Inhalt
Ein magisches Hatschi
Drei Blicke in die Zukunft
Notfall am Strand
In Lebensgefahr
Ein feierlicher Schwur
Brendas Plan
Die neue Tierärztin
Schluss mit Gemütlichkeit
Böses Erwachen
Mrs Silverton dreht auf
Nichts als Ärger
Die schlimmste Torte aller Zeiten
Monsteralarm
Rätsel über Rätsel
Verräterische Spuren
Die Wahrheit kommt ans Licht
Gefährliche Experimente
Bisse und Geständnisse
In neuer Gestalt
Durch die Nacht
Wir spionieren
Agent auf vier Pfoten
Alles geht schief
Ich mache die Fliege
Das beste Versteck
Angst um Schmuggel
Fergus, der Held
Eil-Bonbons und Zukunftspläne
1. KAPITEL
Ein magisches Hatschi
Der alte Fergus schnaubte wie ein wütender Stier. Beide Hände um den Rand des Tresens gekrallt, starrte er Brenda Graham aus zusammengekniffenen Augen an.
Die ließ sich allerdings nicht einschüchtern. „Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal“, verkündete sie. „Als Postbeamtin von Patch Island trage ich viel Verantwortung und muss mich strikt an die Regeln halten. Ich darf keine Briefe aushändigen, wenn mir der Empfänger seinen Ausweis nicht zeigt. Auch du kannst daran nichts ändern, mein lieber Fergus, und wenn du dich auf den Kopf stellst!“
„Was, wenn ich stattdessen dich auf den Kopf stelle?“, knurrte Fergus.
Brenda spitzte die Lippen. „Das versuch erst mal“, sagte sie unbeeindruckt.
Ich hielt die Luft an, um nicht loszulachen. Der alte Fergus war viel kleiner und dünner als Brenda, die zugleich Wirtin, Köchin und Postbeamtin war. Jede Woche kriegten die beiden sich in die Haare – aber keiner der Inselbewohner nahm den Streit wirklich ernst. Montags kam das Postschiff zu unserer kleinen Insel, dann brachte Brenda die Lieferung mit einem Pferdewagen zum Graham’s Inn, und immer war der alte Fergus der Erste, der sich vor ihrem Tresen anstellte. Seinen Ausweis konnte er allerdings nie herzeigen – wahrscheinlich hatte er den schon vor Jahren verloren. Im Grunde brauchte er auch keinen, denn auf Patch Island kannten wir einander sowieso in- und auswendig.
Doch Brenda war das vollkommen egal. „Der Nächste, bitte“, sagte sie und lehnte sich an Fergus vorbei.
Noah warf dem Alten einen entschuldigenden Blick zu, ehe er einen Schritt nach vorne trat.
„Post für Noah Arons? Kommt sofort“, zwitscherte Brenda, ohne auch nur ein Wort über Noahs Ausweis zu verlieren. „Bitte sehr, mein Junge.“
Fergus knirschte so laut mit den Zähnen, dass mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. Schnell zog ich Noah aus der Schusslinie, nur für den Fall, dass der Alte gleich mit zusammengeknüllten Papierservietten nach Brenda warf. Auch das kam nämlich mit schöner Regelmäßigkeit vor.
Inzwischen hatte Noah die Postkarte gelesen, die Brenda ihm überreicht hatte. Als ich ihn fragend anschaute, verzog er das Gesicht.
„Von meinem Dad“, erklärte er. „Er schreibt, dass er auf einer Architekten-Konferenz in Japan ist, viele interessante Menschen trifft und … blablabla.“
„Blablabla?“, neckte ich ihn. „Da hätte er sich mit dem Schreiben schon etwas mehr Mühe geben können.“
Noah seufzte. „Also, er erzählt auch von einem Internat, das schon jetzt im Sommer freie Plätze hätte. Aber es klingt total blöd.“
Von einer Sekunde auf die andere fiel mein Grinsen in sich zusammen. Der Gedanke daran, dass Noah schon bald auf eine Schule in Amerika gehen würde, traf mich wie ein Schwall eiskaltes Wasser. Natürlich wusste ich, dass seine Ferien in wenigen Wochen vorbei sein würden, aber ich gab mir große Mühe, diese Tatsache zu verdrängen.
„Wieso klingt es denn blöd?“, hakte ich vorsichtig nach.
