Wolle

Ein Fan
zwischen
Ost und
West

Alex Raack

Impressum

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Tropen

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© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Bilder im Tafelteil: privat

Umschlag: Herburg Weiland, München
unter Verwendung einer Abbildung von Robert Eikelpoth

Datenkonvertierung: Tropen Studios, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50382-1

E-Book: ISBN 978-3-608-10887-3

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Prolog

Willkommen in der Freiheit

Weistropp

Dresden

Dynamo

Abenteuer

Mönchengladbach I

Große Liebe

Schuften und Schweine

Dresdner Löwen

10 Mönchengladbach II

11 Angst

12 Verrat

13 Abschied

14 Drüben

15 Wende

16 Botte, Berlin, Borussia

17 Tiefpunkt

18 Daniel

19 Anja

20 Im Osten was Neues

21 Sechzig

Danksagung

Tafelteil

Für Kony, Daniel und Anja.
Für Ayjana, Juliana und Ben.
Für Botte.
Und das schwarz-weiß-grüne
Fahnenmeer.

Prolog

»Vastehste?!«, fragt Wolle, als wir durch die Nacht nach Hause laufen. Es ist kurz nach elf an einem kühlen Dezemberabend. Eben hat Borussia Mönchengladbach gegen Barcelona gespielt und ziemlich den Hintern versohlt bekommen. Im Endlich-Treff, einer von Wolles Stammkneipen, tranken wir Altbier, um die neuerliche Schlappe von Wolles Mannschaft besser ertragen zu können. Und um zu reden. Über Fußball. Über die DDR und die Stasi, über Flucht und Gewalt. Über Wolles Leben, denn darüber soll ich ein Buch schreiben. Das kann nur gelingen, wenn ich Wolle verstehe. Nicht nur sein schweres, vom Altbier angematschtes Sächsisch, sondern ihn: Wolfgang Großmann, Jahrgang 1957, geschieden, zwei Kinder, wohnhaft in Mönchengladbach. Seinem Geburtsort, der zum Sehnsuchtsort wurde. Wie Wolle hierhergekommen ist, welche Hürden und Mauern er dafür überwinden musste, warum er zu dem geworden ist, der er ist, das will er mir erzählen. So ich ihn denn vastehe. Wolle ist das wichtig, deshalb klemmt er diese Fragebitte an jeden dritten Satz.

Mönchengladbach wirkt wie ausgestorben. Als hätte sich die ganze Stadt während der Partie in die Autos geschwungen, um nach Krefeld, Düsseldorf oder Köln auszuwandern. Was natürlich völlig unrealistisch ist. Niemand hier würde nach Köln ziehen. So liegt sie da, die Stadt, leichter Nebel in den Straßen. Wolles raue, von Kippen, Alkohol und stundenlangen Fußballgesängen angekratzte Stimme vermischt sich mit dem Rattern der Räder meines Koffers auf den Gladbacher Pflastersteinen.

Vastehste?! Nein, denke ich mir, selbst leicht benebelt vom Altbier. Wie soll man das denn auch kapieren, wenn man 1983 in Niedersachsen geboren ist? Wie soll man nachvollziehen, dass einer verfolgt wurde, nur weil er das Trikot eines Vereins von drüben trug und einen Bundesliga-Fanclub gründete? Wie soll man begreifen, dass ein Staat einem seiner Bürger mit der Zwangsadoption des Kindes drohte, weil er sich in Borussia Mönchengladbach verknallt hat und nicht in Wismut Aue oder Stahl Brandenburg?

Ähnlich schwer zu verstehen ist die Tatsache, dass Wolle hinter dem Vorhang eisern blieb. Er hielt seinem Verein die Treue, auch wenn ihm diese Zuneigung das Leben so schwer machte. Warum ist er nicht einfach zu Wismut oder Stahl gegangen und hat in der Disco ein schwarzes Hemd getragen, statt des weißen mit dem Mönchengladbach-Wappen über dem Herzen? Das kann vielleicht nur verstehen, wer selbst Fan ist. Oder akzeptiert, dass Wolles Liebe zur Borussia aus Mönchengladbach auch eine Form des Protestes und Widerstands gegen ein versautes System war.

Klein gekriegt haben sie diesen zähen Rheinland-Sachsen nicht. Er trägt noch immer stolz seinen grün-weiß-schwarzen Schal und würde nach eigener Aussage nicht mit Ohrfeigen sparen, sollte einer seinen Verein verunglimpfen. Aber die Jahre in der DDR haben Spuren hinterlassen. Tiefe Wunden, die immer noch nicht verheilt sind. Seelische Narben, die ihn immer daran erinnern, was mal war und immer sein wird. Eigentlich kennt sich Wolle mit Verletzungen aus. Schon im wilden Osten war er vorne dabei, wenn sich bei Fußballspielen die aufgestaute Wut der rebellischen DDR-Jugend entlud und Fans sich mit Fans und der Polizei prügelten. Später, in den nicht weniger wilden achtziger und neunziger Jahren, der schlimmsten Zeit der europäischen Hooligan-Bewegung, war Wolle schon im Westen, aber immer noch auf Fußball-Krawall gebürstet. Kratzer, Wunden und Brüche bleiben bei einem solchen Lebensstil nicht aus. Aber eine gebrochene Nase heilt nun einmal besser als eine angetastete Würde.

