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Titelseite

Inhalt

Triggerwarnung

  1   SAM – Jetzt

  2   CASPAR – Jetzt

  3   DEATHWISH – Davor

  4   SAM – Davor

  5   SAM – Jetzt

  6   CASPAR – Jetzt

  7   SAM – Jetzt

  8   DEATHWISH – Davor

  9   CASPAR – Davor

10   CASPAR – Jetzt

11   SAM – Jetzt

12   DEATHWISH – Davor

13   SAM – Davor

14   CASPAR – Jetzt

15   SAM – Jetzt

16   DEATHWISH – Davor

17   CASPAR – Davor

18   CASPAR – Jetzt

19   SAM – Jetzt

20   DEATHWISH – Davor

21   SAM – Davor

22   CASPAR – Jetzt

23   SAM – Jetzt

24   DEATHWISH – Davor

25   CASPAR – Davor

26   CASPAR – Jetzt

27   SAM – Jetzt

28   DEATHWISH – Davor

29   SAM – Davor

30   CASPAR – Jetzt

31   SAM – Jetzt

32   DEATHWISH – Davor

33   SAM – Davor

34   CASPAR – Jetzt

35   SAM – Jetzt

36   CASPAR – Danach

37   SAM – Danach

Danksagung

Adressen

 

Für Pädagoginnen und Pädagogen haben wir eine kostenlose Lehrerhandreichung unter www.loewe-schule.de bereitgestellt.

 

Für alle schwarzen Schafe in der weißen Herde.

TRIGGERWARNUNG

Liebe/r Leser/innen,

das Cover und der Buchrücken weisen schon darauf hin, trotzdem leben wir mittlerweile in einer Zeit, in der eine Triggerwarnung meines Erachtens einfach zu bestimmten Geschichten dazugehört.

Zwei Leben in einer Nacht enthält Passagen und Inhalte, die triggern könnten.

Triggerwarnung vor:

Depression, Trauer, Tod, Suizid, Ängste

Ihr solltet das Buch also nur lesen, wenn ihr emotional mit diesen Themen umgehen könnt.

Wir wünschen euch das bestmögliche Lesevergnügen.

1

SAM

Jetzt

Heute ist die Nacht, in der sie sterben wird.

Sam lauscht in sich hinein, doch da ist nichts. Keine drückende Angst. Keine alles verschlingende Panik, nur ein Gefühl von Erleichterung. Es ist, als ob endlich eine riesige Bürde von ihren Schultern fällt.

Viel zu lange hat sie auf diese Nacht gewartet, sich wie eine Ertrinkende an dieses magische Datum geklammert, aber jetzt, wo es endlich da ist, fühlt es sich surreal an.

Die Dunkelheit verschluckt die Geräusche der Umgebung, als Sam an den Rand des leeren Bahnsteigs an der S-Bahn-Station tritt. Niemand ist zu sehen, ihr Daumennagel kratzt über die glatte Oberfläche des Bernsteins, der zwischen ihren Fingern liegt. Er wiegt schwerer als sonst, als würden zusätzliche Gewichte daran hängen.

Sie stellt sich so dicht an die Kante, dass die weißen Spitzen ihrer Chucks darüber hinausragen und sie die mit Gräsern bewachsenen Gleise erkennen kann. Ein Luftzug küsst die frei liegende Stelle in ihrem Nacken. Früher hat sie ihre langen Haare geliebt, jeden Zentimeter gefeiert.

Jetzt ist da nur noch nackte Haut. Nackte, viel zu blasse Haut.

Krampfhaft schließen sich ihre Finger zu einer Faust um den Bernstein, ihr Blick verliert sich in der Ferne, verschmilzt mit der Nacht, auf der Suche nach dem herannahenden Zug.

Noch sieht sie nichts.

Dafür hört sie ein leises Zischen, als würde plötzlich Luft aus einem Ballon entweichen. Es wird lauter, quietschender. Ihr Herz schlägt schneller, sie spürt das Kribbeln bis in ihre Zehenspitzen und reibt mit den Fingerkuppen über die schweißnassen Handflächen.

Gleich ist es so weit.

Gleich.

Es wäre nur ein Schritt.

Nur noch ein Atemzug.

Die Gleise zu ihren Füßen vibrieren unter dem sich nähernden Gewicht.

»Sam?«

Ertappt zuckt sie zusammen, tritt einen Schritt zurück, versucht, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, und lässt den Bernstein rasch in ihrer hinteren Hosentasche verschwinden.

Ihr Herzschlag dröhnt in den Ohren, mischt sich unter das Rauschen des vorbeiratternden Schnellzuges.

Viel zu laut. Viel zu dicht. Viel zu nah.

Nicht nah genug.

Kurz stellt sie sich die erschrockenen Gesichter der Lokführer vor. Warum denkt eigentlich niemand an sie? An den splitternden Moment danach, an das, was sie zu sehen bekommen, an die erschütternden Bilder, die sich in ihre Netzhaut brennen? An die Sprachlosigkeit des Augenblicks, an die Last, die sie zu tragen haben?

»Sam?«, wiederholt die jungenhafte Stimme in ihrem Rücken.

Langsam, aber nicht zögerlich, dreht sie sich um und entdeckt im Licht der orangefarbenen Bahnhofslampe einen Jungen, etwa so alt wie sie. Sein Haar ist dunkelbraun oder schwarz und fällt ihm in fransigen Strähnen in die Stirn, während er sie mit einem durchdringenden Blick aus seinen hellen Augen mustert. Fragend. Irritiert.

