Susanne Kaiser

Politische Männlichkeit

Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen

Suhrkamp

Einleitung

Einige Bilder aus der Zeit der Covid-19-Pandemie werden noch lange im kollektiven Gedächtnis bleiben: Aufnahmen von menschenleeren Stadtzentren, erschöpften Ärztinnen und Ärzten in überfüllten norditalienischen Krankenhäusern, von Drive-in-Testzentren in Südkorea oder Obdachlosen in Las Vegas, die auf einem Parkplatz in weißumrandeten Kästchen im Freien schlafen müssen, während die Bettenburgen in der Zocker-Metropole coronabedingt leerstehen. Eines dieser Bilder stammt aus dem Juli 2020, vom EU-Marathon-Gipfel in Brüssel. Es zeigt Angela Merkel und Bulgariens Ministerpräsident Bojko Borissow. Die deutsche Regierungschefin trägt ihren Mund-Nasen-Schutz – wie von Experten empfohlen – über den Mund und die Nase. Ihr männlicher Amtskollege hingegen übt sich in Lässigkeit: Er hat lediglich seinen Mund bedeckt, seine Nase liegt frei – »oben ohne« für Männer eben. Mit ausgestrecktem Zeigefinger weist Merkel Ministerpräsident Borissow zurecht.

Die »Nasen-Deppen«, überwiegend Männer, die auf dem schmalen Grat zwischen Lässigkeit und Fahrlässigkeit irrlichtern, sind zu einem entmutigenden Symbol der Coronazeit geworden.1 Aber auf dem Foto ist mehr zu sehen als Leichtsinn im Angesicht einer Pandemie: Es zeigt auch ein neues weibliches Selbstbewusstsein auf der politischen Bühne. Und damit ist Angela Merkel nicht allein. Zu Beginn der Coronazeit ging eine Montage von sieben Gesichtern um die Welt. Sie gehörten den Staats- und Regierungsoberhäuptern, die ihre Länder am besten durch die Krise manövrierten und am souveränsten Führung demonstrierten. Es sind ausnahmslos weibliche Gesichter: die Porträts der Staats- und Regierungschefinnen von Deutschland, Taiwan, Neuseeland, Island, Finnland, Norwegen und Dänemark. Diese Frauen managten die Krise mit harten Maßnahmen, aber auch mit originellen Methoden. So veranstaltete etwa die norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg übers Fernsehen eine Pressekonferenz nur für Kinder, beantwortete geduldig deren Fragen und versicherte, es sei völlig in Ordnung, Angst zu haben. Bundeskanzlerin Angela Merkel wandte sich schon früh an ihre Mitbürger und erklärte so ruhig und klar wie schonungslos ehrlich, dass sich bis zu siebzig Prozent der Bevölkerung infizieren könnten und die Lage dementsprechend ernst sei und ernst genommen werden sollte. Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin nutzte die sozialen Medien und den Einfluss von Influencerinnen auf junge Leute, um wichtige Informationen in alle Teile der Gesellschaft hinein zu verbreiten und im Kampf gegen das Coronavirus niemanden zurückzulassen.

Es sind die Gesichter einer neuen Politik, deren Bilder weltweit geteilt wurden, weil sie eine neue Form weiblicher Autorität repräsentieren. Dass der politische Stil der Politikerinnen anders ist als der ihrer männlichen Kollegen, wurde besonders in der Krisenzeit von der medialen Öffentlichkeit bemerkt und diskutiert. Magazine, Zeitungen und Nachrichtensender wie die New York Times, der Guardian, Forbes, CNN, aber auch nichtwestliche Medien wie das indische Journal Yourstory lobten den »neuen weiblichen Führungsstil« als vielversprechend und zukunftsweisend »in einer Ära der neuen globalen Bedrohungen«.2 Frauen »sind die besseren Führungspersönlichkeiten, wie die Pandemie beweist«, so ihr Urteil.3

