Achim Koch
Das neue Manifest
Originalausgabe
© Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2017
www.schruf-stipetic.de
© 2011 Achim Koch
ISBN: 978-3-944359-40-3
Covergestaltung: JBC
Verwendetes Photo: Ikaika / Pixabay
Die Kapitel einleitenden Zitate in der Reihenfolge ihrer Verwendung:
Der Sturm, Shakespeare, übersetzt von Friedrich Schlegel
Louis Pasteur, aus der Antrittsrede als Dekan bei der Eröffnung der Faculté des Sciences in Lille am 7. Dezember 1854, deutsche Übersetzung anonym
Glaube an die Welt, Theodor Fontane
Nachtlied, Joseph von Eichendorff
Curiosités estétiques, Charles Baudelaire, Zitat übersetzt von Achim Koch
Faust II, Johann Wolfgang von Goethe
Maler Nolten, Eduard Möricke
Parmenides, Platon, übersetzt von Franz Susemihl
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung und Vervielfältigung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Nachwort
Autor
Ich habe mich trotz aller Absprachen dazu entschlossen, diesen Bericht zu veröffentlichen, denn mir ist klar geworden, dass keine Vereinbarung der Welt Vertrauen oder Sicherheit bedeuten kann.
Dies kleine Leben umfasst ein Schlaf
All die letzten Jahre hatte ich mit einem schwarzen Loch in meiner Vergangenheit gelebt. Manchmal wusste ich nicht einmal mehr, um welche Zeitspanne in meinem Leben es sich eigentlich handelte. Über Jahre hin hatte ich keinen richtigen Zugriff mehr auf meine Erinnerungen. Als hätte man alle Daten auf einer Festplatte unwiederbringlich zerstört.
Zugleich wusste ich, dass noch irgendwo Sicherungskopien lagern mussten. Eine dieser Kopien lag in mir verborgen.
Zwei Tage vor meinem falschen Geburtstag kam unerwartet alles in Gang.
Es war am 4. Mai 2002. Wir hatten viele Monate lang hart gearbeitet. Im Frühling und im Herbst fallen die meisten Arbeiten an. Im Frühling wollen die Kunden alles für den Sommer vorbereitet haben. Gartentische und Bänke müssen gereinigt und aufgestellt werden. Zäune sind zu streichen. In den Gärten wird gesät und gepflanzt. In den Häusern hatten wir es nur mit Gardinen und Tapeten zu tun. Niemals im Jahr fallen so viele Malerarbeiten an wie in diesen Wochen.
Im Mai war wie üblich fast alles beendet. Ich schrieb meine Rechnungen. Jeden Abend saß ich am Computer. Meine kleine Büroecke hatte ich in unserem Wohnzimmer eingerichtet. Laptop, Drucker, alte Schachteln mit Disketten und CDs, Papier, Kartuschen, Ordner in den Regalen – alles in meiner kleinen Ecke.
Mein Notizbuch, in das ich alle ausgeführten Arbeiten, die Arbeitsstunden, das Material, die Namen und Adressen, die Termine eintrug, lag vor mir. Ich war dabei, eine fünftägige Reinigungs- und Malerarbeit, die wir vor drei Wochen ausgeführt hatten, zu berechnen, die Steuern dazuzurechnen und auf einen Preis zu kommen, der dem Angebot entsprach. Conny schlief auf der Couch, die mitten in unserem großen Wohnraum stand. Der Ton des Fernsehers war leise eingestellt, ich hörte nur Fetzen. Oben aus dem Zimmer von Ruby tönte eine Mischung aus Hip Hop und Asian-Techno. Sie konnte sich mit ihren fast zehn Jahren noch nicht recht entscheiden, was sie eigentlich besser fand.
Plötzlich sprach der Reporter den Namen aus: Dr. Bal Oonka.
Ich sah vom Monitor hoch und über Conny hinweg zum Bildschirm des Fernsehgeräts. Der Reporter stand vor einem alten Haus, einem Mietshaus. Unwillkürlich kam mir ein Name in den Sinn: Feuerbachstraße. Eine alte Straße mit wogendem, glänzendem Kopfsteinpflaster, hohen, fast uneinnehmbaren Kantsteinen. Gleich daneben die dicken Stämme weit ausladender Bäume. Der breite Gehweg, den diese Bäume mit ihren dickledrigen Blättern säumten, war bedeckt mit toter Masse, sodass dort kein Grashalm wachsen wollte. Der Belag bestand aus kleinen grauen Kieseln, aus Asche und Bauschutt von zerstörten Häusern.
Dies ist der letzte Aufenthaltsort Bal Oonkas gewesen, hörte ich die Stimme des Reporters. In diesem Haus ist er gestorben.
Ganz langsam stand ich auf und ging näher an die Couch heran. Conny schlief fest.
Das Haus, seit dem Krieg immer noch schwarz vom Brand anderer Häuser, war niemals renoviert worden. Die breite Durchfahrt zum Hinterhof. Dünne Fensterscheiben, beschlagen von der Feuchtigkeit in den Räumen. Bröckelnder Stuck.
Schnitt. Das Grab. Trostlos.
Schnitt. Der Grabstein, ganz schlicht, ohne Kreuz. 1925 -1999.
Kein Tag, kein Monat. Nur der Name und die Jahreszahlen.
Am 15. August hatte er Geburtstag. Das habe ich niemals vergessen.
Der Reporter strich mit der Hand über den Grabstein und sprach in die Kamera: Die Frau des Verstorbenen war schon vor langen Jahren ausgereist.
Schnitt. Ein kleines Foto von der Familie. Die Köpfe dicht beieinander.
Woher hatten sie es bekommen? Es hatte früher auf seinem Schreibtisch gestanden.
Ich hörte wieder die Reporterstimme: Das gemeinsame Kind, eine Tochter, Kandake, hatte damals, zusammen mit der Mutter, das Land verlassen, den Vater aber immer wieder besucht. Seit vielen Jahren schon gilt sie als vermisst.
Schnitt. Ankunft der Familie, Vater, Mutter, Tochter. Flughafen. Das Empfangskomitee an der Gangway. Ein Blumenstrauß. Küsse für Bal Oonka. Lächelnde Menschen. Fotografen. Kinder mit weißen Hemden und blauen Halstüchern.
Wieder die Stimme: Als Dr. Bal Oonka 1972 aus den USA einreiste, wurde er mit großen Ehren begrüßt. Sein Kommen wurde von einer Propaganda begleitet, wie wir sie nur aus den Zeiten des Kalten Krieges kennen. Sein Tod jedoch wurde von niemandem erwähnt. Und auch nicht die Umstände, die zu diesem Tod geführt hatten. Wie und wodurch starb Bal Oonka?
