H. G. Konsalik
Roman
Heinz. G. Konsalik wurde 1921 in Köln geboren; Studium der Theater- und Zeitungswissenschaften und der Literaturgeschichte in Köln und München mit dem Ziel, Dramaturg zu werden. Wurde bei Ausbruch des 2. Weltkrieges eingezogen; nach der Entlassung aus amerikanischer Gefangenschaft war er zunächst Mitarbeiter im Feuilleton der Kölner Zeitung. Bald gehörte er zu jenen Autoren, die sich nach Kriegsende zum Ziel setzten, für die nachkommende Generation die Schrecken jedes Krieges eindringlich und realistisch zu schildern. 1956 wurde Konsalik mit dem Roman Der Arzt von Stalingrad, der heute als einer der Klassiker der Weltkrieg-II-Literatur gilt, nahezu über Nacht berühmt. Seitdem schrieb er einen Bestseller nach dem anderen – insgesamt 155. Am 2. Oktober 1999 erlag er in seinem Salzburger Domizil einem Schlaganfall. Er ist aber noch heute unbestritten der national und international meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller der Nachkriegszeit; seine Werke erreichten bisher eine Gesamtauflage von rund 88 Millionen Exemplaren; sie wurden in 46 Sprachen übersetzt.
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Heinz G. Konsalik: Das Haus der verlorenen Herzen. Roman
Copyright © 2016 by Dagmar Konsalik
vertreten durch AVA international GmbH, Germany
Die Edition Konsalik erscheint im Konsalik Verlag, Starnberg.
Covergestaltung: »Open Publishing GmbH – Mathias Beeh«
Überarbeitete Neuausgabe © 2016 by Konsalik Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Erlaubnis des Verlags wiedergegeben werden.
Die Originalausgabe ist 1989 in der Bastei Lübbe AG, Bergisch Gladbach, erschienen.
ISBN: 978-3-947022-08-3
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Während Willmore und Dr. Rudeck die Gummihandschuhe abstreiften und in einen Eimer warfen, der schon halb gefüllt war mit blutigen Tüchern und Tupfern, standen Ron und Tama’Olu nebeneinander vor dem narkotisierten Tapana und blickten auf das eingefallene Gesicht und den mit Jod eingepinselten Leib, der jetzt mit Binden umwickelt war.
»Er wird weiterleben, nicht wahr, Ovaku?«, flüsterte Tama’Olu und lehnte sich an Rons Schulter.
»Ja«, antwortete er mit rauer Stimme. »Was wären wir ohne Hoffnung?«
»Meine Brüder werden ihn nach Hause tragen.«
»Das werden sie nicht tun!« Dr. Rudeck, der sich noch die Hände schrubbte, drehte sich um. »Er ist nicht transportfähig. Morgen vielleicht … Und mit den Füßen voraus auf jeden Fall, wenn Sie jetzt nicht auf mich hören.«
»Sie haben das Gemüt eines Elefanten, Doktor!«, stieß Ron wütend hervor.
»Wenn ich’s hätte, wäre ich ein schwieriger Mensch. Elefanten haben eine sehr sensible Seele. Nur ihre Haut ist dick. Das ist vielleicht das Einzige, was ich von einem Elefanten übernommen habe: ein dickes Fell! Und das braucht man hier. Ein zartes Seelchen wird von der Umwelt sofort gefressen. Ron, Sie bilden sich ein, hier das Paradies entdeckt zu haben. Sie werden sich noch wundern, wie nahebei die Hölle ist! Ein Paradies ist nur ein Paradies, wenn keine Menschen darin leben! Schon drei genügen, und es gibt eine Keilerei. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Im Paradies leben zwei Männer und eine Frau. Ahnen Sie, was dann alles passiert? Einer der Herren wird plötzlich krank, verunglückt oder wird ganz einfach um die Ecke gebracht.«
»Sie sind ein gefährlicher Zyniker, Doktor«, sagte Ron und beugte sich über Tapana. Die Lider des Alten flatterten, der Mund klappte auf, in den Armen und Fingern begann ein Zucken. »Die Narkose lässt nach. Er kommt langsam wieder zu sich.«
»Na also, das haben wir wenigstens erreicht: Er wacht auf. Ich sage ja … ein starkes Herz wie ein Stier.« Dr. Rudeck kam an den Tisch, sah den Frischoperierten kurz an, blickte dann auf das noch immer angeschlossene EKG und die regelmäßigen, wenn auch etwas abgeflachten Kurven. »Mal sehen, wie lange er das durchhält.«
»Sie sind wirklich ein Dickhäuter!«
Dr. Rudeck trocknete die Hände an den mitgebrachten Handtüchern ab und wischte sich mit ihnen auch über das Gesicht.
Es war schwer zu taxieren, wie alt der Arzt war. Die Sonne hatte seine Haut gegerbt, die graugrünen Augen sprühten vor Leben. Seine Figur war kraftvoll, ohne dass er ein Muskelberg gewesen wäre. Er war nicht ganz so groß wie Ron, und in sein rötlichbraunes Haar mischten sich schon einige weiße Fäden. So Mitte vierzig wird er sein, dachte Ron. Nicht älter. Die paar weißen Haare haben keine Bedeutung. Am auffälligsten war sein Mund: Normalerweise hatte er volle, etwas wulstige Lippen, aber sie konnten auch schmal wie ein Strich werden, ein scharfer Schnitt in dem runden Gesicht.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte Ron.
»Sehe ich so aus?« Dr. Rudeck lächelte breit. »Warum fragen Sie?«
»Ich hätte gern gewusst, ob Sie bei Ihrer Frau auch so rüde sein können wie gegenüber Tama’Olu. Statt ihr Mut zu machen, nehmen Sie ihr noch jede Hoffnung.«
»Das ist nur eine Vorbereitung auf das Mögliche – ich möchte fast sagen Unvermeidliche.« Dr. Rudeck setzte sich auf das Bett. Erst jetzt ließ die Anspannung nach, sah man seine Müdigkeit. Er hatte mehr als drei Stunden operiert, praktisch auf sich allein gestellt. Willmore hatte zwar die Narkose und den Kreislauf überwacht, ein paarmal Klammern gesetzt und Blut, Eiter und den Erguss abgesaugt, aber die Operation hatte Dr. Rudeck ausgeführt. Er spürte die Erschöpfung und war wütend darüber »Jetzt hätte ich Appetit auf einen Kognak und ein kaltes Bier«, sagte er. »Aber Sie haben ja hier nur Kokosmilch.«
»Irrtum, Doktor. Auf meinem Schiff habe ich zwei Kisten mit Kognak und fünf Kisten mit Dosenbier. Pilsener aus Nuku’alofa.«
»Dafür ziehe ich durch Urwald und Wüste.« Jack Willmore rieb sich die Hände. »Sagen Sie mir, wo Sie’s auf der Yacht versteckt haben. Ich hole es rüber.«
»In der Pantry ist ein großer Kühlschrank. Der ist voll mit Bier. Kognak steht im Salon im linken Glasschrank. Da finden Sie auch Gläser.«
»Ich sause ab wie ein Sprinter!« Willmore lachte und rannte hinaus. Aber sofort kam er wieder zurück und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach draußen. »Die belagern uns! Sitzen in einem Kreis rund ums Haus und machen Gesichter, als wollten sie gleich auf den Kriegspfad gehen. Die meisten Männer haben Speere in der Hand und Beile aus geschliffenen Steinen.«
»Sie warten darauf, dass Tapana wieder gesund wird.« Ron ging vom Tisch zur Tür und blickte hinaus. Die Männer standen hinter den sitzenden Frauen und Kindern und starrten auf das Haus. Tama’Olus Brüder wachten neben der Tür. Der federgeschmückte und bizarr bemalte Medizinmann hockte auf der Bank. Er sprang wie ein Raubtier herunter, als er Ron aus der Hütte kommen sah.
