogar in ihren eigenen Ohren schwach. „Ich bin froh, dass er in dem Glauben gestorben ist, dass ich ein weiteres Baby erwarte, dem ich meine Liebe schenken kann. Dass Lilly einen Bruder oder eine Schwester bekommt.“

Bisher hatte sie mit niemandem so wirklich über die Fehlgeburt gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Mutter. Es war ein gutes Gefühl, es jetzt loszuwerden. Vor allem gegenüber einer Person, die kein Aufhebens darüber machte oder sie wieder an den Schmerz erinnern würde.

Alex schwieg eine Weile. Wahrscheinlich war er auf das, was er gerade gehört hatte, nicht vorbereitet gewesen. „Es tut mir leid. Ich meine … Es ist nur so, dass …“

„… Sie nicht wissen was Sie sagen sollen?“, versuchte sie, ihm die Anspannung zu nehmen.

„Genau.“

Sie nickte. Ihre normale Reaktion wäre gewesen, ihn zu berühren, ihm die Hand zu reichen. Doch sie hielt sich zurück. Alex war nicht wie ihre üblichen Besucher. Sie musste ihm seinen Freiraum lassen.

„Möchten Sie vielleicht etwas essen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, bitte keine Umstände.“

Lisa verdrehte die Augen, fing jedoch an, sich an seine knappen Antworten und sein mangelhaftes Ausdrucksvermögen zu gewöhnen. „Ich schreibe hauptberuflich Kochbücher. Sie können mir glauben, dass es mich nicht gleich in Verzweiflung stürzt, wenn ich Ihnen eine Mahlzeit zubereite.“

Sie bemerkte ein Lächeln auf Alex’ Lippen. Kein besonders breites, nur ein leichtes Kräuseln seiner Mundwinkel und ein Leuchten in seinen Augen, das sie zuvor nicht bemerkt hatte.

„Sie werden sich allerdings mit Lilly darum streiten müssen. Die Kleine isst wie ein Pferd.“

Alex lachte leise. Ein tiefes, anziehendes Lachen, das Lisa endlich das Gefühl gab, eine erwachsene Unterhaltung zwischen Mann und Frau zu führen.

„Ich bezweifle, dass Lilly eine wirkliche Konkurrenz für mich darstellt.“

Sie grinsten sich an, dann rief Lisa nach ihrer Tochter. „Lilly! Es gibt gleich Essen.“

Die Dielen knarrten, dann erschien Lilly, dicht gefolgt von Boston, dem die Zunge seitlich aus dem Maul hing. Die beiden waren unzertrennlich. Beste Freunde.

Um ihre Tochter zu beschäftigen, während sie das Essen vorbereitete, stellte Lisa ein Glas Milch auf den Tisch.

„Möchtest du unseren Gast begrüßen?“

Lisa wusste, dass das unwahrscheinlich war, doch der Therapeut hatte ihr geraten, sich ganz normal zu verhalten. Einfach zu ignorieren, dass Lilly nicht sprach und so zu tun, als sei alles in Ordnung. So, als würde sie außer mit ihrer Mutter und ihrem Hund auch noch mit anderen Leuten sprechen.

Lilly schüttelte den Kopf, wirkte jedoch nicht ganz so schüchtern wie sonst. Sie kletterte auf den dritten Hocker, ließ den mittleren somit frei und starrte Alex aus großen Augen an.

„Das ist Alex“, erklärte Lisa. „Er war ein Freund deines Daddys.“

Jetzt sah Lilly ihn noch intensiver an, mit ihren großen Augen.

Dann lächelte sie und gab ihm mit einer knappen Handbewegung ein Zeichen.

„Hi“, sagte er.

Lisa überraschte es fast noch mehr, Alex sprechen zu hören, als wenn Lilly etwas gesagt hätte! „Alex ist ein Soldat“, erklärte sie.

Lisa warf Alex einen kurzen Blick zu und bemerkte, dass es ihm unangenehm war, von einem Kind so gründlich unter die Lupe genommen zu werden. Sein Rücken war durchgedrückt, die Pupillen geweitet, der Körper angespannt …

Wenn man die Neugier eines Kindes nicht gewohnt war, wirkte sie vermutlich wirklich befremdlich. Hatte Alex denn keine Familie?

