Und über die Zwischengefilde wachen zwei Seraphen. Einer mit weißen Schwingen, so unschuldig wie der Morgen; der andere mit schwarzen, düster wie die Nacht. Ein jeder mit sechs Flügeln, zwei, um sich in die Lüfte zu erheben und zu richten, zwei, um ihr Antlitz vor den Menschen zu verbergen, und zwei, um ihre Füße zu bedecken, auf dass niemand ihrer Spur folge.
(Die Legende von Tirithan & Sorothez; Einleitung)
»Bist du bereit für deinen Absprung?« Ibe saß neben mir auf der Bank vor seiner Werkstatt und fasste Pergamentseiten zusammen, die er mit einer Knochennadel zu einem Skript vernähen würde. Die Sonne ging allmählich auf und warf erste Strahlen auf das von einzelnen Bäumen und niederem Buschwerk geschützte Plätzchen. Lachfältchen säumten seine gutmütigen Augen. Er legte die Seiten auf seinem Schoß zurecht und fuhr sich dann durch den ergrauten Bart. Auf seinen breiten Schultern ruhte die Verantwortung für dieses Gehöft und mehr als ein Dutzend Mündel. Er konnte die Bürde zweifelsohne tragen.
»Ich denke schon. Wisst Ihr denn, wann es so weit sein wird?« Obwohl ich von ihm großgezogen worden war, hatte sich an der respektvollen Anrede nie etwas geändert. Ibe und seine Frau Lore waren als Zieheltern auch die Oberhäupter unseres Gehöfts. Keiner würde ihnen den nötigen Respekt versagen.
»Bald. Sehr bald schon.« Er nahm die Nadel mit dem Faden zur Hand und stach durch die oberste Schicht des präparierten Pergaments. Ich liebte den Klang, wenn der grobe Faden durch das Papier glitt und die Seiten einer Geschichte miteinander verband. Einzig ihm als dem Oberhaupt des Hofes war es vorbehalten, die Legenden der Himmelsgeschöpfe niederzuschreiben, damit wir aus ihnen unsere Lehren ziehen konnten.
»Ein glanzvolles Jahr«, sinnierte er, ohne mich anzusehen. »Schon lange her, dass so viele auf einmal unter meiner Obhut gesprungen sind.«
Ich nickte. Der Absprung von der heiligen Klippe. Dieses Jahr waren es Bree, Samuel, Lijan, Fab und ich, die das Gehöft für immer verlassen würden. Zu uns fünf Anwärtern aus Silver Crevice kämen aber sicher noch einige mehr aus den weiter entfernten Siedlungen. Das Ritual fand am Ende eines jeden Sommers statt, egal wie viele Anwärter die Grenze zum Erwachsensein überschritten und sich somit ihrer Bestimmung stellen mussten. In manchen Jahren kamen ausschließlich Anwärter anderer Höfe infrage. Einmal hatte es ganze drei Jahre gedauert, bis erneut einige von uns in die Himmelsstädte aufgestiegen waren.
»Bevor ich es vergesse. Willst du mich in drei Tagen begleiten? Ich muss einen der anderen Höfe besuchen.«
»Eve Orchard?« Ich richtete mich hoffnungsvoll auf und umklammerte die Kante der Bank. Dorthin hatte Ibe mich noch nie mitgenommen. Meist begleitete Lijan ihn. Er war sein Liebling, verantwortungsvoll und ernster Natur. Bezogen auf seine körperliche Kraft wohl auch nützlicher. Ibe belud seinen Wagen oft bis zum Anschlag mit allerlei Gütern, die zum Handel oder Tausch gedacht waren.
»Nein, bedaure. Es geht nach Black Storm Grange.«
Wie schade. Den Einsiedlerhof kannte ich bereits von zwei früheren Besuchen. Dort gab es nicht viel zu sehen. Es war ein Gehöft wie unseres. Wenige Tiere, einige Menschen, ein Haufen Kinder und viel Arbeit. Kaum einer hatte Zeit zu plaudern. Die Besuche waren immer gleich verlaufen. Ibe hatte drinnen mit dem anderen Oberhaupt Rat gehalten und ich auf dem Kutschbock gewartet. Worum es in ihren Gesprächen ging, war mir bis heute nicht bekannt. Ich vermutete aber, sie sprachen über die jeweiligen Anwärter. Das einzig Reizvolle war also die Fahrt dorthin.
Kein Vergleich zu den beiden anderen Siedlungen, von denen ich bisher nur gehört hatte. Eve Orchard oder noch weiter entfernt Day Star Valley. Lijan hatte sie mehrfach mit Ibe besucht und mir davon erzählt. Sie bestanden aus mehreren Höfen, die zusammen fast ein kleines Dorfleben ergaben. Aus dem benachbarten Königreich, das seine Ausläufer bis weit hinein in dieses Niemandsland erstreckte, kam bisweilen neues Blut für die wenigen Plätze an eingeweihten Menschen. Diese lebten mit uns und dienten in unseren Siedlungen, die wie Nadeln im Heuhaufen versteckt lagen. Ich wäre nur zu gerne der Abgeschiedenheit entkommen und hätte dort neue Eindrücke gesammelt.
»Ich begleite Euch gern«, gab ich vor, um nicht undankbar zu erscheinen. Ibe drehte den Kopf in meine Richtung, kniff die Augen zusammen und schien zwischen den Zeilen zu lesen. Es war schwer, ihm etwas vorzumachen, deshalb wechselte ich schnell das Thema: »Meine morgendlichen Pflichten sind erledigt, die Tiere versorgt und den Jüngeren habe ich ihr Frühstück bereitet.«
»Du möchtest Zeit für dich erbitten?«, schlussfolgerte er und widmete sich nun wieder voller Hingabe seiner Arbeit.
»Für einen kurzen Spaziergang an der Steilküste.« Es war eine der wenigen Vergnügungen, der man hier nachgehen konnte. Engelssiedlungen lagen stets weit abseits jeglicher von Menschenhand geschaffener Orte. Silver Crevice bot daher eine eher überschaubare Auswahl an Plätzen, die zum Entspannen einluden. Der Strandabschnitt unterhalb der Klippe, der umliegende Wald und vielleicht noch der Weiher, der mitten zwischen bewachsenen Hügeln lag. Zu ihm zog es mich nicht mehr.
»Nun, wenn du deine dir übertragenen Aufgaben erfüllt hast und Lore dich nicht braucht …«
Ich musste mich ermahnen nicht aufzuspringen und blieb noch einen Moment an seiner Seite sitzen. »Ihre Erlaubnis habe ich schon eingeholt.«
»Triffst du dich mit Lijan?« Er zog erneut den Faden durch das Pergament und fertigte geschickte Knoten. Ehe ich antworten konnte, rieb er seine Wange und fuhr fort: »Mit jemandem gemeinsam in die Himmelsstadt aufzusteigen, kann dir den Antritt dort erleichtern, weißt du? Ein gemeinsames Ziel zu haben, macht euch stark und mag darüber hinwegtrösten, dass ihr andere hinter euch lasst. Seid ihr euch zugetan?«
Irritiert blinzelte ich. »Wie Geschwister es sind.« Von allen, die zu unserer Gemeinschaft zählten, verband mich vor allem mit Lijan und Fab eine enge Freundschaft. Aber das wusste er. Seit Lijan und ich dasselbe Ziel verfolgten, den Aufstieg nach Tirithan, hatte uns das nur umso mehr zusammengeschweißt. Fab hingegen hatte einen anderen Weg gewählt. Weswegen Lijan und Fab sich mittlerweile auch eher wie Rivalen aufführten. Ich verspürte jedoch die Verbundenheit zu beiden.