»Fatahefi lebt!«, rief Ron auf Tongalesisch. »Geht zurück ins Dorf.«
Niemand rührte sich, nur der Medizinmann begann, wieder mit seiner steingefüllten Kokosnuss zu rasseln.
Tama’Olus Lieblingsbruder Fai’fa drehte sich zu Ron um. »Wir wollen Fatahefi sehen!«, erklärte er mit harter, entschlossener Stimme.
»’lkai!« Ron schüttelte den Kopf. »Er schläft. Alles ist gut.«
»Er lügt!«, schrie der Medizinmann von der Bank her. »Fatahefi lebt nicht mehr. Die Fremden haben ihn getötet! Der Gott der Blitze hat ihn geholt! Tötet sie alle, die Fremden, tötet sie!«
»Komm mit, Fai’fa.« Ron wies ins Innere der Hütte. »Sieh deinen Vater an. Er lebt. Es wird alles gut werden.«
Das war eine maßlose Übertreibung. Noch lebte Tapana zwar, aber keiner wusste, wie lange noch. Ron ging es jetzt nur darum, dass die Belagerung seiner Hütte aufgelöst wurde, Willmore hinüber zur Yacht waten und für Dr. Rudeck Bier und Kognak holten konnte. Wenn Tapana stirbt, müssen wir das geheimhalten, dachte er gleichzeitig. Es darf so lange nicht bekannt werden, bis Dr. Rudeck und Willmore mit dem Hubschrauber in der Luft sind.
Es war durchaus möglich, dass die drei Brüder Tama’Olus sie aufspießten … sie hatten ihrem Vater den Bauch aufgeschnitten und ihn damit ermordet. Es würde unmöglich sein, ihnen die Tatsachen zu erklären. Wie kann man einen Menschen aufschneiden, ohne dass er stirbt?
Fai’fa betrat die Hütte, ging langsam an den Tisch und sah seinen Vater an. Der breite Verband um seinen Leib war etwas Neues für Fai’fa. Auch die Überreste der Operation in den Eimern erregten seine Neugier. Er starrte auf das Gemisch aus Blut, Eiter und Erguss und begriff, dass die Fremden das alles aus dem Bauch seines Vaters geholt hatten. Er umklammerte seinen Speer, duckte sich wie zu einem Sprung, als Dr. Rudeck an den Tisch trat, und war offensichtlich bereit, zuzustoßen.
Ron hielt den Atem an. Es wird zu einem Gemetzel kommen, durchfuhr es ihn. Und wir sind völlig wehrlos! Alle Waffen liegen noch in Kiste auf der Yacht.
Es war wie ein Wunder, dass Tapana gerade in diesen Sekunden die Augen aufschlug und sein erster Blick auf seinen Sohn fiel. Er wollte etwas sagen, aber die Stimme versagte ihm noch. Nur ein heiseres Röcheln kam aus seinem Mund.
»Geh hinaus, Fai’fa«, sagte Tama’Olu mit ruhiger, fester Stimme. »Sag ihnen, dass Fatahefi Tapana lebt. Bald ist er ganz gesund. Die fremden Ärzte und Ovaku haben ihn gerettet.«
»Was sagt sie?«, fragte Dr. Rudeck. »Himmel, ist das eine Sprache!«
»Sie erklärt Fai’fa, dass Tapana bald wieder gesund sein wird.«
»Du meine Güte!« Dr. Rudeck warf einen schnellen Blick auf Tama’Olus Bruder. »Dann wird’s Zeit, dass wir uns verabschieden, Ron. Ich habe kein Verlangen, ein Märtyrer der Südsee zu werden. Wie kann Ihre Frau einen solchen Unsinn erzählen?«
»Anders erhalten Sie ihr Bier und ihren Kognak nicht. Willmore kommt nicht ans Schiff.«
»Ich verzichte auf das Bier!«
»Aber ich nicht. Ich habe auch Sehnsucht nach einem kühlen Blonden. Glauben Sie, ein offener Bauch ist ein so schöner Anblick, dass man sich daran weiden kann?«
»Für einen Chirurgen schon.« Rudecks Sarkasmus war kaum noch zu überbieten. »Sie sollten erst mal sehen, wie das aussieht, wenn man einen Dickdarm operiert.«
Fai’fa warf noch einen Blick auf seinen Vater. Er hatte die Augen wieder geschlossen, aber ein kleines Lächeln spielte um seine Lippen.
Was Fai’fa zurückhielt, hinauszugehen, waren die auf Tapanas Brust befestigten Elektroden des EKGs, die wie große Blutegel aussahen. Sein Blick fiel auf die vielen Drähte, die zu einem Kasten führten, in dem zuckende Geister tanzten. Und etwas ganz Merkwürdiges hing an einem blinkenden Gestell: eine Art Flasche, die aber zerbrochen war, denn unten heraus tropfte es ohne Unterlass. Man schien das schon gemerkt zu haben, fing die Tropfen auf in einem durchsichtigen Schlauch, aber rätselhafterweise steckte der Schlauch im rechten Arm von Tapana, und alles floss in ihn hinein. Fai’fa verstand das nicht, ebensowenig wie Tama’Olu. Aber dem Vater schien es gutzutun, als er wieder die Augen öffnete, war sein Blick schon klarer.
Fai’fa lächelte ihn an und verließ schnell die Hütte. Draußen hob er seinen Speer hoch in die Luft und schrie: »Ko ’eku ha’u mei Fatahefi!« (Ich komme von Fatahefi.) Und dann, wie ein Jubelschrei: »Malo!« (Gut)
Ein vielstimmiges Jauchzen war die Reaktion. Alle Männer, Frauen und Kinder klatschten in die Hände, sprangen auf und liefen ins Dorf zurück. Der Alltag ging endlich weiter … fischen, auf dem Feld, im Wald, an den Feuerstellen arbeiten … Tapana lebte, die Götter waren gnädig mit ihm gewesen. Nur der Medizinmann tanzte wieder herum, stieß kreischende Laute aus und rief dann: »Er wird sterben! Er wird sterben!«
Aber niemand kümmerte sich mehr um ihn. Mit mörderischem Hass in den Augen schüttelte der buntbemalte Alte die Fäuste gegen Rons Hütte und rannte dann in den Palmenwald hinein.
»Sollten wir nicht besser abfliegen?«, meinte Dr. Rudeck.
»Sie wollen nicht die weitere Genesung Ihres Patienten abwarten?«
»Auf gar keinen Fall. Ich bin froh, wenn ich wieder in Pangai in meinem Sessel am Schreibtisch sitze. Vom Paradies habe ich die Nase voll. Wenn das eintritt, was ich als fast sicher annehme –«, er sah hinüber zu Tapana –, »möchte ich weit weg sein. Sie können mich ja anrufen, wen Sie noch telefonieren können.« Sein Blick glitt weiter zu Tama’Olu und schien sie förmlich zu taxieren. »Sie haben eine besonders schöne Frau, Ron. Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
»Noch gar nicht. Wir werden demnächst auf Telekitonga oder in Papeete heiraten.«
»Ach! Sie sind noch gar nicht verheiratet? Ron, Sie Glückspilz! Tun Sie’s nicht. Genießen Sie ohne Zwang. Was glauben Sie, wie diese umwerfende Schönheit mit Fünfzig aussieht? Ich kenne das, habe genug von dieser Sorte in Behandlung. Ihre Großmutter sieht dagegen aus wie ein Teenager. – Er ist also gar nicht verheiratet! Das ist interessant!«
»Wie viel bekommen Sie, Doktor?«, fragte Ron eisig.
