Sagen aus dem Ruhrgebiet

Der Bäcker zu Dortmund

Einst lebte zu Dortmund ein reicher Bäcker, der jeden Sonntag brav zur Kirche ging, wo er mit dem frömmsten und andächtigsten Gesicht dem Gottesdienst lauschte. Und wenn der Pastor predigte, dass man seinen Nächsten wie sich selbst lieben soll, dann nickte er eifrig mit dem Kopfe. Dabei aber war er wohl einer der geizigsten, hartherzigsten Bürger von ganz Dortmund, der durch Wucherei und übermäßigen Kornankauf einen riesigen Reichtum angehäuft hatte.

Seine Gulden hatte er in großen Säcken in seinem Keller versteckt, doch noch nie hatte er auch nur einem Armen etwas anderes als höchstens ein verschimmeltes Stück Brot zukommen lassen. Selbst seiner Schwester, der Witwe eines armen Leinenwebers, hatte er, als sie ihn nach dem Tod ihres Mannes für sich und ihre fünf Kinder um Hilfe bat, mit rohen Worten die Türe gewiesen.

Nachdem einst der schwarze Tod, die Pest, Dortmund heimgesucht und unzählige Opfer gefordert hatte, entstand danach eine schlimme Hungersnot im ganzen Lande und vielen, die die Pest verschont hatte, denen drohte nun der Hungertod. Der Bäcker aber, der wohlgenährt die Epidemie gut überstanden hatte, rieb sich die Hände ob dieses Zustandes. So buk er immer kleinere Brote, oft aus minderwertigem, verunreinigtem Mehl, die er sich aber immer teurer und teurer bezahlen ließ.

In seiner Kornkammer staute sich das Getreide, doch er dachte nicht daran etwas davon zu verkaufen, denn er hoffte auf den Winter und darauf, dass dann die Preise um noch ein Vielfaches steigen würden. Eines Mittags, nach einem ausgiebigen Mahl mit einem köstlichen Pfefferpotthast, einem Rindfleischeintopf, legte er sich in seiner Schlafkammer aufs Ohr, um von seiner morgendlichen Arbeit auszuruhen. Sein großer Hund, den er zum Schutze immer bei sich hatte, lag unter seinem Bett.

Da klopfte es zaghaft an die Türe. Er richtete sich etwas auf und rief mürrisch: „Herein“, den er schätzte es ganz und gar nicht, während seines Mittagsschläfchens gestört zu werden. Die Türe öffnete sich langsam und eine abgemagerte, in Lumpen gehüllte weibliche Gestalt trat zögernd über die Schwelle. Der Bäcker schwang seine Beine über die Bettkante und herrschte das arme Weib wütend an: “Was soll das, was erdreistest du dir, Weib, mich hier in meinem Hause zu stören? Mach, dass du verschwindest, oder ich hetze meinen Hund auf dich!“

Das Tier war mittlerweile unter der Bettlade hervor gekrochen und knurrte die Fremde bedrohlich an. Mit zitternder Stimme antworte die Frau: „Oh, nein, tu das nicht! Erkennst du mich denn nicht mehr, Bruder? Ich bin´s, deine Schwester.“ Der Bäcker kniff die Augen zusammen und da erkannte er endlich wieder die ehemals so vertrauten Züge in dem abgezehrten Gesicht des Weibes.

„Was willst du?“

„Nicht viel erbitte ich mir von dir“, antwortete seine Schwester mit brüchiger Stimme. „Ich habe alle meine Kinder verloren, eines nach dem anderen hat mir die Pest genommen. Und nun, lieber Bruder, sei barmherzig und gewähre mir ein Plätzchen in deinem Hause und laß mich nicht Hungers sterben“

„So, so“, entgegnete ihr der Bruder und dann lächelte er böse. „Gut, dann will ich mal nicht so sein und dir Unterschlupf gewähren, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es dir auch gefällt. Und etwas zu essen sollst du auch bekommen.“

Er wuchtete seinen schweren Körper aus dem Bett und führte seine Schwester auf den Hof. Dort zeigte er auf eine große Hundehütte: „Da, in der Hütte kannst du dich ausruhen und hier hast du etwas zu essen.“ Er zog ein Stück Brot aus der Tasche und gab es ihr.