Noah zerriss die Karte und ließ die Fetzen in den Papierkorb neben dem Tresen segeln. „Scheint eine Mischung aus Uni und Gefängnis zu sein. Dort gehe ich ganz bestimmt nicht hin, schon gar nicht vor dem Ende der Ferien. Mein Dad wird hoffentlich noch was Besseres finden.“
Damit war das Thema für ihn offenbar erledigt, aber meine Kehle fühlte sich seltsam eng an. Genau davor hatte ich ja Angst: dass Mr Arons bald etwas Besseres fand und dann auch Noahs Begeisterung weckte. Für einen weltberühmten Architekten wäre es schließlich kein Problem, einen Platz am luxuriösesten Internat von ganz Amerika zu bezahlen. Und sosehr ich meine Heimat auch liebte – damit konnte Patch Island einfach nicht mithalten. Das einzig Luxuriöse hier war das Glitzerhalsband von Mr Murphy, dem dicken Mops.
Als hätte Fergus meine Gedanken erraten, wandte er sich plötzlich zu uns. „Was Besseres, was Besseres“, äffte er Noah nach. „Typisch Amerikaner. Für euch muss alles rekordverdächtig sein! Da lob ich mir unsere Insel, hier gibt es nix Besonderes, nix Außergewöhnliches …“ Abrupt verstummte er und presste die faltigen Lippen zusammen. Im Gegensatz zu den anderen Bewohnern von Patch Island wusste er genau, dass die kleine Bucht im Norden sehr wohl etwas Besonderes war. Doch zum Glück behielt er dieses Geheimnis für sich – vermutlich, weil er furchtbar abergläubisch war und mit Übernatürlichem nichts zu tun haben wollte. Dass er die Sache verschwieg, um Nana und mir Ärger zu ersparen, glaubte ich kaum. Zu Fergus’ Charakter gehörten nämlich weder Zurückhaltung noch Freundlichkeit.
Wie um das zu beweisen, redete er jetzt mit grimmiger Miene weiter: „Das Einzige, was hier rekordverdächtig sein könnte, ist dieses Postamt. Rekordverdächtig schlecht! Außergewöhnlich mies! Spektakulär grauenhaft!“
„Komm“, murmelte ich und griff nach Noahs Arm. „Lass uns von hier verschwinden. Das geht jetzt noch eine halbe Ewigkeit so weiter, bis Brenda irgendwann doch Fergus’ Post rausrückt.“
Noah nickte nur – er hatte nun schon einige dieser Montags-Diskussionen erlebt. Mittlerweile kam er auch damit klar, dass Tratschtanten-Tilda ihren Mops so behandelte wie ein Baby und Mr O’Leary ständig peinliche Interview-Fragen für die Inselzeitung stellte. Während der letzten Wochen war Noah tatsächlich zu einem Teil von Patch Island geworden. Kaum zu glauben, dass er all das schon bald hinter sich lassen würde.
Jetzt schlängelte er sich geschickt zwischen den kleinen Tischen der Gaststube hindurch und grüßte dabei einige Inselbewohner, als wäre er schon seit Jahren mit ihnen bekannt. Ich folgte ihm schweigend, immer noch einen dicken Kloß im Hals. Als wir draußen vor dem Graham’s Inn standen, fragte Noah: „Hey, sollen wir eine Tüte Bonbons aus Kathleens Bäckerei holen? Mir fallen da ein paar Leute ein, die sehr traurig wären, wenn wir heute Abend mit leeren Händen zu Besuch kommen!“
„Meinst du mit ‚Leuten‘ vielleicht kleine bärtige Kerle und mit ‚traurig‘, dass sie uns entsetzlich auf die Nerven gehen würden?“
„Du hast es erfasst“, sagte Noah und lachte. Dabei schienen seine Augen die Farbe zu wechseln, so wie immer, wenn er fröhlich war. Sie wirkten dann viel heller und eher blau als grau. Normalerweise heiterte mich dieser Anblick sofort auf, aber diesmal konnte Noah mich nicht mit seiner guten Laune anstecken.
Hastig bückte ich mich und band Schmuggels Leine von einem Laternenpfahl los. Der Wolfshund erhob sich mit einem genervten Brummen, so als wollte er sagen: ‚Hat ja lange genug gedauert, ihr Rotzgören.‘
Dann machten wir uns zu dritt auf den Weg, um Süßigkeiten für einen Haufen Kobolde zu besorgen.
Den ganzen Tag spukte mir der Gedanke an Noahs Abreise im Kopf herum. Meine Stimmung hob sich erst wieder, als wir abends zum Nordstrand kamen. Die Bucht wirkte düster, vor allem im Vergleich zum schönen, großen Strand auf der Südseite der Insel. Auch der Schuppen am Ufer sah nicht gerade einladend aus. Trotzdem spürte ich wie immer ein freudiges Kribbeln im Bauch, als wir auf das kleine verwitterte Häuschen zugingen.