Sehr kritisch hingegen wurde der männliche Führungsstil gesehen, dargestellt als politisches Gebaren »starker Männer« wie Trump, Bolsonaro, Putin oder Netanjahu. Sie nutzten die globale Krise, um ihre autoritäre Herrschaft noch schneller auszubauen, statt im Interesse der Gemeinschaft zu handeln. Männliche Herrschaft wurde im globalen Diskurs mehr und mehr zur Negativfolie für weibliche Autorität: Im Gegensatz zu den weiblichen Lenkerinnen reagierten die autoritären Staatschefs mit trotzigem Leugnen auf die Pandemie, schoben die Schuld und die Verantwortung anderen in die Schuhe, instrumentalisierten Justiz und Sicherheitsbehörden, prangerten kritische Berichterstattung an und schränkten die Pressefreiheit ein. Sogar die Unternehmensberatung McKinsey konstatierte in einem Paper, der alte Führungsstil sei in der Krise. In den neuen Zeiten brauche es Eigenschaften wie Teamfähigkeit, Bedacht und Empathie, um neue globale Herausforderungen wie die Pandemie zu bewältigen.4

Dieser Aufstieg der Frauen ist eine globale Entwicklung, und er wird global bemerkt und anerkannt. Auch die Erfolgsgeschichten von Staats- und Regierungschefinnen nichtwestlicher Länder – Singapur, Nepal, Äthiopien, Bangladesch, Namibia und Georgien – im Kampf gegen die Pandemie fanden Beachtung.5 Das blieb nicht ohne Folgen. Während tonangebende Medien weibliche Herrschaft priesen, kam ein weiterer Diskurs auf, ein Gegendiskurs: In der Halböffentlichkeit der sozialen Medien, der Kommentarspalten und der Internetforen brach sich der Frust über die neue weibliche Macht Bahn. Als der britische Schriftsteller Matt Haig das Bild der sieben Staatschefinnen bei Instagram mit dem Hinweis »Zeit, dass Frauen endlich die Welt regieren« postete, fanden sich darunter schnell Kommentare wie: »Incel tsunami incoming«.6 »Incels« sind unfreiwillig enthaltsam lebende Männer, die einer radikalen misogynen Weltanschauung anhängen und ihren Frauenhass in der sogenannten »Mannosphäre« organisieren, also im männlich dominierten Internet. Der Begriff ist zusammengesetzt aus den Wörtern »involuntary« und »celibate«. Mit seinem Verweis auf einen heraufziehenden Tsunami der Incels nahm der Kommentator vorweg, was inzwischen regelmäßig passiert, wenn es um Frauen geht, die sich in öffentlichen Bereichen bewähren, die von vielen immer noch als Männerdomänen angesehen werden: Es wird gemobbt, beleidigt, gedroht, gehasst und manchmal auch gehandelt, wie die Anschläge auf Frauen in den letzten Jahren zeigen.

Nicht nur Politikerinnen werden zum Ziel verbaler und bisweilen handfester Attacken, sondern alle Frauen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen und für sich beanspruchen, in »männlichen Gebieten« – auch in vermeintlich unverfänglichen – erfolgreich zu sein, wie zum Beispiel Fußballkommentatorinnen oder Frauen in »männlichen« Filmrollen. Bei der Fußballweltmeisterschaft 2018 folgte auf jedes Spiel, das von einer Frau kommentiert wurde, ein hasserfüllter Shitstorm in den sozialen Medien, der die Kommentatorinnen aufgrund ihres Geschlechts herabwürdigte.7 Und so lächerlich es klingen mag: Sehr viele Männer halten die Männlichkeit der Ghostbusters für unantastbar. Als 2016 der Trailer zu einer weiblichen Version erschien, wurde er auf YouTube in den Kommentaren als dumm und unwürdig verrissen – nicht etwa wegen der trashigen Geistergeschichte, sondern weil Frauen die Hauptrollen spielten. Über 46 Millionen Mal wurde der Clip aufgerufen, über eine Million Mal »disliked« und 260 ‌000 Mal größtenteils verächtlich oder sogar offen misogyn kommentiert.8 Zum Vergleich: Der Trailer zu einem der erfolgreichsten Filme überhaupt, Star Wars: Der Aufstieg Skywalkers aus dem Jahr 2019, wurde seltener, nämlich 44 Millionen Mal angeklickt, erntete nur 114000 Dislikes und knapp 90 ‌000 Kommentare, die nicht diskriminierend sind.9

