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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-494-2
Solange Dominik sich wirklich krank gefühlt hatte und das Wetter schlecht gewesen war, war er gern im Bett geblieben. Doch seit wieder die Sonne schien und er nicht mehr fieberte, konnte er es kaum noch erwarten, aufzustehen.
Endlich hatte ihm Dr. Wolfram erlaubt, das Bett zu verlassen. Aber seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er noch im Bett frühstückte.
Das Hausmädchen Gusti trat ins Zimmer und stellte das Frühstückstablett auf das Tischchen neben seinem Bett. »Martha wünscht dir einen guten Morgen, Nick«, sagte sie lächelnd. »Du sollst die heiße Milch ganz austrinken und auch die beiden Honigsemmeln aufessen.«
»Mach ich, Gusti«, versprach Dominik und biss bereits in eines der Brötchen.
Im gleichen Augenblick erschien Denise, um nach ihrem Sohn zu sehen. »Guten Morgen, Nick«, begrüßte sie ihn mit einem Kuss auf die Stirn. »Ich muss schnell in die Kreisstadt fahren.«
»Guten Morgen, Mutti. Warum musst du wegfahren?«, kränkte er sich.
»Ich muss dringend etwas auf der Bank erledigen, mein Junge. Aber ich beeile mich. Bleib halt so lange im Bett.«
»O nein, Mutti, ich halte es keine Minute länger im Bett aus!«
»Aber bitte geh noch nicht hinaus. Obwohl die Sonne scheint, ist es um diese Morgenstunde noch empfindlich kühl.«
»Wie du willst«, seufzte er. Am liebsten wäre er hinausgelaufen, um sich zu überzeugen, dass sich während seiner Krankheit auch nichts verändert hatte.
»Also, dann bis nachher.« Denise nickte ihrem Sohn noch zu und verließ das Zimmer.
Dominik frühstückte weiter und stand danach auf. Nach einer oberflächlichen Katzenwäsche zog er Blue Jeans und einen dicken Rollkragenpullover an, weil ihm der Hals noch ein ganz klein wenig weh tat, was er Dr. Wolfram aber verschwiegen hatte. Er hatte eine eitrige Mandelentzündung gehabt und hochgefiebert, darum fühlte er sich auch an diesem Morgen noch etwas wacklig auf den Beinen.
Als Dominik die Treppe hinunterstieg, überlegte er, ob er sich vom Chauffeur nach Sophienlust fahren lassen sollte. Er war fast zwei Wochen nicht mehr dort gewesen und sehnte sich nach den Kindern, besonders nach Pünktchen. Aber dann verwarf er diesen Gedanken wieder. Um diese Zeit waren die Kinder sowieso in der Schule. Auch wollte er keinen Rückfall riskieren. Deshalb war es besser, wenn er zum Turmzimmer hinaufging. Von dort aus konnte er sämtliche Zufahrtswege nach Schoeneich überblicken und auch Sophienlust sehen.
Oben angekommen, blickte Nick aus dem Fenster. Beim Anblick des Herrenhauses von Sophienlust weitete sich sein Herz vor Glück. Obwohl er seine Urgroßmutter Wellentin nicht persönlich gekannt hatte, war ihm die alte Dame, die ihn zum Alleinerben von Sophienlust eingesetzt hatte, unendlich vertraut.
Dominik überließ sich noch einige Zeit seinen ungewohnten sentimentalen Gedanken, dann verließ er das Turmzimmer, um zur Halle hinunterzugehen. Dort schaltete er den Fernseher an. Doch um diese Zeit gab es nichts Interessantes.
»Dann nicht«, brummte er und setzte sich in den tiefen Ledersessel, den Lieblingsplatz seines Vaters. Natürlich hätte er lesen können, aber er hatte keine Lust dazu. Nach einem tiefen Seufzer blickte er nachdenklich auf das aufgestapelte Holz im offenen Kamin. Wirklich dumm, dass niemand da war, dachte er und gähnte. Sascha war in Heidelberg, Andrea und Henrik waren in der Schule.
Vater war draußen auf den Feldern, und das Personal hatte zu tun. Hoffentlich kommt Mutti bald, wünschte er sich und spürte, wie seine Lider immer schwerer wurden. Aber als er das Öffnen einer Tür vernahm, war er sofort wieder hellwach.
Marie, das Kindermädchen von Henrik, brachte die Post. Sie legte den Stapel Briefe in die Silberschale auf der Konsole des venezianischen Spiegels. Als sie Dominik in dem Sessel erblickte, ging sie zu ihm hin. »Hast du Hunger?«, fragte sie freundlich. »Deine Mutter hat mich gebeten, darauf zu achten, dass du das zweite Frühstück auch bekommst.«
»Ach, muss das sein? Ich habe überhaupt keinen Hunger, Marie.« Dominik stieß einen herzerweichenden Seufzer aus.
»Ja, Nick, du musst ordentlich essen. Du bist ganz mager geworden. Ich sage Martha, dass sie dir etwas zubereiten soll.« Marie ließ den Jungen allein.
Nick blinzelte zu der Post hin. Seine Eltern liebten es nicht besonders, wenn er in ihren Briefsachen herumschnüffelte. Aber vielleicht war ein Brief für ihn dabei, sagte er sich und stand auf, um nachzuschauen. Häufig erhielt er Post von Kindern, die einmal in Sophienlust gewesen waren.
Dominik lauschte, und als er sich überzeugt hatte, dass niemand kam, um ihn bei seinem Tun zu überraschen, sah er schnell die Post durch. Eigentlich war nichts Besonderes dabei. O ja! Dieser Brief mit den ausländischen Marken schien interessant zu sein.
Nicks Neugierde wurde wach. Er betrachtete die Briefmarken eingehend und stellte fest, dass der Brief aus Argentinien kam. Doch den Absender konnte er beim besten Willen nicht entziffern.
»Nikolas«, buchstabierte er laut. »Nikolas Wer… Wen… Wet…« Dann schüttelte er enttäuscht den Kopf. Nein, er konnte die Handschrift nicht lesen.