Während sich die beiden weiter anstarrten, öffnete Lisa die Vorratskammer. Sie ließ den Blick über Einmachgläser und Behälter gleiten, die fein säuberlich vor ihr aufgestapelt und mit allen möglichen Leckereien gefüllt waren. Zu anderen Tageszeiten gab sie Lilly sehr viel Obst und Gemüse zu essen, doch nachmittags wurde schon mal genüsslich gesündigt.

Lisa griff nach ihren selbst gebackenen Brownies und dem glasierten Zitronenkuchen, stellte die Behälter in Griffweite ab und drapierte mehrere von ihnen auf einem großen, quadratischen Teller.

„Ich hoffe, Sie mögen Süßes, Alex.“

Er sah noch immer aus wie ein nachtaktives Tier, das im grellen Scheinwerferlicht erstarrt war, doch das ignorierte sie. „Wohnen Sie eigentlich weit weg? Und was halten Sie von der Umgebung hier?“ Sie schob ihm einen Teller mit Gebäck entgegen.

„Äh … kommt darauf an, ob man hier angeln kann. Ich habe gehört, dass die Gegend ideal dafür ist“, sagte er verlegen.

„Sie sind also Angler?“ Sie sah dabei zu, wie sein Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfte.

„Ich blicke nur gerne auf den See hinaus und angele. Sie wissen schon … Als kleine Auszeit. Es geht dabei mehr ums Sitzen und ums Denken, weniger ums Angeln.“

Oh, das konnte sie nachvollziehen. Schließlich war das der Grund gewesen, weshalb sie dieses Haus überhaupt gekauft hatten.

Wollte er denn für eine Weile hierbleiben? Ganz alleine? Sie hatte angenommen, dass er Zeit mit seiner Familie verbringen wollte, nachdem er so lange unterwegs gewesen war. Oder mit Freunden.

Lisa stand auf, um Servietten zu holen, hielt dabei einen Moment lang inne und sah aus dem großen Küchenfenster zum Fluss hinaus. Das Wasser hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Wenn sie in seine Tiefen starrte, hatte sie das Gefühl, dass alles möglich war.

Eigentlich war sie nie besonders gerne angeln gegangen. Aber auch sie liebte es, dazusitzen, nachzudenken und auf das Wasser zu blicken. Und genau das hatte sie getan, als sie die schreckliche Nachricht vom Tod ihres Mannes erhalten hatte. Jeden Tag mehrere Stunden lang.

Lilly zerrte an ihrem Arm. Lisa hatte gar nicht mitbekommen, wie sie von ihrem Hocker gerutscht war. Sie bückte sich, sodass Lilly ihre Hand an Lisas Ohr legen konnte.

„Sag ihm, wir haben haufenweise Fische zum Fangen.“

Sie lächelte und nickte ihrer Tochter zu.

„Sag’s ihm“, beharrte Lilly.

Das kleine Mädchen sprang zurück auf den Hocker und lächelte Alex an. Der wirkte verwirrt.

„Lilly lässt ausrichten, dass es hier haufenweise Fische gibt.“

„Fische?“

Lilly nickte, während sie sich genussvoll die Reste ihres Brownies von den Fingerkuppen leckte. Dann griff sie langsam nach Alex’ Hand, tippte sie an und sprang zu Boden.

Alex blickte von Lilly zu Lisa.

„Ich … äh … denke, sie will, dass Sie mit ihr zum See gehen.“

Lisa hielt den Atem an, während Lilly dastand und erwartungsvoll zu Alex aufblickte. Hätte sie es nicht besser gewusst, sie hätte gedacht, dass seine Hände zitterten.

Er rührte sich nicht, nur seine Blicke wanderten zwischen ihr und ihrer Tochter hin und her. Doch dann bewegte er langsam die Beine und stemmte sich in die Höhe. Er überragte Lilly um ein Vielfaches. Wie ein Bär neben einem Vogel.

„Okay“, sagte er unsicher.