Der Gegendiskurs findet nicht nur in obskuren Foren im Darknet statt, sondern mitten in der Öffentlichkeit, innerhalb des liberalen progressiven Diskurses, als direkte Reaktion auf diesen. Es ist kein Zufall, dass Beiträge von und mit Frauen auf die beschriebene Weise behandelt werden, sondern vielmehr das gut organisierte Werk misogyner Trolle und Hater. Wenn man sich systematisch mit den Kommentarspalten zu Beiträgen von Frauen beschäftigt, und zwar in Mainstreammedien, wird das offenbar. Egal, um welches Thema es geht, sobald Begriffe wie »Feminismus« oder »Patriarchat« in der Überschrift, in den einleitenden Sätzen oder im Text auftauchen, passiert Folgendes: Die Kommentarspalte wird mit polemischen Aussagen überschwemmt, seitenweise müssen diese von der Moderation gelöscht werden, weil die Inhalte unangemessen, beleidigend, angreifend oder hetzerisch sind. Die Kommentare, die am Ende stehen bleiben, geben kaum noch eine inhaltliche Debatte wieder, sondern beziehen sich nur noch auf das Diskussionsgeschehen, indem sie beispielsweise Verwunderung über die vielen Hasskommentare zum Ausdruck bringen. Die Troll-Aktionen haben damit ihren Zweck erfüllt und jede Diskussion über weibliche Macht oder Errungenschaften, jede Kritik an patriarchalen Strukturen abgewürgt. Selbst völlig banale Artikel sind davon betroffen, wie das Beispiel über eine »Wanderung durch das Patriarchat« zeigt, in dem eine Autorin im Sommer 2020 über eine mehrtägige Fußreise als Frau alleine durch den Odenwald berichtet.10 Der Text kommt feministisch unspektakulär daher und provoziert kaum. Dennoch musste Zeit Online einen großen Teil der Kommentare löschen.

Auch im Alltag lässt sich der Gegendiskurs beobachten, während des Coronalockdowns zum Beispiel im »Renegatentum« der »renitenten Männer auf der Straße«, wie das Philosophie Magazin feststellte: Sie verweigerten Ausgangssperren und Masken, weil sie dadurch ihre Männlichkeit und ihre moralische Identität in Gefahr sahen, und bekannten sich öffentlich zum Regelbruch, indem sie beispielsweise darüber twitterten.11 Eine Studie über die Gender-Dimension der Mund-Nase-Bedeckung gegen die Verbreitung von Covid-19 hat ergeben, dass Männer während der Pandemie seltener eine Maske trugen, weil sie dies als »beschämend«, »ein Zeichen der Schwäche« oder »uncool« empfanden.12

Der reaktionäre Gegendiskurs entsteht aus einer Spannung heraus. Die realen sozialen Verhältnisse und Strukturen sind immer noch patriarchal, auch das zeigt Corona deutlich. Besonders, wenn es um Gleichberechtigung im Arbeitsleben und in der Familie geht. »In der Coronakrise stecken vor allem Frauen beruflich zurück. Alte Rollenmuster sind plötzlich wieder da«, sind sich Mainstreammedien einig.13 Von »Retraditionalisierung« und »einer Rolle rückwärts in die fünfziger Jahre« ist die Rede.14 Die alten Muster hegemonialer Männlichkeit wirken weiterhin fort. Gleichzeitig aber gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen heute und früher: das Medienecho. Wir als Gesellschaft prangern diese Zustände als Missstände an und verurteilen sie. Wir machen deutlich, dass es überhaupt nicht selbstverständlich ist, dass Frauen in Krisenzeiten in alte Rollen zurückgedrängt werden, sondern eine Tatsache, die wir mit Befremden und Empörung zur Kenntnis nehmen und kritisieren. Das ist der herrschende Diskurs.