Dankbar griff die arme Frau danach und wollte gierig hinein beißen. Doch sie stöhnte schmerzhaft auf, da sie glaubte, die wenigen, ihr noch verbliebenen Zähne würden abbrechen. Denn das Brot war steinhart und es hätte schon das starke Gebiss eines Hundes gebraucht, um es kauen zu können. Enttäuscht warf sie es weg, doch zu schwach um sich gegen ihren herzlosen Bruder zu wehren, sank sie kraftlos zu Boden. Der aber wandte ihr den Rücken zu und schlenderte laut lachend wieder in sein gemütliches Haus hinein. Eine alte Magd, die das ganze beobachtet hatte, kam über den Hof geeilt und unter beruhigenden Worten flößte sie der armen Frau einige Schlucke eines kräftigen Bieres ein. Dann zog sie aus ihrer Taschenschürze mehrere Scheiben weiches, weißes Weizenbrot und reichte es der fast verhungerten Frau.

Dann aber ging sie so schnell es ihre alten Beine vermochten, wieder zurück ins Haus, denn wenn sie der Bäckermeister bei ihrem Tun entdeckt hätte, hätte er keine Hemmungen gehabt, sie aus dem Hause zu werfen. Und das hätte für sie, in ihrem hohen Alter und in diesen schlimmen Zeiten, den sicheren Tod bedeutet. Die Schwester des Bäckermeisters aber kroch, nun etwas gestärkt in die Hundehütte, wo sie sich auf dem Stroh zusammen kauerte und unter Tränen Gott um Hilfe anflehte: „Herr, mein Gott, ich bitte dich, erhöre du mich wenigstens. Erlöse mich von diesem elenden Leben und laß mich heimkehren zu meinem Mann und meinen geliebten Kindern.“

Und Gott erhörte sie noch in derselben Nacht. Als man sie am nächsten Morgen tot in der Hundehütte liegend fand, hatte sie ein Lächeln auf den Lippen, das ihre abgezehrten Züge wieder jung und weich erscheinen ließ. Wenige Tage später aber brach in Dortmund ein gefährlicher Aufstand aus. Das Volk begehrte auf, sie wollten es nicht mehr hinnehmen, dass einige reiche und begüterte Einwohner der Stadt ihre Reichtümer und Schätze horteten, oder gar in Saus und Braus lebten, während die einfachen Menschen wie die Fliegen auf den Straßen und in ihren erbärmlichen Behausungen vor Hunger starben. Sie stürmten deren Häuser, und verwüsteten und plünderten, was sie unter die Finger bekamen.

Auch das Haus des Bäckers wurde von dem Pöbel nicht verschont. Doch der ließ bereits bei den ersten Anzeichen des Aufruhrs sämtliche Türen und Fenster verriegeln und mit Brettern vernageln. Denn er wusste, dass die hungernde Meute ihn erschlagen würde, sobald sie seiner habhaft würden. Er packte in aller Eile einen kleinen Sack mit Broten und einen Krug Wasser und flüchtete in den Keller seines Hauses, in dem er seine Geldsäcke versteckt hatte. Dort hoffte er einige Zeit gut versorgt ausharren zu können, bis sich der ganze Aufruhr gelegt hätte.

Kaum hatte er die schwere Eisentüre hinter sich verriegelt, hörte er, wie trotz aller Vorsorge, die er veranlasst hatte, um sein Eigentum zu schützen, der rasende Pöbel über ihm sein Haus stürmte und laut johlend alles kurz und klein schlug. Auf seinen Geldsäcken sitzend verharrte er so mehrere Stunden zitternd vor Angst, dass er womöglich noch entdeckt werden würde.

Irgendwann, mittlerweile musste schon der nächste Tag angebrochen sein, bekam er Hunger und sein Magen knurrte laut und vernehmlich. Er griff in den Brotsack, den er mitgebracht hatte und holte sich einen kleinen weißen Laib heraus.

Voller Appetit wollte er hinein beißen, doch, oh weh, das Brot war so hart wie Stein und – der Bäcker warf das Brot angeekelt zu Boden – die ganze Kruste war mit blutroten Tropfen überzogen. Ebenso der nächste und nächste Laib, den er aus dem Sack zog: Ein Laib wie der andere war verwandelt und ungenießbar geworden.