»Was bekomme ich?«
»Ihr Arzthonorar.«
»Müssen wir jetzt davon sprechen?« Dr. Rudeck ließ seinen Blick über Tama’Olu gleiten, von den Haaren bis zum Saum ihres Rockes. Ein Blick, der die schöne Frau entkleidete.
»Ja! Ich möchte das so schnell wie möglich regeln. Wer weiß, was in den nächsten Stunden passiert.«
»Da haben Sie recht, Ron.« Dr. Rudeck hörte nicht auf, Tama’Olu auf unverschämte Weise zu mustern. »Zählen wir mal zusammen: Drei Stunden Flug hin, drei Stunden Flug zurück – das ist generös gerechnet, denn es waren mehr als drei Stunden; eine Hubschrauberstunde zu 1000 Dollar, das sind schon 6000 Dollar. Eine OP-Einrichtung, Leihgebühr 500 Dollar. Material wie Injektionen, Tupfer, Zellstoff, Handtücher, Desinfektionsmittel, Infusionsflasche und so weiter und so weiter – das alles beziffert sich auf 300 Dollar. Anästhesie – das Geld bekommt Jack allein! – 500 Dollar. Für meine Arbeit, die wahrhaftig alles andere als leicht war beim Zustand des Patienten, verlange ich 3000 Dollar. Das ist beinahe ein Freundschaftspreis. Was glauben Sie, was Sie dafür in der Mayo-Klinik von Rochester zahlen! Summa summarum also: 10.300 Dollar. Für Sie ein Klacks.«
»Ich hole das Geld nachher von Bord, wenn Sie Ihr Bier trinken.« Ron ärgerte sich über die Blicke, die der Arzt Tama’Olu zuwarf und die ihn offensichtlich provozieren sollten. Du hast Glück, dass du Tapana operiert hast, dachte er. Ob mit oder ohne Erfolg, das ist jetzt zweitrangig. Und du hast gut operiert, soweit ich das beurteilen kann. Wärst du ein anderer Mann, hätte ich dir längst in die Fresse geschlagen. So sieht man meine Frau nicht an … so nicht!
»Hoffentlich kann ich’s dann noch gebrauchen.«
Willmore war unterdessen unterwegs zur Yacht, watete durch die Lagune und kletterte ins Boot. Sofort ging er unter Deck, fand das Bier im Kühlschrank, den Kognak im Salon und die Kühltasche neben der Pantry. Überrascht sah er sich auf dem Schiff um: überall Kisten, Säcke, Kartons, Benzinfässer, Gasflaschen, Gestänge, Seilrollen – aus der schönen Yacht war ein Frachtkahn geworden. Auf den großen Kartons war der Inhalt beschrieben: Vierflammiger Elektroherd. Kühlschrank mit drei Sternen. Gasherd, dreiflammig. Nähmaschine.
Willmore schüttelte den Kopf und stieg wieder an Deck.
Dieser Ron hat ’ne Schraube locker. Fehlt nur noch eine Waschmaschine, ein Wäschetrockner, ein Mikrogrill und ein Rauchabzug. Was will er mit dem ganzen Zeug auf dieser Insel? Du lieber Himmel, auf was für Ideen die spleenigen Millionäre doch kommen! Wenn ich nur ein Zehntel von Rons Vermögen hätte – ich wüsste was Besseres damit anzufangen. Aber vielleicht braucht man dann gar nicht mehr zu arbeiten, das tun andere für einen.
Er sprang in das Beiboot, zog die Kühltasche durch die Reling nach und ruderte zurück zum Strand.
Im Dorf herrschte wieder quirliges Leben, die Kinder tobten herum, und die Hunde mit dem traurigen Blick kläfften Willmore an, als sein Boot in den Ufersand stieß.
Die drei Brüder Tama’Olus standen noch immer wie eine Wache neben der Tür zu Rons Hütte, den Speer vor sich in den Boden gesteckt, unbeweglich, als seien sie keine lebenden Menschen, sondern Figuren in einer völkerkundlichen Ausstellung. Nur ihre Augen bewegten sich, und ihre Blicke waren nicht gerade freundlich und beruhigten den Mann keineswegs.
Willmore betrat die Hütte in dem Augenblick wieder, wo Dr. Rudeck sagte:
»Sehen Sie sich das an, Ron! Der Häuptling ist so munter, als wäre er nicht gerade eben dem Tod von der Schippe gesprungen. Der steckt die Narkose weg wie ein Mittagsschläfchen. Jeder andere würde mit einem brummenden Schädel herumliegen und mit schwerer Zunge reden – wenn er überhaupt etwas sagen könnte. Und dieser Kerl spricht mit seiner Tochter, als läge er nicht auf dem OP-Tisch, sondern in einer Hängematte. Die sind zäh wie Sohlenleder.«
»Bis die Zivilisation zu ihnen kommt«, fiel ihm Ron ins Wort. »Die bringt dann Bakterien und Viren mit, schon eine harmlose Infektion wirft die Menschen um, eine Lungenentzündung ist ein Todesurteil. Und dann lernen sie den Alkohol kennen und saufen sich ins Grab. Ich habe das alles gesehen … bei den Aboriginals in Australien und bei den Indianern am Amazonas.«
»Hurra! Hurra – das Bier ist da!«, rief Willmore von der Tür her. »Ron, was haben Sie bloß alles mitgeschleppt? Bei Ihnen im Boot sieht’s aus wie in einem Auslieferungslager. Wozu brauchen Sie das alles?«
»Er bringt Kultur ins Paradies.« Dr. Rudeck lachte spöttisch. »Eben noch jammerte er über den Untergang der Naturvölker, und was macht er selbst? Er bringt ein Schiff voll Neuzeit auf diese kleine Insel.« Er lachte zu Ron hinüber, der am Tisch stand und Tapanas noch schlaffe Hand hielt.
»Ron, was glauben Sie eigentlich, wie viele Bakterien Sie mit den Kisten und Kartons einschleppen? Millionen! Milliarden! Wenn ich ein bisschen Staub abwische und lege ihn unter ein Elektronenmikroskop … Sie wären sprachlos. Mein alter Professor in Sydney sagte einmal: ›Man kann einem Menschen intramuskulär Scheiße injizieren – er steckt das weg.‹ Damals haben wir gelacht und es für einen faulen Witz des Ordinarius gehalten, der darauf wartete, dass wir wirklich lachen. Das Problem ist nur, dass die Naturvölker nicht einen solchen Abwehrmechanismus haben wie wir. Eben weil sie in der reinen Natur leben. Wir Zivilisierten haben uns im Laufe der Jahrhunderte einen wahren Immunpanzer angeschafft.«
Er nahm Willmore eine Dose Bier aus der Hand und zog die Lasche auf. Schaum drang aus der Öffnung, sodass er schnell die Dose an den Mund setzte. Nach dem ersten Schluck atmete Dr. Rudeck tief auf und dehnte sich.
