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Titelseite

INHALT

Kapitel 1 – Bin ich hier …

Kapitel 2 – Wann kommt sie …

Kapitel 3 – Auf der Fahrt …

Kapitel 4 – Ja, du«, sagte …

Kapitel 5 – Es war Angus …

Kapitel 6 – Neben mir schrie …

Kapitel 7 – Ich stürzte in …

Kapitel 8 – Es war Ferdinand …

Kapitel 9 – Ich schlief kaum …

Kapitel 10 – Rodrick Hughes saß …

Kapitel 11 – Ich glaube, das …

Kapitel 12 – Ihr Armen seid …

Kapitel 13 – Eine Zeit lang …

Kapitel 14 – Was ist denn …

Kapitel 15 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 16 – Papa hätte Jessy …

Kapitel 17 – Ich hatte es …

Kapitel 18 – Steig ein!« Jona …

Kapitel 19 – Der Sturm, den …

Kapitel 20 – Das ist eine …

Kapitel 21 – Nachdem Emma wohlbehalten …

Kapitel 22 – Kommt ihr allein …

Kapitel 23 – Es kam mir …

Kapitel 24 – Na, das ist …

Kapitel 25 – Plötzlich spürte ich …

Kapitel 26 – Beim Abendessen war …

Kapitel 27 – So lange hatte …

Kapitel 28 – Ich legte mein …

Kapitel 29 – In dieser Nacht …

Kapitel 30 – Ich fand James …

Kapitel 31 – Huch! Was ist …

Kapitel 32 – Was machst du …

Kapitel 33 – Kluges Mädchen! Du …

Kapitel 34 – Als ich wieder …

Kapitel 35 – Sie ist fort«, …

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Infos

Impressum

 

 

 

 

 

Für Stefan.

Danke für das schönste Ende

und den schönsten Anfang.

Alles begann mit dir.

 

 

 

 

 

Die Leute sagen,

dass ein Mädchen hübsch sein müsse.

Also ehrlich? Vergiss das!

Sei nicht hübsch!

Sei wütend, sei intelligent, sei geistreich,

sei tollpatschig, interessant, lustig, neugierig,

verrückt, sei begabt!

Es gibt so viel mehr, was du sein kannst, als hübsch.

Nikita Gill 1

Kapitel

1

Bin ich hier richtig? Dornröschenweg 21?«, fragte der junge Mann, der dick eingemummt aus dem gelben Postauto gestiegen war.

Mama nickte. »Unsere Hausnummer ist nur … ein wenig zugewachsen. Wir müssen unbedingt dran denken, sie freizuschneiden.«

»Cool!« Sein Lächeln offenbarte eine kleine Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. »Dachte schon, dass mein Navi mich in die Irre geführt hat. Ich bin nicht davon ausgegangen, dass so weit draußen noch jemand wohnt. Der Straßenname passt total gut. Das Haus sieht wirklich ein bisschen aus wie ein Dornröschenschloss.«

Er ließ seinen Blick über das Efeu gleiten, das in langen Strängen an der Backsteinfassade unserer alten Villa hinaufwuchs. Der Raureif hatte ein zartes Eismuster auf die dunkelgrünen Blätter gemalt. »Jetzt hole ich Ihnen aber Ihre Post. Darf ich dem Hund einen Hundekuchen mitbringen?«

»Natürlich«, sagte Mama.

Theo war der gleichen Meinung. Ich hatte alle Mühe, ihn am Halsband festzuhalten. Sein langer, buschiger Schwanz wedelte wild, und am liebsten wäre er ihm hinterhergestürzt. Theo liebte es, Besuch zu bekommen, vor allem von Postboten. Weil sie ihm immer etwas mitbrachten. Mir heute hoffentlich auch. Ich hatte nämlich ein Fachbuch bestellt: Emotionen im Film. Nach dem Abi wollte ich Regie studieren. Das Paket, das der junge Mann gerade aus dem Bus gehievt hatte, war aber leider viel zu groß und zu schwer dafür.

In den letzten Jahren hatte uns immer eine Frau mit kurzen Haaren und roten Wangen die Post gebracht. Sie hatte einen ausgeprägten russischen Akzent (Hierrr unterschrrreiben, biddäää!), ihr Kreuz war so breit wie das eines Gewichthebers, und selbst wenn sie die beachtlichen Weinlieferungen von Opa Harry die Treppe hinauftrug, wirkte das so mühelos, als wären die Pakete mit Luftpolstern gefüllt. Papa meinte, er hätte ein bisschen Angst vor ihr. Ich konnte ihn verstehen.

Obwohl ich nie ein persönliches Wort mit der Frau gewechselt hatte, war ich fest davon überzeugt, dass sie Svetlana hieß und vor ihrem Job als Postbotin im Personenschutz tätig gewesen war. Erst eine Schussverletzung, bei der sie sich zwischen einen Scharfschützen und ihren Klienten geworfen hatte und an der sie fast gestorben wäre, hatte sie dazu gebracht, sich umschulen zu lassen und künftig einen Beruf auszuüben, bei dem sie nicht jeden Tag damit rechnen musste zu sterben.

Dieser Typ machte den Job sicher nur aushilfsweise, um sich etwas Geld für sein Studium zu verdienen. Er studierte Agrarwissenschaften, weil er später den Biobauernhof seiner Eltern übernehmen wollte. Ja, das würde zu ihm passen! Sein Haar hatte die Farbe von Weizen, und seine gesunde Gesichtshaut und seine Sommersprossen zeigten, dass er sich gerne draußen aufhielt.

»Endlich!« Jessy, meine achtzehnjährige Schwester, stürmte die Treppe hinunter. »Ich habe schon befürchtet, dass die Post heute gar nicht mehr kommt.«

»Du bist ja schon auf.« Mama runzelte die Stirn. Es war äußerst ungewöhnlich, dass sich Jessy am Wochenende schon vor dem Mittagessen im Untergeschoss blicken ließ.

»Ja. Heute sollen schließlich meine Belegexemplare kommen. Ich bin schon so gespannt. – Mach mal Platz, Enya!« Jessy drängelte sich an mir vorbei nach draußen. »Ist das Paket für Jessica Jung?«, rief sie dem jungen Mann zu.

»Ja.« Er stolperte über eine zersprungene Bodenplatte. Der Eingangsbereich war nur eines der vielen Dinge an unserem Haus, die dringend erneuert werden sollten.

»Yes!!!« Ohne ihn groß zu beachten, nahm meine Schwester ihm das Paket ab und stellte es in den Hausflur. Er dagegen starrte sie an, als wäre sie Gigi Hadid. Eine leichte Ähnlichkeit zwischen den beiden bestand tatsächlich: Genau wie das amerikanische Topmodel hatte meine Schwester fast taillenlange blonde Haare und ein puppenhaft hübsches Gesicht mit einem ausgeprägten Schmollmund. Sie war nur nicht so abgemagert.

»Können Sie den Empfang bitte quittieren?« Ohne den Blick von ihr abzuwenden, streckte der Typ Jessy den Hundekuchen entgegen, auf den Theo schon sehnsüchtig gewartet hatte.

»Darauf?«, fragte sie ironisch.

»Oh …! Äh … nein!« Er warf Theo den Leckerbissen so jäh zu, als hätte er Angst, sich daran zu verbrennen, und zog den elektronischen Block aus seiner Hosentasche. Auf seinem Hals hatten sich rote Flecken gebildet.