Einerseits bestehen männliche Privilegien bis heute fort und sind strukturell tief in unserer Gesellschaft verankert; andererseits gerät das Patriarchat ethisch, normativ und diskursiv in Bedrängnis. Es herrscht ein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Gleichberechtigung ein erstrebenswertes Ziel ist, in der Öffentlichkeit ist diese Ansicht tonangebend. Das Gleiche zeigt sich bei der Diskussion um die vorbildlichen Staats- und Regierungschefinnen. Denn dass über sie als neue weibliche Führungselite in der Öffentlichkeit debattiert wird, lässt ja auch sichtbar werden, wie wenig selbstverständlich Frauen in politischen Spitzenpositionen noch immer sind. Tatsächlich werden lediglich 18 Länder (von mehr als 200) von Frauen regiert, in denen mit rund 550 Millionen Menschen nur 7 Prozent der Weltbevölkerung leben.15 Gleichzeitig finden aber viele, dass diese Staatslenkerinnen die Zukunft sind und bald Normalität sein sollten. Wie unter einem Brennglas lässt uns die extreme Zeit der Pandemie diese Spannung deutlicher denn je erkennen. Diese Spannung ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir seit einigen Jahren eine Schwemme herabwürdigender und oft geradezu hasserfüllter Rhetorik gegenüber Frauen erleben.

Die Polemiken gegen Gleichberechtigung in Form reaktionärer Interventionen in Männerforen, Kommentarspalten oder in sozialen Medien sind nur ein kleiner Teil einer großen Bewegung, deren Agitationen gegen Frauen und Frauenrechte in vielen gesellschaftlichen und politischen Bereichen zu beobachten sind. Dass es ein gut organisiertes Netzwerk misogyner Akteure gibt, die global agieren, werde ich an vielen Beispielen zeigen. So finden wir herabwürdigende Rhetorik in den Schriften katholischer Geistlicher, den Äußerungen radikaler Abtreibungsgegner, den verbalen Rüpeleien autoritärer Politiker. Sie kann als Reaktion auf die tiefen Erschütterungen männlichen Selbstverständnisses in den letzten Jahrzehnten und als erbitterte Verteidigung maskuliner Privilegien und männlicher Herrschaft verstanden werden, die de facto noch existieren, in unserem Wertesystem aber infrage gestellt werden. In dieser Spannung hat sich die problematisch gewordene hegemoniale Männlichkeit politisiert, wie ich in diesem Buch zeigen will.

»Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken«, forderte Björn Höcke von der Alternative für Deutschland (AfD) in einer Rede in Erfurt am 18. November 2015. »Denn nur, wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur, wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft.« Höckes Seufzer des bedrängten Mannes ist kein Einzelfall, sondern Symptom einer politischen Auseinandersetzung, die auf dem Feld der Geschlechterverhältnisse ausgetragen wird. Mit Männlichkeit kann mobilisiert und Politik gemacht werden, Forderungen nach einer Restauration »echter Männlichkeit« und des Patriarchats fallen auf fruchtbaren Boden, von Maskenverweigerern bis Incels. Maskulinisten, Rechtspopulistinnen und Abtreibungsgegner versammeln sich unter dem Banner männlicher Vorherrschaft, um gegen die »Gender-Ideologie« mobilzumachen. Dabei zeigt sich ein immer wiederkehrendes Motiv, das im Denken vieler Protagonisten politisierter Männlichkeit eine zentrale Rolle spielt: In den Beziehungen zwischen den Geschlechtern herrsche eine natürliche Ordnung, eine natürliche Hierarchie, in der der Mann der Frau übergeordnet sei – wenn da nicht die sozialen Experimente linker, grüner und Gender-Aktivisten wären. Die moderne Vorstellung von Gleichheit – sei es vor dem Gesetz oder in ökonomischer Hinsicht – breche mit dieser natürlichen Ordnung.

Seinen Niederschlag findet dieser neu aufkommende Männlichkeitsdiskurs im Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und starker Männer wie Donald Trump oder Jair Bolsonaro. Wie ein roter Faden zieht sich frauenfeindliche Agitation durch die Aussagen und Programme populistischer und autoritärer Parteien und Politiker. Kaum etwas eint die autoritären Bestrebungen jüngeren Datums so sehr wie der Kampf gegen den »Gender-Wahn«, gegen die als Herabsetzung empfundene Relativierung männlicher Macht. Der neue Männlichkeitsdiskurs ist eng verknüpft mit den politischen Erschütterungen der letzten Jahre.