»Tut das gut«, seufzte er. »Oh, ist das gut! Ein kühles Helles bei dieser Hitze – Ron, das ist fast ein Orgasmus! Für jedweden Quatsch wird der Nobelpreis verliehen, aber keiner kommt auf die Idee, den ersten Bierbrauer posthum zu ehren.« Er sah sich zu Willmore um. »Hat jeder sein Bier? Na denn … an die Gewehre!«
Sie tranken alle einen Schluck, und wirklich – es war ein unbeschreiblicher Genuss. Willmore stieß sogar einen verhaltenen Rülpser aus.
»Und unsere Schöne bekommt nichts?«, fragte Dr. Rudeck provozierend. »Ron, Sie sind ein ganz mieser Ehemann. Wer seine Frau liebt, bringt sie in Stimmung! Jack, reiß ihr eine Dose auf.«
»Nein!« Rons Stimme war schneidend scharf geworden. Willmore ließ sofort die Bierdose sinken. »Tama’Olu soll keinen Alkohol kennenlernen.«
»Sie sind ja ein besonders ekelhafter Fiesling! Hat kistenweise Alkohol an Bord, wird wie ein Kamel saufen, und seine schöne Frau bekommt Regenwasser zu trinken.«
Dr. Rudeck griff in die Kühltasche, holte die Flasche Kognak hervor, drehte den Schraubverschluss auf und suchte erst gar nicht nach einem Glas. Wie die Bierdose setzte er die Kognakflasche an den Mund und ließ den Alkohol in sich hineinlaufen. »Probieren Sie das mal, Ron. Drei Gläschen für die schöne Frau – und Sie werden erleben, welch feurigen Hintern sie bekommt. Die Polynesierinnen sind berühmt für ihre Ausdauer, wussten Sie das noch nicht?«
»Haben Sie kein anderes Thema?«, fragte Ron böse.
»Nicht, wenn ich eine schöne Frau sehe. Da rollt vor meinem inneren Auge ein toller Film ab: Ich sehe ein Mädchen, einen Mann … na ja, den Rest überlasse ich Ihrer Phantasie.«
Er lachte und trank jetzt abwechselnd. In der linken Hand hielt er die Bierdose, in der rechten die Kognakflasche.
Tapana auf dem Tisch drehte den Kopf zur Seite und versuchte, Dr. Rudeck anzusehen. Tama’Olu beugte sich über ihren Vater und küsste seine noch immer heiße Stirn.
»Was tun die Männer da, Ovaku?«, fragte sie.
»Sie betäuben sich.«
»Haben sie auch Schmerzen?«
»Man kann das so nennen. Der Doktor jedenfalls hat eine wunde Seele. Jack nicht, der hat nur Durst.« Und zu Dr. Rudeck gewandt, sagte er laut: »Verdammt … müssen Sie so grölen? Wenn Sie keinen Alkohol vertragen, trinken Sie doch Milch oder Fruchtsaft.«
»Soll ich kotzen?« Dr. Rudecks Blick war schon glasig geworden. Kognak in dieser Hitze hat eine dreifach so hohe Wirkung auf den Organismus wie normalerweise. Er vernebelt das Gehirn in rasender Schnelligkeit. »Ron, warum trinken Sie nicht mit? Sie elender Heuchler! Hat jede Menge Schnaps, Wein und Bier an Bord seines Schiffes und zelebriert den Alkoholfeind!« Rudeck starrte Ron an und grinste. »Das hab’ ich doch schon mal gesagt.«
»So ähnlich. Ich habe erwartet, dass Sie wenigstens auf den Kranken Rücksicht nehmen. Als Arzt sollten Sie jedenfalls -…«
»Der Alte wird bald nichts mehr hören.« Dr. Rudeck blinzelte zu Tama’Olu hinüber und versuchte, sich zu erheben. Es gelang ihm nicht mehr. »Man sollte ihm auch einen Schluck gönnen, das macht es ihm leichter auf der großen Reise. Man sollte überhaupt allen Abwanderern einen kräftigen Schluck geben – zur Erinnerung an diese mistige Welt!«
Er lachte wieder dröhnend und schlug sich auf die Schenkel. »Stellen Sie sich vor, Ron, bei Petrus an der Himmelspforte melden sich nur noch besoffene Seelen! Das gäbe im Himmel einen Auflauf! Zum Wohle, du Scheißerde …«
Er nahm wieder einen großen Schluck Kognak aus der Hasche und gab sie dann an Willmore weiter. Jack schien ein Ästhet zu sein, er hatte sich aus der Kühltasche ein Glas geholt und füllte es mit dem Kognak, allerdings randvoll. Es war ein Weinglas …
Tapana fiel in einen tiefen Schlaf. Erschöpfung oder das Hinüberdämmern in das Nichts? Ron wusste es nicht. Er saß neben Tapanas Kopf auf einem Hocker und wartete. Wann steht der Atem still? Wann hört das Herz auf zu schlagen? Wann zerfallen die empfindlichen Hirnzellen?
Willmore, noch nicht völlig betrunken, kam an den Tisch und wechselte mit zitternden Händen die Infusionsflasche aus.
Dr. Rudeck lag inzwischen langgestreckt auf Rons Bett, sang einen schweinischen Vers von einem geilen Rocky und schlief dann ein. Sein röchelndes und pfeifendes Schnarchen war fast unerträglich.
Zwei Stunden mochten vergangen sein, und Tapana lebte noch immer. Er atmete tief und ruhig, und seine Hautfarbe wurde rosiger.
Gab es doch noch Wunder?
Der Arzt und Willmore lagen nebeneinander auf Rons Bett. Nun war auch Jack umgefallen. An einen Rückflug, wie Dr. Rudeck es gewollt hatte, war überhaupt nicht zu denken.
Ron war das nur recht. So konnte der Doktor am nächsten Morgen noch einmal nach Tapana sehen, bevor er abflog. Und er konnte die Medikamente dalassen, die man noch brauchte – vor allem Antibiotika, Schmerzmittel und Infusionsflaschen.
Zweimal ruderte Ron hinaus zu seiner Yacht und brachte alles mit, was sie jetzt gebrauchen konnten: Decken und Kopfkissen, zwei Matratzen und Propangaslampen. Er löschte die Scheinwerfer, um die Batterien zu schonen, und brachte zwei Flaschen Mineralwasser mit. Zum ersten Mal in ihrem Leben trank Tama’Olu das sprudelnde, perlende Wasser. Sie lachte leise auf, als es in ihrer Kehle und Nase prickelte, und begriff nicht, dass Wasser lebendig werden konnte.
»Leg dich hin und schlafe«, riet Ron und küsste sie zärtlich. Draußen ging wieder die Sonne wie ein Feuerball unter. »Es war ein schwerer Tag für dich, mein Liebling.«
Sie schüttelte den Kopf, trank das Glas leer und freute sich über das Sprudeln wie ein Kind. »Du musst schlafen, Ovaku. Ich bleibe bei Fatahefi.«
»Die Wache übernehme ich.« Wenn er stirbt, werde ich sie nicht wecken, dachte er. Wenn sie dann aufwacht, ist alles vorbei, und das ist leichter für sie, als das Sterben ihres Vaters miterleben zu müssen. Kein Mensch sieht gut aus, wenn er stirbt, erst die Majestät des Todes verklärt sein Gesicht.
»Mal du, mal ich …« Tama’Olu ging zu der an der Wand liegenden Matratze und setzte sich darauf. Sie hatte noch nie eine solche Unterlage gesehen. Sie war weicher als ihr mattenbelegter Boden, ihr war, als schwebe sie über der Erde.