Schnitt. Berlin. Sommer. Junge Menschen laufen an der Kamera vorbei. Skater, Inliner im Hintergrund.
Der Reporter steht vor einem Universitätsgebäude: Am Institut für Zeitgeschichte bestehen heute Zweifel daran, dass Dr. Bal Oonka eines natürlichen Todes gestorben ist. Vielmehr verdichten sich die Hinweise, dass seine vermisste Tochter an seinem Tod beteiligt war.
Absurd!
Schnitt. Werbung.
Ich hatte mich nicht weiter bewegt, stand immer noch starr vor der Couch. Conny hielt die Fernbedienung locker in der vom Schlaf kraftlosen Hand. Ich beugte mich vor und drückte auf den roten Ausknopf. Rubys Musik war noch zu hören. So laut wie zuvor und doch ganz weit entfernt.
In meinem Kopf fand eine nicht zu unterbrechende Bewegung, ein Transport statt.
Ich sah mich plötzlich im Keller in der Feuerbachstraße. Durch eine Luke wurde Kohle von außen hereingeschüttet und glitt auf einer Holzrutsche auf den Boden. Ich habe nie gesehen, wer sie hineinwarf. Mein Vater ging mit dem Kohlenkasten in den Keller, griff die große Kohlenschaufel und schippte die Brocken in den Kasten. Er nahm den Holzgriff und trug den Kohlenkasten in die Wohnung, öffnete den Ofen und kippte laut Kohlen ins Feuer. Anschließend öffnete er die untere Ofenklappe, rüttelte am Ascherost, zog den Aschkasten heraus, trug ihn nach draußen und schüttete die Asche unten im Hinterhof um den einsamen Baum herum. Glutsteme stoben funkelnd auf wie Glühwürmchen und starben. Der Wind trug den leichten Aschestaub davon, und nur unverbrannte Stücke blieben liegen. Wenn es regnete, verflog die Asche nicht. Die ersten Tropfen verzischten noch, dann mischte sich der Regen mit der Asche zu einer schmierigen Masse.
Ich weckte Conny.
Schlaf nicht so lang. Es ist noch früh am Abend.
Conny rekelte sich, rollte geschickt von der Couch herunter, landete mit dem Rücken auf dem weichen Teppich und blickte mich etwas verstört an: Ist was mit Dir? Hab ich etwas falsch gemacht?
Lasst uns bitte essen, unterbrach ich.
Wir drei müssen nachher zusammen sprechen. Lasst uns also zu Abend essen, sagte ich.
Ein Familienrat? Planen wir wieder einen Urlaub?
Conny, bitte!
Wir saßen in der Küche. Ich hatte keinen Hunger und auch Conny und Ruby aßen kaum etwas. Beide waren sehr gespannt. Ruby hatte sich umgezogen und trug ein neues, weißes Hemd zu sauberen Jeans. Sie liebte Familienratsgespräche über alles und zog auch gern die anderen Mitglieder hinzu: Helena, unsere schneeweiße Katze, die tagsüber schlief, konnte dem Gespräch nichts abgewinnen. Claus, unser Mischlingshund, war wie immer nervös. Sein Blick ruhte nie. Familiengespräche mussten für Claus eine besondere Qual sein. Dennoch bestand Ruby auf seiner Anwesenheit.
Ich muss verreisen, begann ich leise das Gespräch.
Verreisen? Brauchst Du Urlaub?
Ruby sah streng zu Conny hinüber.
Ich muss etwas in Europa erledigen, fuhr ich fort. Und ich muss sehr bald abfahren.
Ruby zog sofort praktische Schlüsse: Wir werden hier gut zurechtkommen. Wir frühstücken zusammen. Ich gehe dann in die Schule. Con zur Arbeit. Ich versorge die Tiere und übernehme Abwasch und Wäsche. Con kauft ein, kocht und kümmert sich um den Müll. Ich mache oben sauber und Con unten. Wann willst Du fahren?
So schnell wie möglich.
Aber warum? fragte Conny.
Ich muss etwas erledigen, antwortete ich.
Aber was? Warum willst Du es uns nicht sagen?
Ihr werdet es ja erfahren, versuchte ich zu beruhigen. Nur jetzt kann ich es selbst noch nicht ganz verstehen. Später!
Später? Was heißt später? fragte Conny. Wie lange willst Du fortbleiben? Und wohin in Europa willst Du reisen?
Helena verabschiedete sich leise.
Vier Wochen. Schätze ich. Mehr nicht. Und ich muss nach Deutschland, erwiderte ich.
Nach Deutschland? rief Ruby überrascht. Nach Deutschland? Wie willst Du von hier nach Deutschland kommen und …
Man könnte es zum Beispiel mit einem Flugzeug probieren, unterbrach Conny liebevoll.
Aber der nächste internationale Flughafen von hier liegt hinter der Grenze, widersprach Ruby.
Na und? meinte Conny. Warum nicht Quebec oder Halifax? Das könnte eine technisch versierte, moderne junge Frau schnell aus dem Computer erfahren.
Ruby sprang auf und verschwand im Wohnzimmer.
Du willst mir wirklich nicht mehr sagen? begann Conny wieder.
Ich schwieg lange.
Ich habe irgendwie das Gefühl, dass es so besser ist. Dass es so richtig ist. Kannst Du Dich darauf einlassen, Conny?
Auf Dein Gefühl? … Gut, Win.
Also? fragte ich.
Conny nickte.
Und es gibt ja auch noch Telefon, Fax und E-Mail, versuchte ich zu beruhigen.
Claus kam in die Küche gestürmt und Ruby folgte: Du kannst morgen fliegen! Von Halifax. Über Kevkasik oder so ähnlich.
Keflavik, verbesserte ich. Das liegt auf Island. Wie teuer?
Nur 400 Dollar, Rückflug innerhalb von drei Monaten.
Können wir am Computer buchen?
Ist mit Deiner Kreditkarte in drei Minuten geschehen, antwortete Ruby und verschwand wieder.
Und Deine Rechnungen? fragte Conny.
Alle werden sich freuen, wenn sie ihre Rechnungen später bekommen, antwortete ich.
Noch am Abend packte ich eine kleine Reisetasche, legte zuerst alles auf unser Bett und sortierte dann aus. Ich wollte so wenig Gepäck wie möglich mitnehmen, weil ich nicht wusste, wie schwierig meine Reise werden würde. Außerdem musste es auch in Deutschland bald Sommer werden.
