ULRIKE DRAESNER, 1962 in München geboren, wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, unter anderem zuletzt mit dem Preis der LiteraTour Nord, dem Deutschen Preis für Nature Writing, dem Ida-Dehmel-Literaturpreis (alle 2020) sowie mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021). Für Schwitters, ihren zweiten Roman zum Thema Flucht und Vertreibung, erhielt sie 2020 den Bayerischen Buchpreis. Von 2015 bis 2017 lebte Draesner in Oxford, seit April 2018 ist sie Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Draesner wohnt und schreibt in Leipzig und Berlin – neben Romanen und Gedichten auch Erzählungen und Essays.
Sieben Sprünge vom Rand der Welt in der Presse:
»Ulrike Draesner ist mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt ein großes Prosawerk gelungen, thematisch und stilistisch.« Andreas Puff-Trojan, Der Standard
»Dieser kluge Roman bleibt spannend bis zum Schluss.«
Edelgard Abenstein, Deutschlandradio Kultur
»Ulrike Draesners Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt gibt dem Familienroman ein neues Format.« Samuel Moser, Neue Zürcher Zeitung
Außerdem von Ulrike Draesner lieferbar:
doggerland
Schwitters
Eine Frau wird älter
Mein Hiddensee
subsong
Heimliche Helden
berührte orte
gedächtnisschleifen
Ulrike Draesner als Übersetzerin:
Louise Glück, Wilde Iris
Louise Glück, Averno
www.draesner.de
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Ulrike Draesner
Sieben Sprünge vom Rand der Welt
Roman
Die Autorin dankt der Robert-Bosch-Stiftung
für die Zuerkennung eines Grenzgängerstipendiums
zur Finanzierung der Recherchereisen.
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in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: bürosüd, München
nach einem Umschlagentwurf von buxdesign | München
Umschlagabbildung: plainpicture/Bildhuset
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-29134-1
V001
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Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen
als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise
den gesunden Thierverstand verloren hat, –
als das wahnwitzige Thier, als das lachende Thier,
als das weinende Thier, als das unglückselige Thier.
Friedrich Nietzsche
Er kann sich mühelos aufrichten
die Luft flimmert über den groben
grauen Steinen des Hofs, dem spärlichen Gras. Eine Biene taumelt neben ihm, links, rechts, er hält still, mit tiefem Summen zieht sie
davon
Richtung Omas Haus, das am Ende des Hofs gelb in der Sonne steht.
Oma ruft ihn »Schnakala«, Mutti »Springginkerle!«, das Haus ist still, niemand ruft. Er hat geschlafen, ein angebissenes Rosinenbrötchen liegt neben ihm auf dem Teller, die Omsen krabbeln darauf. Der Wind aus dem Backhof riecht nach Teig und kühlt die Brust, nur unter den Haaren ist ihm heiß, als trüge er einen Helm wie Andrzej ihn hat, im Nachbarhof, mit Spitze und Adler, und die Flasche, die er festhält, lange schon, wie er jetzt spürt, ist leer.
Ein Mann und eine Frau waren aus dem Wagen gestiegen, einem aufregend schwarzen Motorwagen mit Adler, sie warfen die Arme in die Höhe, Vati warf den Arm ihnen nach in den Himmel, wie eine Wand stand sein Blau hinter Omas Haus über die Schornsteine hinaus. Er konnte zählen, bis zwölf, hörte ein leises Jammern von hinten, murmelte »pscht«, »still, Emil, still«. Waren sie brav, würde die Großmutter ihnen eine Schüssel von den frischen Stresla geben. Die Sonne stand auf seinem Kopf.
Sorgfältig legte er Vatis blaurote Zinnsoldaten in die Schachtel, deren Inneres leuchtete wie eine Zunge, streckte seine Zunge vor und rannte los. Die Treppe, die Vati und der Besuch hinaufgegangen waren, kam rasch näher, als etwas ihn nach hinten riss, »lass mich!«, rief er, »du Plootsch, du …«, lag im Sand, schnappte nach Luft, »du Id…«, »Idot«, er wusste nicht, was das hieß, er hatte es in der Backstube gehört, die hatten es gesagt.