Lilly griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her. Alex konnte gar nicht anders, als Folge zu leisten. Er wirkte dabei schicksalsergeben wie ein Tier, das zum Schlachter geführt wurde.

Von Lisa konnte er jedoch keine Hilfe erwarten. Dies war das erste Mal seit langer Zeit, dass Lilly Kontakt zu einem Fremden aufnahm. Lisa war es egal, wie unwohl ihrem Gast dabei zumute war. Dies war ein wichtiger Wendepunkt. Lilly hatte zwar nicht mit ihm gesprochen, aber sie wollte definitiv mit ihm kommunizieren.

Auf gar keinen Fall würde sie da dazwischengehen. Das konnte sie nicht.

Lisa nickte Boston zu, damit dieser den beiden folgte, dann hielt sie den Atem an. Entweder würde Alex bei erster Gelegenheit die Flucht ergreifen oder auf Lilly reagieren. Und beiden zuliebe hoffte sie, dass Letzteres eintraf.

Alex war zwar ein Fremder, und eigentlich war es seltsam, doch tief in ihrem Inneren hoffte sie, dass er zum Abendessen bleiben würde. Damit sie über William reden konnten. Über den Krieg.

Sie fühlte sich ihm schon dadurch verbunden, dass er in den letzten Jahren wahrscheinlich mehr Zeit mit William verbracht hatte, als sie selbst. Das war eine Gelegenheit, die sie nicht verstreichen lassen konnte.

Außerdem war sie einsam, auch wenn sie das ihrer Familie gegenüber nie zugeben würde.

Vor allem nachts.

Eigentlich war das früher schon so gewesen, aber da hatte sie wenigstens gewusst, dass sie das Haus irgendwann einmal gemeinsam mit William bewohnen würde. Dass er dann jeden Abend mit am Esstisch sitzen würde.

Lisa stellte ihren Kaffee mit zitternder Hand ab und beschloss, entgegen ihres ursprünglichen Vorsatzes, den beiden doch noch zu folgen. Nicht, weil sie Alex nicht traute. Sie wollte einfach sichergehen, dass es Lilly nicht zu viel wurde. Oder Alex.

Außerdem war sie im Moment Lillys Chefübersetzerin. Und darüber hinaus war sie neugierig darauf, wie das ungleiche Paar am Fluss miteinander zurechtkam.

2. KAPITEL

„War Lilly schon immer so still?“

Alex warf Lisa einen Blick zu, während sie zum Haus zurückgingen.

Sie waren am Fluss auf und ab spaziert, Alex hatte einen Stock ins Wasser geworfen, Lilly hatte in die Hände geklatscht und ihn Boston wieder entrissen, kaum hatte er ihn zurückgeholt.

Nicht, dass er Lilly viele Fragen gestellt hätte, als sie alleine gewesen waren – er wusste gar nicht, worüber er mit einem Kind reden sollte – doch für ein kleines Mädchen wirkte sie außergewöhnlich still.

„Seit Williams Tod ist sie praktisch stumm – jedem gegenüber, außer mir.“

Alex nickte. „Wie alt ist sie?“

„Sechs.“

Ihn hatte zwar interessiert, ob das kleine Mädchen in der Lage war, zu sprechen, aber wirklich darüber reden wollte er nicht.

Er wusste, was es hieß, eine schwere Kindheit zu haben und wollte das Thema nicht weiter antasten. Auch dann nicht, wenn es dabei um die Kindheit einer anderen Person ging. Mit seinem Eintritt in die Army hatte er versucht, all diese Erinnerungen und Gedanken hinter sich zu lassen.

„Heute hat sie allerdings einen guten Tag. Ich dachte erst, dass sie in Ihrer Gegenwart sehr schüchtern sein würde, aber das war überhaupt nicht der Fall“, sagte Lisa.

Alex gefiel, dass das Mädchen keine Angst vor ihm hatte, dennoch wollte er sich nicht zu sehr mit ihr anfreunden. Genaugenommen wollte er zu niemandem eine engere Beziehung aufbauen. Nicht einmal zu dem Hund.

„Boston hat ihr gegenüber einen ziemlichen Beschützerinstinkt“, meinte er.