Ich verdrehte die Augen. Es war so typisch! Sobald meine Schwester irgendwo auftauchte, drehten alle Jungs total am Rad – und ich war Luft.

»Haben Sie sonst noch etwas für uns dabei?« Mama fummelte an ihrem Ehering herum. Seitdem klar war, dass das Dach unseres Hauses so schnell wie möglich neu gedeckt werden musste, weil es an mehreren Stellen durchregnete, fürchtete sie sich vor jeder Rechnung.

»Ja, einen Brief.« Nur zögernd löste er den Blick von meiner Schwester und reichte Mama einen roten Umschlag. Er sah nicht so aus, als ob er etwas enthielte, das unser Familienkonto noch mehr belasten würde. Sie atmete sichtlich auf.

»Schaut mal! Sehen die nicht toll aus?« Inzwischen hatte Jessy ihr Paket aufgerissen und eines der glitzernden weiß-rosafarbenen Bücher darin herausgezogen.

Ich nickte knapp – Jessy bekam sowieso immer viel zu viel Aufmerksamkeit –, und auch Mama sagte nur geistesabwesend: »Oh ja! Wunderschön sind sie!«, bevor sie sich wieder dem Brief zuwendete.

Der Postbote dagegen zeigte sich angemessen begeistert. »Wow! Auf dem Cover sind ja Sie drauf!«

»Ja. Ich habe es schließlich geschrieben.« Auf ihrem Youtube-Kanal gab meine Schwester Mädchen Tipps in Sachen Freundschaften, Schule, Eltern und Liebe, und das kam so gut an, dass ihr Kanal nicht nur von über hunderttausend Leuten abonniert worden war, sie hatte auch von einem großen Jugendbuchverlag einen Vertrag für ein Aufklärungsbuch bekommen. »In einem Monat kommt es in die Buchhandlungen. – Schönen Tag noch!«, schob sie nach, weil der Typ immer noch keine Anstalten machte zu gehen.

»Ja, dir … ähm … Ihnen auch.« Er drehte sich fluchtartig um und stolperte noch einmal über die hervorstehende Bodenplatte, bevor er in den Postbus stieg und davonfuhr.

Verschnupft darüber, dass ihr monumentales Werk immer noch nicht die erwartete Aufmerksamkeit bekam, legte Jessy ihr Buch wieder in den Karton zurück und fragte: »Von wem ist der Brief eigentlich?«

»Von Großtante Mathilda, Schätzchen.«

Mama sagte zu jedem in der Familie Schätzchen, weswegen ich manchmal nicht so genau wusste, ob sie Jessy, Papa, Theo oder mich ansprach. Nur Opa Harry meinte sie damit niemals. Seit er aus dem Pflegeheim herausgeworfen worden war, weil er mit einer Zigarre in der Hand eingeschlafen war und es fast abgefackelt hätte, bezeichnete sie ihn entweder als alten Stinkstiefel oder, wenn er mal wieder irgendeiner jüngeren Frau schöne Augen machte, als Lustmolch. Manchmal auch, wenn er sie hörte.

»Großtante Mathilda! Die alte Frau aus der Schweiz?« Jessys Gesicht erhellte sich. »Vielleicht ist sie gestorben, und wir sind ihre Erben.«

»Das ist nicht nett von dir, so etwas zu sagen, Jessica.« Mama kniff ihre Lippen zusammen. »Außerdem ist es unwahrscheinlich. Denn wenn sie tot wäre, würden wir ja keinen Brief von ihr bekommen.« Sie streichelte Theo über den struppigen Kopf.

»Vielleicht hat sie ihn schon vor ihrem Tod geschrieben. – Mach ihn endlich auf!«

Auch ich war gespannt. Es war schon ein paar Jahre her, dass wir Mamas Tante das letzte Mal begegnet waren.

Mama gehorchte und zog einen cremefarbenen Bogen heraus. Sie kniff die Augen zusammen. »Hat jemand meine Lesebrille gesehen? Diese Altersweitsichtigkeit ist ein Fluch.«

»Keine Ahnung, wo du die schon wieder hingelegt hast! Ich lese ihn euch vor.« Jessy nahm ihr den Briefbogen ab, faltete ihn auf – und ihre Gesichtszüge versteinerten.

»Was ist? Ist sie wirklich gestorben?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Viel schlimmer. Der Brief ist eine Einladung.«

»Eine Einladung? Zu was denn? Zu ihrem Geburtstag? Der war doch gerade erst. Sie will doch nicht etwa schon wieder heiraten?« Die Panik in Mamas Stimme war deutlich herauszuhören.

Großtante Mathilda war bereits fünf Mal verheiratet gewesen. Beim dritten Mann wollte Papa schon gar kein Geschenk mehr zur Hochzeit mitbringen. Aber Mama hatte darauf bestanden. Großtante Mathilda war nämlich reich. Natürlich nicht so wie Bill Gates, Mark Zuckerberg oder Dagobert Duck, aber sie hatte durch ihre Knopffabrik doch so viel Geld, dass sie unser neues Dach aus der Portokasse bezahlen konnte. Und außer Mama und Onkel Thomas hatte sie keine Verwandten.

»Oh Gott! Sie hat wirklich schon wieder geheiratet«, stöhnte Mama, als Jessy ihr nicht antwortete.

»Schön wär’s«, sagte meine Schwester, ohne den Blick von den schwungvollen Buchstaben zu lösen. »Hört euch das an!«

Liebe Simone, lieber Alexander,

liebe Enya und liebe Jessica,

Jessy legte eine kurze Pause ein (wahrscheinlich war sie irritiert, dass sie als die Ältere von uns beiden erst nach mir genannt wurde), dann fuhr sie fort:

ich möchte den Jahreswechsel mit euch feiern. Vom 27. 12. bis zum 3. 1. werden wir auf Dunvegan Castle zu Gast sein. Die Burg liegt auf der Insel Skye, und am Silvesterabend findet dort ein rauschender Ball statt. Für die Kosten der Reise komme ich selbstverständlich auf.

Ich freue mich auf ein paar schöne Tage mit euch und sende Küsse und Umarmungen!

Eure Mathilda

Das war kurz und auf den Punkt gebracht. Aber so kannte ich Großtante Mathilda. Sie war kein Fan großer Worte. Ein oder zwei Sekunden sagte niemand von uns ein Wort. »Sie fragt überhaupt nicht, ob es uns recht ist«, stieß Mama dann aus. »Und Weihnachten ist schon in einer Woche.«

»Ja und!« Mama würde doch hoffentlich nicht auf die Idee kommen abzusagen! Schließlich bekamen wir alles bezahlt. Und Silvester auf einer Burg in Schottland zu feiern, stellte ich mir echt cool vor. Schließlich war die Isle of Skye Schauplatz von vielen bekannten Filmen: Macbeth mit Michael Fassbender und Marion Cottilard war hier gedreht worden, die Neuverfilmung der King-Arthur-Sage Legend of the Sword und mein absoluter Lieblingsfilm Snow White and the Huntsman. Vielleicht konnte ich mir dort auch selbst Anregungen holen, schoss es mir durch den Kopf. Seit ich vor ein paar Wochen mit meiner Freundin Daleen auf dem Kurzfilmfestival Girls go Movie gewesen war, suchte ich verzweifelt nach einem Stoff, den ich im nächsten Jahr bei einem Wettbewerb einreichen konnte. Abgabetermin war schon im April, aber bisher hatte ich noch keine überzeugende Idee gehabt, und allmählich wurde die Zeit knapp.