»Vor zwei Jahren«, sagt Wolle und der Rauch seiner Kippe wird zu einem Nebelwölkchen, »war ich in der Psychiatrie. Ich war fertig. Völlig am Ende.«

2010 war Wolle wieder in den Osten gezogen, nach Hartmannsdorf bei Chemnitz, einer Frau zuliebe. Die Beziehung lief irgendwann nicht mehr, wie er es sich gewünscht hatte, das Leben eierte so dahin. Schließlich ging es ihm so schlecht, dass er sich ins Auto setzte und das Ende plante.

»Ich fuhr quer durch Chemnitz. Dann kam ich an einer Brücke vorbei. Und wusste gleich: Die isses. Die Brücke, von der ich springen wollte.«

Wolle kann nicht sagen, ob es einen Zusammenhang zwischen seinen Suizidgedanken und seinen Jahren in der DDR gibt. Ich kann es nur vermuten.

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich fuhr nach Hause. Nahm mir vor, mich am nächsten Tag umzubringen. Und ging schlafen.«

Am nächsten Morgen wurde Wolle wach und war krank. So krank, dass er kaum aus dem Bett kam. Zu krank, um sich umzubringen. Statt sich von einer Brücke in Chemnitz zu werfen, holte sich Wolle professionelle Hilfe. Die Ärzte diagnostizierten eine schwere Depression. Und machten ihn wieder so gesund, wie man das eben werden kann, wenn man Depressionen hat.

In einer Dönerbude ist noch Leben. Und Fleisch am Spieß. Eine kurze Pause in diesem Interview, das doch eigentlich ein Nachhauseweg werden sollte. Dann haben uns die leeren Straßen wieder. Mönchengladbach im Nebel. Das ist so nasskalt fröstelnd, wie es klingt.

Kurz bevor wir seine Wohnung erreichen, erzählt mir Wolle von seinem Traum. Er würde gerne der Zivilisation, dem normalen Leben mit einem Dach über dem Kopf, Werk- und Feiertagen, den ganzen Normen und Regeln entfliehen. Ein Einsiedlerleben führen, irgendwo im Wald. Wie man sich eine wetterfeste Unterkunft baut, weiß er, seit er beim Cowboy und Indianer spielen in einem kleinen Dorf bei Dresden immer Indianer sein wollte. Wolle will weg. Keine Gesellschaft mehr, keine Regierung, niemand, der ihm sagt, was er tun soll oder besser lassen sollte. Kein Chef. Keine Angestellten. Kein gar nichts. Die totale Freiheit. Wolle weiß, dass das möglicherweise auf ewig eine Utopie bleiben wird. Er hat Kinder und Enkel, Freunde, Bekannte, einen Job, den Fußball, seine Borussia. Die Verpflichtungen des Lebens. Aber wer in der DDR groß geworden ist, der kennt sich aus mit der Träumerei von einer anderen, vielleicht besseren Existenz.

»Warum willst du in den Wald, Wolle?«

»Weil ich glaube, dass ich dort glücklicher wäre.«

Wolle vertraut dem System nicht. Systemen generell. Er lebt in einer der freisten und sichersten Demokratien der Welt, aber er glaubt nicht an die deutsche Gesellschaft. Er ist in einem System groß geworden, dessen Vertreter ihn fertigmachen wollten. Kein Wunder, dass er so über Systeme denkt.

Fußball. Die DDR. Borussia Mönchengladbach. Die Stasi. Freunde, die zu Verrätern wurden. Ausreiseanträge. Klärungen von Sachverhalten. Knast. Liebe, Freiheit, Hass. Brücken in Chemnitz. »Vastehste?!«

1

Willkommen in der Freiheit

Es klingelt. Es klingelt so aufdringlich lange, dass Kony sich schon denken kann, wer das ist. Sie öffnet die Tür. Vor ihr stehen zwei Männer in dicken, langen Mänteln. Dresden im Januar 1985. Es ist bitterkalt draußen. Aber nicht nur deshalb fröstelt die junge Frau. Einer von den Männern klappt kurz seinen Ausweis auf und sagt: »Sie haben morgen um Punkt sieben Uhr auf dem Ministerium des Innern zu erscheinen. Bringen Sie Ihre Papiere mit.«

Die beiden Herren verschwinden. Als sie sich wieder beruhigt hat, rennt Kony aus der Tür. Ihr Freund Wolle hat gleich Feierabend im VEB für Materialtechnische Versorgung. Diese Nachricht will sie ihm so schnell wie möglich überbringen. Sie erwischt ihn kurz vor seinem Betrieb.

»Schatzi, die Stasi war da. Morgen um sieben sollen wir dort auftauchen.«

Wolles Gedanken beginnen zu rasen. Was wollen diese Schweine jetzt schon wieder von ihm? Mit welchem Sachverhalt wollen sie ihn diesmal konfrontieren? Seit Jahren führt der Geheimdienst einen Kleinkrieg gegen Wolle. Er beißt die Zähne zusammen. Der Hass kommt schnell und lässt kein logisches Handeln zu. In solchen Momenten könnte Wolle töten. Oder zumindest ein Nasenbein zerschlagen. Dann lässt die Wut wieder nach. Wie Wasser bei Ebbe. Und er kann wieder klare Gedanken fassen.