»Lijan ist ein guter Junge und wird sicher zu einem fähigen Anführer. An seiner Seite würde es dir gut gehen«, stellte er mir in Aussicht. Ich wusste nichts zu erwidern.
Auch wenn ich ihm recht geben musste: Seine Worte schmerzten in meiner Brust. Warum sah er künftige Anführer immer nur in den männlichen Anwärtern, warum nicht in den Mädchen? Wir waren genauso willensstark, entschlossen und fähig. Bree ebenso wie ich. Ibe schien in dieser Hinsicht jedoch vom alten Schlag, genau wie Lore, seine Gefährtin. Ich hatte sie oft darüber reden und Entscheidungen treffen hören. Männliche und weibliche Attribute, männliche und weibliche Aufgabenteilung. Ich erkannte darin nur Nachteile. Was sollte es den Jungen schaden, wenn sie den Boden schrubbten, das Obst schälten … Und was glaubten sie, uns Mädchen aufzubürden, wenn sie uns das Schmieden erlaubten oder – Gott bewahre – das Kämpfen. Glücklicherweise hatten Kinder ihre eigenen Gesetze, sodass Lijan und Fab mich alles gelehrt hatten, auf das sie selbst so stolz waren. Handwerkliches ebenso wie das Führen eines Schwertes. Sie hatten keinen Unterschied darin gesehen, ob Ibe ihnen eine Fähigkeit nahebrachte oder sie mir. Wobei Lijan und mich eher die ruhigeren Pflichten verbanden. Fab hingegen hatte mir auch die gefährlicheren Dinge zugemutet.
»Hör zu, Liz.« Ibe legte die Hände auf das Skript und hielt inne. »Jetzt, wo das Ritual naht und ihr uns verlassen werdet, möchte ich dir sagen, was ich längst nicht allen Anwärtern gegenüber eingestehen kann«, er suchte meinen Blick, um sicherzugehen, dass seine Worte mich auch erreichten. »Deine Bestimmung ist gewiss.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben und verharrte schweigend. Hatte Ibe gerade angedeutet, dass er wusste, in welche der beiden Himmelsstädte ich aufsteigen würde? Aber das durfte er meines Erachtens nicht. Auch wenn er derjenige war, der es am ehesten beurteilen konnte, die Gewissheit kam erst mit dem Absprung. Wir konnten hoffen, im Herzen eine Wahl treffen, mehr jedoch nicht.
»Ich werde den Namen nicht nennen«, sagte er wie zur Bestätigung, »aber da du Lijan zugetan bist, scheinst du dir ohnehin sicher zu sein und es bedarf meines Zuspruches nicht.«
Warum sagte er es dann? Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er meine Verbundenheit zu Lijan vorantreiben wollte. Jeder wusste zwar, dass Lijan Ibes Liebling war, aber jetzt pries er ihn mir als Gefährten an? Ich wusste nichts zu erwidern, außer: »Lijan wartet sicher schon auf mich.«
Ibe lächelte und winkte ab. »Natürlich. Geh nur. Junges Blut braucht Zeit unter seinesgleichen.« Er verlor kein weiteres Wort über den Absprung.
***
Ich überquerte den vom letzten Regen aufgeweichten Platz zwischen der Gemeinschaftshütte, den Ställen und unseren Unterkünften. Es war recht still, was daran liegen mochte, dass Lore den Kleineren aus den Schriften vorlas. Nach dem Frühstück folgte stets der Unterricht, dem ich als Anwärterin nicht mehr beizuwohnen brauchte. Danach würden weitere alltägliche Aufgaben verteilt werden. Bis dahin hatte ich aber noch ein wenig Zeit.
Ich ließ die Hütten hinter mir und lief entlang des ausgetretenen Pfades Richtung Steilküste. Es war kühl geworden. Der Sommer neigte sich merklich dem Ende zu. Die morgendlichen Sonnenstrahlen brachten nun keine Wärme mehr mit sich und der Wind eroberte sein Territorium zurück. Bald würde der Herbst die Blätter der wenigen Laubbäume wie pures Gold zwischen den immergrünen Nadelhölzern herausstechen lassen. Aber dann wären wir längst fort.
Kurz bevor ich zu den felsigen Stufen abbiegen konnte, die zum Strand hinabführten, drangen plötzlich Stimmen an mein Ohr. Irritiert verharrte ich. Kam das nicht von der heiligen Klippe? Ein mieses Gefühl beschlich mich. Entschlossen marschierte ich den schmalen Pfad hinauf und trat hinaus auf den weiten, von dichtem Grün gesäumten Platz oberhalb des Meeres.
Lijan und Fab. Dachte ich es doch.
»Seid ihr von Sinnen? Was macht ihr hier? Wenn Ibe euch erwischt!«, legte ich sofort los.
Lijan wandte sein blondes Haupt in meine Richtung und verschränkte die Arme. »Er will springen«, spottete er und wies mit dem Kinn auf Fab.
»Springen?« Ich trat näher an Lijans Seite und schaute ungläubig zu Fab, der seelenruhig am Abgrund stand. Sein Grinsen war nahezu unverschämt.
»Das habe ich keinesfalls verpassen wollen«, stichelte Lijan weiter und dann in Fabs Richtung: »Du hast schon immer viel riskiert. Dieses Mal wirst du dir das Genick brechen.«
Ich stieß Lijan mit dem Ellbogen in die Rippen. »Hör auf, du spornst ihn nur noch mehr an.« Mein Blick bat Fab, es nicht zu tun. Ihm dabei zuzusehen, wie er jetzt gefährlich nahe an der Klippe entlangspazierte, machte mich nervös. Eine heftige Böe zerrte an seinem Leinenhemd, das wild flatternd seinen Körper umspielte. Ich wusste, er war herausragend in allem, was auch nur im Entferntesten körperliches Geschick erforderte, aber dieses Wagnis war selbst für ihn zu groß. Der schroffe Sandstein bröckelte, während Fab fast spielerisch seine Bewegungen abstimmte und das Gleichgewicht hielt.
»Lass den Unsinn. Du handelst dir nur den nächsten Verweis ein. Ich glaube nicht, dass Ibe in der Hinsicht Spaß versteht«, ermahnte ich ihn, doch er schmunzelte nur und hockte sich, kurz wankend, dann wieder sicher, vor den Abgrund. Der laue Wind wirbelte sein dunkles Haar auf.
»Es kann nicht jeder so unfehlbar sein wie du, Liz.« Er fuhr sich mit der Hand durch die wilden Strähnen und schüttelte amüsiert den Kopf. »Warum sollte ich die Klippe nicht bezwingen? Innerhalb der nächsten Wochen werden wir den Absprung alle hinter uns bringen müssen. Wieso also nicht jetzt gleich?«
Lijan löste seine Arme und seufzte, als hörte er den tagträumerischen Ideen eines Kindes zu. Nur dass wir mit knapp neunzehn eben keine Kinder mehr waren. Wir überschritten gerade die Schwelle zum Erwachsensein und waren damit bereit für die Wandlung. »Es gehört schon ein bisschen mehr dazu, als sich halsbrecherisch in den Abgrund zu stürzen. Auf diese Weise wirst du deine Flügel auch nicht früher erhalten«, gab er zu bedenken.