Isle of Skye – allein der Name hörte sich schon so richtig schön geheimnisvoll an. Ich musste ihn sofort googeln.

Jessy war nicht so begeistert wie ich. »Du denkst doch nicht etwa darüber nach, wirklich zu fahren?« Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet.

»Nun ja«, Mama knetete ihre Hände, »wenn Tante Mathilda es wünscht … Bei unserem letzten Telefonat hat sie angedeutet, dass sie einen Teil ihres Vermögens verschenken will. Weil eine warme Hand besser geben könne als eine kalte …«

Jessy verschränkte ihre Arme vor der Brust, wie immer, wenn sie zeigen wollte, dass sie von ihrer Meinung auf gar keinen Fall abweichen würde. »Dann müsst ihr allein dorthin. Ich habe eine Buchveröffentlichung vorzubereiten. Außerdem gibt Claudine eine Silvesterparty. Die halbe Oberstufe wird dorthin gehen, und ich werde bestimmt nicht darauf verzichten, um mitten im Winter mit euch in so einer kalten, zugigen alten Burg eingepfercht zu sein …«

»Völlig ausgeschlossen. In diesem Fall wirst du auf die Party verzichten müssen, und die Veröffentlichung kannst du auch in Schottland vorbereiten.«

»Dort gibt es garantiert nicht mal WLAN. Und du kannst mich nicht zwingen. Ich bin schließlich schon achtzehn.« Jessys Teint hatte eine ungesunde rote Farbe angenommen.

Die Haustür wurde aufgeschlossen, und Papa trat ein. In der Hand hielt er eine große Papiertüte und eine Flasche Milch. (Mama hatte gesagt, dass er Käse mitbringen soll.) Er presste beides fest an seine Jacke, während er versuchte, sich an Theo vorbeizuschieben, der ihn so überschwänglich begrüßte, als wäre er gerade von einem sechswöchigen Aufenthalt in Neuseeland zurückgekommen. Dabei war er nur beim Bäcker gewesen.

»Was ist denn das für eine Versammlung hier?« Wie immer saß seine Brille leicht schief auf seiner Nase, seine dunkelblonden Haare waren so zerwühlt, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen, und sein linker Hemdkragen lugte aus dem Ausschnitt seines Pullovers heraus, während der rechte darin versteckt war. Er sah aus wie das, was er war: ein zerstreuter Professor.

Papa arbeitete als Verhaltensforscher, und sein Spezialgebiet waren Tauben. Sein Team und er hatten nicht nur herausgefunden, dass die Gedächtnisleistung der Vögel fast mit der von Pavianen zu vergleichen ist, sondern auch, dass sie noch viel besser im Multitasking sind als Menschen. Lukrativ war diese Arbeit nicht sonderlich. Schon gar nicht, wenn man wie wir in einem riesigen Haus mit einem noch viel riesigeren Park drum herum wohnte, das bereits den Ersten Weltkrieg miterlebt hatte. Aber noch immer wartete er auf die große, bahnbrechende Entdeckung, die unsere finanziellen Probleme für immer lösen würde. Gerade versuchte er zu beweisen, dass Tauben dazu in der Lage waren, die Bilder von Manet und Picasso zu unterscheiden.

Papa stellte Milch und Brötchen auf dem Schuhschrank ab. »Ist etwas passiert?«, fragte er. »Ihr schaut so seltsam.«

»Ja.« Jessy streckte ihm den Brief entgegen. »Mamas verrückte Tante Mathilda hat uns alle über Silvester nach Schottland eingeladen.«

»Ich weiß.«

»Woher?«

Papa nahm seine beschlagene Brille ab und polierte sie am Zipfel seines Hemdes. »Thomas hat mich auf dem Weg hierher auf dem Handy angerufen, weil er dich nicht erreicht hat. Du hattest deins mal wieder aus.«

»Was sagt er?«, fragte Mama frostig.

»Er wollte wissen, ob wir fahren.«

»Fährt er?«

Papa nickte. »Er meinte, dass er zwar so viel in der Firma zu tun hat, dass er eigentlich unmöglich freimachen kann, aber Großtante Mathilda hätte er noch nie einen Wunsch abschlagen können.«

Mama stieß einen Ton aus, der mich an das Zischen einer Schlange erinnerte. »Dass ich nicht lache. Bei ihr einschleimen will er sich. Dabei braucht er Mathildas Geld doch überhaupt nicht, dieser Geldsack. Aber das kann er sich abschminken.« Sie griff zum Telefon.

»Was machst du?«, fragte Papa.

»Ich rufe Mathilda an, um ihr zu sagen, wie sehr wir uns auf die Reise freuen.«

»Wir! Können wir darüber nicht noch einmal reden? Über Weihnachten und Silvester muss sich jemand um die Tauben kümmern, und ich habe zugesagt, das zu übernehmen. Da kann ich mir nicht so einfach ein paar Tage freinehmen.«

»Oh doch! Es wird sich schon jemand anders finden, der die Vögel füttert. Und die Menschheit wird gut noch ein paar Wochen auf deine revolutionären Forschungsergebnisse verzichten können. Du kommst mit nach Schottland. Genau wie Jessy und Enya.« Mama sah uns einen nach dem anderen an. »Und in dieser Woche werden wir die reizendste Familie aller Zeiten sein.«

Kapitel

2

Wann kommt sie denn endlich?« Schon seit über zwei Stunden hingen wir an dem winzigen Flughafen von Inverness herum und warteten auf Tante Mathilda. »Ihr Flugzeug hätte doch schon vor einer halben Stunde landen müssen.«

»Vielleicht ist es abgestürzt«, sagte Jessy. »Das würde die ganze Sache vereinfachen.« Ein Hauch Hoffnung schwang in ihrer Stimme mit.

»Fräulein!«, sagte Mama scharf. »Kein Wort mehr!«

Sie war so nervös, als warteten wir auf eine Audienz bei der Queen, und ihre Aufregung hatte sich vor ein paar Tagen noch einmal potenziert, weil sie für Opa Harry keinen Kurzzeitpflegeplatz bekommen konnte. Um diese Zeit des Jahres sei alles hoffnungslos ausgebucht, so lautete die Begründung von Frau Knorrn, der Heimleitung. Als Mama das hörte, hätte sie fast geweint.

»Ist im Keller oder auf dem Speicher vielleicht noch ein Plätzchen frei?«, hatte sie gefragt. »Wir würden auch eine Besenkammer nehmen, solange ein Feldbett hineinpasst – oder eine Luftmatratze. Es ist wirklich ein absoluter Notfall.«

Frau Knorrn lachte auf. »Ich mag Ihren Humor, Frau Jung«, sagte sie.

Ich war sicher, dass Mama jedes Wort ernst gemeint hatte.

»Die hat mich doch angelogen«, knurrte sie, als wir das Pflegeheim verließen. »Bestimmt ist noch ein Platz frei. Gerade zwischen den Jahren. Wie herzlos muss man sein, in dieser Zeit einen Verwandten abzuschieben?«

»Du willst es doch auch«, schnaubte Jessy.