Nimm das Notebook mit, hörte ich Conny heraufrufen. Dann können wir uns mailen. Das ist sicherer als anzurufen. Schon allein wegen des Zeitunterschieds.
Kann man auch von Deutschland aus mailen? brüllte Ruby aus ihrem Zimmer.
Ja, nachdem sie dort vor Kurzem die Elektrizität eingeführt haben, gab Conny von unten zur Antwort.
Und wie ist der Zeitunterschied? wollte Ruby wissen.
Ich glaube, es sind sechs Stunden, sagte ich.
Früher oder später? fragte Ruby weiter.
Später! brüllte Conny. Bei denen da drüben ist es immer später als bei uns, verstehst Du? Während wir hier reden, zum Beispiel, schlafen die schon, verschlafen sozusagen alles.
Die ganze Nacht hindurch blieben wir Haut an Haut nebeneinander liegen.
Am nächsten Morgen brachen wir auf, nachdem Ruby sich sehr flüchtig verabschiedet hatte.
Sie kann es zurzeit nicht besser, entschuldigte Conny sie.
Ich ließ unseren Wagen vom Grundstück auf die Straße rollen und blieb noch einmal stehen, um auf das Haus zu blicken, auf die blühenden Bäume, den großen Rasen, der fast unser gesamtes Grundstück einnahm.
Was sind das für wehmütige Abschiedsblicke? fragte Conny vom Beifahrersitz.
Ich weiß nicht. Wir haben so viel dafür gearbeitet. Und wir haben uns damit unseren Traum erfüllt.
Es ist doch nur ein kurzer Abschied, Win. Wenn Du wieder hier bist, haben wir noch den ganzen Sommer vor uns.
Ich gab Gas. Wir nahmen den Grenzübergang von Vanceboro nach St. Croix auf der alten Nr. 6. Vor der Grenze nach New Brunswick spürte ich eine Unruhe. Doch schon wegen unseres Kennzeichens aus Maine ließ man uns schnell passieren. Auch hier in Kanada blühte alles. Die riesigen Laubbäume, deren Herbstfärbung die Touristen anzog, entfalteten wieder ihre hellgrünen Blätter.
Erst nachdem wir Chignecto Bay passiert und Nova Scotia erreicht hatten, sprach Conny wieder: Ich war noch nie in Europa. Kennst Du Europa?
Ich schwieg.
Und Deutschland. Im Ernst, Win, was man von da hört, klingt ja nicht gerade gut. Diese Überfälle auf alle, die nicht deutsch aussehen. Denen werden die Häuser angesteckt. Das hört sich nicht gut an.
Ich brummte zustimmend.
Im Ernst, Win. Sei vorsichtig. Leute wie wir müssen in solchen Ländern sehr vorsichtig sein. Kennst Du Deutschland?
Ich schwieg wieder, und Conny gab auf.
Erst nach langen Minuten sah ich zu Conny hinüber.
Du weißt, dass ich Dich über alles liebe, flüsterte ich fast. Connys Hand ergriff meine und ließ auch nicht los, wenn ich sie eigentlich brauchte, um vorschriftsmäßig zu fahren.
Am Flughafen von Halifax fanden wir keinen Parkplatz. Die Fahrer hinter uns hupten, und ich musste sofort einchecken. Es war kein richtiger Abschied. Conny rutschte vor das Lenkrad und war im nächsten Moment mit unserem Wagen zwischen unzähligen anderen Fahrzeugen verschollen. Ich raste zum Schalter der Fluggesellschaft, nahm mein Ticket entgegen, lief weiter, gab meine Tasche auf, erhielt die Bordkarte und stellte mich bei der Passkontrolle an. Und seit langem wieder diese Unruhe.
Pass und Bordkarte, bitte.
Ich schob dem Beamten beides hin.
Sie fliegen nach Hamburg? fragte er mit unbewegtem Gesicht.
Nein, erwiderte ich. Wieso Hamburg?
Weil Sie ein Ticket nach Hamburg gebucht haben, sagte der Mann in einem Tonfall, als wäre ich krank. Und erst in diesem Augenblick begriff ich, dass Ruby, ohne mich zu fragen, einen Flug nach Hamburg gewählt hatte. Natürlich, irgendwo in Deutschland musste ich ja landen. Aber seit dem Bericht im Fernsehen hatte ich überhaupt noch nicht wieder über Deutschland nachgedacht.
Ja, entschuldigen Sie, natürlich nach Hamburg. Über Keflavik.
Der Beamte nahm meinen Pass und sah mir ins Gesicht, wie es sich wohl sonst niemand getraut hätte, der mich nicht sehr gut kannte. Und ohne eine Miene zu verziehen, sagte er: Da stimmt etwas nicht. Sind Sie wirklich Win Silverstein?
Sofort bemerkte ich eine Schwäche in den Knien.
Natürlich bin ich das, versuchte ich mit sicherer Stimme zu antworten.
Dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie viel jünger aussehen als auf diesem fürchterlichen Foto, antwortete der Beamte grinsend, schob mir Pass und Bordkarte herüber und wandte sich der hinter mir stehenden Person zu. Einige Meter hinter der Kabine blieb ich stehen, um meine Fassung wiederzugewinnen. Erst als ich Neufundland unter mir sah, kam ich langsam wieder zu mir.
Warum, um Gottes Willen, bin ich losgeflogen? Warum? flüsterte ich vor mich hin. Und ich fand keine Antwort. Ich hatte keinen Plan. Was hatte mich nur bewogen, diese schnelle Entscheidung zu treffen?
Möchten Sie nach Reykjavik reinfahren oder mit einem anderen Bus zur Blauen Lagune? fragte mich eine Stewardess. Ich verstand nicht, was sie von mir wollte, bis sie mir ausführlich erklärte, bei diesem Flug sei immer ein mehrstündiger Aufenthalt auf Island vorgesehen. Also könne ich mich entscheiden, was ich in dieser Zeit unternehmen wolle.
Wie ist das Wetter auf Island? fragte ich und als ich erfuhr, es sei kalt und regnerisch, aber die Blaue Lagune werde aus thermischen Quellen gespeist, entschied ich mich für diese Lösung.
Ruby hatte mir wirklich einen außergewöhnlichen Flug gebucht.