Marie brachte ihm das zweite Frühstück. Obwohl er geglaubt hatte, keinen Bissen zu sich nehmen zu können, aß er die Schinkensemmeln mit gutem Appetit auf. Auch die heiße Milch schmeckte ihm ausgezeichnet.
Nach der Stärkung fühlte er sich lange nicht mehr so müde. Voller Ungeduld wartete er auf die Heimkehr seiner Eltern. Doch die Minuten schlichen nur so dahin.
Endlich hörte er die Hufschläge eines Pferdes. Alexander von Schoenecker kam von den Feldern heim.
»Endlich«, sagte Nick laut und verließ die Halle, um seinem Vati entgegenzugehen. Von der obersten Stufe der Freitreppe aus beobachtete er, wie dieser dem Stallburschen die Zügel zuwarf und dann auf ihn zukam.
»Nick, schon gesund?«, begrüßte Alexander ihn lachend und kehrte mit ihm in die Halle zurück. Dort warf er die Reitgerte auf einen Stuhl. »Ist was los, mein Junge?«, fragte er dann.
»Weißt du, Vati, ich habe nachgeschaut, ob ein Brief für mich dabei ist. Und da ist mir dieser Brief aufgefallen.« Er lief zu der Silberschale und zeigte Alexander den interessanten Brief. »Er kommt aus Argentinien. Ich wusste gar nicht, dass du dort Bekannte hast«, fügte er aufgeregt hinzu.
»O ja, ein Freund von mir lebt dort.« Alexander nahm den Brief und las den Absender. »Wie ich vermutet habe. Der Brief kommt von Nikolas Westhues.«
»Ach, so heißt das«, stellte Dominik überrascht fest. »Du hast mir aber noch nie etwas von ihm erzählt.«
Alexander lachte. »Tut mir leid, mein neugieriger Sohn, dass ich diese Unterlassungssünde begangen habe.« Er schlitzte das Kuvert mit dem Brieföffner auf.
Da kam auch Denise. Gusti nahm ihr die Päckchen ab, sodass sie ihren Mann und ihren Sohn begrüßen konnte. »Fein, dass du schon da bist, Alexander«, sagte sie und gab ihm einen Kuss. »Nick, wie fühlst du dich? Du siehst nicht mehr ganz so blass aus wie heute früh.«
»Ich fühle mich auch prima, Mutti.«
»Da bin ich aber froh. Aber nach dem Essen legst du dich für zwei Stunden hin.«
»Meinetwegen, Mutti. Du, Vati hat einen Brief aus Argentinien bekommen.«
»Ja, Denise, Nikolas Westhues hat geschrieben. Ich habe dir doch von ihm erzählt. Wir waren Schulfreunde.«
»Westhues klingt so holländisch«, mischte sich Dominik ein.
»Ja, es ist ein holländischer Name. Sein Vater war Holländer, seine Mutter aber eine Deutsche. Seine Eltern ließen sich scheiden, als er noch ein Kind war. Er wurde seiner Mutter zugesprochen, die mit ihm wegzog. Ich hörte lange nichts von ihm. Vor etlichen Jahren habe ich ihn dann ganz zufällig in Frankfurt getroffen. Von da an blieben wir in Verbindung. Er erzählte mir damals, dass er nach dem Tod seiner Mutter nach Argentinien ausgewandert sei und sich dort eine Existenz aufgebaut habe. Einige Wochen später schrieb er mir dann, dass er die einzige Tochter eines Plantagenbesitzers geheiratet habe.«
»Ach ja, du hast mir damals den Brief gezeigt und auch die Geburtsanzeige seiner Tochter. Wie heißt das Mädchen doch gleich?« Denise zog ihre feingezeichneten Brauen nachdenklich zusammen.
»Manuela. Seine Frau hieß Dolores.«
»Hieß?«
»Ja, Denise, sie ist vor einem halben Jahr gestorben«, erwiderte Alexander leise. »Ihren Tod teilt er mir in diesem Brief mit.«
»Das ist traurig. Und das kleine Mädchen?« Obgleich sie die Frau von Alexanders Freund nicht gekannt hatte, empfand sie tiefes Mitleid mit deren Schicksal.
»Nikolas scheint den Tod seiner Frau nicht überwinden zu können. Vor zwei Jahren ist sein Schwiegervater gestorben, und Dolores war seine einzige Erbin. Nikolas verwaltet die Hazienda seit dieser Zeit.«
»Und was ist mit dem Mädchen? Nicht wahr, Vati, dein Freund schrieb doch an dich, weil er seine Tochter nach Sophienlust bringen will?«, fragte Nick aufgeregt.
»Ja, Nick, du hast es erraten. Manuela ist inzwischen neun Jahre alt geworden.«
»Das arme Kind«, bedauerte Denise das mutterlose kleine Mädchen. »In diesem Alter den liebsten Menschen zu verlieren, ist sehr hart.«
»Ja, Denise. Nikolas schreibt, dass die Kleine seit dem Tod ihrer Mami nicht mehr gelacht hat. Auch esse sie kaum etwas. Er wisse nicht mehr, was er mit ihr anfangen solle. Nun habe er sich erinnert, dass ich in meinem letzten Brief von einem Kinderheim berichtet habe. Nach meiner Beschreibung müsse Sophienlust wunderschön sein. Darum bitte er mich, ihm mitzuteilen, ob er seinen kleinen Liebling für ein Weilchen dort unterbringen könne, damit Manuela endlich wieder das Lachen lerne. Er selbst sei momentan derart mit Arbeit überlastet, dass er Manuela hauptsächlich dem Personal überlassen müsse, was auch nicht das Richtige sei.«
»Mensch, das ist eine Wucht!«, rief Nick außer sich vor Freude. »Dann kommt eine Argentinierin zu uns. Mensch …«
»Nick, sag nicht immer Mensch«, ermahnte Denise ihn mit einem versteckten Lächeln.
»Verzeih, Mutti, aber ich finde das einfach Klasse. Nicht wahr, du nimmst Manuela doch auf?«
»Natürlich, Nick.«
»Vielleicht kann sie kein Wort Deutsch«, überlegte der Junge.