Am Abend spricht er darüber mit seinem Kollegen Rainer. Mit ihm kann er offen über solche Themen reden. Rainer weiß, dass Wolle schon seit vielen Jahren die DDR verlassen möchte und deshalb mit ihrer Führung im Clinch liegt.

»Um sieben Uhr, sagst du?«, fragt Rainer.

»Ja«, antwortet Wolle.

»Dann geht es los, mein Freund.«

Rainer erklärt seinem jungen Kollegen, dass es eigentlich nur eines bedeuten kann, wenn man eine Stunde vor den offiziellen Öffnungszeiten im Ministerium des Innern aufschlagen soll. In diesem Zeitraum werden die Ausreiseanträge bearbeitet. Menschen, die seit Jahren auf diesen ganz speziellen Abschiedsgruß warten, bekommen von den Geheimdienstmitarbeitern genaue Anweisungen, wie sie sich ab sofort zu verhalten haben. So soll verhindert werden, dass glücklich vorfreudige Republikflüchtlinge ihren Mitbürgern im Warteraum über den Weg laufen.

Immer schön die Schnauze halten, denkt Wolle. Immer schön geduckt bleiben. Das könnte sich die DDR auch auf die Nationalflagge sticken lassen.

Seit fast zehn Jahren wartet Wolle auf diesen Tag, den Tag der Ausreise. Damals hat er seinen ersten Antrag gestellt. Aber eigentlich wartet er schon sein Leben lang. Es ist nicht so, dass es für ihn sehr überraschend kommt. Seit einigen Wochen verdichteten sich die Zeichen. Die Stasi hatte erstaunlich oft hinter ihm her geschnüffelt. Wie ein Köter, der seine Nase in die Scheiße eines Artgenossen steckt. Sie hatten bei ihren Nachbarn geklingelt und sich erkundigt, ob er und Kony sich an die Hausordnung halten würden. Und eines Tages, ziemlich weit vor der Ziellinie des vergangenen Jahres, Wolle arbeitete da bereits als Lagerist und Beifahrer im VEB, hatte ihn sein Kombinatsleiter Jürgen zur Seite genommen. Jürgen, dessen Schwägerin aus Stuttgart stammt, hatte den Kofferraum aufgeklappt und Wolle damit kurz die Sprache verschlagen. Die komplette Kofferrauminnenseite zierte die Flagge vom VfB Stuttgart. Du auch?, hatte Wolles Blick gefragt und Jürgen hatte genickt.

»Habt ihr euch denn schon Koffer besorgt?«, hatte Jürgen gefragt.

»Warum?«

»Für die Ausreise. Da braucht ihr große Koffer.«

Dann waren Jürgen und Wolle wieder an die Arbeit gegangen. Wolle vermutete, dass der Kombinatsleiter gute Verbindungen ins Innere hatte, vielleicht schon wusste, was noch niemand wissen sollte, und ihm einen kleinen Tipp unter Bundesliga-Freunden geben wollte.

Um Punkt sieben Uhr sitzen Kony und Wolle vor einem Schreibtisch. Sie erhalten einen Laufzettel, darauf eine nicht enden wollende Liste mit behördlichen Kontaktadressen und leeren Stempelkästen. Tatsächlich: Das junge Paar darf seine Zelte in der DDR abbrechen. Doch selbst das ist in diesem Land sehr umständlich. Erst wenn die Stempelabdrücke beweisen, dass sie weder Schulden noch uneheliche Kinder haben, kein Haus bauen wollen und sich überall abgemeldet haben, dürfen sie gehen. So etwas kann dauern. Und viel Zeit haben sie nicht. Die Stasi wird sich melden. In 24 Stunden. 48. Vielleicht 72. Und deshalb wollen Kony und Wolle vorbereitet sein.

Die beiden laufen zu Herbert, einem Freund, der bereits seine Hilfe für ihre Ausreise angeboten hat. Auch er will raus. Und in diesem Moment noch wichtiger: Herbert hat ein Auto. In Herberts Wartburg beginnt eine abenteuerliche Expedition durch den Dresdener Behördendschungel. Als am Nachmittag alle Ämter schließen, haben Kony und Wolle den Laufzettel tatsächlich voll. Ein unglaublicher Kraftakt. Herbert und sein Wartburg haben treue Dienste geleistet. Als das Paar die Zettel abgibt, nimmt ein grauer Mann das regungslos zur Kenntnis: »Ihr Antrag wird jetzt geprüft. Sie hören von uns.«

Zurück in ihrer Wohnung schließt sich Kony auf der Toilette ein und weint. Die letzten Jahre waren die Hölle. Seit sie Wolle kennt, seit der Sache auf dem Rummel im Sommer 1979, ist ihr Leben immer komplizierter geworden. Das Land, in dem sie geboren ist, hat sich vorgenommen, sie so oft wie möglich zu bestrafen und zu demütigen. Für den Mann, in den sie sich verliebt hat. Und für den Schrieb, den sie vor Jahren an die Behörden geschickt hat.