Nach der Landung wurde unsere kleine Gruppe zu einem Bus geleitet und durch die unwirkliche, baumlose Landschaft Islands zu einem Ort gefahren, der von Weitem aussah wie eine Chemiefabrik mit langen, glänzenden Aluminiumrohren, aus denen dicke Schwaden von Dampf herauspafften. Erst in der Nähe erkannte ich die Lagune, von der verdampftes Wasser aufstieg. Sie sah aus wie ein kleiner, natürlicher See mit verkrusteten Inseln. Ich lieh mir Badezeug, zog mich um und lief durch die feuchte Kälte und die dichten Dampfschwaden an den Rand des Sees, versank langsam immer tiefer in dem grün-blauen, heißen Wasser, streifte mit den Füssen über Muschelreste und stieß gegen Salzbrocken. Als mein Körper aufgeheizt war, blieb ich an einem tiefen Punkt des Sees regungslos stehen, sog den schwefligen Geruch des mineralhaltigen Wassers ein und genoss mit geschlossenen Augen die wohlige Wärme. Die Kälte der Luft, die ich auf meiner Gesichtshaut spürte, störte mich nicht. Mein Körper wurde so sehr aufgeheizt, dass auch mein Kopf bald glühte.
Einfach irre, dass es so etwas gibt! hörte ich eine junge Frau auf Deutsch rufen.
Hatte sie mich angesprochen?
Andererseits, sagte ich mir, würde mich doch niemand auf Deutsch ansprechen, ohne zu wissen, ob ich die Sprache verstand.
Und erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich zum ersten Mal wieder einen Menschen hörte, der sich auf Deutsch unterhielt.
Ich öffnete die Augen und sah die Frau, die die Blaue Lagune so irre fand. Sie trieb, nicht weit von mir entfernt, in Nebelwolken, die sich zuzogen und wieder lichteten. Sie hatte die Haare hochgesteckt. Der Kopf bewegte sich auf dem Wasser wie eine Boje.
Ja, es ist wirklich toll hier drin, rief ich zu ihr hinüber.
Mein erster Satz.
Sie sah mich erstaunt an, als hätte ich etwas Falsches gesagt.
Ah, Sie sprechen Deutsch? fragte sie lächelnd.
Ja, natürlich, antwortete ich. Warum? Überrascht Sie das?
Sie war plötzlich sehr verunsichert, fast eingeschüchtert: Weil … na ja … Sie sehen nicht so aus …
Was jetzt geschehen war, kannte ich schon. Es verlieh mir die allergrößte Sicherheit.
Und wie sehe ich aus? fragte ich sehr freundlich, aber auch sehr scharf.
Sie? Eher … amerikanisch, würde ich sagen.
Das Gespräch brach ab. Mein erstes Gespräch in deutscher Sprache. Es war ganz einfach. Nichts war verschüttet. Ich konnte nach all den Jahren immer noch Deutsch sprechen, als wäre es meine Muttersprache.
Muttersprache. Die Sprache meiner Mutter. Und Conny wusste nichts davon. Und Ruby auch nicht.
Kennst Du Deutschland?
So direkt hatte Conny gefragt.
Ich spreche fließend Deutsch, Conny. Verstehst Du? Jeder in Deutschland wird mich für eine Deutsche halten.
In den zehn Jahren unserer Liebe hast Du mir niemals etwas davon erzählt, Win.
Es war doch in diesen zehn Jahren auch niemals wichtig für uns, Conny.
Win, ich habe Dir so viele wichtige und unwichtige Dinge aus meinem Leben erzählt, von Streitigkeiten mit meinen Geschwistern, von meiner Schulzeit, von meinen kleinen Unfällen. Und ich spreche nur meine Sprache. Wäre es nicht einen Satz wert gewesen zu erwähnen, dass Du eine andere Sprache fließend sprichst? Und dass Du ein anderes Land, dass Du Deutschland kennst? Warum weiß ich das nicht? Wann warst Du dort und wie lange, Win?
Verstehst Du nicht, Conny. Für unser Leben ist das nicht wichtig.
Aber ich möchte mit Dir gemeinsam entscheiden, was für unser gemeinsames Leben wichtig ist, Win. Und auch was wichtig ist, aus der Vergangenheit zu wissen.
Schnallen Sie sich bitte an? schreckte mich die Stewardess auf.
Wir starteten wieder, um nun direkt nach Hamburg zu fliegen.
Hamburg. Ich hatte dort nie gewohnt, kannte niemanden. Zeh war in Hamburg aufgewachsen. Und Eva. Sie hatten sich in der Schule ineinander verliebt und dann in Göttingen studiert.
Die historische Notwendigkeit der Diktatur des Proletariats.
Zeh leitete die Gespräche. Er war organisiert. So nannten wir das damals. Er war Mitglied. Wir anderen befanden uns im Sympathisantenstatus. Jeden Dienstag und Donnerstag trafen wir uns abends in seinem Studentenzimmer. Eva wohnte mit ihm in der kleinen Altbauwohnung. Später hatte auch ich dort ein Bett. Grobe Holzbretter auf gelb angemalten, geklauten Backsteinen. Bücher, unendlich viele Bücher. Mathematik, Philosophie, Geschichte, Elektronik. Auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Italienisch. Wir saßen auf Sperrmüllsesseln, über die breite Patchworkdecken, groß wie Teppiche, gebreitet waren. Der Tisch bestand aus einem Altbaufenster auf niedrigen Arbeitsböcken. Wir tranken Unmengen Tee. Die Chips hatte jemand bei Aldi eingekauft.
Eva. Eva Rubin. Die rote Eva. Sie war unglaublich fleißig. Sozialpädagogik. Sie hatte mehr für ihr Studium gearbeitet als jede andere. Und sie bewunderte Zeh. Deswegen nahm sie auch an all den Gesprächen teil, obwohl sie schon organisiert war.
Die Stewardess bot Pute oder Fisch an.
Könnte ich ein vegetarisches Essen bekommen?
Tut mir leid, das hätten Sie bei der Buchung angeben müssen. Ich versuche, Ihnen später etwas zusammenzustellen.
Vor VW sagt morgens ein Kollege zu Euch, der Sozialismus wäre ja ′ne gute Sache, aber in den nächsten hundert Jahren nicht zu schaffen. Die Macht des Kapitals ist noch zu groß. Was ist an dieser Meinung richtig und was ist daran falsch?
Wir mussten pünktlich zu den Schulungsstunden erscheinen. Rauchen war verboten. Reihum wurde mitgeschrieben. Eine Leninbüste im Regal, ein Foto von Stalin, Bilder von Mao, Enver Hodscha und Kim Il Sung. Wenn ich protokollierte, konnte ich kaum mitdiskutieren. Ich lernte ganze Sätze auswendig: Das ökonomische Grundgesetz des Sozialismus besteht zur Sicherung maximaler Befriedigung der ständig wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft durch ununterbrochenes Wachstum und ununterbrochene Vervollkommnung der sozialistischen Produktion auf der Basis der höchsten Technik.