»Doch, sie spricht Deutsch«, klärte Alexander ihn lächelnd auf. »Nikolas hat das ausdrücklich betont. Er habe mit seiner Tochter fast immer Deutsch gesprochen. Auch seine Frau habe diese Sprache gut beherrscht, weil sie viele Jahre in einem Schweizer Internat gelebt habe.«
»Prima!« Dominik strahlte übers ganze Gesicht.
»Alexander, beantworte den Brief gleich heute«, bat Denise. »Ich werde alles tun, um der Kleinen über ihren großen seelischen Kummer hinwegzuhelfen.«
»Ich auch, Mutti«, versprach Nick eifrig.
»Du kennst mich doch und weißt, dass ich das sehr gut kann.«
»Ja, Nick, das weiß ich«, lachte Denise und fuhr ihm liebevoll durch seinen dichten Haarschopf. »Deine Haare sind sehr gewachsen. Sobald du wieder ganz gesund bist, fahre ich mit dir zum Friseur.«
»Muss das sein, Mutti?« Nick zeigte kein sehr begeistertes Gesicht über den Vorschlag seiner Mutter. »Ich wollte mir die Haare doch länger wachsen lassen«, murrte er. »Bei uns in der Klasse tragen viele Jungens die Haare noch viel länger als ich.«
»Wenn du das durchaus möchtest, dann lass sie halt so lange wachsen, bis du dir Zöpfe flechten kannst«, neckte Alexander ihn. »Mir persönlich gefallen diese langen Haare für Jungen nicht besonders, aber es ist dein Kopf.« Unauffällig zwinkerte er seiner Frau zu.
Dominik grinste verlegen und überlegte ein Weilchen, um dann zu erwidern, dass er sich die Haare doch werde schneiden lassen.
»Gut, Nick.« Denise blickte auf die Standuhr. »Ich ziehe mich noch schnell um, dann können wir essen.«
»Ich auch«, erklärte Alexander und folgte seiner Frau die Treppe hinauf.
Während des Mittagessens sprach die Familie natürlich über die beiden Argentinier.
»Wie sieht er denn aus?«, fragte Andrea neugierig. »Ich meine Señor Westhues.«
»Ich glaube, er ist ein gutaussehender Mann«, entgegnete Alexander.
»Aber viel zu alt für dich«, hänselte Dominik seine Schwester, die für hübsche Männer eine Schwäche hatte.
Andrea errötete. »Nick, du bist manchmal richtig gemein«, ärgerte sie sich. »Ich habe doch nur so gefragt.«
»Wirklich?« Er blinzelte ihr zu.
Nach dem Mittagessen legte Dominik sich auf Wunsch seiner Mutter wieder hin, aber lange hielt er es im Bett nicht aus. Er schlich in das Arbeitszimmer seines Vaters, denn er musste unbedingt mal mit Sophienlust telefonieren, um den Kindern dort zu erzählen, was sich an diesem Tag in Schoeneich ereignet hatte.
*
Isabel war auf dem Weg in den Wintergarten, um dort ihre Schulaufgaben zu machen, als sie das Läuten des Telefons im Büro hörte. Sie wusste, dass Tante Ma um diese Zeit ihren Mittagsschlaf hielt und alle anderen außer Hörweite waren. Darum lief sie ins Büro und nahm den Hörer ab.
»Ach, du bist es!«, rief sie freudig. »Wie geht es dir denn? Wir alle vermissen dich sehr, besonders aber Pünktchen, die sich wie ein verlorenes Schäfchen ohne dich vorkommt. Wir wollten dich besuchen, aber Tante Isi meinte, das wäre zu gefährlich. Angina stecke an. Nicht wahr, du hattest doch eine Angina?«
»Ja, Isabel, sogar eine ganz schlimme mit hohem Fieber. Aber jetzt geht es mir schon wieder prima. Vielleicht darf ich morgen schon nach Sophienlust kommen. Wenn nicht, müsst ihr mich besuchen. Martha muss dann einen Kuchen backen, obwohl Magda ja viel besser backen kann als sie. Du, ich möchte mal Pünktchen sprechen«, bat er dann und lauschte nach draußen, weil er glaubte, Schritte gehört zu haben.
»Ich rufe sie. Sie ist in ihrem Zimmer. Warte einen Augenblick.«
Isabel legte den Hörer auf den Schreibtisch und lief hinauf ins obere Stockwerk, wo sich die Schlafräume der Kinder in einem Seitenflügel befanden. Pünktchen saß gedankenverloren am offenen Fenster ihres Zimmers.
»Pünktchen, komm schnell!«, rief Isabel von der Tür her. »Nick möchte dich sprechen.«
Wie elektrisiert sprang Pünktchen von der Fensterbank herunter. »Nick! Ist er denn hier?«, fragte sie aufgeregt.
»Nein, am Telefon. Beeil dich doch schon«, spornte Isabel die Kleine an.
Pünktchen stürmte bereits die Treppe hinunter. Seit mehr als zwei Wochen hatte sie Nick nicht mehr gesehen. Sie war sicher, dass es die traurigsten Wochen ihres bisherigen Lebens gewesen waren.
»Nick!«, rief sie ins Telefon. »Ich bin da!«
»Hallo, Pünktchen! Nett, deine Stimme wieder einmal zu hören. Geht’s dir gut? Bist du schon wieder gewachsen? Und wie geht es deinen Sommersprossen?«, fragte er neckend.
Diesmal war das Mädchen nicht beleidigt. »Nick, bist du wieder ganz gesund? Wann kommst du denn? Oder soll ich nachher zu dir kommen? Es ist doch gar nicht so weit zu Fuß nach Schoeneich. Weißt du, dass ich einmal ganz in der Nähe von Schoeneich war, um dieselbe Luft zu atmen wie du?«, bekannte sie leicht beschämt.
»Wirklich? Dann hättest du auch hereinkommen können. Aber nun muss ich dir sagen, weshalb ich überhaupt anrufe. Bald kommt eine kleine Argentinierin nach Sophienlust. Was, das ist Klasse!«
»Eine Schwarze?«, fragte Pünktchen atemlos.
»Aber geh, du bist manchmal doch recht dumm.« Nick lachte.