Vielleicht hat er nicht mit einem Mädchen wie ihr gerechnet.

Vielleicht hat er auch gar nicht mit einem Mädchen gerechnet.

»Wie heißt du?«, fragt sie schließlich, als der Junge keine Anstalten macht, näher zu kommen.

Sie trennen ungefähr fünf Meter, doch es ist, als wäre eine riesige Schlucht zwischen ihnen. Ihre Stimme klingt klar und hell und sie ist ein bisschen stolz darauf, wie emotionslos sie sich anhört.

Pokerface. Das hat sie schon als Kind draufgehabt, wenn sie Rachel etwas in die Schuhe schieben wollte. Sie kann fühlen, wie ihr Herz sich bei dem Gedanken an ihre Schwester krampfhaft zusammenzieht. Weil sie Rachel normalerweise so weit wie möglich aus ihren Gedanken verbannt. Die Angst vor dem Unausweichlichen ist zu groß. Die Angst, sie zu enttäuschen. Und das wird sie. Spätestens am Ende dieser Nacht.

Bisher hat der Junge nicht geantwortet, starrt sie nur an, als versuche er, ihre Kleidergröße zu erraten.

»Also?«, fragt Sam.

»Du weißt, wie ich heiße«, sagt er schließlich, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet.

Sie spuckt ein Lachen aus. »Cyber? Das ist nicht dein richtiger Name. Wie heißt du wirklich

Abwartend verschränkt sie die Arme vor der Brust, das Gewicht des kleinen schwarzen Rucksacks, den sie bei ihrer London-Reise gemeinsam mit Talina gekauft hat, drückt ihr in die Schultern und sie fröstelt, obwohl es in dieser Julinacht drückend warm ist. Als hätte sich die ganze Wärme des Tages unter einer Glocke gestaut, unter der sie jetzt steht.

»Warum willst du meinen Namen wissen?«

Ihre nächsten Worte sind mit Wahrheit gezuckert. »Weil du meinen Namen kennst. Das ist nur fair.«

»Und woher soll ich wissen, dass du wirklich Sam heißt? Es könnte doch genauso gut eine Tarnung sein.«

»Ich habe mich mit meinem richtigen Namen im Forum angemeldet.«

»Und der Name war noch nicht vergeben?«

»Anscheinend haben nicht viele Sams den Wunsch, sich umzubringen.«

Schweigen. Dann: »Du lügst nicht?«

»Willst du meinen Ausweis sehen?«, fragt sie provozierend, reckt das Kinn ein Stück nach vorn, ein wenig trotzig, definitiv genervt.

Vielleicht, weil sie dadurch den inneren Abstand zwischen ihnen besser beibehalten kann. Sie kennt ihn ja nicht. Er könnte auch jemand ganz anderes sein. Denn im Gegensatz zu ihr versteckt er sich im Internet hinter einer anonymen Bezeichnung. Obwohl Sam genau weiß, wie schnell die Namen in Social Media mit der eigenen Persönlichkeit verschmelzen können wie bei einem Superhelden, der plötzlich eine geheime Identität annimmt.

»Nein.« Er schüttelt den Kopf, überlegt. »Spielt mein richtiger Name denn eine Rolle für dich?«

Natürlich tut es das, hätte sie am liebsten geantwortet. Stattdessen zuckt sie beinahe gleichgültig mit den Schultern, so als wäre alles egal, als wäre alles nur ein Spiel. Sie versteht ihn, denn Cyber ist geschützter. Anonymer. Fremder. Ein bisschen mehr der Junge aus dem Todesforum, die Maskierung erlaubt ihm, frei zu sein.

Seine versteckte Identität schützt aber nicht nur ihn. Möglicherweise fällt die heutige Nacht dadurch auch ihr leichter. Besser, sie wissen nicht zu viel übereinander, spinnen sich in einen Kokon aus unausgesprochenen Dingen, damit die Wahrheit nicht so schwer wiegt. Doch auf einmal ist da dieses Ziehen in ihrer Brust und der Gedanke daran, mit einem Namenlosen neben sich zu sterben, fühlt sich plötzlich schlimmer an als die Alternative: seinen Namen zu kennen und eine gewisse Nähe aufzubauen.

»Ich kann dich auch gerne weiter Cyber nennen, wenn du das möchtest. Aber ich fände es schöner, wenn du mir etwas Echtes gibst.«

Sein Gesicht wird ausdruckslos, als hätte sie etwas Falsches gesagt. »Es ist nur ein Spiel.«

Der Satz hinterlässt einen Abdruck auf ihrem Herzen.

»Nur ein Spiel?«, wiederholt Sam gepresst und versucht, ihrer Stimme einen gleichgültigen Tonfall zu verleihen, obwohl sie die Frage am liebsten gebrüllt hätte.

»Mehr nicht. Ein Spiel mit Regeln und einem klaren Ausgang.« Als sie nicht antwortet, fährt er fort und zeigt erst auf sich, dann auf sie: »Wir beide. Tot.«

Seine Worte sind so schonungslos, dass sich eine Gänsehaut überall auf ihren Armen ausbreitet.