Die Spannung, die zwischen den realen und den idealen Geschlechterverhältnissen besteht, hat etwas hervorgebracht, das der Soziologe und Männlichkeitsforscher Michael Kimmel als »gekränkten Anspruch« bezeichnet hat. Männer mit einem misogynen Weltbild, so Kimmel, glauben, sie hätten Anspruch auf eine Frau und auf eine ihnen angestammte männliche, das heißt herrschende Rolle innerhalb von Familie und Gesellschaft. Diesen vermeintlichen Anspruch leiten sie aus »der Tradition« her – ob sie sich auf eine tatsächliche oder bloß eine imaginierte Tradition beziehen, ist dabei irrelevant. Wird diese Erwartung nicht erfüllt, fühlen sie sich gedemütigt: Die Frauen würden sie links liegen lassen, hätten kein Interesse an ihnen.

Politiker wie Trump, Bolsonaro oder auch Höcke haben aus ebendiesem gekränkten Anspruch ein politisches Programm der männlichen Souveränität geformt. Sie machen sich den Frust, die Enttäuschung und die Wut jener zunutze, die überzeugt sind, im Stich gelassen worden zu sein, und locken sie mit dem Versprechen, die ihnen zustehenden Privilegien wiederherzustellen. Nicht umsonst ist die Restauration das Mittel der Wahl rechtspopulistischer Politiker: »Make Männlichkeit great again.«

Dass damit Wahlen gewonnen werden, zeigt das Beispiel Polen. In den Umfragen vor der Präsidentschaftswahl im Juni 2020 stand es schlecht um die Wiederwahl Andrzej Dudas. Mit seiner nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, kurz PiS) hatte er fünf Jahre lang beinahe widerstandslos durchregiert und den demokratischen Rechtsstaat immer weiter in Richtung eines autoritären Systems umgebaut. Zum ersten Mal wurde dieses Vorgehen jetzt bei der Wahl im Sommer 2020 infrage gestellt und die Spaltung der polnischen Gesellschaft deutlich sichtbar, und zwar durch einen Gegenkandidaten für das Präsidentenamt, der in jeder Hinsicht als das Gegenteil von Duda gelten konnte. Der Herausforderer Rafał Trzaskowski, der Bürgermeister der Metropole Warschau, stand für eine weltoffene, liberale und europafreundliche Politik. Weil Prognosen und Umfragen einen knappen Wahlausgang vorhergesagt hatten, bediente sich Duda im letzten Moment eines Mittels, das schon vorher in Polen und in anderen Teilen der Welt bei Wahlen geholfen hatte: Er mobilisierte gegen die LGBTQ-Bewegung. Zwei Wochen vor der Abstimmung bezeichnete Duda diese bei einem Wahlkampfauftritt in Schlesien als »Neobolschewismus« und als »Ideologie«, die »destruktiver ist als der Kommunismus« und »Kinder sexualisiert«.16 Außerdem stattete Duda nur vier Tage vor der Wahl dem US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump einen Besuch im Weißen Haus ab, höchst ungewöhnlich für einen Präsidenten, sein Land so kurz vor dem Urnengang zu verlassen. Der polnische Präsident setzte damit den Rahmen, in dem sich die Wahl abspielen sollte: Er führte seinen Landsleuten einmal mehr vor Augen, was in Polen auf dem Spiel stünde – die »traditionellen polnischen Werte«, die »traditionelle Familie«, der Nationalstaat – und dass die Entscheidung über seine Zukunft auch eine richtungsweisende Entscheidung über die Zukunft Polens sei. Wie die USA befinde sich Polen in einem erbitterten »Kulturkampf«, so die Botschaft.

Die Stichwahl zwischen dem amtierenden Präsidenten und dem Herausforderer Trzaskowski ging denkbar knapp aus, doch am Ende ging Dudas Kalkül auf: Mit 51 zu 49 Prozent wurde er wiedergewählt. Das Beispiel Polen hat gezeigt, dass Politiker durch die Polemisierung gegen Minderheitenrechte und die Politisierung von Männlichkeit eine gesellschaftliche Spaltung vertiefen und sich so Stimmen verschaffen können. Polen, so steht zu befürchten, könnte dabei nur das jüngste Beispiel dieser Entwicklung sein.