Nana, die einen Rucksack mit Proviant und Medikamenten trug, stapfte voran. „Könnt ihr euch heute um die Kobolde kümmern?“, fragte sie. „Ich übernehme dafür die –“ Ohne Vorwarnung hielt sie an, sodass ich beinahe gegen sie gestoßen wäre.
„Was ist denn?“, fragte Noah, doch meine Großmutter hob nur warnend die Hand. Dann zeigte sie auf den Eingang zum Schuppen, und mein Herz setzte einen Schlag aus.
Die Tür stand ein wenig offen, sodass ein schmaler Streifen Licht zu uns nach draußen fiel. Das konnte nur eines bedeuten: Es gab einen Eindringling auf der magischen Pflegestation.
„Wartet hier“, flüsterte Nana. „Ich sehe nach, ob unser Besuch gefährlich ist.“
Noah und ich wechselten einen kurzen Blick, dann schüttelten wir gleichzeitig den Kopf. Meine Großmutter war der tapferste Mensch, den ich kannte, doch wir würden sie auf keinen Fall allein in den Schuppen gehen lassen.
Nana runzelte die Stirn, widersprach aber nicht. Vorsichtig zog sie die Tür weiter auf, und das Knarren der rostigen Scharniere ließ mich schaudern. Die Finger um Schmuggels Halsband gekrallt, folgte ich meiner Großmutter ins Innere des Schuppens. Noah blieb so dicht hinter mir, dass ich seinen Atem im Nacken spüren konnte. Leise durchquerten wir den Eingangsbereich und näherten uns den Pflege-Abteilungen. Den Anfang bildete eine künstliche Heidelandschaft, in der wir normalerweise von lärmenden, herumhopsenden Kobolden begrüßt wurden. Die meisten von ihnen waren nicht krank, sondern hatten sich bei Prügeleien Beulen und Schrammen zugezogen. Deshalb waren sie auch fit genug, um jede Menge Blödsinn zu machen. Nun aber herrschte in der Kobold-Abteilung verdächtige Stille.
„Was ist denn mit euch los?“, fragte ich leise und spähte in die niedrigen Häuschen, die vorne offen waren. „Hat euch irgendjemand Angst eingejagt?“
Die Kobolde lagen brav in ihren Betten, nur ihre Gesichter mit den struppigen Bärten lugten unter den Decken hervor.
„Sagen wir nicht“, krächzte einer von ihnen, und ich konnte unmöglich erkennen, ob er dabei verschreckt oder frech dreinschaute.
„Dürft ihr nicht, oder wollt ihr nicht?“, hakte Noah nach.
„Dürfen nicht, wollen nicht, sollen nicht, du oller Wicht“, kam es prompt zurück.
„Eure Reime könnten echt besser sein“, spottete Noah, aber ich war viel zu nervös, um auf die Dichtkünste der Kobolde zu achten. Auch Schmuggel kam mir angespannt vor. Seine Schritte wurden immer langsamer, als ich ihn zur Meerjungfrauen-Abteilung führte. Seit einigen Tagen wohnten dort die Zwillinge Ava und Alanna, die von den smaragdgrünen Locken bis zu den Fischschwänzen genau gleich aussahen. Sie hatten auch denselben juckenden Ausschlag, weil sie allergisch auf die Abwässer reagierten, die von manchen Schiffen ins Meer geleitet wurden. Wenn sie sich nicht gerade kratzten, versuchten sie ständig herauszufinden, wer von ihnen schlauer oder witziger war, wer besser singen konnte oder die hübscheren Zöpfe flocht. Dabei ging es oft ganz schön laut zu, doch heute waren die beiden, genau wie die Kobolde, ungewöhnlich ruhig.
„Gut, dass ihr da seid“, wisperte Ava, als wir durch den feinen Sand der Meerjungfrauen-Abteilung schlichen. „Ihr werdet bereits erwartet.“
Alanna streckte einen Arm aus ihrer Badewanne und deutete zum hinteren Teil der Pflegestation. „In der Banshee-Abteilung“, fügte sie hinzu. Dann tauchte sie wieder ab, und man hörte nur noch ein leises Blubbern.
Unwillkürlich hielt ich den Atem an. War der Besucher ein Guhl – oder eine andere schaurige Kreatur? Einen Moment lang zögerte ich, aber dann fiel mir ein, was Nana immer zu sagen pflegte: Ob Mensch oder Monster, in jedem steckt ein guter Kern.