»Wenn das nur ein Spiel ist«, beginnt Sam, »dann hast du bereits verloren. Du bist zu spät. Die erste Regel lautet: nicht zu spät kommen. Vielleicht war’s das auch schon für uns. Vielleicht werden wir nie erfahren, wie das Spiel abläuft.«

Der Junge hebt eine Braue, verlagert das Gewicht auf das rechte Bein. »Du hast noch nichts erhalten?«

»Nein.«

»Dann bin ich nicht zu spät. Er wird warten.«

»Er? Wer sagt, dass er nicht eine Sie ist? Schließlich hast du ziemlich überrascht ausgesehen, als du mich erblickt hast. Ich nehme an, es lag daran, dass du mit einem Jungen gerechnet hast.«

Zum ersten Mal lächelt Cyber, zieht einen Mundwinkel schräg nach oben, was Sam kurz irritiert, denn es verändert seine sonst so ernsthaften Gesichtszüge auf eine Weise, mit der sie nicht gerechnet hat. Jetzt ist er der Junge, der sich auf das alles hier eingelassen hat. Genau wie sie. Der Gedanke keimt in ihr auf, dass sie vielleicht gar keinen Namen braucht, um etwas Echtes von ihm zu bekommen.

»Touché«, sagt er schließlich.

Sam wirft einen Blick auf die Uhr, deren kühles Metall ihren rasenden Pulsschlag beruhigt: 00:05 Uhr. Jetzt ist nicht länger Donnerstag, sondern Freitag, der 13.

»Wir hätten vor fünf Minuten anfangen sollen.«

»Werden wir noch.«

»Wenn du das sagst«, antwortet Sam und sucht ihre Umgebung nach einem Zeichen ab. Ihr Treffpunkt ist gut gewählt. Am Bahnhof fahren ab Mitternacht nur noch Durchfahrtszüge. Sam weiß das, weil sie im Internet recherchiert hat. Für alle Fälle.

»Glaubst du wirklich, es spielt eine Rolle?«

»Worauf willst du hinaus?« Irritiert zieht sie die Augenbrauen hoch, mustert Cyber, der die Hände in den Hosentaschen vergraben hat, als würde er sich darin festhalten können.

»Mein Name. Mein echter Name. Glaubst du wirklich, es spielt eine Rolle, dass du ihn nicht kennst? Am Ende der Nacht sind wir beide sowieso tot.«

Plötzlich wird ihr kalt. Fröstelnd schlingt sie die Arme um ihren Körper, als könne sie sich so gegen die Kälte in ihrem Innern schützen.

Sam schweigt und die Kluft zwischen ihnen wird größer. Obwohl sie sich nicht kennen, teilen sie ein gemeinsames Schicksal.

Aber Cyber hat recht.

Am Ende dieser Nacht sollen sie beide tot sein.

2

CASPAR

Jetzt

Caspars Handy vibriert in seiner Hosentasche. Er erschrickt, aber er will sich nichts anmerken lassen. Denn er ist daran gewöhnt, auf jedes Geräusch zu reagieren. Oft etwas zu extrem. Seine Sinne sind stets geschärft, auch wenn er versucht, Unwichtiges auszublenden.

Gleichzeitig ertönt ein PLING, das seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zieht, und Sam holt synchron ihr Smartphone hervor. Der Bildschirm erhellt ihr blasses Gesicht. Dunkle Augen. Ungeschminkt. Eine volle Unterlippe. Ihre Nase ist schmal und gerade. Ihr Haar ist blau. Zumindest wirkt es so, er kann die verschiedenen Farbnuancen im spärlichen Licht der Bahnhofslampe nicht gut ausmachen.

Ansonsten sieht sie total normal aus.

Nicht wie jemand, der sich heute Nacht als letzte Nacht seines Lebens ausgesucht hat.

»Er ist es.« Ihre Stimme verdrängt die Stille. Die Klangmelodie ist angenehm und tief, anders als die schrillen Stimmen von den Mädchen in seinem Klassenzimmer, die viel zu laut reden. Zu laut, zu schnell, zu viel.

Denn zu hohe Töne stören. Sie sind wie Rasierklingen, die in sein Trommelfell schneiden und an seinen Nerven entlangschrammen.

Sams Stimme hingegen ist angenehmer.

Caspar blinzelt, schüttelt den Gedanken ab und schluckt, als ihre Worte bis in sein Bewusstsein vordringen und dort ihre volle Bedeutung entfalten. Mit klopfendem Herzen geben seine Finger die Zahlenkombination ein, dann liest auch er die frisch eingetroffene Nachricht.

Ghost.

Abb

ERSTE AUFGABE:

Nordfriedhof. Ihr habt eine Stunde Zeit, euch in eines der ausgehobenen Gräber zu legen. Für 33 Minuten und 33 Sekunden. Hört dabei die Spotify-Playlist Ghosts Lieder. Schickt ein Foto des jeweils anderen und lasst den Timer laufen. Macht anschließend einen Screenshot mit dem abgelaufenen Timer. Nächste Aufgabe folgt um 1:11 Uhr.

Ghost

Abb

Caspar sieht auf und begegnet Sams Blick, in dem sich dieselbe Entschlossenheit spiegelt, die ihn selbst schon seit Wochen begleitet.

Plötzlich fühlt er sich befreit. Leicht und schwerelos. So muss es wohl sein, auf eine Zielgerade einzulaufen, umringt von jubelnden Menschen, die alle darauf warten, dass er als Erster die Linie überquert. Er mag dieses Gefühl in seiner Brust.