Das brachte Lisa zum Lachen.

Am liebsten wäre er zurückgewichen. All das kam ihm viel zu real, zu normal vor. Dass er hier stand und einfach so mitredete, nachdem er sich lange Zeit den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie er seinen Besuch bei ihr verkraften würde. Sie jetzt auf diese Weise lachen zu hören …

„Dieser Hund ist ihr bester Freund. Ich weiß nicht, was wir ohne ihn getan hätten. Er ist Gold wert.“

Sie gingen weiter. Alex wusste schon wieder nicht, was er sagen sollte. Einerseits wollte er ins Auto steigen und wegfahren – irgendwohin, ganz schnell, einfach nur weg.

Andererseits – doch das konnte er sich kaum eingestehen – wollte er bleiben und für wenige Stunden Teil dieser kleinen Familie sein. Er wollte verstehen, was William geopfert hatte, um sein Leben zu retten.

„Komm schon, Lil, lass uns wieder ins Haus gehen.“

Lilly folgte dem Ruf ihrer Mutter und rannte herbei, doch Alex spürte, dass ihr Schweigen nicht normal war. Er hatte nicht viel Erfahrung mit Kindern, doch er wusste, dass sie eigentlich kreischen müsste, wenn der Hund sie mit Wasser vollspritzte. Oder ihrer Mutter antworten, wenn diese nach ihr rief.

Stattdessen lächelte sie nur stumm. Nicht wirklich betrübt oder trauernd. Aber wahrscheinlich war das ihre ganz eigene Art zu trauern.

Alex wusste leider zu gut, was sie durchmachte.

Die Army war seit Jahren seine einzige Familie gewesen. Die Quelle all seiner Freundschaften. Der Ort, der sein Zuhause war und an dem er Trost finden konnte.

Somit wusste er ganz genau, wie einsam sich ein Mensch fühlen konnte.

Lisa durchstöberte den Kühlschrank auf der Suche nach den richtigen Zutaten. Heute würden sie früh zu Abend essen. Die einzige Möglichkeit, Alex von seiner Rolle als Lillys Spielgefährte zu erlösen, hatte darin bestanden, beide zum Abendessen ins Haus zu rufen. Jetzt musste sie nur schnell etwas auftreiben.

Wenn William aus dem Einsatz zurückgekehrt war, hatte er immer einen regelrechten Heißhunger auf ihre Hausmannskost mitgebracht. Worum es sich dabei genau gehandelt hatte, war ihm dabei oft sogar egal gewesen, solange es nur selbst gekocht war. Eben genau das, worauf er in der Wüste verzichten musste.

„Wie lange waren Sie dieses Mal unterwegs, Alex?“, fragte sie ihn.

Er saß jetzt wieder auf dem Barhocker und blätterte beiläufig in einem ihrer älteren Kochbücher. Jetzt blickte er auf und sie entdeckte ein hartes Blitzen in seinen Augen. Und einen Blick, der sagte: Lass uns bitte nicht über den Krieg reden.

„Monate. Irgendwann habe ich nicht mehr mitgezählt“, meinte er schließlich.

Das nahm sie ihm keine Sekunde lang ab. Ihr Ehemann hatte stets ganz genau gewusst, wie viele Tage er weg gewesen war. Wahrscheinlich hätte er sogar die genaue Anzahl der Stunden zusammenbekommen, wenn er den Kopf dafür freigehabt hätte.

„Sind Sie schon länger zurück oder gerade erst aus dem Flugzeug gestiegen?“

Da war schon wieder dieser Blick. „Etwa vor einer Woche.“

Es war, als hätte sich ein Vorhang vor seinen Augen und seinem Gesicht zugezogen, kaum hatte sie angefangen, über die Army zu sprechen.

„Nun, dann steht Ihnen bestimmt der Sinn nach leckerer Hausmannskost.“

Er nickte höflich.

Lisa wollte mehr wissen. Zum Beispiel, warum er nicht mit seiner eigenen Familie zu Hause beim Essen saß. Warum war er so kurz nach seiner Rückkehr zu ihr gefahren?