»Darauf schlaft ihr?«, fragte sie, klopfte auf die Matratze und wunderte sich, dass ihre Hand zurückfederte. War das ein Zauber? Eine Matte ließ doch keine Hand tanzen! Ganz vorsichtig legte sie sich hin und wartete auf neue Überraschungen. Obwohl sie müde war, wehrte sich ihr Körper gegen den Schlaf. Ihm fehlte der Kontakt mit der Erde.
Und Tapana lebte noch immer …
Aber auch Ron fand keine Ruhe. Die vergangenen dramatischen Stunden ließen sich nicht so einfach wegwischen. Irgendwann spürte er, dass eine bleierne Schwere sich in ihm ausbreitete, die Lider herunterzog, die Muskeln lähmte und seine Umwelt verschwimmen ließ. Er kam nicht dagegen an, er bemühte sich auch nicht darum. Er empfand es als wunderbar, die Augen schließen zu können. Dr. Rudecks Schnarchen wurde leiser und immer leiser – bis er es gar nicht mehr vernahm …
Er hörte nicht, dass Tama’Olu aufstand, nach ihrem Vater sah und die Infusionsflasche auswechselte. Sie hatte Willmore genau beobachtet, sie hatte sich jeden Griff gemerkt, und ohne Schwierigkeiten brachte sie die neue Flasche an.
Ron lag mit dem Kopf auf dem Tisch und schlief tief und fest. Dr. Rudeck und Willmore schnarchten unerträglich laut. Doch das alles schien Tama’Olu nicht zu stören. Sie sah nur ihren Vater: Er lebte noch immer …
Mit einem Ruck wachte Ron auf, und sein erster Blick fiel auf Tapana. Ruhig und gleichmäßig atmete der Stammesfürst, das Gesicht war entspannt, und der Mund war nur noch leicht geöffnet: ein Genesender, der im Schlaf Kräfte sammelte.
Auf dem Bett lag immer noch Willmore und schlief tief und fest. Dr. Rudeck war wohl schon aufgestanden. Auch Tama’Olu war nicht in der Hütte. Ron richtete sich auf und reckte sich. Dann stutzte er plötzlich und begriff, dass er aufgewacht war, weil er etwas wie einen Schrei gehört hatte. Im Unterbewusstsein, im Traum – er wusste es nicht zu erklären.
Er legte die Arme hinter den Kopf – und hielt abrupt in der Bewegung inne. Da war er wieder, der helle Schrei, und es war kein Traum. Der Ruf kam von draußen, und plötzlich wusste Ron, dass da Tama’Olu in höchster Not und Verzweiflung um Hilfe rief.
Mit ein paar langen Sätzen stürmte Ron aus seinem Haus, rannte an den Strand und sah im seichten Wasser der Lagune, wie Tama’Olu mit Dr. Rudeck rang, auf ihn einschlug und sich wie eine Katze wand.
Sie war nackt, ihr Kleid lag im Sand, so wie jeden Morgen, wenn sie in der Lagune ihr Bad nahm, ein wenig hin und her schwamm und erfrischt wieder an Land kam, bevor die Sonne ihre ganze Glut entfaltete.
Bei dem heutigen Bad schien Rudeck sie überrascht zu haben – oder er war ihr nachgeschlichen, ins Wasser gefolgt und versuchte jetzt, die schlanke nackte Gestalt an sich zu ziehen und zu besitzen.
»Ovaku! Hilfe! Hilfe!«, schrie Tama’Olu nun wieder. Sie hatte sich aus dem Griff des Mannes befreit und wollte an Land flüchten, aber Rudeck war schneller. Er riss sie an den Schultern zu sich herum und presste sie fest an sich. Wie eine Klammer war sein rechter Arm, die linke Hand umspannte Tamas Brust. »Ovaku! Hilf mir!«
Mit zusammengekniffenen Augen, bereit, notfalls zu töten, riss Ron einen knorrigen Wurzelstock aus einer am Strand liegenden, von einem Wirbelsturm entwurzelten Palme und watete in die Lagune.
»Rudeck, du Saukerl, lass meine Frau los!«, brüllte er.
Der Arzt fuhr herum, riss Tama’Olu vor sich wie einen Schutzschild und umklammerte ihre Brüste. Tama schrie wieder auf, trat um sich und versuchte verzweifelt, dem festen Griff zu entkommen. Doch es war sinnlos, Rudeck fasste nur noch brutaler zu.
»Bleiben Sie stehen, Ron!«, schrie der Arzt nun. »Das ist nicht Ihre Frau – Sie haben gar keine Rechte! Lebt Tapana noch? Ja? Sehen Sie, dann ist es nur recht und billig, wenn mich die Tochter ein bisschen belohnt!«
»Du bist ja noch betrunken, du erbärmliches Schwein! Lass sie los! Und dann weg mit dir von der Insel! Sofort!«
Ron machte wieder drei Schritte in der Lagune und drohte mit dem Wurzelstock. Tama’Olu war jetzt still. Ovaku war da, er würde sie befreien. Ihre Angst verwandelte sich in die Gewissheit, dass Ovaku stärker war als dieser Mann mit seinen harten Händen und dem schlechten Atem.
Plötzlich spürte sie einen kalten Gegenstand in ihrem Rücken, irgendetwas stach in ihr Fleisch.
»Bleib endlich stehen, du Blödmann!«, sagte Dr. Rudeck mit gefährlich leiser Stimme. »Du glaubst wohl, nur Millionäre hätten das Recht, solch ein Püppchen zu besitzen. Da irrst du dich aber! Verdammt, bleib stehen!« Er hob eine Pistole hoch und legte sie auf Tamas Schulter. »Wenn ich abdrücke, das schwöre ich dir, hol’ ich dir weder die Kugel raus noch nähe ich das Loch zu. Geh zurück in die Hütte und lass uns allein. Ich weiß, du hast keine Waffe im Haus, alles liegt noch auf der Yacht, und da kannst du nicht ran.«
»Rudeck, du machst einen Fehler«, knirschte Ron, aber er blieb stehen. Die Mündung der Pistole zeigte genau auf seine Brust. Es war sicher, dass auf diese Entfernung kein Schuss danebengehen würde.
»Was für’n Fehler, Klugscheißer?«
»Ich werde dich verfolgen, und wenn’s bis zum Südpol wäre. Einmal aber kriege ich dich, und dann kommt es darauf an, wer schneller ist.«
»Erst einmal werde ich mich der Schönen widmen – dann bist du dran! Los, voran!«
Er stieß Tama’Olu mit dem Knie ins Gesäß und schob sie vor sich her, in einem Bogen um Ron herum zum Strand.
»Du wirst nicht wegfliegen können«, sagte Ron hart.
»Denkst du, deine Wilden könnten mich daran hindern? Du Idiot! Den Weg schieße ich mir frei, das ist kein Problem.« Er stieß Tama’Olu weiter aus der Laune heraus, drückte sie auf den Strand und war sofort wieder hinter ihr, die Pistole immer auf Ron gerichtet.
»Wir wollen jetzt ungestört sein, Ron. Also sei vernünftig und bleib stehen. Gönn mir das kleine Abenteuer.« Als Ron zwei Schritte wagte, brüllte er: »Rühr dich nicht von der Stelle, du Idiot! So ist es brav … dreh dich um, damit du nicht alles siehst.«
Ron war stehengeblieben und ließ den Knüppel sinken. Tama’Olus Augen flehten um Hilfe, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Nur die Arme streckte sie nach ihm aus, während Dr. Rudeck wieder ihre Brust umklammerte. Hilf, Ovaku, hilf mir doch!