»Wenn überhaupt!«, fauchte ich. Allmählich gingen mir dieses Gehabe auf die Nerven. »Einige von uns werden keine bekommen, das wisst ihr. Was ist, wenn du kein Seraphenblut in dir trägst? Schon mal daran gedacht?«
Fab richtete sich auf und hob störrisch das Kinn. Meine Worte schmeckten ihm nicht. Er verzog argwöhnisch den Mund. »Für mich ist es keine Frage, ob ich aufsteige oder zu welcher der beiden Himmelsstädte ich gehöre. Schwingen zu tragen ist mir vorherbestimmt. Wie bedauerlich, wenn du noch zweifelst.«
»So habe ich das nicht gemeint … Ich finde nur, du solltest nicht … nicht, ohne zu wissen …« Herrgott. Ich hatte ihn doch nicht verletzen wollen. Warum zum Teufel musste er sich auch ständig beweisen und damit unnötig in Gefahr bringen? Was hatte er davon? Keiner außer Lijan und mir wohnte der Zurschaustellung seines schier grenzenlosen Egos bei. Und Lijan war nur aus einem Grund hier. Weil er Fab scheitern sehen wollte. Plötzlich erschöpfte mich sein fortdauerndes Auflehnen. Ich hatte es satt, Fab ständig in Schutz zu nehmen. »Ach, weißt du was? Tu es! Wirst schon sehen, was du davon hast, wenn Ibe dich erwischt. Aus dem Wasser fischen wird er dich, tot oder lebendig … Aber besser du tust keinen Atemzug mehr, wenn er dich findet.«
Fab lachte. »Soll er ruhig toben. Das macht mir nichts.«
Ich lehnte mich angriffslustig vor. »Oh, er wird mehr als das.«
»Und wenn schon. Wäre nicht das erste Mal, dass er mich in den Turm sperrt, weil ich die Regeln breche.« Fab drehte sich dem Abgrund zu und ließ seinen Blick über die raue See schweifen. Die Strömungen konnten mörderisch sein, das musste er doch wissen. Ganz zu schweigen von den zerklüfteten Felsen. Nur ein Narr würde sich ohne Flügel von der Klippe stürzen.
Lijan fuhr sich mit den Händen an den Hinterkopf und vergrub die Finger in den blonden Strähnen. »Du hast schon einigen Mist veranstaltet, aber die heilige Klippe entweihen … Alle Achtung, wenn du dich traust.«
»Das ist nicht hilfreich!«, herrschte ich ihn an, doch er zuckte nur entschuldigend mit den Schultern.
»Was denn? Wenigstens wissen wir dann ganz sicher, welche Farbe seine Flügel haben werden.«
»Als ob das nicht jedem klar wäre«, konterte Fab leichthin über seine Schulter.
Wütend streckte ich die Hände von mir. »Das ist doch Irrsinn. Brich dir alle Knochen. Ist mir egal. Ich sehe mir das nicht an!«
»Dann schließ besser die Augen.« Fab blickte wieder nach vorne, breitete die Arme aus und sprang.
Erschrocken riss Lijan die Arme runter und versteinerte geradezu. Mir blieb das Herz stehen. Großer Gott, er war gesprungen.
»Scheiße!«, fluchte Lijan, spurtete zum Rand des Abgrunds, legte sich flach auf den Bauch und spähte hinunter. Ich legte die Hände an meine Stirn und wandte mich ab. Meine Lungen wollten keinen Atemzug mehr einlassen. Das war zu viel.
Bange Sekunden verstrichen.
»Ich sehe ihn nicht«, hörte ich Lijan hinter mir, »er ist sicher ins Wasser gestürzt. Auf den Felsen ist nichts zu sehen.«
Ich schnappte nach Luft, nur um gleich wieder den Atem anzuhalten und zu warten. Meine Lungen brannten. Bitte, bitte, flüsterte mein Geist unablässig, während mein Verstand das harte Branden der Wellen registrierte.
»Da! Ich glaube, das ist er … Haha! Der verfluchte Hund hat es geschafft«, jauchzte Lijan jetzt selbst wie ein Kind. »Nicht zu fassen. Das wird ihn mindestens einen Monat im Turm kosten.«
Ich nahm die Hände herunter, fuhr herum und musterte ihn verständnislos. »Du willst sein Vergehen melden, damit Ibe ihn einsperrt?« Langsam trat ich heran und wagte selbst einen Blick auf das schäumende Meer unter uns, in dem eine Gestalt quer zur Strömung auf das flachere Ufer zuschwamm.
»Natürlich werde ich das.« Lijan richtete sich auf. Seine stolzen Gesichtszüge verhärteten sich. »An einem Ort wie diesem muss es Regeln und Grenzen geben, Liz. Und wer, wenn nicht wir, sollte für die Einhaltung der Ordnung sorgen?« Er kniff die Augen zusammen und musterte mich prüfend. »Ich meine, das ist doch der Plan. Wir beide gehen nach Tirithan, in die glanzvolle Stadt.«
Ich presste die Lippen aufeinander und warf einen Blick zurück auf Fab, der sich, offenbar unversehrt, ans felsige Ufer hievte. Lijan brauchte mich nicht daran zu erinnern, dass Ordnung Tirithans oberste Grundregel war.
»Liz?« Seine Stimme klang ungeduldig. »Es ist bald Zeit für das Ritual. Ich muss das wissen!«
Eine Sekunde lang schloss ich die Augen, dann riss ich mich vom Anblick des rebellischen Klippenspringers los. Meine Finger fuhren zwischen die von Lijan. »Natürlich gehen wir nach Tirithan.« Man konnte es kaum als Plan bezeichnen. Wir fühlten uns einfach dazu berufen.
Lijan atmete spürbar auf, während ich das zwiespältige Gefühl herunterschluckte. Alles in unserem Leben war seit jeher auf diesen Absprung ausgerichtet. Wir lebten in abgelegenen Siedlungen, weit ab der Himmelsstädte, wuchsen heran, lernten die Regeln und wenn die Zeit der Wandlung gekommen war, erhielten wir, was uns zustand. Es war nichts Wertendes in der Farbe unserer Flügel, auch wenn hinter der Hand anderes geflüstert wurde. Unsere Bestimmung gab letzten Endes die Richtung vor, die einen bekamen Schwingen in strahlendem Weiß, die anderen in nächtlichem Schwarz. Jedenfalls die meisten von uns. Einige wenige waren eben doch nur elternlos und auf Umwegen, durch Eingeweihte, zu uns gelangt.
»Komm, gehen wir zurück.« Er drückte kurz meine Hand und entließ mich aus seinem Griff.
»Aber Lijan … « Ich sah zu ihm auf.