Jetzt schien Nana allerdings selbst nicht sicher zu sein, ob sie damit recht hatte. Als ich auf die nächste Abteilung zusteuerte, wandte sie sich um und zischte: „Bitte bleibt hinter mir!“
Ihre Miene war so ernst, dass ich instinktiv gehorchte – im Gegensatz zu Noah. Schon hatte er den künstlichen Friedhof erreicht und machte eine lässige Geste mit der rechten Hand. „Keine Sorge, es ist nur irgendeine F…“
Der Rest des Wortes blieb ihm in der Kehle stecken.
Nana und ich starrten nun ebenfalls in Richtung unserer Besucherin, die auf einem bemoosten Grabstein saß. Was ihre Gestalt und Größe betraf, konnte man sie tatsächlich für „irgendeine Frau“ halten – doch spätestens auf den zweiten Blick erkannte man eindeutig, dass sie nicht menschlich war.
„Fee“, beendete Noah seinen Satz und schluckte hörbar. „Das ist eine, hab ich recht?“
2. KAPITEL
Drei Blicke in die Zukunft
Wäre ich nicht so überrumpelt gewesen, hätte ich wahrscheinlich gelacht. Noah tat immer, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch nun stand ihm der Mund weit offen und seine Augen wirkten groß wie Spiegeleier. Dabei hatte ich ihm schon vor einer Weile erklärt, dass die Herrscherinnen der magischen Welt keine süßen kleinen Flatterwesen waren. In Wirklichkeit konnten Feen manchmal echt Furcht einflößend sein, und sie führten Menschen liebend gern an der Nase herum. Wahrscheinlich hatte unsere Besucherin die Tür zur Pflegestation absichtlich offen gelassen, um uns ein wenig Angst einzujagen.
Inzwischen hatte sie sich vom Grabstein erhoben und kam mit geschmeidigen Schritten auf uns zu. Ihre dunklen Haare fielen bis zur Hüfte hinab, und ihre Augen leuchteten ebenso gelb wie ihre Flügel. Am erstaunlichsten fand ich aber ihr Kleid, das ganz und gar aus verzauberten Pflanzen bestand: Blüten öffneten oder schlossen sich, und Efeuranken krochen um die Fee herum, als wären es Schlangen.
Während wir wie gebannt stehen blieben, breitete sie beide Arme aus. „Seid gegrüßt!“, sagte sie mit einer Stimme, die mich an klingelnde Glöckchen erinnerte. Trotzdem bekam ich davon eine Gänsehaut, und Schmuggel drückte sich an mein Bein. Die Fee sprach feierlich weiter: „Mein Name ist Florabella. Ich bin gekommen, um euch etwas äußerst Beunruhigendes über meine Gesundheit mitzuteilen! Es ist so, dass …“ Plötzlich hielt sie inne, ihre Augen wurden schmal, und ihr Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Ich glaubte schon, sie würde jeden Moment vor Wut explodieren, als –
„HATSCHI!“
Wir zuckten alle drei zusammen. Das Niesen der Fee war so heftig gewesen, dass Laub aus ihrem Kleid geschüttelt wurde. Als die anderen Blätter sich gelegt hatten, stand die Fee immer noch reglos da, beide Hände auf ihr Gesicht gepresst.
Nana erholte sich als Erste von ihrer Verblüffung. „Interessant“, sagte sie und zog die Augenbrauen hoch.
Schnaubend ließ die Fee ihre Hände sinken. „Das ist überhaupt nicht interessant, sondern entwürdigend! Feen dürfen doch keinen Schnupfen haben!“, rief sie schrill. Auf einmal wirkte sie beinahe jämmerlich, vor allem, weil ein (golden leuchtender) Tropfen an ihrer Nasenspitze hing. Mit einem Seufzen rupfte die Fee ein Blatt von ihrem Rock und schnäuzte sich hinein. Gleich darauf musste sie abermals niesen.
„Ich halte das nicht mehr aus“, stöhnte sie zwischen zwei ohrenbetäubenden HATSCHIs. „Das geht schon seit dem Frühjahr so, und es wird immer schlimmer! Wie ist es bloß möglich, derart lange erkältet zu sein?“
„Hey, du kannst doch zaubern, oder?“, fragte Noah, der seine Ehrfurcht anscheinend abgelegt hatte. „Wieso zauberst du deinen Schnupfen nicht einfach weg?“
Florabella stutzte, als hätte sie Noah erst jetzt bemerkt. Dann verzogen sich ihre blutroten Lippen zu einem Lächeln. „Ahh“, hauchte sie, „mir ist bereits zu Ohren gekommen, dass auf dieser Pflegestation nun zwei Menschlein tätig sind.“
„Drei“, korrigierte ich, dann wurde mir klar, dass die Fee mit Menschlein wohl Noah und mich meinte. Nana schien in ihren Augen eine ernst zu nehmende Person zu sein.