Vor Wut fast besinnungslos, die Zähne fest aufeinandergepresst, schweigend und leicht nach vom gebeugt, stand Ron im Korallensand und rührte sich nicht.
Rudeck schob die Pistole in die Hosentasche, hob mit beiden Armen Tama’Olu hoch und trug sie, rückwärts gehend, weil er Ron immer noch nicht traute, zu den Blütenbüschen am Rand des Palmenwaldes.
Dort aber standen, wie aus dem Boden gewachsen, die drei Brüder Tama’Olus. Die Speere wippten in ihren Händen, die gezackten Spitzen, die schon so manchen Hai getötet hatten, tanzten auf und nieder. Ganz still war es jetzt am Strand, nur das Keuchen von Rudeck war zu hören, der mit Tama’Olu zum Waldrand eilte. Es schien, als könne er es nicht mehr erwarten, sie endlich zu besitzen.
»So ist es gut!«, rief er jetzt zu Ron hinüber. »Du wirst es schwer haben, ihr noch zu imponieren, nachdem sie mich kennengelernt hat!«
Es waren seine letzten Worte.
Die drei Männer hoben ihre Speere, legten sich ein wenig zurück und gaben dem Wurf all ihre Kraft mit.
Dicht nebeneinander, als sei es eine artistische Schau, flogen die Speere lautlos durch die Luft, und es war wie ein einziger Hieb, als sie alle drei gleichzeitig in Rudecks Rücken drangen.
Mit einem ächzenden Laut ließ der Arzt sein Opfer los warf die Arme in die Luft und fiel mit dem Gesicht nach vorn in den Sand. Ein Schwall Blut stürzte aus seinem Mund, aber das spürte er schon nicht mehr. Nur noch ein kurzes Zucken ging durch seinen Körper, dann lag er still. Die drei Speere in seinem Rücken zitterten noch von der Kraft des Wurfes und des Aufpralls.
Tama’Olu stieß einen wilden Schrei aus und rannte über die Waldlichtung zu Rons Hütte.
Ruhig, als hätten sie gerade einen großen Fisch gestochen, traten ihre drei Brüder an den Toten heran, zogen mit einem Ruck ihre Speere aus seinem Körper, hoben grüßend die Hände in Rons Richtung und gingen würdevoll in den Wald zurück.
Tama’Olu war gerächt! Es war natürlich und selbstverständlich, was sie getan hatten. Ihre Schwester gehörte Ovaku, und nichts, außer den Göttern, ist heiliger als die Ehre.
Ron verzichtete darauf, zu Dr. Rudeck zu gehen. Der Arzt war tot, daran gab es keinen Zweifel. Begraben würde man ihn noch heute, denn in der großen Hitze zersetzte sich ein Körper sehr schnell. Was aber, und das war das Problem, das Ron auf dem Weg zu seiner Hütte beschäftigte, wurde aus Jack Willmore? Sicher würde er gleich nach seiner Rückkehr in Pangai die Polizei alarmieren. Und dann würden sie alle nach Tonu’Ata kommen – mit Hubschraubern und Polizeibooten. Es gäbe keine unbekannte Insel mehr, das Paradies würde vernichtet werden. Die drei Brüder Tama’Olus würde man wie wilde Tiere jagen, sie finden und erschießen, denn wo sollten sie sich auf dieser Insel verstecken? Es wäre der Untergang von Tonu’Ata.
In der Hütte kauerte Tama’Olu auf der Matratze, ein kleines, nacktes Häuflein Mensch, in sich zusammengesunken, die langen Haare wie einen Trauerschleier über sich geworfen. Tapana lag wach auf dem Tisch und starrte an die geflochtene Decke. Auf dem Bett lag Willmore und schnarchte bei jedem Atemzug.
Mein Junge, dachte Ron und trat an das Bett heran. Du bist ein guter Kerl, du hast keine Schuld. Aber jetzt nach Pangai zurückkehren kannst du nie mehr. Du allein, außer mir, weißt jetzt, wo meine Insel liegt. Du allein kannst die Polizei hierherführen. Das ist eine Tatsache, die dich an Tonu’Ata, an mich und an Tama’Olu fesselt. Du darfst nie mehr zurück nach Pangai …
Er beugte sich über Willmore, rüttelte und schüttelte ihn. Doch als der Mann auch so nicht wachzukriegen war, goss Ron ihm eine Flasche Mineralwasser über den Kopf. Mit einem Grunzlaut schlug Willmore die Augen auf, starrte um sich, brauchte eine Zeit, um zu begreifen, wo er war, und lächelte Ron dann an.
»Mann, haben wir gesoffen!«, sagte er mit schwerer Zunge. »Und einen Nachbrand habe ich! Ist noch kaltes Bier da?« Er wollte sich aufrichten, fiel aber sofort wieder auf den Rücken. »Wie mit ’nem Hammer geschlagen fühle ich mich.« Dann schien er sich zu erinnern, warum er hier lag, und streckte den Arm in Richtung Tapana aus. »Wie geht’s ihm? Ex?«
»Nein, er lebt. Das Fieber ist sogar gefallen. Er ist bei Besinnung.«
»Wer hätte das gedacht? Aber ich sag’s ja immer: Dr. Rudeck ist ein blendender Chirurg.« Er hob wieder den Kopf und sah kurz um sich. »Wo ist er überhaupt?«
»Draußen am Strand«, antwortete Ron ruhig.
»Und was sagt er zu seinem Erfolg?«
»Nichts.«
»Strand! Das ist eine Idee! Die Poren auslüften und schwimmen in der Lagune.« Willmore setzte sich auf das Bett und gähnte herzhaft. Dann fiel sein Blick auf die regungslose Tama’Olu. Sofort erkannte er, dass sie nackt war, aber im Gegensatz zu Dr. Rudeck regte ihn das nicht auf. »Sie hat schon geschwommen und schläft wieder, was?«
»Ja. Wir haben uns bei der Nachtwache abgelöst. Sie lagen ja da wie ein nasser Sack.«
»Verzeihen Sie, Ron. Ich weiß, das war mein Fehler.« Er sah hinüber zum Infusionsgalgen und wischte sich über die Stirn. »Die wievielte Flasche ist das?«
»Die vierte. Tama’Olu hat sie immer gewechselt. Sie muss auch die Nadel aus der Vene gezogen haben, als die vierte Hasche leer war und Blut in den Schlauch floss. Sie hat Ihnen genau zugesehen und es einfach nachgemacht.«
»Eine medizinische Naturbegabung.« Willmore schwang die Beine auf die Erde, blieb aber sitzen, weil alles um ihn herum zu schwanken begann. »O mein Kopf! Mir ist, als hätte ich in einer Waschmaschine übernachtet, die nicht abgestellt war. Aber nach einem Bad im Meer bin ich wieder klar, darauf können Sie sich verlassen …«
»Bevor Sie ins Wasser gehen, Jack, haben wir noch etwas zu besprechen.« Ron setzte sich neben Willmore auf das Bett. Willmore sah ihn erstaunt an.
»Das klingt ja so ernst und wichtig …«
»Es ist auch ernst, Jack. Dr. Rudeck ist zwar draußen am Strand – aber er schwimmt nicht. Er liegt mit dem Gesicht im Sand und ist tot.«
Willmore begriff nicht sofort, was Ron da sagte, aber dann klappte sein Unterkiefer herunter. »Mein Gott«, murmelte er erschüttert, »er hat sich totgesoffen, was? Herzschlag, als er in die heiße Luft kam …« Er wollte aufspringen, aber Ron drückte ihn auf das Bett zurück.