Außerdem fragte sie sich, wie er und William miteinander klargekommen waren. Sie waren so verschieden. Alex war ruhig und beherrscht – aber vielleicht war das auch nur das Resultat ihrer Fragerei. Ihr Mann war jedenfalls immer sehr offen und gesprächig gewesen. Geradeheraus.

Von all den Geschichten, die er ihr erzählt hatte, wusste sie jedoch, dass im Krieg alles anders war. Dass Männer, die sich normalerweise nie angefreundet hätten, einander so vertraut wurden wie Brüder. Lisa hoffte, dass es bei Alex und ihm genauso gewesen war.

Sie begann zu schälen. Zuerst die Kartoffeln, danach die Karotten.

„Ich denke, ein Hühnchenauflauf würde Ihnen guttun.“

Er lächelte. Halbherzig nur, aber offener als zuvor.

„Möchten Sie mir helfen?“

Er nickte. „Klar.“

„Sie könnten die Kartoffeln in Streifen schneiden. Messer sind da in der Schublade. Und dann werfen Sie sie zum Kochen in den Topf.“

Alex stand auf und ging zu ihr.

Sie hätte das schon früher vorschlagen sollen. Es war das Beste, ihn zu beschäftigen, ohne ihn dabei einem Verhör zu unterziehen. Vielleicht würde ihm das helfen, sich zu entspannen. Und vielleicht würde er irgendwann von sich aus von William erzählen.

Lisa servierte den Auflauf. Die Kartoffelkruste war leicht gebräunt, und als sie das Essen gekonnt auf drei Teller verteilte, tropfte die Soße bereits über den Rand des Löffels.

„Lilly, iss doch am besten im Fernsehzimmer. Du kannst dir dabei eine DVD ansehen.“

Ihre Tochter nickte eifrig. Lisa erlaubte ihr fast nie, beim Essen vom Tisch aufzustehen. Heute war ihr jedoch sehr daran gelegen, mit ihrem Gast ganz offen reden zu können.

Lisa gab Lilly die kleinere Portion und stellte die anderen beiden auf den Tisch.

„Ich kann Ihnen wirklich nicht genug danken, Alex. Dafür, dass Sie hierhergekommen sind.“

Schnell ließ er einen Bissen in seinem Mund verschwinden. Wahrscheinlich, damit er nicht antworten musste.

„Bei mir sind schon so einige Soldaten vorbeigekommen. Seit einigen Monaten allerdings nicht mehr. Gelegentlich bekomme ich noch einen Anruf, aber keine Besuche mehr.“ Sie hielt inne, wartete jedoch weiter vergeblich auf eine Antwort. „William hat nur selten die Namen seiner Kameraden erwähnt. Nun ja, er hat sie immer nur beim Nachnamen genannt. Die konnte ich mir nicht so gut merken.“

„Tja, so läuft das bei der Army“, murmelte er.

Lisa nahm selbst einen Bissen und gab ihm damit etwas Zeit, in Ruhe weiterzuessen.

„Als Sie zusammen gedient haben … Haben Sie sich da … äh … gut verstanden?“

Er presste die Lippen zusammen. Sein Blick war ernst und sein ganzer Körper angespannt. Wahrscheinlich hatte sie ihn zu sehr bedrängt.

„Ma’am, ich …“ Er hielt inne und holte tief Luft. „Ich will eigentlich nicht über das, was dort passiert ist, sprechen.“

Lisa war peinlich berührt. Sie hätte es wissen müssen, aber sie spürte, dass ihnen nur wenige gemeinsame Stunden blieben. Und diese Zeit wollte sie nutzen, um ihre Neugier zu stillen und so viel wie möglich herauszufinden.

„Es tut mir leid, Alex. Sie sind aus purer Freundlichkeit zu mir gekommen und ich frage sie aus.“

Er legte seine Gabel beiseite. „Ich will nicht unhöflich sein. Es ist nur …“

„Ich verstehe schon. Es ist nur so, dass mein Mann selten ein Blatt vor den Mund nahm. Er wollte sich immer alles von der Seele reden“, erklärte sie.