Mama ging nicht darauf ein. »Sie wollen den alten Stinkstiefel nicht aufnehmen, das ist der einzige Grund, weshalb sie mir abgesagt haben«, giftete sie weiter. »Kein Wunder, so wie er sich dort aufgeführt hat! Dabei hatte er mir hoch und heilig versprochen, außerhalb des Raucherbereichs keine Zigarre anzuzünden und die Finger von den Schwestern zu lassen.«

Letztendlich war Opa allein daheim geblieben. Mit seiner Beinprothese wäre die Reise viel zu anstrengend für ihn gewesen. Unsere Nachbarin Frau Helmbrecht hatte angeboten, für ihn zu kochen und ein Auge auf ihn zu haben. Sie hatte eine Schwäche für den alten Casanova.

Dafür durfte Theo uns begleiten. Denn auch die Hundepension war komplett belegt gewesen. Das hatte Mama aber ohne Weiteres geglaubt. Theo war in einer Box im Frachtraum des Fliegers mitgereist. Nun lag er ein wenig benebelt von den Beruhigungstropfen vor meinen Füßen und schnarchte vor sich hin.

Nur als Mama kreischte: »Gelandet!«, hob er kurz den Kopf und gähnte. Er war genauso wenig an Großtante Mathildas Ankunft interessiert wie Papa, der schon die ganze Zeit mit dem Handy am Ohr ein Stück entfernt von uns stand und mit dem Mitarbeiter redete, der sich nun an seiner Stelle um seine heiß geliebten Tauben kümmerte. Ich dagegen freute mich darauf, sie zu sehen. Für ihr Alter war sie nämlich echt gut drauf. Außerdem gehörte sie zu den wenigen Menschen, die mich neben meiner erfolgreichen Schwester überhaupt wahrnahmen …

Auch Onkel Thomas zog seinen Bauch ein, straffte seine Schultern und glättete die wenigen Haare, die ihm rund um seine Halbglatze noch geblieben waren, während Tante Donna an seinem Krawattenknoten herumzupfte. Nachdem die Krawatte endlich zu ihrer Zufriedenheit saß, kämmte sie sich ihre sorgfältig frisierten blond gesträhnten Haare, überprüfte ihr Make-up im Spiegel ihrer Puderdose und befreite die Gesichter ihrer Zwillinge mit einem feuchten Tuch von Essensresten. Begeistert waren die beiden nicht darüber. Aber sie konnten nicht weglaufen. Denn obwohl James und Emma bestimmt schon drei waren, saßen sie fest angeschnallt in einem Zwillingsbuggy. Emma hatte sogar noch einen Schnuller im Mund. Er war rosa. So wie alles an ihr. James dagegen war von Kopf bis Fuß in Hellblau gekleidet. Ich hoffte inständig, dass die beiden nur so ausstaffiert worden waren, um bei Großtante Mathilda einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Auch Mama hatte uns allen strenge Kleidervorschriften auferlegt. Papa musste einen Anzug anziehen, in dem er sich sichtlich unwohl fühlte, und sie selbst trug das rote Kleid, das sie sich zu meiner Konfirmation gekauft hatte und das ihr inzwischen mehr als nur ein bisschen zu eng war. Jessy und mir hatte sie verboten, Hosen zu tragen. Angeblich war Großtante Mathilda nämlich noch nie in einer gesehen worden. Sie trug ausschließlich teure Designerkostüme.

Für mich war das eine echte Strafe. Denn im Gegensatz zu Jessy besaß ich nur einen einzigen Rock. Mama hatte ihn mir vor drei Jahren gekauft, und leider passte er mir immer noch. Abgesehen davon, dass meine Brust ein wenig runder geworden war, war ich nämlich noch genauso streichholzdünn wie in der siebten Klasse, und ich konnte essen, was ich wollte, ohne auch nur ein Gramm zuzunehmen. Das war die einzige Sache, um die Jessy mich beneidete.

Ich beneidete sie um mindestens hundert Dinge. Um ihre blonden, sanft gewellten Haare, um ihren Namen, den man so wunderbar abkürzen konnte (auf Instagram und Youtube nannte sie sich Jes_C; da En_I nicht wirklich cool war, hieß ich dort ganz banal Enya_2402), und um ihre über hunderttausend Follower. So viele wollte ich gar nicht haben, aber ein wenig mehr als sechsundzwanzig wären für eine angehende Regisseurin schon ganz schön. Bedauerlicherweise kannte ich auch noch jeden einzelnen persönlich, und einer von ihnen war Opa.

Natürlich war es für Jessy auch kein großes Opfer gewesen, einen Rock anzuziehen. Heute hatte sie sich passend zum Anlass für einen rot karierten Schottenrock entschieden. Dazu trug sie schwarze Boots, einen schwarzen Rollkragenpulli und so eine alberne Baskenmütze. Jede andere hätte mit diesem Outfit total bescheuert ausgesehen, aber bei ihr wirkte es … cool.

Trotzdem … Ich betrachtete uns in der verspiegelten Wand der Ankunftshalle. Neben Donnas und Thomas’ teuren Gepäckstücken wirkten unsere Koffer noch schäbiger, als sie bei uns im Speicherabteil schon ausgesehen hatten, und egal wie viel Mühe sich Mama mit unserer Kleidung gegeben hatte, gegen die Designerteile von Onkel Thomas, Donna, James und Emma konnten wir nicht anstinken. Erschwerend kam hinzu, dass Theo kein aristokratischer Großpudel war, sondern ein undefinierbarer Mix aus verschiedensten Rassen. Das einzig Schäbige an Onkel Thomas’ Familie war der zerrupfte Teddybär, den Emma im Arm hielt.

»Ich hätte nicht gedacht, dass Alexander auch mitkommt«, sagte Thomas zu Mama. »Am Telefon hat er mir gesagt, dass er sich eigentlich gar nicht freinehmen kann.«

»Kann er eigentlich auch nicht«, entgegnete sie mit einem süßlichen Lächeln, das jeder, der sie kannte, sofort als falsch entlarvte. »Das Forschungsexperiment, das er gerade betreut, ist wahnsinnig wichtig. Aber er wollte unbedingt Mathilda wiedertreffen. Genau wie Enya. Und Jessica …«

Ich nickte und lächelte. Auch Jessy hob einen Daumen nach oben. »Ich kann es kaum erwarten, sie wiederzusehen.« So solidarisch war sie dann doch. Oder sollte ich sagen geldgierig?

»Sie kommt!«, rief Donna.

Alle Köpfe schossen in Richtung der grauen Schiebetüren.

Tante Mathilda trat heraus. Anders als bei meinen letzten Begegnungen mit ihr und auf Fotos trug sie kein Kostüm, sondern eine dicke Funktionsjacke, eng anliegende Stretchhosen und kniehohe, klobige Boots. Sie sah aus, als wolle sie gleich auf ein Pferd steigen, eine mehrtägige Schneewanderung unternehmen oder einen Drachen erlegen. Nicht nur mir klappte der Unterkiefer herunter.

»Ich schwöre dir, beim letzten Mal, als ich sie gesehen habe, hat sie so eine Art Prinzessinnenkleid getragen«, flüsterte Onkel Thomas Donna zu.