Der Bäcker warf nun den ganzen Sack zu Boden und griff nach dem Krug mit Wasser, denn sein Mund war trocken und er hatte das Gefühl, als ob ihm die Zunge am Gaumen kleben würde. Doch als er den Krug an die Lippen setzen wollte, schlug ihm ein ekliger eisenhaltiger Geruch entgegen. Blut! Das erfrischende Wasser, das er so nötig gehabt hätte, war zu Blut geworden.

Er schlug die Hände vors Gesicht: er hatte die Botschaft wohl verstanden und er sank auf die Knie: „Oh, Herr“, betete er. „Ich bereue zu tiefst all meine Sünden, meinen Geiz, meine Hartherzigkeit, auch mein heuchlerisches Gehabe in der Kirche. Herr, ich verspreche dir, dass ich von Stund an ein besserer Mensch sein werde, ein Wohltäter für alle Armen und Verzweifelten und keiner, der mich um Hilfe bittet, soll in Zukunft von meiner Schwelle gewiesen werden.“

Nachdem er sein Gebet gesprochen hatte, griff er abermals in den Brotsack, doch es war ihm keine Gnade zuteil geworden. Alle Laibe waren noch immer hart wie Stein und wie von Wundmalen benetzt.

„Ich kann nicht mehr“, stöhnte er verzweifelt auf und wollte seinem Leben ein Ende setzen, indem er seinen Kopf gegen die Steinwand des Kellers schlug. Doch der Versuch schlug fehl, denn schon beim ersten Mal sank er, vom Schmerz nur betäubt, ohnmächtig hin. Er wusste nicht, wie viele Stunden er so da gelegen hatte, doch als er wieder zu sich kam, von Kopfschmerzen, Durst und Hunger geplagt, hörte er noch immer über sich den Mob durchs Haus grölen. So traute er sich nicht aus seinem Versteck heraus, um Hilfe zu bekommen.

Einige Tage später, als in der Stadt wieder Ruhe und Ordnung eingekehrt waren, kletterte des Bäckers alte Magd, die der Pöbel verschont hatte, die steile, unter einer Falltüre verborgenen Kellertreppe hinab um ihrem Herrn die gute Nachricht zu überbringen. Sie schlug mit ihren gichtigen Fäusten gegen die Kellertüre: „Herr, Herr, Ihr könnt heraus kommen. Es herrscht wieder Ruhe in der Stadt.“ Doch hinter der Kellertüre blieb alles ruhig.

Sie versucht es noch einige Male, als aber keine Reaktion kam, bat sie einige Nachbarn, die Kellertüre aufzubrechen. Nachdem ihnen das unter viel Mühe und Anstrengung gelungen war, fanden sie den Bäckermeister, mit verzerrten Zügen auf seinen Geldsäcken liegend, vor. Tot. Neben ihm lagen die verwandelten Brotlaibe und aus dem umgekippten Wasserkruge lief das Blut in roten Rinnsalen über den Boden. Da er aber immer zu geizig war, seinen Reichtum mit einer Frau zu teilen, starb er ohne Erben und sein Geld fiel an die Stadtkasse.

Der arme und der reiche Bauer (Essen)

Einst gehörte Kettwig, im südlichsten Ruhrbogen liegend, zur Reichsabtei Werden. Wichtig für den Ort wurde die 1282 erstmals erwähnte Ruhrbrücke. Neben dem Kohleabbau blühte in Kettwig vor allem das Weberei- und Spinnereigewerbe, wovon noch heute 120 Weberhäuser in der liebevoll und behutsam restaurierten historischen Altstadt zeugen. Am 1. Januar 1975 kam es zu einer Eingemeindung durch Essen, was die stolzen Kettwiger Bürger mit ihrer 1200-jährigen Stadtgeschichte nur sehr widerwillig akzeptierten. Doch zweierlei hatten sie erreicht: sie behielten ihre Telefon-Vorwahl 02054 und den Verbleib im Erzbistum Köln. Und Kettwig ist flächenmäßig der größte Stadtteil von Essen.

Vor vielen Jahren, als die Probleme der heutigen Bürgerschaft von Kettwig noch in weiter, weiter Ferne lagen, wohnten hier zwei Bauern direkt nebeneinander, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine Bauer, Pedder, war arm, aber nicht unglücklich mit seinem Leben, denn er war genügsam und zufrieden mit dem was er hatte. Während er andere, Jupp, recht begütert und dazu noch ohne jedes Mitgefühl für seine Mitmenschen war.