Als sie sich wieder beruhigt, kocht sie etwas zu Essen. Es gibt Kaninchen. Ihr Vater hat es neulich bei seinem Besuch aus ihrer Heimat Bad Kösen mitgebracht. Er war da, um ihr zu helfen. Denn ihr Sohn Daniel geht nicht mehr in die Krippe und sie nicht mehr zur Arbeit. Nach ihrer Zwangsversetzung in die Schuhfabrik war sie durch die harte Arbeit und das systematische Mobbing der Kolleginnen völlig am Ende. 48 Kilo wog sie nur noch. Nie wird sie vergessen, wie ihre Eltern ihr damals zu Hilfe eilten. Regelmäßig schaut ein Elternteil deshalb nun nach Tochter und Enkelsohn. Morgen wird Kony ihren Eltern sagen, dass sie ihre Tochter vielleicht niemals wiedersehen.

Später, als Wolle Pfeffi trinkt und Kaninchen verdaut, kommen ihm Zweifel. Was, wenn die ganze Aufregung umsonst ist und die Stasi mal wieder etwas initiiert hat, um ihm und seiner Familie das Leben schwerzumachen?

Am nächsten Morgen ruft er seine Mutter an, die in einem Kindergarten ein paar Straßen weiter arbeitet.

»Mutti, ich bin’s«, sagt Wolle.

»Was ist los?«, fragt seine Mutter.

»Die Stasi war da. Wir dürfen wohl endlich raus. Rüber in den Westen. Nach Hause.«

Stille. Irgendwann hört Wolle die Stimme der Chefin seiner Mutter.

»Herr Großmann, Ihre Mutter kann gerade nicht mehr sprechen.«

Zeitsprung in Wolles Wohnzimmer. Januar 2017. An der Wand hängen Borussia-Blechschilder und Indianerdevotionalien. Bücher über Huskys stehen im Wandschrank. Eine kleine, aber gemütliche Wohnung am Stadtrand von Mönchengladbach. Am Tisch sitzt Wolle und starrt aus dem Fenster. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er sich an das Telefonat mit seiner Mutter erinnert. Wie so oft, wenn ihm etwas richtig nahegeht. Sobald seine Mutter und die DDR zur Sprache kommen, kann Wolle nicht mehr. Dann überkommt ihn kalte Wut. Und man weiß nicht, welcher Art die Tränen in seinen Augen sind.

Am Abend kommen Wolles Eltern und seine beiden jüngeren Geschwister Dieter und Carmen. Und natürlich Botte. Es gibt Pfeffi und Kirsch. So vieles, auf das man anstoßen sollte. So viel Vorfreude, die begossen werden muss. So viel Aufregung, gegen die es jetzt ein Schnäpschen braucht. Und so viel Abschiedsschmerz, den der Alkohol betäuben muss.

Als es schon sehr spät ist und die Zungen gelockert sind, nimmt Botte Wolle zur Seite. Wolle kann sich keinen besseren Freund als diesen Kerl vorstellen, der so anders ist als er, und doch so ähnlich. Beide sind sie unsterblich in die eine verliebt, aber im Fußball ist Polygamie glücklicherweise die einzig mögliche Beziehungsform, die Borussia ist für alle da. Wolle und Botte haben so viel Scheiße durchgemacht, dass es für fünf Freundschaften reicht. Sie haben zusammen gesoffen, getanzt, gesungen, gelacht und geweint. Haben zusammen geträumt und sind dafür eingesperrt worden. Unzählige Male ist der besonnene Botte eingeschritten, wenn sein Kumpel drauf und dran war, noch weiter in die Scheiße zu galoppieren. Und unzählige Male hat Wolle es Botte auf seine Weise zurückgezahlt. Als sie beide mal wieder für ihre Liebe im Knast gesessen hatten, als sie sich anschließend gegenseitig die Wunden lecken mussten, da hatte Wolle zu Botte gesagt: »Irgendwann stehen wir zusammen auf dem Bökelberg. Ich schwöre es dir.« Und Botte hatte nur genickt. Doch während Wolle dafür bereit war, die DDR zu verlassen und in ein neues, unbekanntes Leben zu starten, war Botte wie üblich zurückhaltender und vorsichtiger geblieben. Seinen Freund jetzt tatsächlich zu verlieren, vielleicht für immer, diese Vorstellung bricht Wolle das Herz. Aber Botte wäre nicht Botte, wenn er nicht auch das verhindern würde.

»Ich muss dir was sagen, Wolle.« Und dann erzählt Botte, dass auch er die Ausreise beantragt hat.

»Das hätte ich ihm, ehrlich gesagt, nicht zugetraut«, sagt Wolle und schenkt uns Kaffee nach. »Dass er den Mumm hatte und den Stasi-Idioten gesagt hat, dass er raus will.« Wolle macht eine Pause, zieht an seiner Kippe und schaut dem Rauch nach, der in seinem Wohnzimmer langsam Richtung Decke steigt. »Botte war Borusse durch und durch. Aber das kam für mich überraschend. Allein die Vorstellung, ich und Botte zusammen auf dem Bökelberg …« Dann fängt Wolle tatsächlich an zu singen: »Siehst du das schwarz-weiß-grüne Fahnenmeer? Dort hinter dem Tor, dort stehen die Fans vom Bökelberg und sie rufen im Chor: Borussia! Borussia! Wir bleiben dir treu, du wirst ewig unsere Liebe sein …« Als er sich grinsend die nächste Kippe anzündet, frage ich: »Alles wegen Fußball, Wolle?« Er schaut mich an. Zieht den Kopf etwas zurück wie immer, wenn ihn etwas irritiert, stört, verärgert. Und sagt dann: »Ich hab’ die DDR doch nicht verlassen, weil mir die Wurst nicht schmeckte. Sondern weil ich auf den Bökelberg wollte!«

Botte also auch. Die Freunde gönnen sich noch einen Absacker. Dann gehen Kony und Wolle schlafen.