»Das war wahrscheinlich bei ihrer Hochzeit«, zischte Donna genauso leise zurück. Sie knöpfte ihren Mantel zu, um das knallrote Wollkleid zu verdecken, das genau den gleichen Ton hatte wie ihre Lippen und Nägel. »Du hättest dich im Vorfeld besser informieren müssen. Wir sind total overdressed.«

Das fand auch Großtante Mathilda, denn sie sah uns der Reihe nach an, bevor sie sagte: »Wie schön, euch zu sehen, meine Lieben! Aber ihr habt schon gelesen, dass Dunvegan Castle in den schottischen Highlands liegt und nicht in der Nähe von St. Moritz? Das schottische Klima kann ziemlich rau sein. Und bis zum großen Silvesterball sind es noch ein paar Tage.«

Als sie als Antwort nur betretenes Schweigen erntete, beugte sie sich zu den Zwillingen hinunter. »Ihr seid also James und Emma. Bisher habe ich euch beide nur auf Fotos gesehen.« Sie tätschelte Emma die Wange. »Was hast du denn da für einen süßen Teddy?«

»Sie bekommt zu ihrem Geburtstag einen neuen«, sagte Donna, worauf der Kleinen ein entsetztes »Nein« entfuhr und sie den abgenutzten Bären fest an sich drückte.

Großtante Mathilda musterte Tante Donna einen Augenblick schweigend, bevor sie sich wieder dem Mädchen zuwandte. »Ich hatte auch so einen Teddy, als ich ein Kind war. Irgendwann hatte meine Mutter ihn so oft genäht, dass er fast nur noch aus Garn bestand. Ich habe ihn so geliebt. Genauso wie du deinen Teddy lieb hast.« Sie wisperte Emma zu: »Und das ist auch gut so.«

Ha! 1:0 für uns. Zwar hatte ich echt keine Lust auf diese lächerliche Familien-Battle, aber Donnas Gesicht war es wert. Sie sah aus, als ob sie in eine Zitronenscheibe gebissen hätte. Und sie und Onkel Thomas brauchten das Geld ja wirklich nicht.

Nachdem uns Großtante Mathilda alle begrüßt hatte, streichelte sie Theo über den zottigen Kopf. »Das ist ein sehr … äh … außergewöhnlicher Hund. Welche Rasse ist das?«

»Er ist ein Schottischer Schneehund«, antwortete Jessy wie aus der Pistole geschossen.

»Ein Schottischer Schneehund«, wiederholte Großtante Mathilda. »Interessant. Davon habe ich noch nie gehört. Und dabei hatte ich fast mein ganzes Leben lang Hunde. Erst seit mein Gero vor fünf Monaten gestorben ist, habe ich beschlossen, mir nun keinen mehr zuzulegen.« Meinte sie mit Gero ihren letzten Hund oder ihren letzten Ehemann? Es musste der Hund sein, denn ich meinte, dass sie sich von ihrem letzten Mann freiwillig getrennt hatte. Genau wie von den anderen vier zuvor auch …

Mama warf Jessy einen giftigen Blick zu. »Er ist sehr selten. Wir sind froh, überhaupt einen bekommen zu haben.«

»Aus Schottland kommst du also.« Großtante Mathilda klopfte Theo den Rücken. »So ein Zufall. Dann besuchst du ja jetzt deine alte Heimat.« Sie beugte sich tief über ihn, aber ich konnte sehen, dass sie schmunzelte. Auch ich musste mir ein Grinsen verkneifen.

Das verging mir gleich darauf wieder, als Mathilda sich an mich wandte: Ein paar Sekunden blieb sie wortlos vor mir stehen und schaute mich an, bevor sie sagte: »Mein Gott, du erinnerst mich so sehr an mich selbst, als ich in deinem Alter war.«

An der Hitze auf meinem Gesicht spürte ich, dass ich knallrot wurde, und es machte die Sache auch nicht besser, dass Jessy mir im Gehen zuflüsterte: »Hihi, na, dann weißt du ja, wie du später aussehen wirst!«

»Pssst!« Mama schaute sich besorgt um, um herauszufinden, ob Großtante Mathilda Jessy gehört hatte, doch die war von Donna in ein Gespräch verwickelt worden. »Außerdem kannst du das als Kompliment sehen, Enya. Mathilda ist früher eine große Schönheit gewesen.«

Auch wenn Großtante Mathilda für ihr Alter recht ansehnlich war: So richtig konnte ich mir das nicht vorstellen.

Würde ich wirklich auch mal so unglaublich viele Falten haben? Ich hoffte nicht. Ihre Haut sah aus wie zerknittertes Papier.

Im Büro der Mietwagenfirma war so gut wie nichts los. Donna und Thomas hatten den Schlüssel für ihren SUV sofort bekommen. Papa und Mama warteten noch auf den jungen Schotten, der sie bediente und laut dem Schild auf seinem Schreibtisch noch ein Trainee war. Hatte ich anfangs noch neben meinen Eltern gestanden, gesellte ich mich schon bald zu Jessy, die auf einer dunkelroten Kunstledercouch lümmelte und mit verklärtem Lächeln etwas in ihr Handy tippte.

»Wem schreibst du denn?«, fragte ich.

Jessy zuckte zusammen. »Ach, nur Claudine!« Sie schaltete das Handy aus.

»Und dabei grinst du so?«

»Soll ich weinen, wenn ich meiner besten Freundin schreibe?«

»Da du ihre große Silvesterparty verpasst, hätte ich das vermutet.«

»Erinnere mich nicht daran.« Jessy rollte mit den Augen. »Hoffentlich gibt es auf der Insel wenigstens ein paar nette Foto-Hotspots. Ich google das gleich mal.«

Auch ich holte mein Handy heraus und nutzte das freie WLAN in der Autovermietung. Aber nicht weil ich wie Jessy nach instagramtauglichen Orten auf der Isle of Skye suchen wollte.

Kurz bevor ich es im Flugzeug ausschalten musste, war ich bei meiner Recherche über die bewegte Geschichte von Dunvegan Castle zufällig auf der Seite einer Reisebloggerin gelandet. Sie hatte ein paar Tage auf der Burg verbracht und viele Fotos von ihr gemacht. Ich öffnete den Artikel und scrollte mich durch die Bilder. Eines davon, ein Ölgemälde aus der Ahnengalerie, weckte meine Aufmerksamkeit. Eine Frau in einem karierten Kleid war darauf abgebildet. Mit ihrem herzförmigen Gesicht, den langen silberblonden Haaren und den kühlen blauen Augen sah sie haargenau so aus wie Charlize Theron in ihrer Rolle als böse Stiefmutter in Snow White and the Huntsman. In dem Absatz darunter stand, dass die Frau Finola MacLeod hieß. Sie war im siebzehnten Jahrhundert die Frau eines Clanchefs gewesen und der Hexerei angeklagt worden. Am Tag vor ihrer Hinrichtung verschwand sie spurlos aus ihrem fensterlosen Kerker und war danach nie wieder gesehen worden.

Noch einmal scrollte ich zu dem Ölgemälde hoch. Wie die klassische Hexe sah Finola MacLeod wirklich nicht aus, aber besonders sympathisch war sie mir auch nicht. Sie wirkte viel zu hochmütig und kalt. Ich meinte aber auch, eine gewisse Traurigkeit und Verlorenheit in ihren blauen Augen zu erkennen. Ihre Lippen lagen nicht entspannt aufeinander, sondern waren zusammengepresst. Kein Wunder! Ihre Ehe konnte nicht glücklich gewesen sein. Schließlich war es ausgerechnet ihr Mann gewesen, Colum MacLeod, der sie der Hexerei angeklagt hatte. Es hieß, dass Finola in dunklen Nächten noch immer durch die Burg spukte, um sich für das, was er ihr angetan hatte, zu rächen.