»Ich weiß, ich weiß … Du wirst Fab nicht ausliefern. Ist mir klar.« Er verdrehte die Augen. »Dann gehe ich zu Ibe.«
»Ist das wirklich nötig?«
Er runzelte die Stirn. »Dass du das überhaupt fragen musst. Einer muss ihn schließlich in die Schranken weisen. Andernfalls erlebt er seinen eigentlichen Sprung gar nicht erst.« Er küsste mich versöhnlich auf die Stirn. »Es wird seiner Bestimmung schon nicht schaden, da bin ich sicher. Er wird ohnehin ein Blackfeather, da ist ihm sein Temperament eher zuträglich.«
Ich seufzte. »Da hast du recht.« Dass Fab nach Sorothez, in die nächtliche Stadt, aufsteigen würde, war früh klar geworden. Mit verschränkten Armen hatte er am Weiher gestanden und zugesehen, wie ich um mein Leben kämpfte und beinahe ertrank. Wir waren noch Kinder gewesen, aber schon damals hatte sich sein Sinn für Rache und Vergeltung gezeigt. Welche andere Bestimmung als die eines Blackfeathers könnte in seinem Blut liegen? Dennoch …
»Lijan?« Ich schenkte ihm einen herzerweichenden Augenaufschlag, der ihn zum Schmunzeln brachte.
»Schon verstanden. Ich werde ein gutes Wort für ihn einlegen, damit die Strafe nicht zu hoch ausfällt. Ibe ist sehr zufrieden mit mir, vielleicht hört er ja auf mich.«
Ich nickte strahlend. »Und ich werde Fab im Turm mit Wasser und Essen versorgen.«
»Wie immer.«
Schmollend boxte ich ihm gegen die Schulter. »Gar nicht immer … Außerdem muss er doch essen, wenn er tagelang am Boden dieses hölzernen Ungetüms sitzt.«
Lijan lächelte und nahm behutsam mein Kinn zwischen seine Finger. »Das ist okay. Ich würde nichts anderes von dir erwarten. Du hast ihm immer beigestanden und deswegen wirst du eine Whitefeather und betrittst mit mir gemeinsam die glanzvolle Stadt.«
Verlegen streifte ich seine Hand von meinem Kinn. Es war mir immer ein wenig unangenehm, wenn er mich auf ein Podest stellte. »Sollte ich denn überhaupt weiße Schwingen erhalten.«
»Natürlich wirst du das. Du bist pflichttreu und fleißig. Und in Sachen Mitgefühl hängst du uns alle ab.«
»Es braucht mehr als das.«
»Und nicht weniger als Perfektion ist von dir zu erwarten. Wenn jemand auf das Ritual vorbereitet ist, dann du, das kann selbst Ibe nicht abstreiten, auch dann nicht – oder gerade deshalb nicht –, wenn du Fab ein weiteres Mal durch das Schlamassel begleitest, in das er sich permanent verstrickt.« Er strich sanft über meinen Oberarm. »Du wirst eine wundervolle Whitefeather. Mach dir bitte keine Sorgen.«
Sein Blick verharrte einige Sekunde auf meinen Lippen. Oder bildete ich es mir nur ein? Nein, das war albern. Lijan war wie ein großer Bruder für mich. Auch wenn wir ein gemeinsames Ziel verfolgten und der Gedanke für andere nahelag. Wir waren Freunde. Nichts weiter. Nun gut, ich musste zugeben, allein die Vorstellung, ein Junge könnte mich küssen, bescherte mir weiche Knie. Aber Lijan war es nicht, von dem ich mir dies erhoffte. Jede andere Möglichkeit endete allerdings schon beim bloßen Gedanken. Wozu etwas beginnen, das ein Ende finden musste, wenn man unterschiedliche Farben trüge. Auch wenn Ibe sich sicher wähnte. Whitefeather oder Blackfeather – fest stand es erst, wenn wir von der Klippe sprangen und sich unsere Schwingen zeigten. Dann jedoch war es unumstößlich, welche der Himmelsstädte uns aufnehmen würde.
»Ich hoffe, du hast die Fahrt nicht meinetwegen ausgeschlagen.«
Erschrocken zuckte ich zusammen und bemerkte beim Blick zur Seite ein lässig gekreuztes Paar Beine neben mir. Ich hob das Kinn.
Fab lehnte mit verschränkten Armen am Pfosten der offenen Veranda meiner Hütte und beobachtete die Jüngeren, die in einiger Entfernung herumtollten. Wilde Strähnen umrahmten sein Gesicht. »Danke übrigens.«
»Wofür?« Ich widmete mich wieder den Äpfeln in meinem Rockschoß, die ich schälte und halbierte, deren Gehäuse ich entfernte und die ich dann zurück in die Holzschale warf.
Fab hockte sich hin. »Na, dafür, dass du mich mit Essen versorgt hast.« Er stibitzte einen unversehrten Apfel direkt aus meinen Fingern.
»He! Die sind nicht für dich«, protestierte ich und funkelte ihn wütend an. »Lore will Kuchen für die Kleinen backen.«
»Ach, komm schon. Du hättest mir später sicher einen gebracht, wenn ich noch länger hätte einsitzen müssen.« Er biss genüsslich ab und grinste.
Ich schüttelte den Kopf. »Du bist unverbesserlich.«
Jetzt setzte er sich neben mich und ließ die Beine baumeln. »Klar, an mir muss nichts verbessert werden. Ich bin schon die beste Version von mir.«
Ich zog die Augenbrauen zusammen und nickte. »Ist Arroganz eigentlich ein Kriterium für Sorothez?«
»Selbstvertrauen ganz sicher«, konterte er. »Warum darf ich nicht dazu stehen, dass ich mag, wie ich bin?« Er stieß mich mit der Schulter an. »Du magst mich ja auch.« Er biss erneut ab.
»Vielleicht ist es einfach nur schwer, dich zu ignorieren.« Ich warf ihm einen unmissverständlichen Blick zu.
»Nein …«, sagte er gedehnt und blinzelte in die hochstehende Sonne. »Du magst mich, da bin ich mir sicher.«
Ich seufzte. Gegen Fabs Selbstbewusstsein konnte wohl niemand etwas ausrichten. Außerdem hatte er recht. Ich mochte ihn, vom ersten Tag an. Seine innere Stärke war beeindruckend, auch wenn sie mich manchmal den letzten Nerv kostete. Aber sie diente einer anderen Bestimmung als der, die ich mir erhoffte. Das war die Krux. Während Lijan und ich hofften, Whitefeather zu werden, war Fabs Zukunft eindeutig die eines Blackfeathers. Unsere Wege würden sich dann unweigerlich trennen.
»Ich habe einfach keine Lust gehabt, Ibe zu begleiten. Es mir überhaupt anzubieten, ist wahrscheinlich nur eine nett gemeinte Geste gewesen«, wechselte ich das Thema. »Was machst du eigentlich hier? Er hat wohl Gnade vor Recht ergehen lassen und deine Strafe verkürzt.«
»Du weißt, dass er das niemals tut.«
»Du hast nur zwei Tage im Turm gesessen, welche Erklärung gäbe es sonst? Das Entweihen der heiligen Klippe hätte dich mehr kosten müssen.«
»Du wärst mit dem Strafmaß wohl nicht zimperlich gewesen.« Sein Mundwinkel kräuselte sich amüsiert, als er mich musterte.
Ich klemmte die Schüssel unter den Arm, raffte meinen Rock und stand auf. »Keine Ahnung. Hat dich denn eine der vielen Strafen je geläutert?«
»Auch wieder wahr.« Er sprang von der Veranda und drehte sich erwartungsvoll um. Seine grünen Augen funkelten schelmisch, als flackerte dahinter bereits der nächste aufrührerische Gedanke. »Da du heute keinen Gefangenendienst schieben musst, gehen wir spazieren?«
Ich betrachtete ihn skeptisch. »Ist das nicht zu seicht für dein rebellisches Gemüt?«
Jetzt grinste er. »Vielleicht. Aber du kennst mich. Ich könnte auf dem Weg einem inneren Impuls erliegen und Kopf und Kragen riskieren.«
»Wäre nichts Neues.«
»Und wer sollte dann auf mich aufpassen …« Er streckte die Hand nach mir aus, während ich die Stufen herunterging.