»Wenn wir zu Fuß gehen, sind es 15 Minuten bis zum Nordfriedhof. Wir können aber auch den Bus nehmen, er kommt in drei Minuten. Dann wären wir in zehn Minuten dort. Ganz wie du willst.«

»Laufen«, sagt Sam und setzt sich bereits in Bewegung.

Caspar beobachtet sie. Ihre Schultern sind leicht nach vorn gebeugt, als hätte ihr jemand ein Gewicht daraufgelegt, doch ihr Kinn ist nach oben gereckt. Ihm fällt auf, dass es herausfordernd wirkt, genauso wie das Funkeln in ihren Augen. Ein letztes Abenteuer vor dem Ende.

Dann folgt er ihr.

Schweigend mustert er Sam weiter, die geistesabwesend den blassrosa Nagellack an ihrem Daumennagel abpult. Sie starrt geradeaus, hängt ihren eigenen Gedanken nach. Kurz fragt er sich, was wohl ihr Grund dafür ist, dass sie hier ist. Warum sie sich ausgerechnet für dieses Ende entschieden hat.

Vielleicht, weil sie wie er selbst sämtliche Möglichkeiten durchgekaut hat.

Den Strick. Den Wald. Die Badewanne. Den Zug. Ein Messer. Eine Plastiktüte.

Sie würde aber wahrscheinlich eher eine schmerzfreie Variante wählen ohne Blut, ohne viel Zeit darüber nachzudenken. Möglicherweise Pillen.

Sie.

Sam ist ein Mädchen.

Stumm wiederholt Caspar die Erkenntnis in seinem Kopf, seziert sie, nimmt sie auseinander und überlegt, ob diese Tatsache irgendetwas am Ausgang der Nacht ändert. Wahrscheinlich nicht.

Sie ist gekommen, um zu sterben. Genau wie er.

»Was ist?« Fragend sieht Sam ihn über die Schulter hinweg an. Trotz der Traurigkeit, die ihren Blick verschleiert, ist da dieses lebhafte Blitzen in ihren schokoladenbraunen Augen. »Du starrst.«

»Ich starre nicht.«

Sie zieht eine Augenbraue hoch, was ihr allerdings nicht denselben arroganten Ausdruck der Mädchen aus seiner Klasse verleiht. Stattdessen sieht es aus, als würde sie ihn einfach nur prüfen.

»Wie würdest du es denn nennen, wenn dein Blick auf mir klebt und ich ihn förmlich spüren kann?«

»Du läufst einen Meter vor mir, es ist meine natürliche Blickrichtung.«

»Klugscheißer.«

Dieses eine Wort lässt Caspar erstarren, aber Sam sagt es nicht ohne ein Lächeln in der Stimme. Macht sie sich über ihn lustig? Trotz der Dunkelheit versucht er, ihren Gesichtsausdruck zu interpretieren, doch ihre Augen wirken freundlich.

Sam wartet, bis er zu ihr aufgeschlossen hat, sodass sie jetzt auf gleicher Höhe laufen. So dicht nebeneinander, dass sich ihre Schultern beinahe berühren. Sie riecht angenehm, nach Mandelöl.

»Also?«, fragt sie mit einem weiteren Seitenblick.

Sein Atem klingt unnatürlich laut in seinen Ohren, er bemüht sich, alle Geräusche auszublenden, die auf ihn einprasseln. Er ist es gewohnt. Alles auszublenden. Sich auf den Moment zu konzentrieren. Auch wenn in seinem Kopf ein unaufhörlicher Gedankenstrom fließt, er alles so überdeutlich wahrnimmt, als ob es in Zeitlupe geschehen würde.

»Also, was?«

»Warum du starrst.«

Caspar seufzt. »Du lässt wohl nicht locker.«

»Nicht mehr.« Sams Mundwinkel verziehen sich zu einer Grimasse. »Früher hätte ich das. Früher hätte ich dich wahrscheinlich gar nicht darauf angesprochen, aber mittlerweile ist mir klar geworden, dass unsere Zeit einfach zu kostbar ist, um sie mit ungesagten Dingen zu verschwenden. Um nicht das auszusprechen, was man denkt, fühlt oder wissen möchte.«

Erstaunt sieht er Sam von der Seite an, die den Mund zuklappt und ein Gesicht macht, als hätte sie zu viel gesagt. Kurz hat er den Eindruck, dass sie ihre ehrlichen Worte bereut. Wieder knibbelt sie an ihrem Daumennagel herum, wahrscheinlich eine nervöse Angewohnheit von ihr, so wie er sich komplett zurückzieht, wenn ihm etwas zu viel wird.

Vielleicht ist es ihr deswegen so wichtig, seinen echten Namen zu erfahren. Allein der Gedanke daran lässt ihn versteifen. Denn als Cyber muss er nicht Caspar sein. Er ist nur der Junge aus Deathwish, derjenige mit einem Ziel vor Augen. An Caspar hängen zu viele Altlasten, der Name würde seine unsichtbare Schutzmauer zum Einsturz bringen. Zumindest ist die Angst davor zu greifbar und – was ebenfalls einen wesentlichen Punkt ausmacht – er traut Sam nicht.

»Du bist ein Mädchen«, sagt Caspar schließlich, weil die Wahrheit sich plötzlich richtiger anfühlt als eine verpackte Lüge.