I
Organisierte Misogynie

1. Die Incel-Bewegung

Als Stephan Balliet an Jom Kippur aufbricht, um in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anzurichten, weiß er noch nicht, dass er den »Highscore« an diesem Tag nicht knacken wird. Er wird nicht »so viele Juden oder wenigstens Muslime wie möglich« umbringen, im Ranking »First Person Shooter/Single Player« des Portals »Encyclopedia Dramatica« wird er nicht zu seinen Idolen Anders Behring Breivik auf Platz eins oder Brenton Tarrant auf Platz vier herankommen. Breivik hatte 2011 bei einem Bombenanschlag in Oslo und mit Schusswaffen in einem Zeltlager auf der Ferieninsel Utøya ein Massaker mit insgesamt 77 Toten verübt, die meisten von ihnen Jugendliche. Tarrant hatte 2019 bei seinem Terroranschlag auf zwei Moscheen in Christchurch 51 Musliminnen und Muslime umgebracht. Stephan Balliet wird kein gefeierter Star der globalen Amokläuferszene werden, wie er es sich wohl erhofft hatte, denn er tötet bloß zwei Menschen. Für Platz 50 des Hassrankings hätte er 14 Todesopfer gebraucht.

Stephan B., wie ihn die Presse später nennt, wird sehr schnell klar, dass er scheitern wird: »Ich bin ein complete loser«, sagt er in sächsischem Englisch in die Kamera, die seinen Terror-Livestream sendet. Die »guys« im Internet beeindruckt er nicht sonderlich, bloß fünf schauen ihm während der Tat zu. Ein bisschen zirkuliert der Stream anschließend in den Hassforen der Szene, und Balliet erntet Punkte für seinen Score, weil der Livestream funktioniert.17 Punktabzug hingegen gibt es für alles, was schiefläuft, und das ist eine ganze Menge: Die Tür der Synagoge lässt sich nicht öffnen, er schießt den Reifen seines eigenen Tatfahrzeugs platt, die selbst gebauten Schusswaffen und Sprengsätze funktionieren nur selten, seine Shotgun aus dem 3-D-Drucker hat Ladehemmungen und fällt beim Nachladen auseinander.

Immerhin bekommt Balliet für den Anschlag sehr viel Aufmerksamkeit von der deutschen und internationalen Presse, die ausführlich über seinen Antisemitismus, die Gamer-Szene, Neonazi-Gruppierungen in Sachsen-Anhalt und Onlineradikalisierung berichtet. Was hingegen kaum Beachtung findet, ist ein Thema, das sich dominant durch die Geschichte von Stephan Balliet und von anderen Amokläufern vor ihm zieht: das Thema Männlichkeit. Dabei spielt Männlichkeit, vor allem die soldatische, eine ganz entscheidende Rolle bei den westlichen Amokattentätern der letzten zehn Jahre.

Schon in Stephan Balliets Eingangsstatement zu seinem Livestream ist das Thema prominent: »Hi, mein Name ist Anon und ich glaube, dass der Holocaust niemals stattgefunden hat. Der Feminismus ist der Grund für die sinkenden Geburtenraten im Westen, die das Einfallstor für Massenmigration sind. Und die Wurzel all diesen Übels ist der Jude.« Mit dem selbst gewählten Namen stellt Balliet seine Tat gleich zu Beginn in den Dienst der Internetkultur. In Foren nennen sich Verfasser, die ihre Identität nicht preisgeben wollen, einfach »Anon« als Kurzform für »anonymous«. In den Auseinandersetzungen mit Balliets Ideologie geht der mittlere Teil fast immer verloren: dass der Feminismus schuld daran sei, dass die Geburtenraten im Westen sinken, was die Ursache für Massenimmigration sei. »Ausländer« wiederum seien schuld daran, dass Männer wie er keine Frauen abbekämen, wird er bei seiner Vernehmung zwei Wochen später vor dem Haftrichter in Karlsruhe erklären. Er habe noch nie eine Freundin gehabt und sei ein unzufriedener weißer Mann. Tatsächlich wohnte er mit siebenundzwanzig Jahren noch bei seiner Mutter, in einem winzigen Zimmer, aus dem er nur selten herauskam, so berichten es die Eltern nach der Tat den Behörden.