„Noah hilft bloß vorübergehend“, erklärte ich ihr. „In ein paar Wochen muss er nach Hause zurück.“
Aufmerksam musterte Florabella mich, und ich hatte das Gefühl, als schaute sie geradewegs in mich hinein.
„Wie bedauerlich“, gurrte sie. „Er ist etwas Besonderes, nicht wahr? Jedenfalls für einen Menschen.“
„Äh, stimmt“, sagte ich, und weil mein Mund sich in peinlichen Situationen immer selbstständig machte, schickte ich hinterher: „Er kann echt superschnell Katzenklos sauber machen.“
Florabella zog die Nase kraus. Wahrscheinlich fand sie, dass ich für einen Menschen nicht ganz so besonders war. „Also, mein hübscher Knabe“, wandte sie sich in honigsüßem Ton wieder an Noah, „um deine Frage zu beantworten: Wir Feen sind sehr begabt darin, Dinge zu erschaffen, wachsen zu lassen und herbeizuzaubern. Aber ich möchte ja, dass mein Schnupfen verschwindet.“
„Und das wird er auch“, schaltete Nana sich ein. „Ich habe bereits einen Verdacht. Jucken denn auch deine Augen?“
„O ja“, seufzte Florabella und flatterte mit ihren langen Wimpern.
„Dann nehme ich an, du leidest an Heuschnupfen.“
Schlagartig war Florabellas Wimpernklimpern vorbei. Ihre gelben Augen wurden riesengroß, und sie sog pfeifend die Luft ein. „Wie bitte?“
Nana deutete unbeirrt auf einige Pflanzen, die sich um den Körper der Fee rankten. „Das, das und das“, sagte sie und tippte gegen die Blüten. „Gilt alles als hochallergen. Kein Wunder, dass deine Schnupfennase dir keine Ruhe lässt, wenn du so etwas trägst.“
„Aber ich bin eine Fee! Wir lieben Blüten!“
„Du kannst sie ja lieben“, entgegnete Nana freundlich, „aber bitte aus der Ferne. Außerdem gebe ich dir ein Nasenspray mit. Benutz das eine Woche lang und erzähl uns dann, wie es dir damit geht.“
Die Pflanzen schienen das Gespräch genau verstanden zu haben. Wie aus Trotz wucherten sie mit doppelter Geschwindigkeit, was Florabella einen neuerlichen Niesanfall bescherte. Als das letzte HATSCHI verklungen war, hatte Nana bereits das Nasenspray geholt und drückte es der Fee in die Hand.
„Na gut“, ächzte Florabella und wischte sich über die Augen, die jetzt orange leuchteten. „Ich werde deinen Rat beherzigen. Vielleicht lassen sich meine Lieblinge ja dazu überreden, in meinem Garten zu wachsen statt auf meinem Kleid.“
„Ganz bestimmt“, sagte ich, obwohl ein paar Löwenzahnpflanzen empört die Blütenköpfe schüttelten. „Du wirst sehen, bei deinem nächsten Besuch ist der Schnupfen so gut wie weg.“
Erstmals hatte Florabella auch für mich einen freundlichen Blick übrig. „Das will ich hoffen“, meinte sie. „Als Dank werde ich jedem von euch eine Kleinigkeit geben.“
„Das wäre doch nicht …“, begann Noah, aber ich trat ihm in letzter Sekunde auf den Fuß. „Geschenke von Feen darf man nicht ablehnen“, zischte ich. Besorgt spähte ich zu Florabella hinüber, doch Noah schien bei ihr nichts falsch machen zu können. Mit einem nachsichtigen Lächeln pflückte sie eine Knospe von ihrem Kleid und sah Noah tief in die Augen. Die Knospe wurde größer, veränderte Farbe und Form, bis sie sich in ein zusammengerolltes Pergament verwandelt hatte. Florabella überreichte Noah die Rolle, dann wiederholte sie den Zauber bei Nana und mir.
„Viel Kraft für die nächsten Tage!“, sagte sie und klatschte in die Hände. Es wurde finster um uns herum – und als das Licht wieder anging, war die Fee verschwunden.