»Die Südamerikaner sind doch keine Neger. Du glaubst wohl, dass Argentinien in Afrika liegt? Na ja, in Geographie warst du noch nie eine Leuchte«, entschuldigte er großmütig ihre Unwissenheit.
»Nick, sei nicht so gemein«, ärgerte sie sich, sodass ihr die Tränen in die Augen schossen. Dabei war sie eben noch glücklich gewesen, endlich wieder einmal Nicks Stimme zu hören.
»Pünktchen, ich muss auflegen. Weißt du, ich bin nämlich heimlich aufgestanden. Ich glaube, es kommt jemand. Oje«, seufzte er auf. »Wenn es Mutti ist, bekomm ich etwas zu hören.«
»Nick …« Aber er hatte schon aufgelegt.
Wie hypnotisiert blickte Pünktchen auf das Telefon, als auch sie aufgelegt hatte. Isabel, die ihr gefolgt war, blickte sie gespannt an. »Du, Pünktchen, was wollte Nick denn?«
»Ach ja.« Pünktchen wischte sich die Tränen verstohlen fort. »Eine Argentinierin kommt nach Sophienlust. Nick scheint darüber ganz aus dem Häuschen zu sein.«
»Wann kommt sie denn? Wie heißt sie?«, fragte Isabel neugierig.
»Weiß ich nicht. Du, Isabel, bin ich wirklich so schlecht in Geographie?«
»Ach wo, Pünktchen.« Isabel lächelte sie gütig an. »Wer behauptet das denn? Nick?«
Pünktchen nickte und ärgerte sich, weil schon wieder Tränen in ihren Augen standen.
»Geh, mach dir doch nichts draus. Nick ärgerte dich, weil er weiß, dass du dich ärgern lässt. Du musst einfach immer lachen, wenn er dich neckt.«
»Ja, Isabel, das nehme ich mir auch immer vor. Aber dann kränkt es mich doch immer so, dass ich wütend werde.«
Isabel und Pünktchen suchten Malu. Sie fanden sie im Gartenpavillon bei den Schulaufgaben. Neben ihr auf dem Boden lag Benny der Zweite und bewachte sein Frauchen.
Interessiert hörte sich Malu an, was die beiden zu berichten hatten. Dann sagte sie: »Sicherlich hat Manuela ein schweres Erlebnis hinter sich. Sonst würde die kleine Argentinierin nicht zu uns kommen. Denn es ist ja bekannt, dass viele Leute ihre Kinder zu uns bringen, wenn ihnen nur noch Tante Isi helfen kann.«
»Ja, Malu, das ist wahr«, stimmte Isabel ihr bei. Zugleich erinnerte sie sich an die Zeit, als Dr. Baumgarten sie nach Sophienlust gebracht hat, weil sie mit ihren Nerven völlig am Ende gewesen war und geglaubt hatte, dass das Leben ihr nichts Schöneres mehr bieten könne. Noch lange danach war sie zusammengezuckt, wenn jemand ihre Tante Cecilie erwähnt hatte, vor der sie sich so schrecklich gefürchtet hatte.
*
Denise hatte Nicks Stimme gehört und war ihm ins Arbeitszimmer gefolgt. Als der Junge sich umwendete und in die vorwurfsvollen Augen seiner Mutter blickte, lächelte er verlegen. »Bitte, nicht böse sein, Mutti«, bat er. »Aber ich musste einfach einmal mit den Kindern von Sophienlust sprechen. Ich habe ihnen gesagt, dass eine Argentinierin zu uns kommt. Außerdem mag ich nicht mehr im Bett liegen. Schau doch mal hinaus. Die Sonne scheint so schön. Es ist bestimmt sehr warm. Kann ich nicht ein bisschen an die Luft?« Jetzt erst bemerkte er, dass seine Mutti zum Ausgehen angezogen war. »Wohin fährst du denn?«
»Nach Sophienlust, mein Junge.« Denise überlegte und sagte dann: »Ich werde mal Dr. Wolfram anrufen. Er müsste um diese Zeit in der Praxis sein. Vielleicht erlaubt er, dass du mitfährst.«
»Mutti, du bist einfach eine Klassemutti!«, rief Nick. »Ich ziehe mir noch schnell die Schuhe an.«
»Und die Wolljacke.« Denise nickte ihm lächelnd zu. Dann wählte sie die Nummer Dr. Wolframs. Der Arzt hatte nichts dagegen, dass Nick ein bisschen an die Luft ging.
Etwas später saß Nick mit strahlenden Augen neben seiner Mutti im Auto und schaute sich begeistert um. »Ich habe das Gefühl, dass ich eine Ewigkeit eingesperrt war«, stellte er fest. »Doch da sind ja schon die Dächer von Sophienlust. Weißt du, Mutti, ich glaube, ich wäre entsetzlich unglücklich geworden, wenn ich niemals nach Sophienlust gekommen wäre. Ein Leben ohne das alles hier wäre für mich undenkbar.«
Denise lachte. »Nick, alles ist relativ. Wenn deine Urgroßmutter dich nicht als Erben von Sophienlust eingesetzt hätte, hättest du Sophienlust niemals aus dieser Perspektive kennengelernt. Dann wäre es vermutlich auch kein Heim für Kinder geworden. Aber glaube mir, auch woanders wärst du glücklich geworden, weil du einfach danach strebst, glücklich zu sein.«
»Meinst du, Mutti?« Sehr nachdenklich sah Nick seine Mutter an. Was sie sagte, klang einleuchtend, obwohl er sich nicht gut vorstellen konnte, dass er auch woanders so glücklich geworden wäre, wie er es hier war. Aber er ließ seine Zweifel nicht laut werden.
Von den Kindern wurde Dominik so begrüßt, als sei er viele Jahre fortgewesen. Pünktchen wich die beiden Stunden, die er in Sophienlust bleiben durfte, kaum eine Minute von seiner Seite.
*
Während sich das Wetter im Westen aufgeheitert hatte, goss es in München in Strömen. Unaufhörlich klatschten die Regentropfen gegen die großen Fenster des Luxusappartements, in dessen Wohnraum Cora Dannemann saß. Sie blickte in das trübe Wetter hinaus, aber sie nahm kaum etwas von dem wahr, was um sie herum geschah. Wie gelähmt saß sie in einem der tiefen weißen Ledersessel und versuchte, mit ihrer furchtbaren Angst fertig zu werden.