Der nächste Tag. Es gibt noch zu viel zu tun. Besitztümer müssen aufgeteilt werden. Wer bekommt die Couchgarnitur? Wer den Küchentisch? Wann holt Rainer die Stereoanlage ab? Die Koffer müssen gepackt werden. Pro Erwachsener einer plus eine Extratasche für Schuhe. Damit der große Abschied möglichst klein aussieht. Die Vorgaben der Stasi sehen außerdem zehn handschriftlich anzufertigende Inhaltsverzeichnisse für jeden Koffer und jede Tasche vor. Reine Schikane. Aber Kony achtet penibel auf jedes Kleidungs- und Erinnerungsstück, jedes Mitbringsel. Was sie nicht aufschreibt, ist der halbe Kofferinhalt von Wolle. Gläser von Borussia Mönchengladbach. Wimpel von Borussia Mönchengladbach. Schals. Mützen. Die Jeansweste. Fotos von Spielern, die in Rahmen stecken, die Wolle aus Dresdener Hausfluren geklaut hat. Insignien seiner großen Liebe. Und die lässt man nicht zurück. Aber man versteckt sie besser gut oder hofft darauf, dass sie niemand findet.

Mitten in dieser Zeit des Wartens, des Hoffens, des Packens und des Abschiednehmens, wechselt Wolle seine Arbeitsstelle. Sein neuer Arbeitgeber ist ein privates Unternehmen. Bei Miersch und Stephan KO wissen sie von Wolles Ausreiseplänen, sie haben ihn trotzdem unter Vertrag genommen. Und nun erscheint er an seinem ersten Arbeitstag mit einer Kiste Bier und ruft den neuen Kollegen zu: »Meine Einstandskiste! Und meine Ausstandskiste.«

Am 13. Februar 1985 werden Kony und Wolle darüber informiert, dass sie am nächsten Morgen in der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt zu erscheinen haben. Einen Tag später, es ist ein Freitag, knallt ihnen einer der grauen Herren ihre Urkunde »Entlassung Staatsbürgerschaft« auf den Tisch: »Sie haben 24 Stunden Zeit, die DDR zu verlassen.«

Draußen vor dem Gebäude fallen sich Kony und Wolle in die Arme. Der erste Weg führt das Paar zum Bahnhof Dresden-Neustadt. Hinter dem Schalter erkennt Wolle seine Schulfreundin Martina. Großes Hallo.

»Drei Fahrkarten nach Frankfurt am Main, bitte. Erste Klasse. Für den Zug um zehne«, sagt Wolle.

»Kriegste bei mir nicht«, sagt Martina und versteht dann. »Sag bloß, du hast die Ausreise?« Wolle nickt. Martinas Stimme wird etwas leiser: »Mensch, da freu ich mich für dich!« Sie schiebt ihm die Tickets zu.

Mit den Fahrkarten in die andere Welt in den Taschen fahren Kony und Wolle in ihre Wohnung. Dort überprüft Kony noch einmal alle Koffer, Wolle beobachtet seinen Sohn und weiß, dass der schon morgen im Westen aufwachen wird. Der letzte Tag in der DDR rauscht vorbei und als sie endlich in den VW Käfer von Rainer und Steffi steigen, Wolles Familie im Trabant hinterher, ist es bereits später Abend.

Der Zug nach Frankfurt geht um 22 Uhr. Noch bleibt der Gruppe etwas Zeit, um sich anständig voneinander zu verabschieden. Aber wie macht man das, wenn es vielleicht ein Abschied für immer ist? Vernünftig ist daran gar nichts. Und so stehen sie da, warten und wirken dabei etwas verloren. Es fühlt sich an wie das Ende. Für Kony, Wolle und Daniel ist es ein Neuanfang, aber ihre Freunde und Familien bleiben hier. Wer weiß, ob und wann sie sich jemals wiedersehen. Was aus ihnen allen wird. Kleine Figürchen im großen Brettspiel der Weltmächte. Kony ahnt es in diesen Minuten zum Glück nicht, aber für ihre Familie, die bislang relativ unbescholten ein einfaches, aber glückliches Leben führte, werden nach ihrer Ausreise schwere Zeiten anbrechen. Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Brüder wird man dafür bestrafen, dass sie das Land verlassen hat.

Der Zug fährt ein. Wolle wuchtet die Koffer ins Abteil. Draußen am Gleis beginnt die Abschiedszeremonie. Wolles Mutter weint. Sie freut sich so für ihn. Sie vermisst ihn schon jetzt. Ihr Großer, der sich seinen Traum erfüllt.

»Grüß alle«, sagt sie. »Und mach keinen Blödsinn!« Mehr ist nicht drin.

»Mach ich, Mutti«, verspricht Wolle.