Die Stewardess brachte Getränke. Ich fragte nach der Uhrzeit.
Vierzehn Uhr in Hamburg.
In zwei Stunden würden wir landen.
Zeh war groß und schlank. Er hatte etwas Asketisches, trug die blonden, dünnen Haare kurz geschnitten, kämmte und rasierte sich regelmäßig. Wie Eva kleidete er sich unauffällig und ordentlich.
Massenlinie! Du musst nicht nur aussehen wie ein Arbeiter, Du musst auch so sprechen wie sie, in ihrem Wohngebiet leben, Mitglied in ihren Vereinen sein, in ihre Kneipen gehen und dort einkaufen, wo sie einkaufen.
Bei Zeh sah es allerdings nicht so aus wie in den Wohnküchen vieler Arbeiter.
Man hängt immer noch an seinem kleinbürgerlichen Lebensstil, erklärte er uns. Das wird sich langsam ändern. Die Umerziehung ist eine langfristige Aufgabe, die uns nur gelingt, wenn wir dauerhaft auf die Massenlinie achten und die Prinzipien von Kritik und Selbstkritik konkret und schöpferisch anwenden.
Konkret und schöpferisch.
Früh morgens verteilten wir Flugblätter vor den Betrieben, und auf langen Sitzungen bis spät in die Nacht hinein diskutierten wir darüber, wie mit den Arbeitern eine kampffähige Partei aufgebaut werden kann. Und heute? Sind sie Beamte geworden? Mit eigenem Häuschen und den alten linken Büchern versteckt in Umzugskartons? Zeh und Eva hatten vor Jahren eine Tochter bekommen.
Eine Durchsage des Piloten. Das Wetter in Hamburg: Sonne, 22 Grad, leichter Wind.
Rumpelnd wurde das Fahrwerk ausgefahren. Ich erkannte kleine Häuser, Gärten, glitzernde Teiche, kleine Gewächshäuser, dann Autos und Menschen. Ich zog meinen Sicherheitsgurt noch fester. Sanft landete das Flugzeug auf der Rollbahn. Klappen auf den Tragflächen richteten sich auf. Ich spürte den Gegenschub und die Bremsung.
Willkommen in Hamburg-Fuhlsbüttel. Bitte, bleiben Sie angeschnallt auf ihren Sitzen …
Dann standen alle auf. Keiner konnte sich bewegen. Plötzlich sah man sich an, roch den anderen. Alkohol, Nikotin, Parfüm. Jeder wollte nur raus. Die Stewardessen verabschiedeten sich an der Ausgangstür.
Flughafen Hamburg. Wieder in Deutschland.
Wir konnten durch den Finger direkt in das Flughafengebäude gehen.
Passkontrolle. EU-Bürger rechts. Die anderen links. Nach links.
Jetzt kann ich nicht mehr zurück.
Ein junger Beamter mit Ohrring und kurz geschnittenem, blondem Haar blätterte umständlich in meinem Pass. Seine Kabine war so konstruiert, dass man nicht auf seinen Arbeitstisch blicken konnte.
So sehen sie immer aus. Bestimmt legt er jetzt meinen Pass auf eine Kopiererscheibe.
Warten.
Mit einem lauten Knall drückte er plötzlich den Stempel in meinen Pass, als hätte er eine wahre Freude an dem Geräusch. Er lächelte und schob mir den Pass wieder zu. Ohne zu zögern griff ich ihn und wandte mich dem schmalen Ausgang zu.
Entschuldigen Sie, hörte ich den Beamten hinter mir rufen.
Mir wurde elend. Ich war wie gelähmt und drehte mich ganz langsam um. Der Mann lächelte immer noch.
Happy birthday, Frau Silverstein!
Tränen schossen mir in die Augen. Alles um mich herum verschwamm.
Der Zufall trifft nur einen vorbereiteten Geist.
Als ich mit meinem Gepäck den Zoll passiert hatte, wusste ich nicht mehr weiter.
Zurück, dachte ich.
Eine Menschentraube erwartete Ankommende. Man rief, fiel sich um den Hals, schenkte sich Blumen oder begrüßte sich nur stumm. Natürlich war ich nicht die Einzige, auf die niemand wartete. Trotzdem empfand ich ein Gefühl von Traurigkeit.
Die Anspannung löste sich langsam. Geschäftigkeit half. Ich musste Geld wechseln und ich ließ mir ein Telefonbuch geben.
Ich suchte Rubin, Eva.
Sie war aus Hamburg.
Rubex. Rubick. Rubien? Sie schrieb sich ohne das e. Rubin-A, Rubin-Hans, Rubin-Theodor. Rubin Conrad. Eva stand nicht im Telefonbuch. Warum sollten sie auch nach Hamburg zurückgezogen sein?
Ich nahm mein Gepäck.
Wie hieß Zeh? Eigentlich Zehzeh. Abkürzungen für Vor- und Nachnamen. Beides mit C am Anfang. Cehceh. Claus hieß er. Und das zweite C? Conrad! Claus Conrad – C.C. … Rubin Conrad! Ein Doppelname vielleicht. Sie wohnen vielleicht doch wieder in Hamburg.
Ich rannte zurück.
Rubin-Conrad, tatsächlich mit einem Bindestrich, kaum zu erkennen. Rubin Bindestrich Conrad. Hochallee. Telefonnummer. Sie wohnen in Hamburg. Ich bin fast sicher. Und jetzt? Was jetzt? Soll ich anrufen?
Mein Name ist Win Silverstein. Ich bin gerade in Hamburg angekommen und würde gern auf einen kurzen Besuch vorbeischauen.
Wie war Ihr Name?
Silverstein! Wer ist denn dort?
Sie sprechen mit dem Anschluss von Rubin-Conrad. Es tut mir leid, wir kennen keine Win Silverstein. Sind Sie sicher …
Guten Tag, hier ist Kan!
Wer?
Kan …
Aufgelegt.
Nein, ich sollte gar nicht erst telefonieren. Einfach hinfahren.
Durch eine Drehtür trat ich ins Freie, in warme Frühlingsluft. Zwei Männer standen direkt neben der Tür. Sie trugen schwarze Lederjacken und sprachen miteinander. Aber sie sahen auch zu mir. Beide um die fünfzig, etwas dick, gescheiteltes Haar, leicht ergraut. Sie sahen aus wie … wie die immer ausgesehen hatten. Ich konnte mich irren, aber hatte ich die beiden nicht schon im Flughafengebäude gesehen, bei den Telefonen?