»Er wurde dabei überrascht, als er Tama'Olu vergewaltigen wollte.«
»Das sieht ihm ähnlich! Haben Sie nicht bemerkt, wie scharf er auf Ihre Frau war? Und beim Vergewaltigen hat er einen Herzschlag bekommen, ist es so?«
»Nein. Er wurde von Tamas drei Brüdern mit den Speeren getötet.«
Willmore riss wieder den Mund auf, aber diesmal lag Entsetzen in seinem Blick. Nur mühsam konnte er hervorstoßen:
»Diese Wilden … sie haben ihn ermordet? Ron, das ist ja fürchterlich! Wenn ich das in Pangai melde …«
»Eben. Sie sagen es selbst. Und deshalb, Jack, können Sie nicht nach Pangai zurück.«
»Was sagen Sie da?« Willmore schoss empor, sein Kater war wie weggeblasen. Völlig klar war er plötzlich im Kopf und begriff seine Situation. »Das können Sie doch nicht machen, Ron! Ich habe Ihre Frau doch nicht angefasst!«
»Aber Sie werden in Pangai der Polizei alles berichten.«
»Dazu bin ich doch verpflichtet!«
»Und ich bin verpflichtet, mein Paradies zu erhalten. Sie werden bei uns als lieber Gast wohnen.«
»Ich denke nicht daran! Ich fliege sofort wieder heim.«
»Zuerst begraben wir Dr. Rudeck.« Ron winkte Willmore zurück, als dieser zur Tür rannte. »Jack, seien Sie kein Narr. An Ihren Hubschrauber kommen Sie gar nicht heran, die drei Krieger stehen dort schon lange als Wache.«
»Das ist Freiheitsberaubung, Ron!«, schrie Willmore außer sich.
»Nennen Sie es, wie Sie’s wollen. Sie bleiben bei mir auf der Insel. Wir werden Ihnen eine schöne Hütte bauen, und bei meinem nächsten Ausflug nach Papeete werde ich Ihnen aus der Zivilisation alles mitbringen, was Sie brauchen. Bis dahin sind Sie mein Gast und helfen mir beim Kabelziehen für das elektrische Licht.«
»Einen Teufel werde ich tun! Ron, überlegen Sie doch mal logisch: Wenn ich heute nicht nach Pangai, zurückkomme, wird man mich suchen.«
»Wo? Diese Insel hier gibt es nicht. Keiner wird so weit außerhalb des Archipels suchen, weil da eben nichts mehr ist als Ozean.«
Ron erhob sich nun auch von dem Bett, streichelte im Vorbeigehen Tama’Olu über das Haar und stieß vor Willmore die Tür auf. »Begraben wir jetzt Rudeck«, sagte er. »Hinter den Büschen am Waldrand. Ich habe aus Papeete Spaten und Hacken mitgebracht. Aber erschrecken Sie nicht, Jack. Dr. Rudeck sieht nicht sehr vorteilhaft aus.«
»Im Moment bin ich wehrlos und muss gehorchen, Ron.« Willmore trat neben Ron aus der Hütte ins Freie. Die Hitze schlug ihm entgegen wie ein Hammer. »Aber einmal und irgendwie zahle ich Ihnen das heim. Sie bekommen die Rechnung, verlassen Sie sich darauf.«
Sie gingen hinunter zum Strand, um Dr. Rudeck zu begraben.
Aber der Arzt war nicht mehr da. Nur ein großer Blutfleck.
Dafür sahen sie drei Einbäume mit geblähten Segeln, die jenseits des Korallenriffes ins offene Meer vorstießen.
Willmore begriff nicht sofort, was er sah. Er blickte wieder auf den Blutfleck im Sand und schüttelte den Kopf. Eine vage Hoffnung glomm in ihm auf.
»Haben Sie sich auch nicht geirrt, Ron?«, fragte er. »Vielleicht ist Dr. Rudeck gar nicht tot, sondern nur verletzt und hat sich in Sicherheit gebracht. Wir sollten mal im Hubschrauber nachsehen, ob er sich da versteckt hat.«
»Willmore, er ist tot! Glauben Sie mir, drei Speere im Rücken – das überlebt keiner.«
»Und wo ist, er? Tote können nicht herumlaufen.«
»Er ist nicht weggelaufen, er schwimmt im Pazifik.« Ron zeigte hinüber zu den drei Booten, die jetzt auf den langen Wellen des Meeres tanzten.
Willmore legte die rechte Hand als Blendschutz über die Augen und begriff noch immer nicht. »Was wird hier eigentlich gespielt, Ron?«, fragte er unwirsch. »Erst soll Rudeck tot sein, dann fährt er mit einem Einbaum aufs Meer hinaus. Aber wie kann er das, wenn er drei Speere im Rücken gehabt haben soll? Und wo kommt der große Blutfleck im Sand her?«
»Haben Sie gute Augen, Willmore?«, fragte Ron. Seine Stimme klang auf einmal merkwürdig rau und belegt.
»Sehr gute sogar. Als Pilot muss ich jedes Jahr zur Kontrolle zum Augenarzt. Stellen Sie sich vor – ein kurzsichtiger Pilot, vor dessen Augen die Landebahn verschwimmt.«
»Dann sehen Sie mal genau hin, Willmore. Achten Sie auf das mittlere Boot.«
Willmore nickte. Er sah das Segel, den Mast aus Palmenholz, den Einbaum, die knorrigen Ausleger und im Boot einen Mann, einen der Brüder Tama’Olus.
»Na und? Ich sehe einen von diesen Wilden, aber keinen Dr. Rudeck.«
»Er ist aber in dem Boot, er liegt nur auf dem Boden – tot.«
»Ja aber, was soll das? Warum …« Plötzlich schwieg er, als habe man ihm die Kehle zugedrückt. Voller Entsetzen starrte er Ron an. Jetzt endlich begriff er, und ein Würgen stieg ihm in die Kehle. Er glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. »Das … das ist …«, stotterte er heiser. »Ron, konnten Sie das nicht verhindern?«
»Nein. Ich war ja in der Hütte und musste Sie wecken und Ihnen Dr. Rudecks Tod erklären. Da haben die drei Männer ihn weggeschafft.«
»Sie werfen den Toten über Bord, nicht wahr?«
»Ja.«
»Den Haien zum Fraß.«
»Er wollte ihre Schwester vergewaltigen, und für ihr Ehrgefühl ist der Tote nicht wert, in der Erde ihrer Heimat zu liegen. Futter für die Haie – das ist die letzte Strafe, die sie ihm zufügen.«
»Und auf solch einer barbarischen Insel wollen Sie leben, Ron? Nur wegen der schönen Tama’Olu?«
»Auch.« Ron blickte wieder hinüber zu den drei Einbäumen. Sie schaukelten jetzt in einem Kreis auf den Wellen, und jeden Augenblick musste der Körper Rudecks ins Meer kippen und von den Haien zerfleischt werden. Es war sicher, dass sie bereits um die Boote schwammen und die Männer beobachteten. Wie ich diese Biester hasse, dachte Ron.
»Die Welt ist voll von schönen Frauen. Warum müssen Sie da ausgerechnet bei diesen Wilden leben? Ich habe Ihnen gestern schon gesagt: Es gibt keine Paradiese. Und was Sie hier Ihr Paradies nennen, ist in Wahrheit die Hölle!«
Ron atmete tief auf. Er sah, wie einer der Eingeborenen in seinem Einbaum balancierte, wie er einen Körper über die Bootswand zerrte und dann ins Meer fallen ließ. Das Boot schaukelte gefährlich, aber die Ausleger verhinderten ein Umkippen.