Der Schaffner bläst in seine Trillerpfeife. Fanal des Abschieds. Wolle und Kony schauen aus dem Fenster. Der Zug fährt an. Sie winken und weinen. Und rufen irgendwas. Und die Menschen auf dem Gleis werden immer kleiner. Bleiben zurück. Kurz bevor der Zug endgültig den Bahnhof verlässt, reckt sich Wolle noch einmal aus dem Fenster und brüllt mit erhobener Faust in die Dresdener Nacht: »Borussia! Borussia!«

Wolle starrt auf den Tisch. Er schweigt, die Kippe ist erloschen, im Kaffeebecher wartet die letzte Pfütze auf den Ausguss. Er beißt sich auf die Unterlippe, die Augen füllen sich wieder mit Tränen. Aber er weint nicht. Wie ein übervolles Glas, dessen Inhalt man erstmal vorsichtig abschlürfen muss. Durch Wolles Kopf fährt ein Zug, er sieht seine Mutter weinend am Bahngleis stehen, beobachtet, wie sein Vater den Arm um seine Mutter legt. Das war jetzt einfach sehr viel. »Ich glaube, ich muss noch einkaufen«, murmelt Wolle. »Und ich brauch ’n Schluck Wasser. Oder ’ne Pulle Whisky.«

Die Fahrt dauert jetzt schon eine Stunde. Sie rauschen durch die Nacht und in Dunkeldeutschland ist es wirklich sehr düster. Kony hängt ihren Gedanken hinterher. Was sie im Westen erwartet, weiß sie nicht. Sie hat dort keine Familie, keine Freunde, niemanden. Nur Wolle und dessen Leute. Und natürlich Daniel. Der ist kurz nach Fahrtbeginn eingeschlafen und wird erst in einem anderen Land aufwachen. Monoton rattert der Zug durch die DDR. Tatamm, tatamm, tatamm, als habe irgendein Strolch alle paar Meter Münzen auf die Gleise gelegt. Jeder DDR-Bürger kennt dieses Geräusch, denkt sich Kony. Daran, dass sie gegenwärtig staatenlos ist, denkt sie nicht.

Der Interzonenzug passiert jetzt ihre Heimat. In Bad Kösen ist kein Halt vorgesehen, aber die Schienen verlaufen direkt vor ihrem Elternhaus. Dort am Bahnübergang, gleich hinter der Schranke, stehen Konys Familie und enge Freunde. Sie haben Öllampen, Fackeln und Zugabschlussleuchten in der Hand und winken zum Abschied.

»In diesem Moment habe ich erst wirklich begriffen, dass ich die vielleicht nie wiedersehe. Dass die eingesperrt bleiben, während ich abhaue«, sagt Kony und die Erinnerung an ihre Leute im Lichterschein steckt ihr wie ein viel zu großer Bissen im Hals.

Kony kann nicht aufhören zu weinen. Wolle kann nicht aufhören, an die Freiheit zu denken. Und daran, was jetzt noch alles passieren könnte. Weit nach Mitternacht erreicht der Zug den Grenzbahnhof Gerstungen. Wattstarke Flutlichter erhellen, was trotzdem dunkel aussieht. Neben den Schutzweichen stehen Uniformierte mit Schäferhunden. Die Tiere bellen. Wie in den alten Nazifilmen, denkt Kony, und die Angst schnürt ihr die Kehle zu. Die Grenzer steigen in ihren Waggon, Stiefel stampfen, Hunde knurren. Den kleinen Daniel scheint das nicht zu stören, er schläft tief und fest und träumt hoffentlich nicht von diesem Bahnhof. Wolle und Kony lauschen den Geräuschen. Aufgerissene Türen, pampige Befehle, geöffnete Koffer. Wolle denkt über seine Borussia-Devotionalien und die 50 Westmark nach, die ihm seine Mutter zum Abschied geschenkt hat und jetzt zwischen zwei Hemden versteckt sind.

Die Tür geht auf, ein dicker Mann und eine Frau mit strenger Frisur erscheinen. Das Abschiedskommando der DDR. Das Duo fragt nach den Papieren, Kony überreicht sie ihnen, während Wolle sich bemüht, die Koffer von der Gepäckablage zu wuchten. Heute wird er ihnen in den Arsch kriechen, wenn nötig. Jetzt kann alles passieren. Da sagt der dicke Mann: »Lassen Sie mal die Koffer, das passt schon, wir wollen doch den Kleinen nicht wecken.« Die Frau nickt streng. Die beiden DDR-Beamten verabschieden sich und schließen die Tür. Keine Drohungen, keine Schikanen, kein Kofferdurchwühlen mit anschließendem Palaver, nichts.

Als die DDR mit ihnen fertig ist, stehen kurze Zeit später zwei Beamte vom Bundesgrenzschutz im Abteil. Als einer der Herren die Papiere prüft, schaut er hoch und fragt: »Ausreise?« Kony und Wolle nicken. Der Grenzer drückt die Brust raus, lächelt und sagt dann: »Willkommen in der Freiheit.«