Taxi? sprach mich der eine an.
Ja, antwortete ich verwirrt. Zur Hochallee, bitte.
Taxifahrer. Sie stehen bei ihren Taxis und unterhalten sich, bis ein Fahrgast durch die Drehtür kommt. Ich befand mich offensichtlich am Rande der Hysterie. Die Angst, die Müdigkeit und die Unsicherheit, in die mich mein plötzlicher Entschluss getrieben hatte – ein gefährliches Gemisch.
Ich saß im Fond und hatte mein Gepäck neben mich gelegt. Der Taxifahrer blickte immer wieder in den Rückspiegel und versuchte meinen Blick einzufangen. Offensichtlich wollte er ein Gespräch beginnen. Aber ich wollte mir die Straßen, die Häuser und die Menschen ansehen, nachdenken und nicht sprechen.
Ist erst der zweite Tag mit diesem schönen Wetter, sagte er gegen die Windschutzscheibe und fixierte mich über den Spiegel. Er roch nach einem teuren Rasierwasser.
Hatten Sie einen guten Flug?
Ich nickte und tat so, als wäre ich durch meine Beobachtungen abgelenkt. Er lächelte.
Aus dem Süden? fragte er.
Nein, antwortete ich kurz. Aus dem Westen.
England? Oder weiter? Aus den USA? bohrte er.
Ein kurzes Ja von mir. Er musste doch merken, dass mir an einer Unterhaltung nicht gelegen war. Er setzte sich eine Sonnenbrille auf. Ray-Ban, schwarzes Gestell und fast schwarze Gläser. Teuer, modern und unpassend für sein Gesicht. Seine Augen waren verschwunden. Er sah jetzt aus wie ein gealterter Rockstar. Die silbernen Haarsträhnen überlappten sich am Hinterkopf.
Tolles Land, die USA. Bin schon mal dort gewesen. Nördlich von New York. Fly and drive. Pennsylvania, Massachusetts, Connecticut, Vermont, New Hampshire, Maine. Wo waren Sie?
Maine, antwortete ich.
Wunderschön! Wir waren eigentlich wegen der Leuchttürme dort. Meine Frau und ich, wir schwärmen nämlich für Leuchttürme. Wir haben Bildbände über Leuchttürme. Das glauben Sie nicht. Und Bilder natürlich. Richtige, gemalte Bilder, in Rahmen und so.
Wir mussten angekommen sein, denn er suchte schon nach dem Haus und war abgelenkt.
Ich nahm mein Geld heraus, sah durch die Scheiben die alte Straße hinab. Hinter kleinen Vorgärten standen alte weiße Villen, aber auch große helle Wohnhäuser im Stil der Gründerzeit. Die hohen Straßenbäume wurden gerade erst grün.
Das wär′s, wandte er sich wieder an mich und drückte gleichzeitig auf irgendwelchen Knöpfen seines Taxametercomputers herum. Die Quittung wurde ausgedruckt. Ich rundete den Betrag auf, öffnete die Tür und verließ das Taxi, bevor er überhaupt seinen Gurt lösen konnte.
Es war ein weißes Eckhaus, in dem sich mehrere Wohnungen befinden mussten. Es wirkte sehr gepflegt und sah aus wie eine Festung. Solide.
Du meine Güte. So wohnen sie jetzt vielleicht.
Über eine kleine Freitreppe aus weißem Naturstein erreichte ich die massige Eingangstür. Dickes, geschliffenes Glas war in altes Eichenholz eingesetzt. Die Klingelreihe zeigte sieben Namen.
Der oberste Name: Rubin-Conrad.
Die Tür ließ sich aufdrücken.
Ich trat in einen hellen, weiten Hausflur. An den Wänden befanden sich geschliffene Spiegel und eingelassene Mosaiken. Der Boden bestand aus Marmor, in dem sich alte Wandlampen spiegelten. In dem alten Fahrstuhl fand ich wieder die Namen. Ich musste in den dritten Stock. Sehr langsam bewegte sich der Fahrstuhl aufwärts.
Um Gottes Willen, Kanny. Das gibt es ja nicht. Nach … meine Güte … so vielen Jahren. Zeh, Du glaubst nicht, wer hier ist. Es ist Kanny.
Der Fahrstuhl bremste vorsichtig ab. Der Weg bis zur pechschwarzen Eingangstür war mit dickem Teppich ausgelegt. Wieder das Namensschild. Messing.
Klingeln. Warten.
Es dauerte einige Zeit, bis sich die Tür langsam öffnete. Eine Frau in einem schwarzen Hosenanzug stand vor mir und sah mich prüfend und abweisend an.
Sie wünschen bitte?
Hinter ihr musste sich eine riesige Wohnung befinden, denn schon der Flur hatte, soweit ich sehen konnte, die Größe einer normalen Familienwohnung.
Guten Tag. Ich würde gern Frau Rubin oder Herrn Conrad sprechen.
Das war wohl falsch gewesen, denn die Frau zog die Augenbrauen hoch: Tut mir leid. Aber Herr Dr. Conrad und Frau Rubin sind nicht zu sprechen.
Die Frau sprach das R nicht aus, sondern ersetzte es manchmal durch ein CH.
Ist denn einer der beiden zu Hause? fragte ich vorsichtig.
Darüber kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Wenn Sie sich bitte telefonisch anmelden würden.
Langsam schob sie die Tür vor ihrem Körper zu.
Aber wann kann ich denn einen der beiden erreichen?
Sie zog die Tür noch einmal einen Spalt weit auf.
Rufen Sie zwischen acht und neun Uhr abends an.
Etwas an mir schien die Frau daran zu hindern, die Tür sofort wieder zu schließen. Der zerknitterte Trenchcoat, in einer Hand die Reisetasche, in der anderen die schwarze Hülle mit dem Notebook. Zuletzt hatte ich mich im Flugzeug gekämmt und ein wenig geschminkt. Sicher sah ich müde, verloren und hilflos aus. Das half, denn immer noch stand die Tür einen Spalt weit offen.
In diesem Augenblick rief eine andere Frauenstimme: Louisa, wer ist denn da?
Das war nicht die Stimme von Eva.
Neben dem Kopf von Louisa erschien eine Hand und zog die Tür wieder auf. Ein Mädchen, vielleicht vierzehn Jahre alt, in einem weißen, bunt befleckten Kittel. Sie trug sehr kurz geschnittene, dunkle Haare und hatte kleine, fast schwarze Augen. Alles war klein an ihr: Der Mund, die Nase, die Augenbrauen, das Gesicht, klein und zart und ernst – oder traurig?