Dr. Arendt, ein junger tüchtiger Arzt, der die junge Frau seit einigen Monaten behandelte und ihrer Schönheit, wie fast alle Männer, nicht gleichgültig gegenüberstand, beobachtete sie sorgenvoll. Dabei überlegte er, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, als er ihrem Wunsch nachgekommen war, ihr die volle Wahrheit über ihren Gesundheitszustand zu sagen. Cora Dannemann hatte jedoch mit der Begründung darauf bestanden, dass sie es wissen müsse, um die Zukunft ihrer Tochter rechtzeitig sichern zu können. Ein einleuchtender Grund.
Cora spürte den Blick des Arztes fast körperlich und hob ihren Kopf. Ihre auffallend großen und schönen tiefblauen Augen mit den schwarzen langen Wimpern richteten sich mit einem schmerzerfüllten Ausdruck auf ihn. »Aber es könnte doch möglich sein, dass sich die Ärzte, die mich untersucht haben, irren«, meinte sie leise. »Ich kann einfach nicht fassen, dass ich nicht mehr lange zu leben habe«, fügte sie hinzu und schlug die Hände vors Gesicht.
»Frau Dannemann, natürlich darf man die Hoffnung nie aufgeben, und wir Ärzte tun alles, was in unserer Kraft steht, um ein Menschenleben so lange wie möglich zu erhalten.« Dr. Arendt zuckte mit den Schultern. »Doch …«
Cora ließ die Hände sinken und sah ihn an. »Nicht wahr, wenn ich mich früher in eine ärztliche Behandlung begeben hätte, wäre ich vielleicht noch gesund geworden.«
»Ja, Frau Dannemann.«
»Ich fühle mich schon lange sehr elend«, gab sie zu. »Doch führte ich meine Mattigkeit immer auf meine anstrengende Tätigkeit zurück. Und dann durfte ich mich ja auch niemals so richtig sattessen. In unserem Beruf muss man sein Gewicht halten. Schon zwei Pfund mehr sind ein sträflicher Leichtsinn. Mein Gott, was wird aus meiner kleinen Tochter?« Cora stand auf. »Ich will Sie jetzt nicht länger aufhalten, Doktor«, wandte sie sich an den Arzt. »Auch möchte ich allein sein, um mit dem Schock fertig zu werden. In einer guten Stunde kommt Katja aus der Schule, da muss ich fröhlich sein. Also, dann bringen Sie mir morgen das Medikament, das mir hilft, die Schmerzen leichter zu ertragen.« Sie blickte kurz in den Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand. »Ein Glück, dass man mir mein Leiden noch nicht ansieht. Aber ich will versuchen, nicht ununterbrochen daran zu denken, vielleicht kann ich dann die Wochen oder Monate, die mir noch bleiben, besser ertragen.«
Als Cora allein war, wusste sie, dass sie immer an die Diagnose, die einem Todesurteil gleichkam, denken würde. Keine Stunde würde sie vergessen, dass ihre Tage gezählt waren.
Ruhelos wanderte sie durch die Räume des Appartements, das sie sich vor zwei Jahren gekauft und dann mit Liebe und auch mit viel Raffinesse eingerichtet hatte. Nie würde sie den Tag vergessen, als sie hier eingezogen war. Voller Stolz hatte sie ihrer Tochter ihr Zimmer gezeigt. »Gehört das mir ganz allein?«, hatte die Kleine glücklich gefragt und die Märchenfiguren an den Wänden bestaunt. »Nicht wahr, Mutti, wir sind doch glückliche Menschen?«, hatte sie danach fragend festgestellt. »Ja, das sind wir, mein Kleines«, hatte Cora geantwortet. Doch jetzt liefen ihr unaufhaltsam die Tränen übers Gesicht, als sie in das Zimmer sah. »Vorbei«, flüsterte sie. »Vorbei!«
Fast fluchtartig ging Cora in das Wohnzimmer zurück und schenkte sich einen Whisky ein. Früher hatte sie niemals getrunken, weil sie keinen Alkohol mochte. Doch seit einigen Tagen war ihr das Trinken zu einem Bedürfnis geworden, weil dann das Blut schneller durch ihre Adern floss und sie das Gefühl hatte, richtig zu leben.
Mit dem Glas in der Hand trat Cora vor den Spiegel. Dass sie ein Starmannequin geworden war, hatte sie ihrer Schönheit zu verdanken. Sie besaß nicht nur eine tadellose Figur, sondern hatte auch ein klassisch schönes Gesicht, das vor allem sehr fotogen war. Als sie achtzehn gewesen war, hatte ihre steile Karriere begonnen. Heute war sie achtundzwanzig und am Ende angelangt. Doch die zehn Jahre hatten ihr genügt, ein Riesenvermögen zu erwerben. Damit hatte sie eigentlich ein Hotel kaufen wollen, um Katja und sich selbst eine sorglose Zukunft zu verschaffen.
»Vorbei«, flüsterte sie wieder und sank auf das weiche Sofa. Was soll nun aus Katja werden, fragte sie sich verzweifelt, aus ihrem kleinen Mädchen, das ihrem Leben erst Inhalt gegeben hatte? Außerdem war Katja für sie eine lebendige Erinnerung an den Mann, den sie einst so sehr geliebt hatte. Doch damals war sie unendlich leichtsinnig gewesen und hatte nicht einmal richtig gewusst, was ihr dieser Mann bedeutet hatte.
Ja, damals!
Cora lehnte sich zurück und schloss die Augen, um sich in die Zeit zurückzuversetzen, in der sie die wirkliche Liebe kennengelernt und ihre Zwillingsschwester verloren hatte.