2

Weistropp

Eigentlich ist Wolles Großmutter Elisabeth Knübben an allem schuld. Die Dame wohnte Mitte der fünfziger Jahre mit ihrem Mann Martin in Rheindahlen, ein paar Fußballfelder von Mönchengladbach entfernt. Oma Elisabeth hatte sieben Kinder, davon vier Töchter, und die sollten gefälligst anständige Burschen heiraten. Die drei jungen Männer, die 1956 der Arbeit wegen aus dem fernen Weistropp bei Dresden nach Rheindahlen kamen, fand die Oma anständig genug. Also nahm sie sich vor, Hans Großmann und seine beiden Cousins Herbert und Harald mit ihren Töchtern zu verkuppeln. Frauen können das einfach. Herbert heiratete Käthe und Hans ihre Schwester Antoinette, die alle nur Anita nennen. Am 5. Juni 1957 kam ihr erstes Kind zur Welt. Hans und Anita gaben ihm den Namen Wolfgang. Der war zwei Jahre alt, als seine Eltern entschieden, ihren Lebensmittelpunkt in den Osten zu verlegen. Die Behörden in Weistropp, der Heimat von Hans, hatten ihnen eine Wohnung zugesagt. Und Anita Großmann noch ganz andere Dinge versprochen.

Das ist Wolles Urkatastrophe: die Erinnerung daran, wie die DDR-Behörden seine Mutter beschissen. Wie sie ihr, die ihre Wurzeln in Westdeutschland hatte, versprachen, jederzeit in die Heimat reisen zu können, wenn ihr denn danach sei. Wie sie ihr in die Augen schauten und dabei logen. Spätestens, als in Berlin im August 1961 eigentlich niemand die Absicht hatte, eine Mauer zu bauen, und dann doch eine gebaut wurde, war Wolles Mutter Anita in der DDR eingesperrt. Schon bei unserem ersten Gespräch, erzählte mir Wolle: »Meine Mutter ist daran zu Grunde gegangen.« Und dann hatten sich seine Augen mit Tränen gefüllt. Das wird sich in den kommenden Wochen und Monaten wiederholen, sobald ihm diese große Ungerechtigkeit wieder ins Gedächtnis kommt. Sie hat Wolles Leben entscheidend beeinflusst. Manchmal haben ihm die Emotionen geholfen, seinen Weg zu gehen. Sehr häufig aber waren sie wie Räuberbanden am Wegesrand, die einem alles nehmen. Und dann musste auch er wieder von vorne anfangen.

Doch selbst als eine Mauer das Leben in der DDR erschwert, wollen sich Hans und Anita nicht davon abhalten lassen, ein eigenes Leben aufzubauen. Wolfgangs Bruder Dieter kommt 1961 zur Welt, Nachzüglerin Carmen 1965. Die Familie wohnt zunächst in einer Dachgeschosswohnung, direkt über einem Gasthof, den Hans und Anita später einige Zeit lang nebenbei bewirtschaften. Links die Schlafzimmer, in der Mitte das Wohnzimmer, rechts die Küche, Etagenklo. 1963 folgt der Umzug in ein ehemaliges Altersheim am Rande des Dorfes, mehr Platz, ein Aufstieg. Hans arbeitet als Kranführer und Staplerfahrer für den VEB Wärmegerätewerk Dresden im nahen Cossebaude, Anita wird in der Gießerei eingestellt. Die Großmanns sind beliebt. Wenn Wolles Vater mit seinem Stapler über das Firmengelände rollt, rufen die Kollegen: »Da kommt der lachende Hans!« Weistropp ist von fruchtbaren Feldern umgeben, in den Gärten züchten sich die Menschen, was sonst schwer zu bekommen ist. Der leichte Aufschwung der DDR-Wirtschaft durch das »Neue Ökonomische System« ist auch auf dem Land zu spüren.

Wolle erinnert sich an volle Felder und Vesper mit Verpflegungsbeuteln voller Obst und Wurst. In Gedanken klaut er gerade Äpfel, Birnen und Kirschen beim Nachbarn und fackelt bei seiner ersten heimlichen Kippe aus Versehen das Kornfeld ab. »Ich hatte eine schöne Kindheit.«

Kinder können noch nicht so viel mit Grenzen anfangen. Und doch wird Wolle regelmäßig daran erinnert, dass dort, hinter jener ominösen Mauer, eine andere Welt existiert. Eine Welt, in der er geboren ist und aus der als Abgesandte die Verwandtschaft seiner Mutter alle paar Monate aufschlägt. Tanten, Onkel, Großeltern und Cousins kommen mit West-Kaffee, West-Kaugummi, West-Kondensmilch, West-Schokolade. Wolle trägt West-Jeans und West-Hemden. Mit 13 nimmt ihn ein Lehrer zur Seite, um Wolle zu fragen, ob er diese todschicken Stiefel mit Fransen selbst gestaltet hat. Und Wolle kräht: »Die hab’ ich aus’m Westen!« Was ihm mal wieder Ärger einbringt.

Er weiß nicht, dass die Verwandten seiner Mutter auf Urlaube verzichten, um die in der Zone Eingesperrten mit Produkten aus der Heimat zu beliefern. Wenn die Familienmitglieder wieder abreisen, sieht Wolle den Abschiedsschmerz seiner Mutter, rennt anschließend über die Wiesen zur nahegelegenen Bahnstrecke und winkt dort wie wild dem Zug, der mit hoher Geschwindigkeit ganz offensichtlich seine Verwandten in den Westen bringt. Erst Jahre später erfährt Wolle, dass er in all den Jahren einem anderen Zug gewunken hat.