Eines Morgens, als Pedder wie schon hin und wieder, das einzige Schaf, das er besaß, auf die Weide seines reichen Nachbarn getrieben hatte, wo bereits dessen zwölf Schafe grasten, stürmte der mit großen Schritten aus seinem Haus. „Hab ich dir nicht schon hundert Mal gesagt, dass du dein Schaf nicht auf meine Weide treiben sollst, Pedder!“ schrie er schon von weitem.

„Na, na, Jupp“, antwortete ihm der. „Jetzt hab dich nicht so. Was macht es dir denn, wenn noch ein Schaf mehr auf deiner Wiese weidet? Du weißt doch, meine Weide ist karg und steinig und deine saftig und grün.“

„Ich kann dir gar nicht sagen, wie gleichgültig mir ist, ob dein Schaf auf deiner Wiese verhungert oder nicht“, antwortete Bauer Jupp, der eine stattliche Figur hatte und baute sich breitbeinig mit in die Hüfte gestützten Fäusten, vor dem kleineren, schmächtigen Pedder auf. „Pedder, ich sage dir, wenn ich dein Schaf noch einmal auf meiner Weide sehe, schlage ich es mit meinen eigenen Händen tot.“ „Ach, komm, Jupp. Das kann doch nicht dein Ernst sein, so bist du doch nicht“, versuchte Pedder seinen wütenden Nachbarn zu besänftigen. Jupp beugte sich vor und packte sein Gegenüber am Kragen.

Er brachte sein feistes Gesicht so dicht vor Pedder, dass der seinen Kopf zur Seite drehte, als ihm Jupps schaler Atem ins Gesicht schlug: „O, doch, Pedder, so bin und ich sage dir nur eins, fordere mich nicht heraus und behalte dein Schaf auf deiner Weide oder du lernst mich erst richtig kennen!“

Damit drehte er sich um und stapfte wütend davon. Pedder schüttelte seinen Kopf, blies die Backen auf und stieß die Luft dann wieder aus. Dann packte er sein Schaf am Strick um es wieder von der Weide führen, was ihm allerdings erst nach einigen Versuchen gelang. Denn das arme Tier wollte absolut nicht einsehen, dass es nach so kurzer Zeit bereits wieder seinen herrlichen Weideplatz verlassen sollte. Doch irgendwann gelang es Pedder, das störrische Schaf auf seine Weide zu führen, wo er es an einem Pflock auf seiner eigenen kargen Wiese anband, denn er befürchtete, dass es sonst wieder auf die nachbarliche Weide flüchten würde.

Wenn er tagsüber immer mal wieder nach dem Tier schaute, zupfte es nur missmutig an den trockenen Grasbüscheln und er hatte das Gefühl, dass es ihn enttäuscht und verächtlich musterte. Als der nächste Morgen anbrach und der arme Pedder sah, wie sein reicher Nachbar seinen Hof in Richtung Ruhrbrücke verließ, was auf eine längere Abwesenheit hindeutete, führte er sein glückliches Schaf wieder auf Jupps Weide. Doch, ach, als er am Abend das Tier wieder holen wollte, musste er erkennen, dass sein Nachbar seine Drohung wahr gemacht hatte. Am Rand der Weide lag sein Schaf mit zerschmettertem Schädel. Pedder presste die Kiefer aufeinander, packte das tote Tier an den Hinterbeinen und schleifte es auf seinen Hof. Dort zog er dem Tier das Fell ab und spannte es auf ein Brett um es einige Zeit trocknen zu lassen. Damit verfolgte er einen bestimmten Plan.

Nach ein paar Tagen, als es schon finstere Nacht war, hängte er sich das Fell des Schafes um, schwärzte sei Gesicht mit Asche schwarz und befestigte die kleinen, sichelartigen Hörner des toten Schafes geschickt mit einem Band auf seinem Kopfe. Dann schlich er sich in den nahen Wald, wo er vor einiger Zeit beim Brennholzsammeln aus sicherer Entfernung, eine Räuberbande entdeckt hatte, die hier ihr Lager aufgeschlagen hatte. Es dauerte nicht lange und er hatte das Versteck der Diebe erreicht. Obwohl ihm das Herz bis zum Halse schlug, sagte er sich: „Auf los, Pedder, jetzt oder nie!“ atmete tief durch, stieß ein schreckliches Geheul aus und stürmte gebückt und humpelnd auf die Räuber los.