Damals war sie gerade zwanzig Jahre alt gewesen. Die Manager hatten sich um sie gerissen, und sie war unendlich stolz auf ihren Erfolg gewesen. Auch war sie eitel und selbstsüchtig gewesen und hatte nur an sich und ihren Ruhm gedacht. Ihre Zwillingsschwester Sonja und sie waren früh Vollwaisen geworden, sodass sie frühzeitig auf eigenen Beinen gestanden hatten. Eine Schwester ihres Vaters hatte sie zu sich genommen. Sie war eine griesgrämige Jungfer gewesen, die jede Schönheit als teuflische Sache angesehen hatte. Cora schauderte bei der Erinnerung an die keifende, ewig nörgelnde Stimme von Tante Berta, die ununterbrochen etwas an ihnen beiden auszusetzen gehabt hatte. Denn Sonja und sie waren auffallend hübsche Mädchen gewesen, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Die Verehrer waren ins Haus gelaufen, worüber die Tante sich entsetzlich aufgeregt hatte.
Sonja war etwas sanfter als sie gewesen und hatte auch nie rebellische Gedanken gehegt. Brav war sie in die Schneiderschule gegangen und hatte die Prüfungen alle mit Auszeichnung bestanden. Sie dagegen hatte von jeher jeden Zwang gehasst. Von morgens bis abends in einem Zimmer zu sitzen, um für andere zu nähen, war ihr ein Greuel gewesen. Darum hatte sie es auch nicht lange dort ausgehalten. Bereits im ersten Jahr ihrer Gesellenzeit war sie ausgebrochen. Den Anstoß dazu hatte ein junger, damals noch unbekannter Fotograf gegeben, der seinen ersten Erfolg ihrer Schönheit zu verdanken gehabt hatte. Mehr aus Begeisterung hatte er sie in vielen Posen fotografiert und zwei dieser Bilder an eine Zeitschrift verkauft. Dadurch war man auf Cora aufmerksam geworden. Das andere hatte sich dann wie von selbst ergeben.
Cora öffnete die Augen und blickte sich in dem Zimmer um. Sie dachte an die Anschaffungskosten dieser Möbel. Weiße Ledersessel, eine dazu passende Couch, sonst war die Einrichtung antik. Schon als junges Mädchen hatte sie von einem solchen Zimmer geträumt. Dieser Traum war in Erfüllung gegangen. Doch lange würde sie sich an den Sachen nicht mehr erfreuen können …
Cora zwang sich wieder, die Gegenwart auszuschalten und in die Vergangenheit zurückzukehren, bis zu dem Tag, als Sonja ihr voller Begeisterung und mit strahlenden Augen erzählt hatte: »Stell dir vor, Cora, ich habe heute den Rennfahrer Bernd Liebig kennengelernt. Wir treffen uns heute Abend. Ach, Cora, ich glaube, ich bin verliebt!« Sonja war voller Übermut im Zimmer herumgetanzt.
»Ich bin so glücklich, dass ich die ganze Welt umarmen könnte. Weißt du, wie ich ihn kennengelernt habe?«
»Nein. Aber erzähl es mir«, hatte Cora gebeten.
»Als ich heute Mittag mit einer Kollegin in die Imbissstube ging, um dort eine Kleinigkeit zu essen, saß er an dem einzigen Tisch, an dem noch Plätze frei waren. Er gefiel mir sofort. Wir kamen ins Gespräch, und meine Kollegin erzählte ihm, was wir tun und wo wir arbeiten. Als wir uns verabschiedeten, war ich sicher, ihn niemals wiederzusehen. Aber, stell dir vor, Cora, er hat mich am Abend vom Geschäft abgeholt! Ich muss mich jetzt beeilen, denn er kommt um acht, um mich abzuholen. Bitte, leih mir doch eines deiner Kleider. Ich möchte heute besonders hübsch aussehen.«
»Du bist immer hübsch, Sonja. Selbst in Sackleinen siehst du gut aus. Wir beide sind Typen, denen alles gut steht«, hatte sie eitel hinzugefügt.
»Wirklich?« Sonja hatte glücklich gelächelt und war im Schlafzimmer verschwunden.
In dem folgenden halben Jahr war Cora ununterbrochen auf Reisen gewesen. Paris, Rom, London und auch einige Städte in den Staaten hatten auf dem Programm gestanden. Als sie endlich nach München zurückgekehrt war, hatte ihr Sonja bereits am ersten Abend erzählt, dass sie sich mit Bernd Liebig verlobt habe.
»Wir heiraten sehr bald«, hatte sie berichtet. »Bernd hat mir versprochen, mit den Autorennen ganz aufzuhören, weil ich es nicht aushalten würde, immer in dieser entsetzlichen Angst um sein Leben zu leben. Ich liebe ihn unendlich. Ohne ihn würde die Welt für mich grau und leer sein«, hatte sie hinzugefügt.
Bei der Erinnerung an die Worte ihrer Schwester begann Coras Herz wie verrückt zu schlagen. Sie hätte sich diese Worte zu Herzen nehmen müssen. Aber damals hatte sie Bernd durchaus haben wollen …
»Bernd kommt heute Abend zu uns, Cora. Ihr müsst euch doch kennenlernen. Schließlich werdet ihr doch bald miteinander verwandt sein. Er ist sehr neugierig auf dich.« Sonja war in der Wohnung hin und her geeilt, um alles für den Abend vorzubereiten. Sie war nicht nur geschickt im Nähen gewesen, sondern auch in häuslichen Dingen. Sie kochte ausgezeichnet und verstand sich auch auf die feine Küche.
Als es läutete, hatte Sonja gerufen: »Bitte, Cora, mach doch auf. Ich komme gleich.«
Cora hatte die Entreetür geöffnet.
»Hallo, Sonja!«, hatte Bernd Liebig, ein gutaussehender dunkelhaariger Mann mit hellen grauen Augen, die sie sofort faszinierten, gerufen.
»Ich bin Cora«, hatte sie leise gesagt und bei seinem Händedruck ein Kribbeln im ganzen Körper gespürt.
»Mein Gott, diese Ähnlichkeit«, hatte er erwidert. »Aber wenn man näher hinschaut, bemerkt man, dass Ihre Augen um eine Schattierung dunkler sind. Und dann der Schwung der Brauen, auch die Haarfarbe …«
»Die Brauen sind ausgezupft und die Haare getönt«, hatte sie ihn lachend unterbrochen. »Das ist notwendig als Effekt für die Aufnahmen. Aber kommen Sie doch herein.«
Als er seinen Mantel abgelegt hatte, war auch schon Sonja erschienen.