Wer sind Sie?
Die Stimme klang fast scharf und passte nicht zu dem Gesicht.
Ich heiße Kan, antwortete ich. Ich bin eine Freundin von Frau Rubin und Herrn Conrad und wollte sie besuchen.
Beide musterten mich, ohne ein Gefühl zu verraten. Und wahrscheinlich deshalb löste sich bei mir dieser unglaublich alberne Satz: Ich habe heute Geburtstag.
Zuerst hellte sich das Gesicht von Louisa auf. Schnell senkte sie den Blick.
Plötzlich streckte das Mädchen mir die Hand entgegen: Dann wollen wir das feiern.
Sie zog mich in die Wohnung, nahm mir den Mantel ab, zeigte mir Stühle, auf die ich mein Gepäck legen konnte, und forderte mich auf, ihr und Louisa durch den dunklen Flur zu folgen. Wir gingen vorbei an geschlossenen und offenen Türen, Schränken, Glastüren, einer Treppe, Möbeln und um eine Ecke herum in noch mehr Flur.
Die Küche war groß genug, um die Gäste eines mittleren Restaurants zu versorgen. Sie war eindeutig die Domäne von Louisa, die Türen öffnete und Dinge herausnahm, ohne hinzublicken.
Einen Kaffee vielleicht? fragte das Mädchen. Immer noch stand ich hilflos herum.
Ja, Kaffee wäre jetzt gut.
Was für einen Kaffee, fragte Louisa. Ich zog die Schultern hoch.
Mit Koffein? fragte das Mädchen und ich nickte.
Bohnenkaffee, Cappuccino, Espresso oder vielleicht kalten Kaffee?
Es war mir wirklich egal.
O.K., Louisa, sagte das Mädchen wieder, einen doppelten Espresso und ein wenig Gebäck. Wir bleiben hier bei Dir in der Küche.
Sie zog mich vor ein Fenster, an dem ein grober, sicher sehr teurer alter Holztisch stand. Sie drückte mich auf einen der Stühle, zog ihren fleckigen Kittel aus und setzte sich mir gegenüber. Stumm und regungslos, aber neugierig blickte sie in meine Augen. Mit einem Mal schoss ihre Hand wieder hervor und ergriff meine: Sarah. Ich heiße Sarah Conrad. Und Du bist Kanny! Hast heute Geburtstag. Das muss ja auch so sein bei einer, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt oder?
Sie sah mich immer noch starr an. Ihre Stimme war sanfter geworden. Sie stand wieder auf, kam um den Tisch herum und legte von hinten ihre Wangen an meine Haare, streichelte dann mit beiden Händen über meinen Kopf.
Solche Haare, sagte sie. Mami hat mir früher immer Geschichten von Dir erzählt. Abenteuergeschichten. Du hast sie alle erlebt. Sogar meine Puppe hatte Deinen Namen, erklärte Sarah. Und nun gibt es Dich wirklich. Ich glaubte, Mami hätte sich Dich ausgedacht, Dich nur erfunden. Und nun sitzt Du hier in unserer Küche.
Ich griff nach Sarahs Händen, aber sie hatte sich schon wieder zurückgezogen.
Louisa servierte Kaffee und Gebäck. Wir nahmen die Becher in beide Hände und blickten hinein.
Kurz vor der Geburt, fiel mir wieder ein, hatten Eva keine Kleider mehr gepasst. Deshalb trug sie eine Latzhose, die man an der Taille verstellen konnte.
Es wird ein Mädchen, Kanny. Du weißt, wir dürfen uns nicht mehr sehen. Zeh sagt, es sei zu gefährlich. Du darfst nie mehr herkommen.
Der Abschied war Eva nicht leicht gefallen.
Jetzt trage ich die Verantwortung nicht mehr für mich allein. Das verstehst Du doch sicher, Kanny. Versprich mir, dass Du auch nicht mehr anrufst. Und dass Du nichts hier lässt. Du musst alles mitnehmen. Alles. Ich kann Dir jetzt nicht mehr helfen. Vielleicht können wir uns später einmal wiedersehen. Du solltest gehen, bevor Zeh nach Hause kommt.
Aber dann bist Du doch erst zwölf Jahre alt, Sarah.
Sie blickte überrascht von ihrem Becher auf: Ja, bin ich. Wie kommst Du darauf?
Ich habe es gerade ausgerechnet, antwortete ich. Wir schwiegen lange miteinander. Aber es war kein peinliches Schweigen. Es schien eher unser Weg zu sein, uns näher zu kommen.
Eva würde erst später am Abend zu Hause sein und Zeh hielt sich in einem Raum auf, den Sarah und Louisa Adlerhorst nannten.
Punkt acht Uhr abends kommt er hier, durch diese Küchentür rein, spottete Sarah später. Morgens um acht, mittags um zwei, abends um acht. Du kannst die Uhr danach stellen. Dort oben bei ihm darf niemand ungebeten eintreten. Nichts darf ihn dort oben stören. Kein Telefon, keine Musik. Er hat da nur seine Computer, seine Bücher und sein gesammeltes Zeugs. Und ich sag Dir, niemand geht freiwillig da rauf. Da oben ist es nämlich unangenehm kalt. Er hält immer, zu jeder Jahreszeit, alle Fenster offen. Zwar dreht er im Winter die Heizung auf, aber er erträgt es trotzdem nur, indem er sich dick anzieht. Im Hochsommer ist es bei ihm heißer als in einer Sauna, und er hat sich tatsächlich eine Klimaanlage installieren lassen. Das hilft ihm aber auch nicht weiter, weil er ja immer alle Fenster öffnet. Im letzten Sommer ist ihm zweimal ein Computer abgestürzt. Hitzestau. Alles wegen dieser Frischluftmacke.
Zeh konnte nicht mehr gleichmäßig atmen und musste mir trotzdem einen Vortrag halten. Jedes Wort presste er mühsam heraus. Ich hatte ihn zu meiner Fünfkilometerrunde eingeladen, die ich jeden Morgen lief. Er sprach über Drogen und über die Verantwortung, die Revolutionäre für ihren Körper hätten. Eines Tages erklärte er mir, auch das Lauftraining sei ungesund, da es das Herz zu sehr in Anspruch nehme. Alle großen Marathonläufer seien irgendwann an einem Herzfehler gestorben. Ein langer Vortrag über äthiopische Langstreckenläufer folgte …
Damals bewunderte ich Zeh nicht nur, sondern war haltlos in ihn verliebt. Trotz Eva, die das niemals von mir erfahren hat.