Die krisenhafte Auseinandersetzung mit Männlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Video des Livestreams hindurch. Balliet spricht nicht mit sicherer, tiefer, sondern mit ungeduldiger, hoher Stimme. Dabei macht er sich unentwegt selbst schlecht, aus fast jedem Satz spricht Selbsthass. Noch bevor etwas nicht funktioniert, nimmt er sein Scheitern schon vorweg: »Das ist doch falsch. Meine Fresse, Mann, lad! Ach, scheiß drauf, machen wir das Nächste«, ist das Erste, was man von ihm hört, noch bevor er überhaupt die Kamera richtig platziert hat. Er wird dies dauernd wiederholen: »Klappt nicht, scheiß drauf«.

Das Selbstbild von Stephan Balliet ist das eines Versagers, der sich daran gewöhnt hat, dass die Dinge nicht so laufen, wie er es gerne hätte. Es muss sich gut anfühlen, aus dieser Lage heraus als Elitesoldat in militärischer Kleidung aufzutreten, als Kämpfer für eine geheime Organisation, die global vernetzt ist. »Nobody expects the Internet-SS«, spricht der Attentäter auf dem Weg zur Synagoge in die Kamera und kichert. Als er die Synagoge stürmen will, offenbart sich jedoch das Planungsdesaster: Alle Eingänge, die ins Innere führen, sind verschlossen. Die selbst gebauten Sprengsätze können den Holztüren nichts anhaben. In rechtsradikalen Kreisen wird er dafür viel Häme ernten. Balliet läuft planlos hin und her, scheint nicht weiterzuwissen. Das ist die Situation, in der unvermittelt eine Frau die Straße entlangläuft, stämmig, kurzhaarig, mit selbstbewusstem Schritt: »Muss das sein, wenn ich hier langgehe – Mann ey!«, schnauzt sie ihn schroff an, als würde es sich bei Balliets Anschlag um einen müßigen Karnevalsscherz handeln. Der Attentäter scheint nicht zu wissen, wie er reagieren soll. Bis er sich wieder gefangen und die Shotgun in Anschlag gebracht hat, ist sie an ihm vorüber. Deshalb schießt er ihr in den Rücken. Sie geht sofort zu Boden. Ohne ihr weiter Beachtung zu schenken, kehrt Balliet wortlos zurück zur Tür, doch sie lässt sich immer noch nicht öffnen. Verärgert läuft Balliet zurück zu der Frau, die bäuchlings auf dem Boden liegt, und feuert ihr eine Salve in den Rücken. Sein einziger Triumph ist dieser Moment. »Das Schwein«, beschimpft er die Tote. Diese Sekunden sind eine Schlüsselszene im Tatvideo. Denn der Mord an der Frau hat eine sichtbare Ermächtigung von Stephan Balliet zur Folge, zumindest vorübergehend, die einzige im gesamten Stream. »Töten ist nicht kompliziert«, gibt er sich skrupellos. Kurze Zeit später wird er einen Passanten, der bei der toten Frau steht und etwas murmelt, mit fester Stimme und in autoritärem Ton ansprechen: »Wie bitte?«, als ob er sagen wollte: »Wissen Sie denn nicht, mit wem Sie es hier zu tun haben?« Doch dann hat seine Shotgun erneut Ladehemmungen, und es will ihm nicht gelingen, auch den Mann zu erschießen, der langsam und ungläubig rückwärts zurück zu seinem Wagen stolpert. Die soldatische Autorität Balliets, die er über das Töten erlangt hat, ist dahin. Vielleicht beschimpft er die Frau aus diesem Grund noch einmal mit »das Schwein«, als er in sein Auto steigt. Dann sackt er endgültig zurück in die Versagerhaltung: »Was willst du erwarten von einer Niete?«, »unfähiger Versager«, »one time loser, always a loser«, sind die Sätze, die er wie ein Mantra zu sich selbst spricht.