»Ich könnte das übernehmen«, erklang Lijans Stimme, als er um die Ecke der Hütte bog.
Fab zog seine Hand zurück, sein Ausdruck ernüchterte. »Musst du immer solch ein Spielverderber sein? Lass mich die kleine Liz doch wenigstens einmal in Schwierigkeiten bringen.«
»Ich bin nicht klein.«
»Aber süß.« Er zwinkerte mir zu.
»Hört auf. Ihr benehmt euch wie Kinder«, rügte Lijan uns. »Kaum zu glauben, dass das Ritual euch zwei dieses Jahr mit einschließt.«
Mit gespieltem Entsetzen schlug Fab sich die Hand auf die Brust, trat an meine Seite und legte den Arm um meine Schultern. »Man stelle sich vor, wir zwei Täubchen noch ein ganzes Jahr hier allein, ohne die Aufsicht dieses blonden Engels«, feixte er mit Blick auf Lijan.
Ich stieß ihn von mir. »Danach wäre der Status meiner Seele ganz sicher fragwürdig.«
Das Lächeln, das sich jetzt auf Fabs Lippen legte, war mehr als provokant. Und ich begriff, was ich da eben gesagt hatte.
»So, glaubst du das …« Seine Augenbraue beschrieb einen eleganten Bogen.
»Nicht dass ich damit sagen will, wir würden …«
»Ja …?« Fab amüsierte sich köstlich, während meine Wangen Feuer fingen.
»Ach, halt die Klappe!«
»Liz würde niemals –«, begann Lijan.
»Und du hältst auch besser den Mund!«, wies ich ihn mit einem warnenden Blick in die Schranken und beendete diesen unnützen Schlagabtausch. Ich wollte von keinem der beiden hören, zu welch sündhaften Dingen ich mich wann und mit wem hinreißen lassen würde. Das war zu verwirrend. Nicht dass ich derlei Gefühlsregungen nicht verstand. Wir waren schließlich keine Kinder mehr. Aber ich kannte die beiden, solange ich denken konnte. Wir waren Freunde. Natürlich waren aus den einstigen Jungs mittlerweile attraktive junge Männer geworden und natürlich hatte ich die Veränderungen ihrer Körper über die Jahre … Herrgott, ich sollte meine Gedanken wirklich auf anderes richten.
»Begleitest du uns?«, wandte ich mich Lijan zu. »Ich muss nur schnell die Äpfel für Lore in die Gemeinschaftshütte bringen.« Ich konnte nicht widerstehen, ihm die Tour zu vermasseln.
Lijan strich sich durchs goldblonde Haar. »Eigentlich wollte ich auf die Lichtung zum Training. Die anderen sind schon vorausgegangen. Vielleicht hat unser einsamer Turmfalke hier auch Lust, sich im Kampf zu beweisen?« Er verschränkte die Arme.
Fab funkelte ihn sofort an. »Wenn dein Ego eine Niederlage verkraftet? Ich will dich ja nicht frustrieren.«
Ein Seufzen entschlüpfte meinem Mund. »Warum eigentlich müssen junge Bullen immerzu mit den Hufen scharren?« Lijan und Fab waren darin besonders gut. Die bloße Gegenwart des jeweils anderen stachelte offensichtlich ihr Temperament an.
»Weißt du das nicht? Das ist ein Naturgesetz.« Fab aß den Rest seiner gestohlenen Frucht und schleuderte das Kerngehäuse mit einer kraftvollen Bewegung Richtung Baumgrenze.
Ohne auf seine Erwiderung einzugehen, setzte ich mich in Bewegung. Die beiden folgten mir.
»Kämpfst du heute auch, kleine Liz?«
»Nein danke. Das ist nichts für mich.« Ich hatte wohl hundertmal zugesehen, wie sie sich mit den langen Stöcken einen Schlagabtausch lieferten, fand aber selbst wenig daran, zu den Waffen zu greifen. Wenige Male hatte ich es probiert und festgestellt, dass mir die Bewegungen recht schnell in Fleisch und Blut übergingen. Seither begnügte ich mich damit, ihre Kämpfe, Tricks und Strategien aus sicherer Entfernung zu studieren.
»In Tirithan wird Liz keine Kampfkünste brauchen«, urteilte Lijan.
Fab stöhnte auf. »Darum geht es doch gar nicht. Vielleicht will sie es einfach zum Spaß auskosten. Fang doch nicht ständig von den Himmelsstädten an.«
»Möglicherweise fange ich davon an, weil das Ritual kurz bevorsteht und wir uns an den Gedanken gewöhnen sollten, dass jeder von uns bald seiner Bestimmung folgt.« Lijan war in letzter Zeit wirklich fixiert darauf.
»Daran gewöhnen?« Fab lachte spöttisch. »Ich sehne den Tag herbei. Nicht meine Schuld, wenn die Klippe dir Bauchschmerzen bereitet.«
»Tut sie nicht.«
»Einigen wir uns doch darauf, dass keiner von uns seinen Absprung fürchtet, in Ordnung?« Die beiden waren heute ja besonders reizbar.
»Warum küsst ihr beide euch eigentlich nie?«
Wie bitte? Jetzt blieb ich abrupt stehen und fuhr herum, sodass auch die beiden stoppten.
Fab grinste breit. »Was denn? Ich bin neugierig. Ihr würdet ein hübsches Paar abgeben. Verfolgt dieselben Ziele …«
»Weil wir über etwas verfügen, was dir gänzlich fehlt«, antwortete Lijan und versuchte wohl auf charmante Weise meine Ehre zu verteidigen.
»Hört auf …«, sagte ich matt. Ich wünschte, er würde nicht laufend auf Fabs Spielchen einsteigen.
»Und was genau meinst du?«, ignorierte Fab meinen Einwand. »Disziplin? Selbstbeherrschung?«
»Anstand«, warf Lijan ein.
Fab schüttelte mit auf den Boden gerichtetem Blick sein Haupt. »Ihr wisst schon, dass ihr euch nicht zurückhalten müsstet. Bree lag letzten Winter bei Samuel und es ist kein Geheimnis, dass sie eine Whitefeather sein könnte.«
»Das ist Brees Problem.« Lijan würde nicht von seinem Standpunkt abweichen. Er war zutiefst von seinen Prinzipien überzeugt.
»Du denkst tatsächlich, es könnte dich dein Weiß kosten, wenn du Liz küssen würdest?« Fab hob den Blick und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Nein, ich würde sogar weiter gehen und sagen, du weißt, es würde dich den Einzug nach Tirithan kosten, wenn du sie küsst.«
Zeit einzuschreiten. »Darüber, wer mich küsst, entscheide immer noch ich.«
Fab warf mir einen kurzen, spöttischen Blick zu und fixierte sofort wieder Lijan, der die Arme vor der Brust verschränkte.
»Ich respektiere Liz.«
Fab verengte den Blick. »Oder du fürchtest dich, weil der Kuss eine Lüge wäre.«
»Es reicht, Fab!« Ich hatte genug davon. Was glaubte er, was ihn das anging? Nur weil das Ritual bevorstand, mussten sie nicht gleich durchdrehen. Obwohl, nein, dieses Gebaren zwischen den beiden hatte ich in den letzten Monaten dutzende Male beobachtet. Und gerade jetzt hatte ich es satt.