„Wuff“, machte Schmuggel, als wollte er sagen: ‚Himmeldonnerwetter, war das eine seltsame Person.‘
„Allerdings“, bestätigte ich, und Noah fragte: „Was meinte sie wohl mit ‚Viel Kraft für die nächsten Tage‘?“
„Manche Feen können in die Zukunft blicken“, erklärte Nana. „Ich wette, ihre Geschenke sind Weissagungen für uns.“
„Oh, super! Wie Glückskekse ohne Keks!“ Neugierig griff Noah nach dem goldenen Faden, der seine Rolle zusammenhielt – da stand er plötzlich mit leeren Händen da. Ein flaschengroßer Schatten war an ihm vorbeigeflitzt, und gleich darauf spürte ich, wie auch mir die Pergamentrolle aus den Fingern gerupft wurde. Nana erging es ebenso. Während wir einander noch verblüfft anschauten, ertönte ganz in unserer Nähe ein vertrautes, heiseres Lachen.
„Wie überaus reizend!“, keckerte jemand.
„Geschenke, Geschenke – für uns, wie ich denke!“, johlte ein anderer.
Nun sah ich die kleinen Diebe, die in ihren Schnallenschuhen und grünen Kniebundhosen um uns herumhopsten. Sie zeigten uns lange Nasen und streckten ihre winzigen Zungen heraus, doch ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mit ihnen zu schimpfen. Das war bei Kobolden ungefähr so sinnvoll, wie einem Schwarm Stechmücken einen Vortrag zu halten.
„Sicher geben sie uns die Rollen bald zurück“, sagte ich stattdessen laut. „Und während wir darauf warten, essen wir ein paar von den köstlichen Bonbons, die wir mitgebracht haben …“
Es wirkte sofort. Wenn jemand Kathleens selbst gemachte Süßigkeiten noch mehr liebte als ich, dann wohl diese kleinen Plagegeister. Im Nu hatten sie die Pergamentrollen fallen gelassen und huschten – immer noch kichernd – zu ihren Häusern zurück.
„Gut gemacht“, sagte Noah und schnappte sich eines der Pergamente. „Ich glaube, das hier war meins.“
„Dann müsste das für mich gewesen sein.“ Ich hob die beiden anderen Weissagungen auf, behielt eine davon in der Hand und überreichte meiner Großmutter die zweite. Ohne zu zögern, öffnete Nana ihre Rolle.
„Bist fest verknüpft mit diesem Ort. Musst, wenn du schlau bist, nie mehr fort“, las sie vor und schmunzelte. „Dann finde ich wohl bald jemanden, der für mich die Einkäufe auf dem Festland erledigt. Ist mir sehr recht!“
Als Nächstes entrollte Noah sein Pergament und deklamierte wie ein mittelalterlicher Bote: „Gekommen bist du übers Meer. Du Rarität passt gut hierher.“
Kopfschüttelnd ließ er das Blatt sinken. „Das hab ich mir irgendwie spannender vorgestellt. Und was meint sie bitte schön mit ‚du Rarität‘?“
„Wahrscheinlich dasselbe wie mit ‚hübscher Knabe‘“, zog ich ihn auf.
Noah schnitt eine Grimasse. „Jetzt sag dem hübschen Knaben, welchen Spruch du bekommen hast!“
Ich öffnete meine Rolle und holte tief Luft, klappte den Mund aber gleich wieder zu. In golden glänzenden Buchstaben stand da nämlich:
Lass Vernunft, nicht Liebe sprechen.
Auch starke Herzen können brechen.
„Meines ist privat und, äh, ziemlich dumm“, stotterte ich, während mir Hitze in die Wangen kroch. Diese verflixte Fee! Hätte ich vielleicht nicht so traurig klingen sollen, als ich erzählt hatte, dass Noah bald abreisen musste?
Natürlich wollte Noah jetzt erst recht wissen, was Florabella mir vorhergesagt hatte. Er versuchte, auf das Pergament zu spähen, doch zu meiner Erleichterung drangen in diesem Moment schrille Stimmen aus der Meerjungfrauen-Abteilung.
„Mein Ausschlag ist viel röter als deiner!“
„Dein Ausschlag ist ein lahmer WITZ!“
Nana krempelte die Ärmel ihres Pullovers hoch. „Höchste Zeit, an die Arbeit zu gehen“, verkündete sie und scheuchte uns vor sich her.