Ron war es, als könne er das Aufschäumen des Wassers sehen, als die Haie heranschossen, den Körper zerfleischten und mit den Stücken wieder in die Tiefe stürzten. Mit einem Frösteln, das ihm den Nacken hinunterlief, wandte er sich ab. Willmore hatte erst gar nicht hingesehen und drehte dem Korallenriff den Rücken zu.
»Ist es vorbei?«, fragte er nach einer Weile tonlos.
»Ja.«
»Kommen Sie mit, Ron. Ich fliege Sie nach Pangai, und dort können Sie eine Maschine nach Nuku’alofa nehmen. Damit fliegen Sie irgendwohin, wo es keine Erinnerung mehr an Tama’Olu gibt. Nach Neuseeland und weiter nach Australien, von dort nach Singapur oder Hongkong … Nur weit genug weg von hier. Singapur – das wäre was für Sie. In Singapur soll es die hübschesten Mädchen der Welt geben.«
»Ich kenne Singapur, habe dort drei Monate gelebt.«
»Wenn das Sie nicht reizt, dann nehmen Sie Hawaii. Ron, Sie haben doch Ihre wunderschöne Yacht. Mit der kommen Sie überallhin. Und ich verspreche Ihnen: Tama’Olu wird nichts geschehen. Ich werde schweigen über alles, was hier passiert ist. Ich werde erzählen, Dr. Rudeck sei beim Schwimmen vor der Insel Fonoifua, zu der wir gerufen worden waren, von einem Hai angefallen und in die Tiefe gezogen worden. Man wird es sofort glauben. Und in etwa ist es ja auch wahr …«
»Ich bleibe!«, sagte Ron ruhig und entschlossen. »Willmore, es gibt für mein Verhalten viele Gründe, aber der erste und wichtigste ist Tama’Olu. Das ist kein Abenteuer wie bisher, ich liebe sie wirklich und will sie heiraten.«
»Aber ich bleibe nicht auf dieser Mistinsel! Das kann niemand verlangen!«
»Doch, Jack … ich! Sie können mir ein Stück vom Himmel versprechen, es ist unmöglich, und ebenso unmöglich ist es, dass Sie in Pangai nicht sofort die Polizei alarmieren.«
»Ich soll hier zeit meines Lebens bleiben? Als Gefangener?« Willmore atmete schwer.
»Bestimmt so lange, wie ich und Tama’Olu leben.«
»Das ist ja Wahnsinn!«, schrie Willmore. »Sie sind verrückt, Ron! Bei der nächsten Gelegenheit fliehe ich.«
»Denken Sie an die Haie, Jack.«
»In der Luft gibt es keine Haie«, wandte Willmore ein.
»Sie werden nur noch einmal mit Ihrem Hubschrauber fliegen – und dann nie mehr. Und zwar fliegen wir sofort, das heißt in einer Stunde. Ich muss von meinem Schiff nur noch etwas holen. Und versuchen Sie nicht, in dieser Zeit abzuhauen. Der Hubschrauber wird von zehn Insulanern bewacht. Sie haben keine Chance außer der, Dr. Rudeck zu folgen.«
Ron ließ den vor Wut bebenden Willmore stehen und ging hinunter zum Strand. Dort nahm er sich einen der Einbäume, schob ihn in die Lagune und trieb ihn dann mit kräftigen Paddelschlägen hinüber zu seiner Yacht.
Unter Deck im Stauraum unter seinem Bett zog er die Kiste mit den Waffen hervor, nahm eine Pistole der Marke Smith & Wesson heraus, dazu drei Magazine und einen kleinen Kasten mit Munition. Jetzt hatte er auch Zeit, das kleine Beiboot mit dem 5-PS-Außenborder zu Wasser zu lassen; das größere Boot, einem Tender ähnlich, ließ er in den Davits hängen. Er brauchte es erst beim Ausladen der mitgebrachten Waren.
Knatternd kam er zur Insel zurück.
Willmore stand noch immer am Strand, so wie er ihn verlassen hatte. Wortlos starrte er vor sich hin, als Ron auf ihn zukam. Ron zeigte Willmore die Pistole und steckte sie dann wieder in die Hosentasche.
»Das wollte ich nur schnell holen und Ihnen zeigen«, sagte er dabei. »Damit Sie keine Dummheiten machen, Jack, wenn wir nachher fliegen. Ich nehme an, ein Leben auf dieser Insel ist Ihnen lieber als ein Begräbnis im Ozean.«
»Wenn … dann sind Sie dran, Ron. Dann fallen wir gemeinsam zwischen die Haie!«
»So ein Held sind Sie nicht.« Ron schüttelte den Kopf und lächelte nachsichtig. »Jack, was soll diese Rederei? Stellen Sie sich besser auf Ihr neues Leben ein. So schlecht ist es gar nicht, Sie werden sehen.«
Zunächst gingen sie zurück in Rons Hütte.
Tama’Olu saß neben ihrem Vater und tupfte ihm den Schweiß aus dem Gesicht. Sie blickte hoch, als Ron und Jack eintraten, und duckte sich sofort, als hätte sie Angst, geschlagen zu werden.
»Er lebt wirklich noch immer«, stellte Willmore verblüfft und aufatmend zugleich fest. »Er muss ein unwahrscheinlich starkes Herz haben.«
Er ging zum Bett und setzte sich. Dabei machte er eine weite Handbewegung. »Nun haben Sie auch noch eine fast vollständige Operationsausrüstung bekommen, Ron. Es fehlt nur das Narkosegerät zum Intubieren. Aber wie ich Sie einschätze, holen Sie das auch noch heran. Und bauen hier eine Privatklinik.«
»Möglich. Und Sie werden dann Chefarzt, Jack.«
»Ich bin zwar nur ein Krankenpfleger mit Examen, aber für die Wilden wird’s reichen. Gibt’s hier viele Kranke?«
»Außer Tapana – keinen.«
»Wirklich ein aufreibender Job.« Willmore flüchtete sich in Galgenhumor. »Hier kann kein Arzt sich einen Cadillac leisten.«
»Aber er lernt, ein Haus zu bauen. Das wird Ihre erste Aufgabe sein, Jack: Verschaffen Sie sich ein Dach über dem Kopf. Bei mir können Sie nicht wohnen.«
»Verstehe.« Willmore versuchte ein breites Grinsen. »Ich störe beim ehelichen Spiel. Bei Tama’Olus Temperament wackelt die ganze Hütte, nehme ich an.«
»Jack, wollen Sie eine Ohrfeige haben?«
»Nicht unbedingt.«
»Dann halten Sie das Maul! In zehn Minuten fliegen wir.«
Er ging zu Tapana hinüber an den Tisch und beugte sich über ihn. Der Häuptling hatte die Augen offen, ein schwaches Lächeln lag um seinen Mund. Als er Ron sah, versuchte er sogar, die rechte Hand zu heben, aber dazu war er noch zu schwach.
»Du bist bald wieder gesund«, sagte Ron langsam. Er suchte mühsam die tongalesischen Vokabeln zusammen und hoffte, dass Tapana ihn verstand, zumindest aber ahnte, was er sagte. »In sechs Wochen ist alles vorbei, und in elf Wochen kannst du wieder jagen und fischen.«