Ein Kribbeln durchlief meinen gesamten Körper, als ich diese Zeilen las. Ich liebte solche Geschichten. Konnte das der Stoff für meinen Kurzfilm sein, nach dem ich in den letzten Wochen so verzweifelt gesucht hatte? Ich musste unbedingt mehr über Finola MacLeod herausfinden!

Kapitel

3

Auf der Fahrt vom Flughafen nach Skye klebte ich die ganze Zeit mit der Nase am Fenster. Schottland war wunderschön! Es gab unendlich tief wirkende, dunkle Seen, bei deren Anblick es mir keine Mühe bereitete, an die Existenz von Seeungeheuern wie Nessi zu glauben, und stolze Burgen, die sich wunderbar als Filmkulisse geeignet hätten.

Eilean Donan, eine düstere und Ehrfurcht einflößende Burg, die auf einer Landzunge im Loch Duich lag und nur über eine steinerne Fußgängerbrücke zu erreichen war, gefiel mir ganz besonders gut. Denn ich kannte sie bereits aus zwei Filmen. Wegen ihrer malerischen Lage war sie Schauplatz in Die Welt ist nicht genug gewesen. Und in Highlander, einem Film über einen unsterblichen Clanchef namens Connor MacLeod. Der Clan, dem Dunvegan Castle gehörte, trug den gleichen Namen. Es hieß, dass dessen längst verstorbene Gründungsväter noch immer dafür sorgten, dass die Traditionen gewahrt wurden. Das war alles so spannend!

Die Isle of Skye schlug mich ebenfalls in ihren Bann, und als ich auf dem Bug der Fähre stand, der Wind an meinen Haaren zerrte und Skye in dichte Nebelschwaden gehüllt immer näher kam, musste ich unweigerlich an die geheimnisvolle Insel aus der Artus-Legende denken. Bis sich ein anderer Fahrgast zu mir gesellte und mir seinen Zigarrenrauch ins Gesicht blies, konnte ich mir ein paar wundervolle Sekunden lang sogar vorstellen, dass die Fähre eine Barke war und ich eine Hohepriesterin, die durch den Nebel nach Avalon übersetzte. Der Gedanke, das geheimnisvolle Leben der Finola MacLeod zu verfilmen, begeisterte mich immer mehr.

Auch nachdem wir das Schiff verlassen hatten, war die Landschaft einfach nur malerisch. Sanft beschneite Hügel wechselten sich mit schroffen Felsen ab, an die sich Nebelschwaden schmiegten, und überall weideten süße, wollige Schafe. Weniger schön waren allerdings die Straßen. Papa bemühte sich zwar, im Slalom um die vielen Schlaglöcher herumzufahren, aber hin und wieder erwischte er trotzdem eins, und wir wurden ganz schön durchgeschüttelt.

Ich verrenkte mir den Hals, um zu schauen, ob sich der dunkle SUV von Onkel Thomas noch hinter uns befand. Mama war ganz schön enttäuscht gewesen, dass sie Großtante Mathilda nicht sofort gefragt hatte, ob sie bei uns mitfahren wollte, denn jetzt saß sie bei ihnen im Auto.

Da Theo bei uns mitfuhr und Jessy unfassbar viel Gepäck mitgenommen hatte, wäre bei uns aber sowieso kein Platz mehr für einen weiteren Fahrgast gewesen.

Ich öffnete den Browser, um mit meiner Recherche über Finola MacLeod fortzufahren, doch er öffnete sich nicht. Na toll! Ich hatte kein Netz, das fing ja nicht so gut an. Im Gegensatz zu Jessys Prognose würde es auf der Burg aber bestimmt WLAN geben.

Bis wir dort ankamen, konnte es allerdings noch eine Weile dauern. Die Schneeflocken, die gerade noch so zart durch die Luft getanzt waren, hatten sich auf den letzten Kilometern verdichtet. Papa musste das sowieso schon langsame Tempo, mit dem er fuhr, noch einmal drosseln. Mittlerweile fuhren wir durch einen richtigen Schneesturm.

»Oh Mann! Wir werden niemals ankommen«, stöhnte Jessy, bevor sie mit düsterer Stimme hinzufügte: »Wobei ich mir sowieso besser wünschen sollte, dass diese Fahrt nie ein Ende nimmt.«

Im Moment sah es ganz so aus, als ob sich ihr Wunsch erfüllen sollte. In Schrittgeschwindigkeit zuckelten wir durch ein Dorf, das ebenso wie die Burg, auf der wir wohnen würden, Dunvegan hieß. Auf einer Wiese zwischen Dorf und Kirche stand eine Ansammlung alter Wohnwagen. Einer, der am nächsten an der Straße parkte, war mitternachtsblau und mit unterschiedlich großen goldenen Sternen bemalt. Kurz dahinter begann der Wald. Ein ziemlich unheimlich aussehender Wald. Im Schnee wirkten die kahlen Bäume fast schwarz. Von den schiefen, gewundenen Ästen hingen Flechten herunter, grau und brüchig wie das Haar einer alten Frau, und peitschten im Wind hin und her. Cool! Solche Bilder würden sich in dem Film hervorragend machen. Ich zückte mein Handy und kurbelte die Scheibe herunter.

Sofort schoss Theo aus dem Fußraum nach oben. Sein Nackenhaar war gesträubt, und er knurrte.

»Was hast du denn?«

Im nächsten Moment sah ich den Bären. Aufrecht stand er zwischen zwei Bäumen, und mit seinem breiten Kopf, der langen Schnauze und den kleinen runden Ohren hätte er wie ein Kuschelteddy aussehen können, wäre sein braunes Fell nicht so zottelig gewesen und hätte er sein Maul nicht so furchteinflößend weit aufgerissen. Außerdem war er zwei Meter groß. Mindestens.

»Stopp!«, schrie ich, und Papa trat so heftig auf die Bremse, dass ich nach vorne geschleudert wurde.

»Was ist denn? Wieso sollen wir anhalten?«, schimpfte Mama.

»Da steht ein Bär!«

»Wo?«

»Wo wohl? Im Wald.«

»Du halluzinierst«, sagte Jessy. »Und jetzt mach das Fenster zu, es ist saukalt.«

Ich reagierte nicht, sondern suchte mit den Augen die Stelle, wo der Bär gestanden hatte. Nichts. Der Bär war nicht mehr zu sehen. Aber er war da gewesen. Und Theo hatte ihn auch gewittert. Sein ganzer Körper war immer noch angespannt, und seine Ohren, die sich sonst nie entscheiden konnten, ob sie stehen oder hängen wollten, waren gespitzt. Noch bevor ich das Fenster wieder hochlassen konnte, stieß er sich auf einmal ab, sprang aus dem Fenster und rannte in den Wald.

»Halt!«, schrie ich voller Panik. Wenn er den Bären einholte, würde der ihn zerfetzen. Ohne auch nur einen Moment nachzudenken, riss ich die Autotür auf und rannte dem Hund nach. Spitze Zweige streiften schmerzhaft mein Gesicht. Aber darauf achtete ich nicht, zu groß war meine Angst, Theo aus den Augen zu verlieren. Und nun sah ich auch den Bären wieder. Auf allen vieren galoppierte er davon, und ein Stück hinter ihm lief nicht nur Theo, sondern auch ein Junge.