Während sie mit Noahs Hilfe begann, Heilbäder für die Zwillinge einzulassen, stopfte ich das Pergament schnell in meine Hosentasche. So kam es, dass weder Noah noch meine Großmutter von dem Inhalt erfuhren.
Auch ich dachte in den nächsten Stunden nicht mehr daran – aber das sollte ich schon sehr bald bereuen.
3. KAPITEL
Notfall am Strand
In der folgenden Nacht wurde ich vom Schrillen des Telefons geweckt. Sofort setzte ich mich kerzengerade auf und lauschte in die Dunkelheit.
Anrufe bedeuteten bei uns selten etwas Gutes. Patch Island war so klein, dass die Bewohner lieber zu Besuch kamen, wenn sie ein bisschen plaudern wollten. Klingelte das Telefon, gab es meistens ein Tier, das von Nana gerettet werden musste. Und wenn jemand mitten in der Nacht anrief, war die Lage besonders ernst.
Nanas Stimme drang aus dem Erdgeschoss herauf, gefolgt vom Klappern der Schranktür, als sie ihre Notfall-Arzttasche hervorholte. Ich knipste das Licht an, stürmte aus meinem Zimmer und wäre beinahe gegen Noah geprallt. Er schlief auf einer Matratze in unserer Wäschekammer, und auf nächtliche Anrufe reagierte er schon genau wie ich.
„Alarmstufe rot?“, flüsterte er.
„Schätze schon.“ Mit wild pochendem Herzen eilte ich den Flur entlang, Noah dicht an den Fersen. Als Nana uns auf der Treppe entgegenkam, wusste ich, dass wir mit unserer Befürchtung recht hatten. Manchmal versuchte meine Großmutter, sich nachts davonzuschleichen und Noah und mich schlafen zu lassen – doch nun brauchte sie offenbar unsere Hilfe.
„Zieht euch warm an“, befahl sie knapp. „Wasserdicht. Ruby, mach die Stubentür zu.“
„Aber Schmuggel liegt doch noch vor dem Kamin!“, protestierte ich.
„Ja, und da soll er auch bleiben. Ich weiß nicht, wie er auf sie reagieren würde.“
„Sie?“
Nana antwortete nicht. Sie war bereits dabei, in wetterfeste Kleidung zu schlüpfen, obwohl es gar nicht regnete. Dann rannte sie noch einmal nach oben und kehrte mit drei Taschenlampen, einem Stapel Bettlaken und Putzeimern zurück.
„Nur für den Fall“, murmelte sie vor sich hin, während sie Noah und mir einen Teil der Sachen auflud.
„Für welchen Fall?“, wollte Noah wissen.
Nana hängte die Arzttasche über ihre Schulter und öffnete die Haustür. „Für den Fall, dass Tratschtanten-Tilda sich nicht geirrt hat. Wer weiß, was die sich einbildet, während sie mit ihrem Mops im Finstern spazieren geht!“
Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, rannte sie auch schon los. Noah und mir blieb gar keine andere Wahl, als hinterherzulaufen. Nana schlug den Weg zum Hafen ein, wo Cormacks Kutter im Wasser schaukelte. Von dort führte sie uns weiter in Richtung Südstrand. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe huschte so schnell voraus, dass er mich an ein zu groß geratenes Glühwürmchen erinnerte. Als wir um die letzte Kurve stürmten, stieg eine schlimme Ahnung in mir hoch. Dann hatten wir den Strand erreicht, und mein Magen krampfte sich zusammen.
Im Mondlicht hätte man die länglichen Hügel für Felsen halten können, oder vielleicht für umgedrehte Fischerboote. Ich wusste aber sofort, worum es sich handelte. Entsetzt schnappte ich nach Luft, während Noah die Tiere noch einen Moment lang ungläubig anstarrte. Dann hauchte er: „Ich werd verrückt. Sind das Wale?“
„Ja, Grindwale“, antwortete Nana, und ihre Stimme klang gepresst. „Sicher zwanzig Stück, eine ganze Schule.“ Normalerweise ließ meine Großmutter sich nur schwer aus der Ruhe bringen, aber so etwas hatte sie wohl selbst noch nicht erlebt. Wenn uns auf der Fahrt zum Festland Wale begegneten, schwammen die Tiere meist neugierig neben dem Kutter her und schlugen ausgelassen mit ihren Schwanzflossen. Sie jetzt hilflos am Strand liegen zu sehen, war kaum zu ertragen.
„Aber … wie konnten sie sich denn an Land verirren?“, fragte Noah rau.