Ich kehrte den Streithähnen den Rücken zu und marschierte allein zur Gemeinschaftshütte. Mir war die Lust auf ihre Gesellschaft gründlich vergangen.
***
Als ich mein Ziel erreichte und die Hütte betrat, fand ich dort einzig Bree vor, die auf dem Boden des Saales kniete und irgendeine Sauerei neben dem Esstisch der Kleineren aufwischte. Ich stellte die Schale mit den Apfelhälften auf den Tresen der offenen Kochecke und gesellte mich ohne großes Zögern zu ihr, griff die Bürste aus dem Wassereimer und begann zu schrubben.
Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass sie mich prüfend musterte. »Schlechte Laune?«, fragte sie schließlich, holte eine zweite Bürste aus dem Verschlag neben dem Ofen und schrubbte Seite an Seite mit mir die Holzdielen.
»Nein!« Ich verstärkte meine Bemühungen.
»Mhm«, raunte sie wissend. »Fab oder Lijan?«
»Was meinst du? Wer von beiden der größere Holzkopf ist?«, fragte ich unzufrieden und linste zu ihr herüber.
Bree wischte sich lediglich eine ihrer rotbraunen Locken aus der Stirn und arbeitete weiter. Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wann man besser schwieg. Deshalb vertraute man ihr auch gerne Dinge an. Wahrscheinlich würde Bree deshalb eine Whitefeather werden. Sie war geduldig, nachsichtig und versöhnlich. Sie denunzierte nicht und sie verurteilte niemanden. Eine wahre Tochter Tirithans.
Ich setzte mich auf und legte die Hände in den Rockschoß. »Du hast bei Samuel gelegen?« Die Worte waren einfach aus meinem Mund gesprungen. Sofort lief ich rot an und schämte mich. Wie unmöglich, ihr solch eine Frage zu stellen.
Doch Bree kannte meine Neugier und lächelte nur. »Das ist richtig. Und?«
Und? Das war alles? Ich biss auf meine Unterlippe, verharrte einen Moment, beugte mich wieder vor und schrubbte den verdammten Boden. Dann war es für sie keine große Sache, es sorgte sie nicht hinsichtlich ihrer Bestimmung?
»Vielleicht solltest du einfach zu ihm schleichen, wenn es dunkel ist, und in sein Bett kriechen«, schlug sie vor.
Ich stoppte erneut und sah sie an. »Zu wem?«
Jetzt verharrte sie ebenfalls und erwiderte meinen Blick. »Ich dachte Lijan …«
»Wir sind Freunde.« Warum zum Teufel musste ich das heute immer wieder klarstellen?
»Und bist du dir sicher, dass er das genauso sieht?«
»Ich … denke schon. Warum? Was siehst du denn?« Hatte ich irgendwas verpasst? Hatte Lijan vielleicht etwas gesagt, dass auf anderes hindeutete? Auf einmal wand sich ein seltsames Gefühl in meinem Magen.
Bree zuckte mit den Schultern. »Dass er dir zugetan ist, sieht doch ein Blinder. Er hält sich ständig in deiner Nähe auf, wählt immer den Platz neben dir. Da müsste mich meine Nase schon sehr trügen, wenn er nicht darauf aus wäre, dich für sich zu gewinnen.«
»Das klingt ja, als wäre ich eine Trophäe.«
»In seinen Augen auf jeden Fall die richtige Wahl. Lijan ist strebsam. Der würde sich keinen Fehltritt erlauben. Wenn er sich für dich erwärmt, hat er das Für und Wider gründlich abgewogen«, sagte sie scherzhaft, lag aber vermutlich näher an der Wahrheit, als sie dachte.
»Ich finde es gut, dass er überlegt, bevor er handelt«, trotzte ich. »Aber wir sind dennoch nur Freunde. Ibe meint, dass es leichter sei, gemeinsam in die Himmelsstadt Einzug zu halten. Wollen Samuel und du denn zusammenbleiben?«
»Wenn wir es dürfen. Noch haben wir unsere Schwingen nicht. Vorher eine Entscheidung zu treffen, wäre sinnlos. Aber gegen ein bisschen Vergnügen kann niemand etwas haben.« Sie beugte sich vor und schrubbte ein paar Züge lang weiter, bevor sie erneut innehielt und mich ansah. »Bist du dir deiner Farbe denn sicher?«
»Du hast selbst festgestellt, dass das unmöglich ist. Warum will eigentlich jeder darüber reden?«, murrte ich. »Als ob es kein anderes Thema mehr gäbe.«
»Gibt es ja auch nicht. Also? Tirithan oder Sorothez? Was, glaubst du, erwartet dich? Wenn ich Lijans Interesse an dir richtig einschätze, sieht er wohl weiße Schwingen an dir.«
Ich schnaufte und hatte nicht vor auf ihre Frage einzugehen. »Jeder spekuliert über jeden. Vielleicht sollten wir Wetten abschließen.«
»Müßig. Wer sollte den Wetteinsatz einfordern, wenn wir getrennte Wege gehen. Du empfindest also nichts für Lijan?«, versuchte sie erneut die Daumenschrauben anzulegen.
»Da ist nichts zwischen uns.«
»Aber er ist heiß, findest du nicht? Hat sich ganz schön gemacht in den letzten zwei Jahren.« Sie seufzte. »Das Kampftraining bewirkt das. Ihr Kreuz wird breiter, die Oberarme kräftiger. So ist mir auch Samuel ins Auge gesprungen.« Sie biss sich verlegen auf den Daumennagel und lächelte.
»Dann glaubst du nicht, dass es Einfluss auf deine Bestimmung haben kann, bei einem Jungen zu liegen?« Warum nur ritt ich darauf herum? Vielleicht weil sich auf einem so abgelegenen Gehöft nicht allzu viele Gelegenheiten für derartige Gespräche ergaben.
»Die Grundsätze von Tirithan sind Wissen, Bewahren und Ordnung. In den Schriften steht nichts von Jungfräulichkeit, Entsagung und Prüderie. Glaubst du, das Bild der Whitefeather als moralisch, streng und überlegen bekäme Schlagseite, wenn sie sich mal ein klein wenig amüsieren? Ich glaube nicht.«
Oh, na das war doch mal eine klare Aussage.
»Fabs Körper ist auch nicht zu verachten«, setzte sie nach und beobachtete mich genau. »Schade nur wegen der Narben.«
»Welche Narben?«
»Na, die auf seinem Rücken. Hast du sie nicht gesehen? Er trägt sie, seit er aus der anderen Siedlung zurück ist.«
»Die andere Siedlung …« Ich hatte lange nicht mehr daran gedacht. Mit zwölf Jahren war Fab zu einem fremden Gehöft gewechselt. Oder war er schon älter gewesen? Ja, vermutlich. Jedenfalls blieb er ungefähr zwei Jahre fern und kehrte dann unangekündigt und wohl zu Ibes Leidwesen zu uns zurück. Ich erinnerte mich dunkel, dass Ibe damals einen heftigen Streit mit dem Oberhaupt der anderen Siedlung ausgetragen hatte, wusste aber nicht, worum es gegangen war. »Hat Fab gesagt, wie das passiert ist?«
Bree sah mich vielsagend an. »Es wird eine Strafe gewesen sein. Sah sehr nach Stockhieben oder Ähnlichem aus. Ehrlich, ich hätte mir lieber auf die Zunge gebissen, als ihn danach zu fragen.«
Mein Gesicht verzog sich leidvoll. »Das habe ich nicht gewusst.« Er war dort geschlagen worden? Kein Wunder, dass er zurückgewollt hatte. Oder vielleicht hatte man ihn dort auch nicht länger geduldet.