Als die Küchenuhr acht Uhr anzeigte, blickten wir drei gespannt zur Tür. Wenige Sekunden später trat Zeh ein. Immer noch asketisch. Die gleiche Studentenfrisur, nur etwas länger. Eine randlose Brille. Er trug einen dicken, englischen Flanellanzug. Tatsächlich einen Anzug mit einer Weste, doch ohne Schlips. Er sah mir direkt in die Augen.
Ich war nicht gut vorbereitet, wusste nicht, ob ich aufstehen, ihn umarmen oder abwarten sollte, bis er auf mich zukam.
Kanny, welche Überraschung. Mein Melanin. Damit habe ich ja nun wirklich nicht gerechnet. Wie geht es Dir? Dass ich Dich noch einmal sehen würde! Wie schön.
Das Wie schön klang trocken, ohne Freude, nüchtern. Mein Melanin? Es hörte sich wirklich lächerlich an, ich hatte es vergessen. Nur er sagte zu mir: Mein Melanin. Niemals wäre es mir wieder eingefallen.
Er schüttelte mir wie ein Politiker vor laufenden Kameras die Hand und lächelte: Komm, lass uns in eines der vorderen Zimmer gehen.
Im nächsten Moment wandte er sich an Louisa und bestellte einen frisch gepressten Saft.
Für Dich auch, Kan?
Ich lehnte ab.
So viel Überschwang ist kaum auszuhalten, hörte ich Sarah höhnisch murmeln. Offensichtlich hatte sie eine herzlichere Begrüßung erwartet. Was ich erwartet hatte, wusste ich selbst nicht.
Zeh lächelte auch Sarah an: Unser altes Thema, meine Kleine.
Wir folgten Zeh, der mir die Wohnung zu erklären begann: Wir haben hier etwa vierhundert Quadratmeter über zwei, eigentlich drei Stockwerke. Früher waren dies zwei Wohnungen und ein Bodenraum. Hier unten halten sich alle gemeinsam am Tag auf. Hier ist also die Küche, daneben noch eine Speisekammer …
Er stockte, brachte die Räume durcheinander.
… Wäschekammer, nein hier ist die Wäschekammer, oder? Doch, hier. Toiletten, der Wohnbereich von Louisa und hier unsere Wohnzimmer.
Die vorderen Zimmer bestanden aus verschiedenen Wohnräumen, die alle irgendeiner Tätigkeit zugeordnet waren, dem Fernsehen, dem Musikhören, dem Lesen, dem Essen oder dem Gespräch mit Gästen. Ihrer Funktion entsprechend waren die Räume eingerichtet. Jeder war mit dem nächsten durch eine große Schiebetür verbunden.
Im Stock darüber schlafen wir. Die Zimmer von Eva, mir, Sarah und die Gästeräume mit Badezimmern. Dein Zimmer zeigen wir Dir nachher.
Ich war offensichtlich eingeladen, hier zu übernachten.
Ja, und ganz oben, sozusagen unter dem Dach, ist mein Arbeitsraum. Den zeige ich Dir morgen, wenn Du möchtest.
Sarah verzog das Gesicht. Ohne Unterbrechung fuhr Zeh fort: Und woher kommst Du jetzt?
Oder möchtest Du nicht darüber sprechen?
Wir hatten das Zimmer für Gespräche erreicht. Neben weichen Sesseln standen kleine Beistelltische. An den Wänden hingen Gemälde, auf die gedimmtes Licht gerichtet war. Schwere Vorhänge verdeckten die Fenster. Zeh und Sarah schoben Sessel hin und her, konnten sich aber nicht einigen, wie wir sitzen sollten. Ich entdeckte ein Telefon.
Kann ich mal kurz meinen Computer anschließen und sehen, ob ich eine E-Mail bekommen habe?
Da beide nicht widersprachen, sondern immer noch versuchten, sich über die Position der Sessel einig zu werden, ging ich zurück in den großen Flur und suchte mein Gepäck. Als ich es endlich fand, stellte ich fest, dass inzwischen jemand den Seitenreißverschluss meiner Reisetasche geöffnet, meine Brieftasche herausgenommen und wieder hineingeschoben hatte, denn so hatte ich die Brieftasche nicht eingesteckt und den Reißverschluss hatte ich auch ganz zugezogen. Natürlich fehlte kein Geld.
Als ich in das Zimmer zurückgekehrt war, schloss ich etwas irritiert mein Notebook an. Zeh und Sarah saßen friedlich nebeneinander und beobachten, wie ich meinen Postkasten prüfte. Conny und Ruby hatten mir eine Geburtstags-E-Mail geschickt, ein Foto, Kopf an Kopf, mit eingefügten Sprechblasen. Sarah wollte einen Ausdruck sehen, um sich Conny und Ruby besser vorstellen zu können. Also schloss ich den kleinen Drucker an.
Aus den USA kommst Du also, unterbrach Zeh nach einem Blick auf die E-Mail in Sarahs Hand. Er hatte die Absenderadresse gelesen.
Fontaine – wo liegt das denn?
In Maine, erklärte ich. Ganz im Norden. Fast an der kanadischen Grenze.
Ich setzte mich wieder und sah Zeh an: Ja, dort lebe ich jetzt. Mit meiner Familie.
Die Silversteins, schloss Zeh und nahm sich den Ausdruck der E-Mail.
Conny und Ruby Silverstein … Und was macht Ihr dort?
Was wir arbeiten, meinst Du? fragte ich. Zeh nickte.
Nun, Ruby geht natürlich in die Schule. Und Conny leitet eine Kette von Baumärkten. Dann sieht er allerdings nicht so aus wie auf dem Foto hier.
Ich nahm Zeh die Mail wieder aus der Hand. Conny hatte sich eine Kochmütze aufgesetzt und drohte Ruby mit einer Schöpfkelle, als wolle er sie damit schlagen. Ruby hielt sich eine Flaschenbürste unter die Nase, als wäre es ein Bart. Mit der anderen Hand zwang sie wahrscheinlich Claus auf das Foto, denn sehr verwackelt war ein Ohr von ihm zu erkennen.
Und Du? fragte Zeh weiter. Was machst Du?
Ich habe mich selbständig gemacht. Ein kleines Geschäft. So etwas wie Hausmeisterdienste. Wir reparieren alles in Haus und Garten. Wir sind eine kleine Gruppe und jeder von uns arbeitet selbständig.
So etwas könnten wir hier auch gebrauchen, unterbrach Sarah. Zeh winkte ab.