Nana zog die Schultern hoch und ließ sie mit einem tiefen Seufzer wieder fallen. „Vielleicht gab es ein Erdbeben am Meeresgrund, oder ein Militärschiff hat Signale ausgesendet, mit denen man U-Boote aufspüren kann. Delfine und Wale bekommen von diesem Lärm richtige Schmerzen, sie geraten in Panik und wissen gar nicht mehr, wo sie hinschwimmen …“
Bestimmt redete sie noch weiter, aber ihre Worte drangen nicht mehr zu mir durch. Wie von selbst setzten sich meine Beine in Bewegung und trugen mich über den Strand. Der erste Grindwal, den ich erreichte, war ungefähr fünf Meter lang und glänzte im Schein meiner Taschenlampe beinahe schwarz. Langsam ging ich um ihn herum, dann fiel mein Blick auf ein zweites, deutlich kleineres Tier, das nur zwei Schritte entfernt lag. Eine Mutter mit ihrem Jungen! Beide rührten sich nicht, als ich mich zu ihnen in den Sand kniete und die Hand nach dem Kleinen ausstreckte. Seine Haut erinnerte mich ein wenig an Gummi, sie war fest und nachgiebig zugleich. Vorsichtig strich ich von der Rückenflosse bis zur gewölbten Stirn des kleinen Wals – da öffnete er plötzlich die Augen und schaute mich direkt an.
Sofort wurde ich von einer Mischung aus Angst und Hilflosigkeit überrollt. Es war, als griffe die Panik des Wals direkt auf mich über. Mein Herz raste, und meine Kehle wurde so eng, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
„Ruby?“ Noah packte mich an den Handgelenken und zog mich mit einem Ruck auf die Füße. „Alles okay mit dir?“
Prüfend schaute er mich an, und ich bemühte mich, den Kloß in meiner Kehle runterzuschlucken. Immerhin wollte ich Tierärztin werden, da war es wichtig, in solchen Situationen die Nerven zu behalten. Also nickte ich stumm, ehe ich meinen Blick erneut auf das Walbaby richtete. Es hatte die Augen nun wieder geschlossen.
„Wir müssen etwas tun“, sagte ich und versuchte, es möglichst fest klingen zu lassen. „Nana, Noah, los, wir müssen sie irgendwie zurück ins Wasser bringen!“
Nana, die inzwischen einen Wal in der Nähe untersucht hatte, richtete sich mit ernster Miene auf. „Ich fürchte, wir können nur warten, dass die Flut einsetzt. Bei Hochwasser schaffen es die Tiere vielleicht aufs offene Meer.“
„Aber bis dahin dauert es noch stundenlang!“, protestierte ich. „Können wir nicht versuchen, sie vom Strand zu schieben?“
„Dabei würden wir sie nur verletzen. Aber sie brauchen Wasser. Wir legen nasse Laken über sie, damit sie nicht so schnell austrocknen!“ Energisch packte meine Großmutter einen der Eimer und watete ein paar Schritte ins Meer. Noah folgte ihr, und nach kurzem Zögern schloss ich mich den beiden an. Normalerweise fürchtete ich mich vor dem Ozean – vielleicht, weil sich ein Teil von mir noch erinnern konnte, wie ich als Baby am Nordstrand ausgesetzt worden war.
Jetzt aber musste ich mich zusammenreißen.
Gemeinsam deckten Nana, Noah und ich die Wale mit nassen Bettlaken zu und übergossen sie zusätzlich mit Wasser. Als wir gerade unseren Vorrat an Laken aufgebraucht hatten, ertönten Stimmen. Eine Gruppe Inselbewohner drängte auf den Strand, beladen mit Decken, Eimern und Taschenlampen. Vorneweg lief Tratschtanten-Tilda, die mehrere Strickjacken übereinander trug.
„Ich habe alle zusammengetrommelt, die ich erreichen konnte“, verkündete sie stolz. „Nur meinen Mr Murphy musste ich zu Hause lassen. Der war ganz außer sich, als wir diese armen Kreaturen entdeckt haben!“
Am liebsten hätte ich die geschwätzige Bibliothekarin umarmt. Tilda ging mir mit ihrem Getratsche zwar oft auf die Nerven, aber niemandem sonst wäre es gelungen, um diese Uhrzeit so viele Leute aus den Betten zu holen.
Die Helfer bildeten einen Kreis, und Nana erklärte, was zu tun war. „Achtet vor allem auf die Blaslöcher“, schärfte sie den anderen ein. „Wenn ihr eure Eimer darüber ausleert, ist das so, als würdet ihr einem Menschen Wasser in die Nase schütten!“