Autsch! Ich hatte einen dicken Ast übersehen, der am Boden lag, und fiel der Länge nach hin.

Noch bevor ich mich hochgerappelt hatte, fing Theo an, ohrenbetäubend zu kläffen. Ich wischte mir den Schnee aus dem Gesicht. Schwanzwedelnd stand der Hund vor dem Jungen. Dieser versuchte, nach rechts oder links auszuweichen, doch Theo hüpfte mit und ließ ihn nicht vorbei. Er schien einen Heidenspaß zu haben. Der Junge hatte definitiv keinen.

»Ruf den Köter zurück!«

Ich sah blonde Haarspitzen unter einer Kapuze und ein Gesicht, aus dem mich zwei blaue Augen wütend anblitzten. Es war ein ausgesprochen hübsches Gesicht mit einem Grübchen im Kinn, einer Nase, die weder zu klein noch zu groß war, und hohen Wangenknochen, stellte ich beim Näherkommen fest. Nur zum Mund konnte ich nichts sagen, denn er war fest zu einem Schlitz zusammengepresst.

»Schluss jetzt, Theo!«, befahl ich außer Atem.

Erfreulicherweise gehorchte er.

»Wieso hast du deinen Hund auf mich gehetzt?«, fuhr mich der Junge an und schirmte mit einer Hand die dicken Schneeflocken ab, die ihm der Wind ins Gesicht wehte.

»Hab ich gar nicht.«

»Ach! Und wieso verfolgt ihr mich dann?«

»Wir verfolgen dich gar nicht, sondern den Bären.«

»Bist du betrunken? Welcher Bär?« Er hatte einen Tick zu lange mit seiner Frage gewartet, und auch sein nervöser Gesichtsausdruck ließ mich vermuten, dass er genau wusste, wovon ich sprach.

»Der Bär, der bei dir war.«

»Hier gibt es keine Bären.«

»Aber ich habe einen gesehen.«

»Du bist echt total verrückt«, sagte der Junge kopfschüttelnd und ließ mich stehen. Dabei stapfte er in die Richtung, in die der Bär galoppiert war, den es angeblich nicht gab.

»Hey, wenn da kein Bär war, mit dem du um die Wette gelaufen bist, was machst du dann bei dem Schneesturm im Wald?«, rief ich ihm nach. Doch ich bekam keine Antwort.

Wieder am Auto musste ich feststellen, dass außer mir niemand den Bären gesehen zu haben schien. Auch Onkel Thomas, Donna und Großtante Mathilda nicht.

»Enya hat eine blühende Fantasie«, erklärte Mama Großtante Mathilda, die inzwischen genau wie Onkel Thomas ebenfalls ausgestiegen war. »Das war schon immer so. Schon als kleines Kind hat sie behauptet, dass in unserem Garten Elfen und Feen hausen, und sie hat darauf bestanden, ihnen abends eine Schüssel mit Milch herauszustellen. Dass es die Nachbarskatzen waren, die sie getrunken haben, wollte sie nicht gelten lassen. Und selbst als sie schon in der Schule war, ist sie noch aufs Töpfchen gegangen, weil sie fest davon überzeugt war, dass in unserer Toilette eine Hexe haust, die nur auf eine Gelegenheit wartet, sie den Abfluss hinabzuziehen.«

Ja und! Bestimmt drei Viertel der Weltbevölkerung glaubten an irgendwelche Götter, ohne dass sie deswegen schräg angeschaut wurden. Aber sobald man andeutete, dass man die Existenz von Elfen, Feen und (Klo-)Hexen nicht ganz ausschließen wollte, wurde man für verrückt erklärt. Es war total unfair von Mama, diese alten Geschichten hervorzukramen, nur weil sie sauer auf mich war. Und jetzt schimpfte auch noch Onkel Thomas auf mich ein, weil er Papa fast hintendrauf gefahren wäre. Das kommt davon, wenn man zu dicht auffährt, verkniff ich mir zu sagen. Stattdessen klopfte ich mir den Schnee von den Klamotten und stieg wieder ins Auto.

»Du hast den Bären doch auch gesehen oder zumindest ihn gewittert, oder?«, flüsterte ich Theo zu, nachdem wir weitergefahren waren.

Wie zur Bestätigung schleckte er mir die Hand und sah mich mit seinen braunen Kulleraugen treuherzig an. Wenn ich ganz ehrlich war, beschäftigte mich der seltsame Junge im Moment aber noch viel mehr als der Bär. Was hatte er im Wald gemacht? Und wieso hatte er mich angelogen?

»Wow!«, entfuhr es mir spontan, als wir kurz darauf auf Dunvegan Castle zufuhren.

Der Schneesturm hatte sich genauso schnell wieder gelegt, wie er gekommen war, und durch die dicken Wolken hatten sich ein paar Sonnenstrahlen gekämpft, die nun auf die Burg fielen. Mit all ihren Türmen, Erkern, Zinnen und Schießscharten thronte sie leicht erhöht vor einem glitzernden See. Eine von Büschen gesäumte Straße führte durch den weitläufigen Park bis auf den gepflasterten Burghof, der mich in seiner Form an ein vierblättriges Kleeblatt erinnerte. Nur das große weiße Schild mit der Aufschrift Rezeption kam mir in dieser Umgebung vor wie ein Ufo. Papa und Onkel Thomas parkten die Autos davor, und wir stiegen aus.

Donna hatte kaum ihre Füße auf den Boden gestellt, als sie schon einen wenig damenhaften Fluch ausstieß. Der hohe Absatz einer ihrer Wildlederstiefel hatte sich im Kopfsteinpflaster verhakt. Auch Mama stolperte etwas unbeholfen auf die Rezeption zu. Zwar trug sie bequemere Schuhe als Donna, aber die Rollen ihres neuen Koffers blieben immer wieder an den unebenen Steinen hängen. Nur Tante Mathilda stapfte in ihren Stiefeln unbeeindruckt hinter Jessy und mir her.

Aus der Nähe betrachtet sah man Dunvegan Castle die achthundert Jahre seiner Geschichte doch an, und genau wie unser Haus konnte die Burg nicht verbergen, dass ihre besten Jahre längst hinter ihr lagen. Ihre Fassade war verwittert und an vielen Stellen von Moos überzogen, die ornamentalen Verzierungen an Fenstern und Türen bröckelten, und eine der Fensterscheiben im Untergeschoss hatte einen Sprung, der notdürftig mit einem Klebeband fixiert worden war.

»Ich habe schon auf euch gewartet!« Ein hagerer Mann mit dunklen Haaren trat so unerwartet hinter einem riesigen Weihnachtsbaum hervor, dass ich nach Luft schnappte. Er trug einen Weihnachtspullover mit einem Elch auf der Brust und dazu einen Kilt. Neben einem Schlüsselanhänger mit mehreren Schlüsseln baumelte ein Täschchen aus Fell zwischen den Falten seines Rocks. In seiner linken Hand hielt der Mann etwas, das ich auf den ersten Blick für einen Muff hielt. Doch dann wurde eine rosa Zunge sichtbar. Theo blieb abrupt stehen, und seine Schwanzspitze bewegte sich erst langsam und dann zunehmend begeistert hin und her. Das war ein Hund.