»Bernd, du bist pünktlich auf die Minute«, hatte sie gesagt und ihn schnell auf den Mund geküsst.
Am Anfang hatte Sonja nicht bemerkt, dass zwischen ihrer Schwester und dem Mann ihres Lebens die Funken hin und her sprangen, dass sich ihre Blicke immer wieder trafen. Doch dann war sie auffallend still geworden. Alles Leben war aus ihren Augen gewichen. Als Bernd gegangen war, hatte sie gesagt: »Cora, ich hatte Angst vor diesem Abend, obwohl ich mir immer wieder gesagt habe, dass du mir das nicht antun würdest. Aber nun ist es geschehen.«
»Was denn, Sonja?«
»Bernd und du …«
»Unsinn!«, war sie ihr ins Wort gefallen. »Aber das ist doch Unsinn. Du weißt doch, dass ich im Augenblick unsterblich in den Bankdirektor verliebt bin.«
»Das hast du erzählt, aber auch, dass er verheiratet ist und niemals daran denkt, sich deinetwegen scheiden zu lassen. War es nicht so?«
»Natürlich, Sonja«, hatte sie gelacht. »Aber du kennst doch meine Einstellung. Ich werde nie heiraten. Ein Liebhaber ist viel besser. Ein Ehemann wird auf die Dauer langweilig. Nein, ich denke nicht daran, meine goldene Freiheit aufzugeben. Also, mach dir keine Sorgen. Bernd wird mein Schwager. Dieser Gedanke ist mir heilig.«
Cora trank das Whiskyglas bis zur Neige aus und stellte es mit einem harten Ruck auf den Couchtisch zurück. Damals hatte sie ihre Worte wirklich ernst gemeint.
Sie hatte Sonja Bernd nicht fortnehmen wollen. Doch dann war alles ganz anders gekommen …
Am Tag danach hatte Sonja wie jeden Wochentag pünktlich um acht die Wohnung verlassen, während sie selbst an diesem Morgen bis um zehn Uhr im Bett geblieben war. Sie hatte eine Woche Urlaub gehabt und hatte sich einmal so richtig entspannen wollen.
Als sie sich endlich aufgerafft hatte, ins Bad zu gehen, hatte es an der Wohnungstür geklingelt. In der Meinung, es sei die Post, war sie im Bademantel zur Tür gegangen und hatte durch den Spion gelugt.
Nanu, hatte sie gedacht, Bernd muss doch wissen, dass Sonja nicht da ist. Dann hatte sie die Tür geöffnet. »Guten Morgen«, hatte sie den Rennfahrer begrüßt. »Sie kommen früh. Ich bin noch nicht mal angezogen, und Sonja ist nicht da.«
»Das weiß ich, Cora«, hatte er erwidert. »Darf ich eintreten?«
»Na ja, ich kann doch den zukünftigen Schwager nicht vor der Tür stehen lassen. Oh, was für herrliche Blumen!«, hatte sie gerufen, als sie die dunkelroten Rosen ausgepackt hatte. »Sonja wird sich riesig darüber freuen.«
»Die Rosen sind für Sie, Cora«, hatte er leise gesagt, wobei sein bewundernder Blick über ihren Körper zu ihrem Gesicht hinaufgewandert war.
»Für mich? Aber …«
»Cora, es gibt kein Aber«, hatte er geantwortet.
Später hatte sie nicht mehr gewusst wie es geschehen war, dass sie plötzlich in seinen Armen lag. Sie hatte nur gewusst, dass kein Mann ihr bisher dieses Glück geschenkt hatte wie der Verlobte ihrer Zwillingsschwester.
»Ich liebe dich, Cora. Du siehst aus wie Sonja, aber du bist anders. Du bist so, wie ich mir eine Frau vorstelle, so voller Leben und sprühendem Temperament. Ich habe es schon gestern gespürt, dass das Schicksal uns füreinander bestimmt hat. Mein Gott, wie sehr ich dich liebe.« Fast brutal hatte er sie an sich gepresst. »Ich sehne mich nach dir!«
»Bitte, Bernd, bitte …«
Von dieser Stunde an war sie immer tiefer in einen Strudel gesunken, aus dem es kein Zurück mehr gegeben hatte.
»Sonja ist ein Hausmütterchen. Sie hat eigene Ansichten über die Liebe. Vor der Ehe dürfte man sich einem Mann nicht hingeben, meint sie.«
»Dann hast du mit Sonja noch niemals …«
»Nein, Cora, zwischen uns hat es noch nichts gegeben.«
Warum ist Sonja so dumm, hatte sie ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen versucht. Hätte sie sich Bernd geschenkt, hätte er mich nicht so sehr begehrt …
Cora erhob sich jetzt. Arme Sonja, dachte sie. Wie sehr muss sie gelitten haben, als Bernd sie bat, ihm ihr Wort zurückzugeben …
Niemals würde sie den Ausdruck in den Augen ihrer Schwester vergessen, als diese am Abend des nächsten Tages heimgekommen war. »Bernd hat es mir gesagt«, hatte sie geflüstert. »Ich ziehe noch heute aus. Ich habe eine Stellung in Wien in Aussicht.«
»Bitte, Sonja, versteh mich doch. Ich konnte nichts dafür. Ich liebe ihn! Ja, ich liebe ihn«, hatte sie leise gesagt und ihre Hände flehend nach ihr ausgestreckt. »Geh nicht fort, Sonja.«
»Ich will dich nie wiedersehen, Cora. Ab heute habe ich keine Schwester mehr.«
Seit diesem Tag waren acht Jahre vergangen, acht turbulente, schicksalsschwangere Jahre. Sie hatten Cora Leid und Glück gebracht, und jetzt wartete der Tod auf sie.