Diese Sätze sind wichtig, denn sie sind Ausdruck einer Haltung, die Balliet mit anderen Männern verbindet: mit den sogenannten Incels – unfreiwillig enthaltsam lebenden Männern, die einer radikalen misogynen Weltanschauung anhängen.18 Zum Incel, wie sich der Begriff bis heute entwickelt hat, wird man nicht, weil man noch nie eine Beziehung oder Sex hatte, sondern, weil man Frauen und die Gesellschaft dafür verantwortlich macht, dass es so ist. Vor allem in den USA und in Kanada, aber auch in anderen westlichen Ländern organisieren sich Männer in Internetforen, um Gewaltfantasien gegen Frauen auszutauschen und sie in manchen Fällen auch in die Tat umzusetzen. Aufgrund weiblicher Zurückweisung frustrierte Männer haben aus ihrem Frauenhass eine umfassende Ideologie geschmiedet. Sie sind weltweit vernetzt, besonders in rechtsextreme und rechtsterroristische Kreise hinein, so wie Balliet.

Die Ideologie geht so weit, dass sie Pläne zu einem »Incel-Aufstand« gegen das System beinhaltet. Mit Attentaten sollen möglichst viele Frauen und sexuell aktive Menschen getroffen werden. Anschließend übernehmen Incels die Macht und unterwerfen all diejenigen, die normale Beziehungen führen können. »Beta Male Uprising« oder »Beta-Rebellion« nennen sie ihre Idee. Was ziemlich verrückt klingt, haben tatsächlich schon mehrere Männer in die Tat umzusetzen versucht, und dabei viele Frauen umgebracht, wie etwa der »Incel-Killer« Scott Beierle, der Ende 2018 in einem Yogastudio in Florida mehrere Frauen niederschoss. Als »male supremacist« bezeichnet die amerikanische Presse ihn und seinesgleichen, wegen der ideologischen Nähe zur White-Supremacy-Bewegung und zur Alt-Right.

Tatsächlich gibt es Parallelen in den Weltanschauungen und Methoden von Incels und Rechtsextremen: Was für die einen die Beta-Rebellion durch Terrorismus mit anschließendem Systemsturz ist, ist für die anderen ein durch koordinierte Anschläge ausgelöster Rassenkrieg. Eine »Amokalypse« kündigte Brenton Tarrant, der Attentäter von Christchurch, fast ein Jahr vor seinem tatsächlichen Amoklauf bei Steam an, einer Plattform für die Gamer-Community.19 Sein Post macht deutlich, wie vernetzt die Szenen sind: Er gibt sein Vorhaben in einer Gruppe bekannt, die David Sonboly gewidmet ist, dem Rechtsextremen also, der bei einem Amokattentat im Olympia-Einkaufszentrum in München im Jahr 2016 neun Jugendliche erschossen hatte. In Einzelfällen überschneiden sich die Ideologien auch in der Weltanschauung einer Person. Stephan Balliet ist sowohl Rechtsterrorist als auch mit der Incel-Community verbunden. Der Incel-Killer Beierle war rechtsextrem. Beierle wiederum war eines der Vorbilder von Balliet. Die Reihe frauenfeindlicher Attentäter, die dem Täter von Halle als Inspiration dienten, ist lang: Neben Beierle, Tarrant und Breivik gehören dazu auch Elliot Rodger und Alek Minassian. Es gibt eine ganze Bewegung von Männern, die ihre Frauenfeindlichkeit richtiggehend organisieren, ideologisieren und kulturell aufbereiten. Sie sind vernetzt, tauschen sich aus und schaukeln sich gegenseitig hoch.

Bei solchen Anschlägen ist häufig von »Amokläufen durch Einzeltäter mit psychischen Problemen« die Rede, wie beispielsweise die Diskussion nach dem Amoklauf durch Elliot Rodger im Jahr 2014 zeigt. Rodger wurde zum Vorbild für viele weitere Attentate gegen Frauen, dennoch wurde Misogynie als Tatmotiv von vielen kleingeredet.20 Tatsächlich handelt es sich bei den Taten von Incels um eine Form der politischen Gewalt und des Terrorismus, wie ich in diesem Kapitel argumentieren werde.