»Und?«

»Ich habe mit einem Jungen gerechnet.«

»Wegen des Namens?«

»Ja.«

Sie wirkt wie eine zufriedene Katze, die sich satt gefressen hat. »Gut.«

»Gut?«, fragt er mit schief gelegtem Kopf und überlegt, was daran gut sein soll. Die Tatsache, dass sie ihn überrascht hat? Oder die Erkenntnis, dass hinter ihrem Namen vielleicht doch mehr Anonymität steckt?

Sam antwortet nicht sofort, sondern denkt einen Augenblick lang nach.

»Als ich mich im Forum angemeldet habe, war mir nicht klar, dass alle so ausgefallene Namen haben. Ich hatte mich aber schon mit meiner E-Mail-Adresse verifiziert.«

»Du wolltest nicht, dass man sofort merkt, dass du ein Mädchen bist?«, schlussfolgert Caspar und Sam nickt.

»Genau. Das hat ja anscheinend geklappt.«

»Und warum?«

Sam senkt die Lider, starrt auf ihre Schuhspitzen und sagt schließlich nach einigen Sekunden: »Weil ich nicht wollte, dass man denkt, ich würde es nicht durchziehen. Gleichzeitig habe ich mich über den Gedanken geärgert.« Sie reißt einen Arm in die Luft und fuchtelt damit herum, um ihre Worte zu unterstreichen. »Als ob Mädchen schwächer wären oder weniger dazu in der Lage, sich umzubringen.«

»Gleichberechtigung beim Suizid? Darüber sollte man mal einen Aufsatz schreiben.«

Sams Lachen hat etwas Bitteres, aber sie kommentiert seinen Einwand nicht, sondern lässt ihn einfach so stehen. Ihre Wimpern sind lang und dicht, kurz ist er geneigt, sie zu zählen, weil ihn der Zwang dazu viel zu oft überkommt.

Er selbst vergräbt die Hände in den Tiefen seiner Hosentaschen, auf der Suche nach etwas Halt. Um sie herum herrscht das einvernehmliche Schweigen einer Unterhaltung, die noch gar nicht richtig begonnen hat, und ihr Duft steigt Caspar wieder in die Nase. Weich, frisch, auf eine angenehme Weise. Keines von diesen wandelnden Geruchsbäumchen, sondern dezenter. Aber sie riecht, als hätte sie sich extra einparfümiert. Schön gemacht für den Tod. Der Gedanke hat etwas Makabres. Doch bis auf das Parfüm wirkt sie alles andere als aufgebrezelt. Eher so, als wolle sie das Gegenteil beabsichtigen. Unscheinbar. Unauffällig.

»Wir haben nie miteinander geschrieben, oder?«, stellt sie ihm nun eine Gegenfrage. Dabei wirkt der Ausdruck in ihrem Gesicht nachdenklich. Die dunklen Brauen sind über ihrer Nase wie zwei Gewitterwolken verzogen, der Mund leicht gekräuselt.

Caspar sieht es genau, so wie er alles sieht, was andere Menschen betrifft. Es ist seine eigene besondere Gabe – auch wenn es sich eher wie ein Fluch anfühlt. Etwas, das er nicht abstreifen kann, das ihn ständig begleitet, obwohl er schon alle möglichen Schritte unternommen hat, um den Bann zu brechen. Vergeblich.

Er denkt über ihre Frage nach. »Ich glaube nicht, wieso?«

Es ist, als wäre ihre Unterhaltung eingerostet. Nicht richtig geölt worden. Es ist, als ob er die alte Louis-Armstrong-Schallplatte seines Vaters aufgelegt hätte, die einen tiefen Kratzer hat und bei When the Saints Go Marching In in der zweiten Strophe hängt.

»Vielleicht hättest du dann gemerkt, dass ich ein Mädchen bin. Wenn wir miteinander geschrieben hätten.«

»Und woran?«

Sie schweigt kurz. »An der Art, wie ich über den Tod rede.«

»Weil Jungs anders über den Tod reden als Mädchen?«

»Ja«, sagt sie und dann eine ganze Weile nichts mehr.

Gemeinsam laufen sie die Straße entlang, vereinzelt brennt noch Licht in den Häusern, manchmal flimmert ein Fernseher in den Fenstern. Ansonsten ist es so still, dass Caspar seinen eigenen Atem viel zu laut hört. Das Blut rauscht in seinen Ohren, wahrscheinlich die Aufregung. Sams körperliche Hitze wird ihm überdeutlich bewusst, dabei hasst er es, in der Nähe von anderen Menschen zu sein. Aber jetzt hat sie etwas seltsam Tröstendes.

»Hast du sonst mit jemandem geschrieben?«, fragt sie schließlich in die Stille hinein.

»Kaum. Du?«

Sam schüttelt zögerlich den Kopf. »Eigentlich nur mit einer Person. Also privat. Im Forum selbst natürlich mit allen. Aber ansonsten nur mit Morningstar

Sofort taucht in seinem Kopf der Instagram-Beitrag mit dem Hashtag #einletztersonnenaufgang auf. Ein rosafarbener Horizont, der Morgenfrost noch auf den einzelnen Gräsern. Es war ein Freitagmorgen. Natürlich. Freitag, der 13. So wie heute. Gebannt saß er vor dem Bildschirm, während seine Mutter in der Küche stand und frischen Kaffee aufbrühte. Der Geruch verteilte sich im ganzen Haus, ein Gestank nach morgendlicher Routine, nach Harmonie und dem Gefühl von Unterdrückung. Er spürte die Anspannung seines Körpers, jeden Muskel, jeden kräftigen Herzschlag, fragte sich, wer es dieses Mal gewesen war. Wer dieses Mal das Glückslos gezogen hatte.