Beide aßen weiter, doch die Spannung zwischen ihnen war fast greifbar.

Er wusste, dass sie ihn zum Reden bringen wollte, doch das war nicht seine Art. Was sollte er auch sagen?

Ja, William und ich sind gut miteinander klargekommen? Bevor er sich in eine Kugel geworfen hat, die für mich bestimmt war? Dass er gestorben ist, um mein Leben zu retten?

Das Essen war toll und er wusste es auch zu schätzen. Doch sie behandelte ihn, als sei er der Gute. Was würde sie sagen, wenn sie erfuhr, was damals wirklich passiert war? Wenn sich die Ereignisse wie ein Film vor ihrem inneren Auge abspielten und sie sah, wie William sich in den Kugelhagel warf, um ihn zu schützen?

Er zwang sich, noch mehr zu essen, nur um die Erinnerung zurückzudrängen.

„Wo ist Ihr Zuhause, Alex? Wo lebt Ihre Familie?“, wollte sie wissen.

Ein Schauer lief Alex über den Rücken und er biss die Zähne zusammen. Über die Gründe, weshalb er kein Zuhause hatte, wollte er nicht sprechen. „Ich habe zurzeit keine Bleibe“, presste er schließlich heraus.

„Und Ihre Familie? Bestimmt freuen sie sich über Ihre Rückkehr.“

Er schüttelte den Kopf.

Lisa blickte ihn fragend an, doch zu seiner Erleichterung wiederholte sie die Frage nicht. Alex wollte nicht unhöflich sein, aber es gab Dinge, über die er einfach nicht sprechen konnte.

Sie musste nicht wissen, dass er ein Waisenkind war. Er wollte kein Mitleid. Besser, sie erfuhr es nie.

„Nun, ich bin jedenfalls froh, dass Sie uns beim Essen Gesellschaft geleistet haben“, sagte sie nach längerem Schweigen.

„Ich habe William versprochen, dass ich zu Ihnen komme. Und das tat ich gleich nach meiner Entlassung.“

Sie nickte. „Ich weiß das wirklich zu schätzen.“

„Das Essen war übrigens ausgezeichnet.“

Dieses Geplänkel kam ihm nicht leicht über die Lippen. Lässiger Small Talk war nicht gerade sein Spezialgebiet, aber er wollte das Thema Familie umgehen, für das sie sich sehr zu interessieren schien. Zwar wusste er ihr Interesse zu schätzen, doch manche Türen blieben besser verschlossen.

„Ich sehe mal nach Lilly. Bedienen Sie sich einfach“, schlug sie vor.

Lisa zog Lillys Zimmertür fast vollständig zu, sodass nur noch ein dünner Lichtstreifen ins Zimmer fiel, dann winkte sie ihr noch einmal.

Sie hatte ihr eine Geschichte vorgelesen, ihr einen Gutenachtkuss gegeben und dann das Licht ausgemacht.

Jetzt hörte sie Alex in der Küche rumoren. Er war vielleicht jahrelang in der Army gewesen und so schweigsam wie eine Maus, aber seine Manieren waren hervorragend. Noch bevor sie Lilly ins Bett gebracht hatte, hatte er den Tisch abgeräumt und mit dem Abwasch begonnen.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagte sie, als ihr Blick in die Küche fiel. Die Ablage war blank geputzt und die Spüle leergeräumt. Er hatte sogar die Essensreste an den Hund verfüttert.

„Das ist doch das Mindeste“, sagte er achselzuckend.

Da war sie sich nicht so sicher. Er war von Gott-weiß-wo gekommen, mit Dingen im Gepäck, die überaus wichtig für sie waren, er hatte eine Sechsjährige aufgeheitert, die wegen eines tiefsitzenden Traumas in Behandlung war. Lilly war so glücklich, geradezu überschäumend gewesen, als Lisa vorhin an ihr Bett getreten war.

„Alex, bitte bleiben Sie heute Nacht hier. Um ein Zimmer in der Stadt zu finden, ist es bereits zu spät.“

„Das weiß ich zu schätzen, aber Sie haben doch schon für mich gekocht und …“

„Reden Sie keinen Unsinn …“