Als er sich umdrehte, sah er die Hundeleine, die sich über das Podest auf ihn zuschlängelte, sah Emil an den Stamm der Kastanie gelehnt sitzen, Emil, der die Schultern zuckte, die Hände nach ihm ausstreckte, Emil, sein großer Bruder, warm und tälsch und langsam mit dem schlechten Fuß. Er krabbelte die Leine entlang auf ihn zu, Emil tröstete von allen am besten, mit Bonbons, die er aus Muttis Blechdose kramerte, und mit dem Emil-Geräusch. Man hörte es nur, wenn man in Emils Schoß lag, Emil wiegte sich zärtlich und summte, und er, Eustachius, und bisweilen auch die Hofkatze schnurrten eingerollt auf Emils Schoß leise mit.
Irgendwie muss die Leine an seine Hose gekommen sein. Nur Emil ist da. Emil, der mit aufgeregt hoher Stimme lockt: »Stächelchen, kimm zrück zu mer.«
Er rennt fort, zum Rand des Podestes, dreht sich um. Emil sitzt bewegungslos da.
Wenn Vatis Jäger Vati besuchten, wurde Emil in die Küche gebracht, nur er, Eustachius, Stach, das Stächelchen, durfte im Herrenzimmer bleiben. Doch heute war alles falsch, er war angeleint worden wie ein Hund, und es dauerte bereits eine halbe Stunde oder fünf Tage, der Unterschied sah lang aus auf der Uhr in der guten Stube, die Uhr war nicht da. Max, aufgesprungen, legte sich wieder, die seidigen hellbraunen Vorderpfoten nach vorn gestreckt, den langschnauzigen Dackelkopf erhoben. Dass er nicht so sitzen konnte, ärgerte ihn, und während er sich noch ärgerte und versuchte, sich auf den äußersten Rand des Podestes zu schieben, leuchtete ihm Vatis Gesicht von der Treppe entgegen. Die Frau und der Mann hoben die Hände in den Himmel, wie von selbst riss seine eigene Hand sich ebenfalls in die Höhe, und weil er vergessen hatte, was sie dabei immer sagten, rief er »leb ock sisse!«, denn etwas Gutes rufen musste man, und er glaubte, »Süßes« zu rufen sei gut, dann gebe es heute noch mehr davon, Stresla und Teig.
Vati schaute ihn an, schaute ihm, Eustachius, in die Augen, ganz nah kam er ihm dabei, aber pfiff nur nach Max, der davonstürmte, während er, Stach, der schon freudig gelacht hatte, weiterhin angeleint auf seinem Fleck saß, als wäre er festgewachsen, als wäre er weniger wert als der Hund.
Den Hund schlug Vati seltener als ihn. Emil schlug er nie.
Der Motor des Wagens heulte auf, allein der Mann und die Frau hatten darin Platz genommen. Als der Staub sich legte, war der Hof leer. Er weinte nicht, nur aus seinen Augen wurde es nass auf den Wangen, er weinte nicht, wischte sich nur mit dem Unterarm übers Gesicht. Verstohlen sah er sich um. Emil schlief zusammengerollt auf der Seite, die Beine angezogen, der dicke Stiefel mit dem Klumpfuß lag oben, fett glänzte das Leder im Sonnenlicht. Emil träumte, und er, Stächel, weinte nicht, zog nur die Nase hoch, wie hätte er weinen sollen, Jungs weinten nicht, und es gab auch keinen Grund dafür, so musste es sein, Vati wusste gar nicht, dass er hier angeleint war, Vati dachte, er spiele mit Emil, und es sei schön, Vati war lieb.
Er zog die Nase hoch, krabbelte auf die Hundedecke, der Geruch tröstete ihn, er zählte die Omsen, die Omsen krabbelten, Schnakala, er zählte die Stunden oder fünf Minuten, immer bis zwölf. Das Mittagslicht arbeitete kräftig, von oben nach unten löschte
es, was es fand, floss
über Omas Dach, das Dach verschwand, floss auf die Regenrinne, verschwunden auch sie, floss über die honigglänzende Wand
lautlos, honigzäh über die schiefe Treppe, Stufe um Stufe hinunter in den Hof, schmolz
das Gras zwischen den Steinen
zu Strichen, schmolz
die Steine, erreichte ihn. Seine Sandalen, rehbraun, begannen zu flimmern, seine gesunden geraden Zehen wurden heller
und heller.
Neugierig sah er zu. Er spürte nichts.
Auf nichts ritt er dahin.