»Fàilte gu Dunvegan! Mein Name ist Angus MacLeod«, begrüßte er uns auf Englisch. Sein schottischer Akzent war zum Glück nicht so ausgeprägt, dass man ihn nicht verstehen konnte. Er tippte auf das kleine weiße Schild an seiner Brust, auf dem sein Name stand. »Aber sagt bitte Angus zu mir. Ich bin der hundertneunundzwanzigste Burgherr von Dunvegan Castle. Hattet ihr eine angenehme Anreise?«

»Na ja, geht so«, sagte Jessy. »Wir sind in einen Schneesturm geraten.«

Mit dieser Antwort hatte er anscheinend nicht gerechnet, denn sofort nahm sein schmales Gesicht einen beunruhigten Ausdruck an, den er mit einem aufgesetzten Lächeln zu kaschieren versuchte. Dabei entblößte er eine Reihe auffällig großer Zähne. »Nun, jetzt seid ihr ja da, gerade richtig zur Teezeit.«

»Gibt es so viele von Ihnen?«, fragte Jessy. In ihrem Schottenlook passte sie ausgezeichnet zu dem Burgherrn, nur dass sein Outfit blau-grün-gelb kariert war und nicht rot-schwarz wie das meiner Schwester.

»Ich verstehe nicht, was du mit dieser Frage meinst.« Angus MacLeod runzelte so stark die Stirn, dass die Falten bis an den Rand seiner ebenfalls karierten Bommelmütze reichten.

»Weil Sie der hundertneunundzwanzigste sind.«

»Ach so, ja, alle Männer aus meinem Zweig der Familie MacLeod tragen den Namen Angus, das ist eine Familientradition.«

Ich war beeindruckt. »Dann müssen Sie ja einen ziemlich langen Stammbaum haben!«

Er nickte. »Ja. Länger als meiner ist nur der von Gracia Patricia. Ihre Vorfahren haben schon in der Schlacht von Stirling Bridge gegen die Engländer gekämpft.« Er strich dem Hündchen die langen weißen Haare aus der Stirn, und muntere dunkle Augen wurden sichtbar.

Gracia Patricia – das klang ziemlich pompös für ein so kleines Hündchen. »Der Name ist aber nicht schottisch, oder?«, erkundigte ich mich.

»Nein, nein. Er kommt aus dem Spanischen. Ich habe sie nach der ehemaligen Fürstin von Monaco und früheren Hollywoodschauspielerin benannt. Ich habe eine Schwäche für Hollywood. Du auch?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Außerdem finde ich Bonnie, Flora oder wie meine Landsmänner ihre Hunde noch so gerne nennen, furchtbar langweilig. Sie sind so … schlicht.«

Oh! Dann würde ich ihm Theos Namen vermutlich besser nicht verraten, sondern ihn als Theodor von Hohenzollern ausgeben. Schmunzelnd drängte ich unseren Hund zurück. Der machte nämlich Anstalten, an Angus hochzuspringen, um das Objekt seiner Begierde zu beschnüffeln.

Inzwischen näherten sich auch Mama, Papa und Großtante Mathilda dem Eingangsbereich. Donna zog immer noch bei jedem Schritt mühsam ihre Absätze aus dem Kopfsteinpflaster, und Onkel Thomas kämpfte mit dem Zwillingsbuggy. Dabei hatte ich genau gesehen, dass James und Emma wunderbar – und ziemlich schnell! – laufen konnten. Meist in verschiedene Richtungen.

»Fàilte gu Dunvegan!«, begrüßte Angus MacLeod auch den Rest meiner Familie, und er konnte sich auch nicht verkneifen, erneut darauf hinzuweisen, dass er der hundertneunundzwanzigste war. »Mit wem von Ihnen habe ich eigentlich im Vorfeld telefoniert?«, fragte er dann und schaute nacheinander Großtante Mathilda, Donna und Mama an.

»Mit mir.« Großtante Mathilda trat vor.

»Ach, dann sind Sie Frau Sternheim. Wie schön, Sie persönlich kennenzulernen. Nach all den Telefonaten, die wir geführt haben, kommt es mir fast schon so vor, als wären wir alte Freunde.« Er strahlte sie an. »Sie werden sehen, dass sich seit Ihrem letzten Besuch hier einiges verändert hat. Aber jetzt kommen Sie erst einmal so richtig hier an. Wenn sich alle frisch gemacht haben, gibt es einen kleinen Welcome Drink, und danach führe ich Sie herum.«

Ach! Großtante Mathilda war schon einmal hier gewesen. Das hatte sie gar nicht erwähnt.

Während Mama und Donna sich förmlich eine Schlägerei lieferten, wer Mathildas Koffer tragen durfte – er passte nicht mehr auf den Gepäckwagen –, nahm ich Großtante Mathilda beiseite.

»Wieso hast du uns denn nicht erzählt, dass du schon einmal auf Dunvegan Castle warst?«

Großtante Mathilda zuckte mit den Schultern. »Ich dachte nicht, dass es euch interessiert.«

»Bestimmt warst du mit einem Liebhaber hier und möchtest nun in Erinnerungen schwelgen!« Jessy zwinkerte ihr zu.

Ich stöhnte leise auf. Gut, dass Mama den Kampf um Großtante Mathildas Koffer gewonnen hatte und vorangegangen war. Dass Jessy immer so taktlos sein musste …

»Nein, ich war allein hier. Und es ist schon eine Ewigkeit her«, sagte Großtante Mathilda kurz angebunden und folgte den anderen ins Innere der Burg.

Nachdem alle einen Gästebogen ausgefüllt hatten, wurden uns unsere Zimmer zugewiesen.

Die Erwachsenen würden im ersten Stock des Hauptgebäudes wohnen. Eine ältere Frau mit straff zurückgebundenem Dutt, die Angus uns als seine Hausdame Teresa vorstellte, huschte mit einem Wagen für das Gepäck heran. Ihre blauen Augen standen in einem auffälligen Kontrast zu ihren weißen Haaren.

Jessy und ich hatten Zimmer im Ostflügel bekommen. Angus MacLeod zeigte uns den Weg. Hohl hallte das Geräusch unserer Schritte von den unverputzten Wänden wider. Durch die schmalen Fenster drang nur spärliches Tageslicht in die Burg. Alle paar Meter ragte ein Ritterrüstungshandschuh aus der Wand, der eine Fackel in den Klauen hielt. Ob sie nach Einbruch der Dunkelheit angezündet wurden? Ein wohliges Gruseln erfasste mich, als ich mir vorstellte, welch unheimliche Schatten der Schein ihrer Flammen werfen würde. Auf unserem Weg zum Ostflügel kamen wir auch durch die Ahnengalerie. Das Porträt von Finola MacLeod war viel größer, als ich vermutet hatte, es reichte fast vom Boden bis an die Decke. Und was die Reisebloggerin entweder verschwiegen oder nicht bemerkt hatte: Die Augen der Highlanderin waren so gemalt worden, dass es aussah, als würden sie mir folgen. Überhaupt sah sie so lebensecht aus, als würde sie gleich aus ihrem Rahmen heraussteigen und sich neben mich stellen. Ich schluckte und ging eilig weiter. Ob Finola wirklich eine Hexe gewesen war? In einer ruhigen Minute würde ich Angus über sie ausquetschen. Sicherlich gab es auf der Burg auch eine Bibliothek, in der ich stöbern konnte.