Verzweifelt durchsuchte er die Tiefen des Internets nach den richtigen Bildern, mit schweißnassen Fingern und der Frage im Kopf, wann er ausgewählt werden würde. Wann Ghost jemanden fand, der in seiner Nähe wohnte. Wann aus dem »wann« ein »endlich« und aus dem »endlich« ein »heute« werden würde.

Dann tauchte das Foto auf. Einfach so. Beim nächsten Aktualisieren. Noch keine Likes, ganz unbefleckt. Vielleicht war er der Erste, der es sah und seine Bedeutung erfasste.

Zuerst erkannte Caspar nicht viel. Seine Augenlider brannten, weil er die ganze Nacht mit dem Lesen von Updates und der Suche nach den richtigen Hashtags verbracht hatte. Schließlich klarte sich sein Blick auf wie nach einem Gewitter.

Da waren sie. Die Zuggleise, die Schuhe neben dem Bahnsteig.

Caspar weiß genau, wenn er jetzt die Augen schließt, sieht er ihren Rücken vor sich, aufrecht und bereit, den letzten Schritt zu gehen. Die kleine Narbe hinter dem Ohr, die man sah, weil sie das blonde Haar zu einem hohen Zopf gebunden hatte. Das Karohemd, das sie auch auf ihrem Profilbild trug – auf dem sie jedoch niemals ihr Gesicht offenbart hatte.

Morningstar ist am letzten Todestag gestorben. Zusammen mit NinjaNight.

Caspar versucht, in Sams Gesicht nach Antworten zu suchen, bevor er ihr die nächste Frage überhaupt stellt: »Hast du gewusst, dass sie dran ist?«

Wieder schüttelt sie den Kopf, deutlich langsamer, abwartender. Ihre Mundwinkel schieben sich zu einem kläglichen Lächeln nach oben. »Nein. Sie hat kein Wort gesagt. Wir haben uns am Abend zuvor noch über Ghost unterhalten. Sie hat mich gefragt, ob ich glaube, dass die Spielführung weitergegeben wird. Ob Ghost vielleicht doch nur ein Phantom ist, dass der Geist des Spiels vielleicht immer weiterlebt. Also jedes Mal jemand anderes die Aufgaben aussucht.«

»Wie bei Jumanji

»Wie bei Jumanji«, bestätigt Sam.

Jetzt wiegt das Schweigen zwischen ihnen schwer.

Sie sind fast da. Die Gebäude lichten sich etwas und Caspar kann die hohe Steinmauer des östlichen Friedhofgeländes entdecken. Irgendwo bellt ein Hund und sein Herz schlägt auf einmal schneller. Dabei kennt er die Aufgabe. Weiß, was auf ihn zukommt.

Noch knapp fünf Stunden. Fünf Aufgaben.

Und die letzte Aufgabe ist endgültig.

Dann sind sie nämlich beide tot.

3

DEATHWISH

Davor

REYZHO hey Leute!! wie hänge ich mich richtig auf? Brauche dringend hilfe!!

WHX12 Fallhöhe sollte nicht mehr als drei Meter sein. Es gibt aber auch Anleitungen für den richtigen Knoten, damit er nicht aufgeht. Du solltest deine Körpergröße und den Knoten miteinberechnen, auf die Fallhöhe bezogen.

MORNINGSTAR Es gibt schon eine Anleitung in einem anderen Thread. Klick mal hier.

WHX12 @Reyzho: Hast du schon einen Tag?

REYZHO ja wieso

ELODWYN Willst du ihn uns verraten?

REYZHO nein, eher nicht

GHOST Hast du Angst?

REYHZO nein!!

GHOST Warum zögerst du dann?

WHX12 @Ghost: Was ist denn mit dir los? Niemand muss irgendein Datum verraten. Wir sind alle freiwillig hier und weil wir alle unsere Gründe haben. Wenn Reyhzo irgendwann nicht mehr schreibt, wirst du es schon früh genug merken.

MORNINGSTAR @Ghost: Ich habe deine Forumsbeiträge gelesen, du bist auch schon seit Monaten hier. Wo steht denn dein Datum?

ASCHEKIND @Ghost: ???

REYZHO 6. Mai

GHOST War das so schwer?

ASCHEKIND @Reyzho: Du hättest es nicht schreiben müssen!!! Das geht niemanden etwas an, wenn du es nicht teilen willst, ist das total OK!

REYHZO das weiß ich auch. ich freue mich auf den Tag, ehrlich gesagt. warum sollte ich meine Freude nicht teilen? die letzten Monate waren beschissen. 6:30 Uhr Wecker, aufstehen, Zähne putzen, Schule, immer nur diese Gedanken im Kopf. irgendeine Scheiße am Laptop anschauen, Dauerschleife YouTube, aber die Gedanken sind trotzdem da. wann hört es auf, so verkackt schwer zu sein? wann wird es endlich leichter? manchmal habe ich ja doch noch die Hoffnung, es wird besser, aber dann ist es genau der gleiche Müll wie gestern und ich hab das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. es jetzt auszusprechen, gibt mir ein Ziel, einen Endpunkt, und das wiederum gibt mir total viel Kraft. Versteht ihr, was ich meine?