Cora schlug die Hände vors Gesicht, als sie sich wieder mit der furchtbaren Wahrheit konfrontiert sah. Sie wollte nicht sterben, sie wollte leben. Heute war doch alles ganz anders als vor mehr als sechs Jahren, als sie Bernd verloren hatte. Es war nur ihre Eitelkeit, ihr bodenloser Leichtsinn gewesen, der Bernd den Tod gebracht hatte. Warum nur hatte sie nicht aufhören können, sich in der Bewunderung anderer Männer zu sonnen? Sie hätte doch wissen müssen, wie eifersüchtig Bernd war …
Damals bereitete er sich auf seine Abreise nach Le Mans vor, wo das große Autorennen ausgetragen wurde. Sie hatte ihm beim Kofferpacken geholfen.
Da hatte das Telefon geläutet. Es war der deutsche Graf gewesen, der angerufen hatte. Er war seit Wochen hinter ihr her, um sie für sich zu gewinnen. Er sah nicht nur gut aus, sondern war auch sehr wohlhabend.
Nach einem schnellen Blick auf Bernd hatte sie seine Einladung für den Abend angenommen.
»Du gehst nicht!«, hatte Bernd außer sich vor Eifersucht gerufen.
»Warum nicht, mein Lieber«, hatte sie kühl geantwortet. »Ich brauche doch nicht Tag für Tag als Trauerweide daheim bleiben, wenn du fort bist. Warum regst du dich überhaupt auf? Der Graf ist recht unterhaltsam, aber keineswegs mein Typ. Ich liebe nur dich, Bernd!«, hatte sie ihn zu beruhigen versucht.
Doch Bernd war nicht zu beruhigen gewesen. »Solltest du mit diesem Mann ausgehen, ist es aus zwischen uns.«
»Bereust du es vielleicht, dass du meinetwegen die brave Sonja aufgegeben hast?«, hatte sie sich nun auch in Wut geredet. »Sonja wäre daheim geblieben. Oder sie hätte dich auf deinen Reisen begleitet. Leider fehlt mir die Zeit dazu. Morgen haben wir eine Vorführung im Hotel Vierjahreszeiten.«
»Ich weiß. Darum will ich ja auch, dass du deinen Beruf aufgibst!«
»Das verlangst du von mir? Na, weißt du, du hast Nerven. Ich bleibe Mannequin, solange ich Lust habe. Ich will viel Geld verdienen, so viel Geld, dass ich immer unabhängig bin, auch von meinem Mann.«
»Darüber reden wir noch. Bitte, Cora, gehe heute Abend nicht fort. Bleib daheim. Ich rufe dich aus Le Mans an. Ich muss jetzt gehen. In einer Stunde startet meine Maschine. Bringst du mich zum Flugplatz?«
»Nein, Bernd, ich bin noch nicht angezogen. Außerdem hasse ich es, auf Flugplätzen herumzustehen und zu warten, bis jemand abfliegt. Ich würde auch niemals von dir verlangen, dass du mich zum Flugplatz bringst. Auf Wiedersehen!«
»Ich rufe dich heute Abend an«, hatte er wiederholt.
Cora stöhnte auf, als sie sich daran erinnerte. Es waren die letzten Worte gewesen, die er an sie gerichtet hatte. Wäre sie an diesem Abend zu Hause geblieben, würde Bernd noch heute leben. Aber so hatte er vor Aufregung in der Nacht vor dem Rennen nicht schlafen können. Ein Freund von ihm hatte ihr das später erzählt. Er sei sogar in einer Bar gewesen und habe viel zu viel getrunken. Deshalb hatten seine Nerven dann versagt.
Das Rennen hatte sie im Fernsehen verfolgt. Als Bernds Wagen aus einer Kurve geschleudert worden war, hatte sie noch immer gehofft, dass dieser Unfall glimpflich ausgegangen sei. Aber dann hatte sie sich mit der entsetzlichen Wahrheit abfinden müssen.
Zwei Tage nach Bernds Beerdigung hatte der Arzt ihr gesagt, dass sie in anderen Umständen sei …
Sie hatten noch zwei Monate arbeiten können, aber schließlich hatte sie ihrem Chef mitteilen müssen, dass sie ein Kind erwarte. Er hatte viel Verständnis gezeigt. Damals hatte sie auch an ihre Schwester geschrieben, die seit Jahren in Wien lebte. Doch der Brief war mit dem Vermerk »Annahme verweigert«, zurückgekommen. Daraufhin hatte sie sich in ein einsam gelegenes Dorf zurückgezogen. Monatelang hatte sie dort in einem Bauernhaus gelebt. Die beiden alten Leute, die den Hof bewirtschafteten, waren sehr lieb zu ihr gewesen.
Dann war Katja geboren worden. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen gewesen, als Cora ihr Kind zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. In diesem Augenblick war sie wieder sie selbst geworden. Plötzlich hatte es etwas in ihrem Leben gegeben, für das es sich zu leben und zu arbeiten lohnte.
Anfangs, als ihr Chef sie wieder geholt hatte, hatte sie noch geglaubt, die Welt werde Anstoß an ihrem unehelichen Kind nehmen. Aber schnell hatte sie erkannt, dass niemand so etwas wichtig nahm. Wichtig war nur, dass ihre Schönheit Erfolg hatte. Schon bald hatte sie zu den gefragtesten und begehrtesten Mannequins gezählt. Inzwischen war das Starmannequin Cora in der ganzen Welt bekannt geworden. Doch nun würde alles zu Ende sein …
Verzweifelt dachte Cora an die neue Kollektion, die sie hätte vorführen sollen. Nachher würde sie ihren Chef anrufen und ihm sagen, dass das Starmannequin Cora aus dem Verkehr gezogen werden müsste. Aber das war nicht wichtig. Über kurz oder lang hätte sie sich sowieso zurückgezogen, um nur noch für Katja zu leben. Das Kind brauchte endlich ein regelmäßiges Leben. Bisher hatte sie die Kleine immer mitgenommen. Solange sie noch nicht in die Schule ging, war das kein Problem gewesen. Doch nun war Katja schulpflichtig. Ihretwegen hätte Cora den Beruf aufgegeben.
»Katja, mein kleiner Liebling«, flüsterte Cora, am Ende ihrer seelischen Kraft. »Wer wird dich lieb haben? Wer wird für dich sorgen?«
Cora presste die Lippen zusammen. Sie musste einen Platz finden, an dem Katja gut aufgehoben war.