»Wann hättest du ihn auch nackt sehen sollen? Er hält die Narben gut verborgen.«
Mein Blick blieb an ihr haften. »Wann hast du ihn nackt gesehen?« Allein die Frage trieb mir die Röte ins Gesicht. Schwer, sich seinen Körper nicht vorzustellen, wenn man darüber sprach.
Bree seufzte. »Samuel und er teilen doch eine Hütte. Als wir letzten Sommer zu Anwärtern erklärt und aus dem Schlafsaal in die Unterkünfte umquartiert worden sind, bin ich über Nacht bei Samuel geblieben. Fab hat damals im Turm gehockt.«
»Da saß er ständig, seit seiner Rückkehr«, merkte ich an. Samuel und Fab waren die einzigen von uns fünf Anwärtern, die sich eine der vier Unterkünfte teilen mussten, aber dank Fabs ständigen Streichen kam es Sam sicher nicht so vor.
»Wirklich? Ich meine, er hat schon früher fortwährend Ibes Geduld auf die Probe gestellt.«
»Hat er. Aber im Turm ist er vor seiner Rückkehr nur zweimal gewesen. Erinnerst du dich noch, wie er als Kind einmal die ganze Nacht rebelliert und gebrüllt hat, er würde es immer wieder tun?«
Bree schnalzte mit der Zunge. »Na, der Drohung ist er ja mehr als gerecht geworden. Als ob er es darauf anlegen würde, schwarze Schwingen zu tragen.«
Ich schmunzelte. »Fab ist schon als Blackfeather geboren worden.«
Bree fuhr gedankenverloren mit den Fingern die Borsten der Bürste nach. »Nun …, in jener Nacht ist Fab doch plötzlich aufgetaucht. Es muss ihm wohl nicht bewusst gewesen sein, dass ich neben Samuel gelegen habe. Jedenfalls hat er sein Hemd gewechselt und ich habe einen Blick auf seinen Rücken erhascht.« Sie zog die Stirn kraus. »Kein schöner Anblick.«
Es lag mir auf der Zunge, ihr zu widersprechen, aber sie meinte ja die Narben. Ich seufzte und tunkte die Bürste ins Wasser. »Hoffentlich können Samuel und du gemeinsam aufsteigen. Das würde mich freuen. Nicht zuletzt, weil dann mehr von uns zusammenbleiben. Nachts in Lijans Bett zu kriechen, kommt für mich aber nicht infrage. Keine Ahnung, warum mich jeder ausgerechnet an seiner Seite sieht.«
Bree neigte den Kopf. »Wenn du das so sagst, klingt es beinahe, als gäbe es eine zweite Option.« Sie beäugte mich neugierig.
Ich verharrte reglos.
Bree widmete sich wieder summend dem Boden.
»Gibt es nicht«, sagte ich viel zu spät und konnte mich kaum der Bilder erwehren, die sich jetzt in meinen Kopf stahlen. Lächerlich. Natürlich gab es die nicht.
In dieser Nacht fand ich keinen Schlaf. Meine Gedanken kreisten stetig um das Ritual. Im letzten Sommer waren einige Anwärter aus den weiter im Landesinneren liegenden Höfen angereist, um den Absprung von der heiligen Klippe zu vollziehen. Wir hatten nicht dabei sein dürfen, aber meine Neugier hatte mich zu einem Streifzug in die angrenzenden Wälder verleitet. Nie würde ich den seltsamen Aufschrei vergessen, das Wehklagen. Mir war sofort klar gewesen, was passiert sein musste. Wenn sie den Absprung wagten und keine Schwingen … Ich schluckte. Nicht auszudenken. Ich drehte mich auf die Seite und schob die flache Hand unter meine Wange.
»Elisabeth?« Eines der Kinder schlich sich in meine Hütte. Nur sie nannten mich bei meinem vollen Namen. Ich hörte, wie die Tür sich schloss.
»Was ist? Kannst du nicht einschlafen, Eliott?« An seiner Stimme hatte ich ihn erkannt. Keine Antwort. Offensichtlich genierte sich mein nächtlicher Gast. Ich rückte seufzend ein wenig zur Seite. »Komm schon her. Lore muss es nicht wissen.« Flink kletterte der kleine Quälgeist auf mein Bett.
Für sie waren wir wie große Geschwister. Bald wären sie die Großen, dann musste Eliott mit auf die anderen achtgeben. Sollte es keinen Wechsel zwischen den Siedlungen geben, was gelegentlich vorkam, würden Torge und er, mit ihren knapp dreizehn und acht Jahren, die Ältesten bleiben. Das hieß, kein Aufstieg aus Silver Crevice in den nächsten fünf bis sechs Jahren.
Eliott kuschelte sich an mich. »Erzählst du mir noch eine Geschichte? Die Legende von den ersten Seraphen?«
»Ganz sicher nicht.« Er würde nicht leichter einschlafen, wenn ich ihm die tragische Legende von der wunderschönen Tirithan und dem heldenhaften Krieger Sorothez erzählte.
Unzufrieden murrte er und wälzte sich herum. Das Schweigen hielt genau fünf Sekunden an. »Warum können die Menschen uns nicht sehen? Ich meine, wenn wir als Engel über sie wachen und sie doch an uns glauben …«
Ich stöhnte, konnte mir aber ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Bist du nicht ein bisschen zu jung für derartige Sorgen? Du hast noch ein paar Jahre, ehe du deine Schwingen bekommst.« In seinem Alter hatte ich unserem Ziehvater fast dieselbe Frage gestellt.
Eliott brummte vernehmlich. Vermutlich glaubte er, ich wollte ihm die Antwort schuldig bleiben. Aber das war gar nicht meine Absicht.
Ich beugte mich zu seinem Ohr. »Beantworte mir zuerst eine Frage. Kannst du deinen Atem sehen?«
Eliott schüttelte den Kopf.
Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. »Niemals? Denk nach«, ermahnte ich ihn.
»Ich weiß, dass er da ist, auch wenn ich ihn nicht anfassen kann. Aber wenn es draußen kälter wird, kann ich ihn früh morgens sehen.«
»Ja, gut.« Ich nickte. »Eine kluge Antwort. Und genauso verhält es sich mit den Menschen. Diejenigen, die sich Zeit nehmen zu spüren, nehmen die Gegenwart von Engeln wahr. Auch wenn sie den Kern ihres Gefühls nicht greifen können, wissen sie dennoch, dass da etwas Höheres ist. Und wenn der Zeitpunkt stimmt und sie ihren Geist öffnen, können sie sie sogar sehen.« Dass es sich bei diesem magischen Augenblick um den Tod handelte, klammerte ich lieber aus. Eliott würde die unschönen Seiten des Lebens noch früh genug kennenlernen. »Aber natürlich ist es Engeln streng verboten, sich den Menschen zu zeigen. Deshalb befinden sich unsere Siedlungen weit genug von den Menschen entfernt, damit sie nicht versehentlich Zeuge unseres Absprungs werden oder sich fragen müssen, wohin wir verschwinden. Danach hat jede Seite ihren ganz eigenen Schutz.«
»Schutz? Welchen?« Er wandte mir im Halbdunkeln das Gesicht zu.