MORNINGSTAR Du bist nicht allein. Wir sitzen alle im selben Boot.

ASCHEKIND Ja, ich verstehe dich sehr gut. Mir geht es nämlich ähnlich und genau deswegen sind wir auch hier. Ich wollte nur sagen, dass du dich zu nichts gedrängt fühlen musst, wir stehen auf derselben Seite.

GHOST … gerade deswegen ist es wichtig, sich zu öffnen.

ASCHEKIND Muss es aber so hart sein?

GHOST Das, was die meisten hier planen, ist hart.

WHX12 ganz ehrlich??? Ghost hat recht, Aschekind. Das Forum ist für mich wie Mut antrinken … man weiß, dass man im Begriff ist, es zu tun, aber man traut sich noch nicht so richtig und hier kann man alle Hemmungen fallen lassen.

ELODWYN Sehe ich auch so …

ASCHEKIND Ich weiß ja, worauf ihr hinauswollt, aber trotzdem finde ich nicht, dass man jemanden drängen sollte, sein Datum zu verraten …

GHOST Wenn dir der Umgangston nicht passt, kannst du dich ja in einem der anderen Foren anmelden, davon gibt es ja genug.

ASCHEKIND Nein, schon gut …

REYZHO danke leute! das hat mir echt geholfen!!

GHOST Wir können nur gewinnen, wenn wir wirklich gehen … Davor sind wir alle Verlierer.

4

SAM

Davor

Es duftete nach Zimtsternen und frisch gebackenen Lebkuchen. Der Geruch klebte förmlich in Sams Nase und vermischte sich mit dem Gefühl von Geborgenheit, das sich um ihre Brust wickelte. Das Krächzen, das in ihrer geschwollenen Kehle hochstieg, ließ sie unkontrolliert husten. Trotzdem presste sie nun entschlossen die Lippen aufeinander, kämpfte gegen die Gliederschmerzen an und schlurfte durch den leeren Flur, an dessen Ende die Tür einen Spalt breit geöffnet war. Das Geräusch von klapperndem Geschirr donnerte wie ein Gewehrschuss in ihren Ohren, doch sie zwang sich weiterzugehen.

Vorsichtig öffnete Sam die Tür. Ma und Rachel wirbelten durch die Küche, zwei zuckrige Weihnachtsfeen, gut gelaunt und verdammt glücklich. Selbst die immerwährende Sorgenfalte in Mas Stirn war glatt gebügelt. Sie lächelte breit. Losgelöst. Fröhlich.

Sam hielt inne, um den Moment einzufangen, eine gedankliche Aufnahme, gefangen in ihrer Erinnerung, eingebrannt in ihr Gedächtnis.

»Willst du die Schokoladenglasur machen?« Lachend drehte sich Rachel zu ihr um, genau in dem Augenblick, als Sam die eingemehlte Küche betrat. An den weißen Hochschränken klebten Teig und eine Spur aus Fingerabdrücken. Als wäre Tinkerbell über die Arbeitsfläche getanzt.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine große Hilfe wäre …«

Rachel runzelte die Stirn. »Alles in Ordnung?«

»Ich fühle mich nicht so gut.«

»Du siehst tatsächlich krank aus. Aber wir päppeln dich wieder auf. Keine Sorge.«

»Wenn ihr wollt, dass eure Lebkuchen später lebendig werden, kann ich die Glasur gerne übernehmen.« Ein zaghaftes Lächeln zupfte an Sams Mundwinkeln, aber sie brachte nicht die Kraft auf, es auszuweiten.

»Wie meinst du das?«

»Na ja, bei all den Keimen und Viren, die ich verschleudere – da würden die Lebkuchen am Ende noch Beine bekommen.«

Rachel verdrehte grinsend die Augen. »Deine Logik müsste man verstehen.«

»Das ist das Fieber, das aus mir spricht.«

»Du legst dich besser aufs Sofa, Spätzchen.« Mas besorgte Stimme streichelte Sams Seele. »Du siehst furchtbar aus.« Und da war sie wieder, die Sorgenfalte. »Hast du schon Fieber gemessen?«

Sam schüttelte kraftlos den Kopf.

»Dann wird es aber Zeit. Ich mache dir einen Tee mit Honig und du suchst dir am besten schon mal einen Film aus, den wir nachher gemeinsam schauen können.«

Rachels Augen begannen zu strahlen, als hätte man eine Lampe angeknipst. Es hatte etwas Unschuldiges. Beinahe Kindliches. »Oh. So wie früher? Sonntags? Unsere Weihnachtssonntage?«

»Ganz genau.« Ma lächelte ein bisschen wehmütig. »Ihr werdet mir viel zu schnell erwachsen. Am liebsten würde ich euch für immer als meine kleinen Mädchen sehen, nur das geht leider nicht.«

Etwas Dunkles schob sich über Rachels Gesicht, ganz flüchtig, doch Sam sah es trotzdem. Es war dieselbe Dunkelheit, die sich manchmal um ihre Gedanken und Emotionen schlang, sie herabzog und nicht mehr losließ, bis sie das Gefühl hatte, mit einem Sack Steine ans Bein gekettet am Meeresgrund zu sitzen und zu ertrinken.