Wolle verbringt sein noch junges Leben mit dem Pflücken von Beeren und Birnen, die seine Mutter dann einkocht. Er macht Heu und schaut seinem Opa, dem einzigen Parteimitglied der Familie, dabei zu, wie er Hasen mit der Handkante tötet. Er liebt die Matchbox-Autos und Legosteine der Gladbacher Verwandtschaft. An einem Weihnachtsfest bekommt Wolles Vater von seinem Schwager einen Satz Gläser mit den Gesichtern der Spieler von Borussia Mönchengladbach geschenkt. Hans Großmann ist großer Fan von Dynamo Dresden, die Fahne seines Herzensclubs ist selbstverständlich an seinem Gabelstapler befestigt. Sein Sohn schenkt den Gläsern zunächst wenig Beachtung. Fan ist er eher von den älteren Jungs, die Fuchsschwänze an ihren Jawa-Motorrädern befestigt haben und im Wald angeblich Mädchen knutschen. Er spielt Fußball. Und fast noch lieber Indianer. Den Besuch im Karl-May-Museum in Radebeul wird er nicht vergessen. Er baut Kanus, die absaufen, und schließt Freundschaften, die ein Leben lang halten sollen. Sein Freund Ulrich und er werden sogar Blutsbrüder und ritzen sich dafür mit einer alten Glasscherbe in die Hand.

»Wir haben uns damals geschworen, einmal zusammen nach Amerika zu fahren«, sagt Wolle. »Nur wussten wir noch nicht, dass das unmöglich war.«

Wolles erste große Liebe heißt tatsächlich Lolita. Der 13-Jährige lässt sich den Kopf verdrehen und lernt, dass das auch wehtun kann. Er ist nicht, wie so viele andere, in der FDJ, wird kein Pionier. Auch wenn die Stasi-Akten etwas anderes behaupten. Seine Mutter ist katholisch erzogen worden, inzwischen aber zum evangelischen Glauben übergetreten. Die Großmanns sind keine großen Kirchgänger, aber linientreu sind sie ganz sicher nicht. Wenn Wolles Opa seinen realsozialistischen Zeigefinger hebt, nehmen sie ihn nicht ernst. Auf dem Dorf ist das noch möglich. Hier gelten eigene Gesetze, die sein Vater entsprechend ausnutzt. Wie fast alle im Dorf haben auch die Großmanns eine meterlange selbstgebaute Antenne im Garten stehen. Damit bekommen sie, unweit vom Tal der Ahnungslosen in Dresden, West-Programme rein. Wolle wächst mit Bonanza, Rauchende Colts, Am Fuß der blauen Berge und Daniel Boone auf, was seine Leidenschaft für Cowboys und Indianer nur noch verstärkt. Dazwischen laufen Lieber Onkel Bill, die Hafenpolizei und natürlich der Sandmann. Als im März 1971 Muhammad Ali zum Kampf des Jahrhunderts gegen Joe Frazier antritt und verliert, darf Wolle mit seinem Vater die Nacht zum Tag machen.

Ein schönes, ein unbeschwertes Leben. Die Schatten sind noch klein, aber es gibt sie. Wie an jenem Tag, als sowjetische Soldaten beim Rangieren eines LKWs einen Jugendlichen aus dem Dorf überfahren und die Tragödie unter den Tisch gekehrt wird. In der Schule macht Wolle im Russischunterricht einen vermeintlich sowjetfeindlichen Spruch, irgendwie muss man so etwas ja verarbeiten. Der Lehrer schickt Wolle daraufhin nach Hause, seine Eltern werden zum Direktor zitiert – und geigen dem Mann so intensiv die Meinung, dass der viel zu baff ist, weitergehende Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen. Als Wolle an einem Sommertag sein West-Radio auf dem Fahrrad mitnimmt und Hits der Beatles und Rolling Stones durch den Äther jagt, bekommt er Anschiss von einem Dorfpolizisten. Momente, in denen Wolle daran erinnert wird, dass Freiheit in der DDR begrenzt ist wie das Fleisch in der Auslage beim Metzger.

Erstmals richtig dunkel wird es im Sommer 1971. Zu Hause nimmt Wolle ein Telegramm entgegen, Absender ist Oma Elisabeth. Ihr Enkel öffnet es und liest: »Oma Tod Hardy«. Wolle ruft im Wärmegerätewerk Cossebaude an und überbringt seiner Mutter die traurige Nachricht über den Tod ihrer Mutter. Doch Wolle hat das Telegramm falsch verstanden. Das Opfer ist Hardy, der kleine Bruder seiner Mutter. »Du bist wie der Hardy«, hat die regelmäßig gesagt, wenn der kleine Wolfgang mal wieder Mist gebaut hatte. Hardy, Typ Draufgänger, 1966 Deutscher Meister im Seitenwagen-Motocross, hatte seine Schwester nie im Osten besucht. Zu viel Angst vor den Kommunisten. Jetzt ist er tot, verunglückt bei einem Autounfall zwischen Hardt und Rheindahlen. Am nächsten Tag fahren Anita und Hans Großmann nach Dresden-Coswig, um dort auf dem Amt eine Reisegenehmigung zu erwirken. Der Antrag wird noch vor Ort abgelehnt. Anita schießen Tränen der Wut und Verzweiflung in die Augen, sie schreit die Beamten an und muss von ihrem Mann schließlich aus dem Raum gezerrt werden.