Ich schmunzelte. Dass unser vorbestimmter Weg Faszination auf ihn ausübte, verstand ich nur zu gut. »Die Nacht verbirgt jene mit schwarzen Schwingen. Die Whitefeather jedoch fliegen gegen das grelle Sonnenlicht. Auf diese Weise entgehen sie dem menschlichen Auge. Und am Boden können sie ihre Schwingen einziehen.«
»Sechs Flügel …«, hauchte er und bezog sich auf den Beginn der Seraphenlegende.
»Das ist nur eine Metapher, ein Bild, um etwas zu erklären.« Das sollte Eliott aus dem Unterricht bei Ibe wissen.
»Zwei zum Fliegen, um über die Menschen zu richten«, flüsterte er und erschauderte. Ich spürte die Gänsehaut auf seinem dünnen Arm.
»Wir richten nicht«, sagte ich sanft und vertrieb mit meiner wärmenden Hand seine Furcht. »Wir stehen den Menschen bei, wenn es nötig ist.«
Schnell nickte er. »Zwei Flügel für das Antlitz, zwei für ihre Füße«, vervollständigte er das Bildnis des sechsflügeligen Seraphs.
»Diese vier Schwingen sind nur Erklärungen dafür, dass die Menschen uns weder sehen noch uns in die Himmelsstädte folgen können.« Ich knuddelte ihn und zog die Decke über seine Schulter hoch. »Und jetzt wird geschlafen, du kleiner Engel.« Er giggelte.
Eliott hatte noch nie einen echten Seraph gesehen, genauso wenig wie ich, und das würden wir zu Lebzeiten auch nie. Die zwei Himmelsstädte befanden sich zwischen der menschlichen Welt und dem, was uns in den himmlischen Gefilden erwartete. Auch wir mussten glauben und hoffen. Unser Schicksal lag in höheren Händen. Natürlich spürten wir den göttlichen Funken in uns, aber im Grunde konnten wir uns ebenso wenig sicher sein. Ibe betonte fortwährend, dass auch wir um unsere Seelen kämpften. Wir waren Feather, einst dem Blut herabgestiegener Seraphen entsprungen, nicht besser als die Menschen, nur eine weitere Spezies. Auch wenn unser Zuhause in den Wolken lag.
***
Im Morgengrauen schreckte ich auf, ein seltsames Bauchgefühl durchströmte mich. Ich sah mich um. Eliott lag eingerollt neben mir und schlief fest. Hatte ich vielleicht geträumt? Nein … Jetzt hörte ich entfernte Laute, Rufe draußen auf dem Platz. Sie hatten mich geweckt.
Behutsam schob ich mich an Eliott vorbei aus dem Bett, flocht in Windeseile mein langes braunes Haar zu einem ordentlichen Zopf, wechselte das Nachthemd gegen mein einfaches Kleid und trat hinaus in den taufrischen Morgen. Eine schwache Brise wehte den Geruch des Meeres herüber.
Einige der Jüngeren stürmten aufgeregt rufend an mir vorbei, vermutlich auf dem Weg zum Gemeinschaftssaal. Ich lächelte unwillkürlich angesichts solcher Wildheit und blickte ihnen nach. Warum herrschte denn solch ein Tumult? Als ich mich wieder umdrehte, entdeckte ich Lijan und Samuel. Mit kraftvollen Schritten kamen sie auf mich zu. Lijans Ausdruck wirkte ernst. Seine blauen Augen zu Schlitzen verengt, seine ebenmäßigen Gesichtszüge angespannt. Er strahlte trotz seiner gerade mal neunzehn Jahre unbestritten Autorität aus. Von uns Anwärtern hätte ihm wohl keiner eine gewisse Führungsrolle abgesprochen, auch wenn es selbstverständlich Lore und Ibe waren, die hier den Ton angaben. Das Lächeln, was ich eben noch auf meinen Lippen getragen hatte, erstarb allmählich, als mich eine Ahnung beschlich. »Was ist passiert?«
»Fab«, sagte er schlicht und bestätigte mein Bauchgefühl.
Ich eilte die Stufen vor meiner Hütte herunter und packte seinen Arm, als er an mir vorüberschreiten wollte. »Was ist passiert?«, wiederholte ich. Mein Magen ballte sich zusammen. Wenn Fab, der immerzu etwas auf dem Kerbholz hatte, alle in Aufruhr versetzte, musste etwas Schwerwiegendes geschehen sein.
»Er hat Ibes Aufzeichnungen gestohlen.« Lijan schob meine Hand von seinem Arm und schritt langsam rückwärts weiter, die Hände entschuldigend von sich gestreckt.
»Das Buch?«, stammelte ich. »Aber … warum sollte er das Buch stehlen?«
»Du kennst ihn doch. Es ist Fab.«
»Was hat er zu seiner Rechtfertigung gesagt?«
»Er schweigt.« Lijan drehte sich um und schloss zu Samuel auf, der ein paar Schritte voraus war.
Ich runzelte die Stirn. Fab schwieg? Das sah ihm gar nicht ähnlich. »Vielleicht deckt er jemanden …?« Mein Einwand war geradezu lächerlich. Es war nicht das, was Fab tun würde.
»Er hat gestanden, Liz. Er schweigt nur über seine Motive«, rief Lijan, ohne sich noch einmal umzusehen, und erstickte damit meinen Protest im Keim.
Ich nickte. »Dann geht er wieder in den Turm«, murmelte ich zu mir selbst. Verdammt, was hatte dieser unselige Narr sich dabei gedacht. Er war doch gerade erst wieder draußen. Wie konnte er Ibes Buch stehlen? Das Buch. Ich wagte nicht, daran zu denken, wie Ibe reagiert haben mochte. In diesen Aufzeichnungen stand alles über das Ritual, über unsere Bestimmung, über die Aufgestiegenen und wer wusste, was noch alles. Ich schluckte. Hatte Fab sich vergewissern wollen, in welche der Himmelsstädte er einziehen würde? Das war absurd. Er konnte doch keine Zweifel mehr haben. Was die Farbe seiner Flügel anging, hatte keiner von uns Zweifel. Nachtschwarz war die einzige Option. Fab würde als Blackfeather aufsteigen, sein Charakter ließ gar nichts anderes zu. Kein Anwärter vor ihm war je rebellischer gewesen oder hatte mehr den Regeln getrotzt. Nein, Fab musste einen anderen Grund gehabt haben, das Buch zu nehmen. Ich folgte dem aufgebrachten Mob, um der Sache auf den Grund zu gehen. Hier stimmte etwas nicht.
***
Als ich den Saal betrat, standen Ibe und Fab im Zentrum des Interesses. Offenbar hatte die Anhörung bereits stattgefunden, möglicherweise waren Urteil und Strafe bereits gefällt worden. Ibe hielt das Beweisstück in den Händen und wirkte zornig. War eigentlich schon einmal jemand vom Ritual ausgeschlossen worden? Mein Atem stockte. Nein, sicher durfte er Fab den Absprung nicht verwehren. Außerdem wäre Ibe bestimmt froh, einen solchen Unruhestifter los zu sein, sagte ich mir.