»Aber bitte nicht Kevin – Allein zu Haus«, sagte Rachel jetzt und stopfte sich ein Stück Teig in den Mund, während ihre schlanken Finger schon nach der nächsten Teigkugel griffen. Dabei fiel Sam auf, dass ihre Nägel abgekaut waren. So sehr, dass sich eine Blutkruste um ihr Nagelbett gebildet hatte. Der Anblick beunruhigte Sam, aber sie schwieg. Insgesamt wirkte Rachel in letzter Zeit schlapper als sonst, wie ein Ballon, aus dem man zu viel Luft herausgelassen hatte.

Beinahe zwei Jahre trennten sie. Rachel war jetzt fast 16. Doch manchmal kam sie Sam eher wie 20 vor. Reif und klug, schlagfertig und witzig. Selbstbewusst. Etwas, von dem sie so weit entfernt war wie davon, endlich geküsst zu werden. Bei dem Gedanken an Janniks’ Nähe im Schullandheim wurde Sam noch etwas heißer.

»Und wieso nicht?«, fragte Sam schließlich.

»Über die Familie könnte ich mich jedes Mal zu Tode aufregen. Sie behandeln Kevin scheußlich, da würde ich mir auch wünschen, sie wären einfach nicht mehr da … Wie wäre es mit Das Wunder von Manhattan

»Ich dachte, ich darf den Film aussuchen.«

Rachel nickte und zwinkerte ihr zu. »Darfst du auch. Das war nur ein Vorschlag.«

Ihr grippevernebeltes Hirn zog seine Schlüsse daraus. »Oh, Mann. Ich muss wirklich einen fürchterlichen Anblick bieten, wenn du freiwillig auf deine Ich-bin-die-große-Schwester-und-weiß-was-der-beste-Film-für-alle-ist-Rede verzichtest.«

»Jupp. Ich erkenne den richtigen Zeitpunkt, um meiner kleinen Schwester auch mal das Entscheidungsrecht zu überlassen.«

Mit diesen Worten rollte Rachel den Teig weiter aus, gleichmäßig und mit einer Perfektion, die Sam mal wieder vor Augen führte, wie leicht ihrer Schwester das meiste von der Hand ging. Kurz verspürte sie einen Stich der Eifersucht, was albern war, denn es ging hier ums verdammte Plätzchenbacken. Aber Rachel hatte etwas an sich, das Sam immer etwas Sorgen bereitete. Deswegen würde sie nicht mit ihr tauschen wollen. Selbst wenn sie Rachel um das Erbe ihrer Mutter beneidete: Das ebenholzschwarze Haar floss in langen Wellen über ihren Rücken, so dunkel und lockig, dass selbst Schneewittchen neidisch geworden wäre.

»Du stehst ja immer noch da«, sagte Rachel über ihre Schulter hinweg und Sam blinzelte ihre Gedanken weg. »Leg dich doch aufs Sofa und ruh dich etwas aus.«

Hastig – oder so schnell es der Virus in ihrem Körper eben zuließ – drehte sie sich um, marschierte am anthrazitfarbenen Hochglanz-Küchenblock vorbei, ließ sich auf das weiche Sofa sinken und zog die Kuscheldecke aus dem Flechtkorb zu ihren Füßen.

»Bitte schön.«

Der Duft nach Zimt und Kardamom stieg in Sams Nase, als Rachel nach einigen Minuten die dampfende Tasse auf dem kleinen Holztisch neben dem Teppich abstellte. Sam nickte dankbar. Ihre Glieder fühlten sich an, als wäre nicht der Teig, sondern stattdessen sie von ihrer Schwester durchgeknetet worden, und ihr Schädel dröhnte im Takt eines imaginären Presslufthammers.

»Danke.« Ihr Krächzen klang wie eine sterbende Katze.

»Oje. So schlimm?«

»Schlimmer.« Die Wärme der Tasse drang über ihre Fingerspitzen bis in ihren Körper, und als sie einen Schluck nahm, entwich ein kleines Stöhnen ihren Lippen. »Himmlisch. Danke. Was würde ich nur ohne dich machen?«

»Keine Ahnung. Röchelnd auf dem Sofa liegen und dich selbst bemitleiden?«

Ein zaghaftes Lächeln zupfte an Sams Lippen. »Wahrscheinlich. Aber dasselbe gilt für dich, falls ich nicht da wäre.«

»Das ist ja zum Glück nicht der Fall.«

»Nein.« Sie setzte die Tasse erneut an, um den Schmerz in ihrer wunden Kehle zu lindern. »Zum Glück.«

5

SAM

Jetzt

Die Straßenlaterne vor der Mauer des Friedhofs flackert verdächtig, als ob sie stumm um ihr Leben kämpfe. Sam fröstelt, während ihr Blick zum geschwungenen Eisentor gleitet. Plötzlich schlägt ihr Herz schneller. Die Aufregung ist da. Die Spannung ist greifbar, sendet elektrische Impulse über ihre Haut. Wie das Gefühl in einem Club zu stehen, die Vibration des Basses und der Musik in ihrem Körper zu spüren, einfach abzutauchen in dem Moment, den Augenblick.

Ein Wummern, das in jeden Winkel ihrer Seele dringt.

Kurz riskiert sie einen unauffälligen Blick zu Cyber, dessen stoische Miene keinen Aufschluss über seine Gefühle gibt. Als hätte er sich hinter einer Maske aus Gleichgültigkeit versteckt. Auch seine Augen wandern zum verschlossenen Eingang, sodass ihr nun sein Profil zugewandt ist.

Es ist das erste Mal, dass Sam ihn betrachtet. Wirklich betrachtet.