Hrsg. Charlotte Erpenbeck
©Ch. Erpenbeck 2020
Machandel Verlag Haselünne
Charlotte Erpenbeck
Cover: Fany Art /shutterstock.com
Illustrationen: shutterstock.com
ISBN 978-3-95959-284-0
Titelseiten-Vignette: Lilu330/shutterstock
Titel-Vignette (vor jeder Geschichte): sharpner/shutterstock
End-Vignette (nach jeder Geschichte): Ysami/shutterstock
Die weiteren Illustratoren sind in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie in diesem Ebook auftreten.
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Barbara Schinko, geboren 1980. Liebt Märchen- und Sagenhaftes, ebenso Irland, wo sie mehrere Monate lang gelebt hat. Im Machandel-Verlag sind bisher erschienen: „Das Lied des Leuchtturms“ (Irland-Roman); „Ein Mantel so rot“ (Märchenadaption); „Eine Locke vom Haar der Königin-unter-dem-Hügel“ (Fantastisches mit keltischer Inspiration).
www.barbaraschinko.eu
„Flieg, Drache, flieg!“ Windspiel lachte vor Begeisterung, als sich ihr Zauberdrache höher in den Himmel hinaufschwang. Sie ließ die Schnur ein wenig lockerer, nicht viel, denn dann war sie am Ende angelangt. Weiter ging es nicht mehr. Der Drache flatterte, kämpfte gegen ihren Zug an. Er spürte den Wind und wollte sich von ihm treiben lassen, doch die Schnur, umklammert von Windspiels schlanken Fingern, hielt. Neben ihr stieß Peter einen wütenden Laut aus, als sein eigener Drache einen Bogen beschrieb und zu Boden stürzte. „Mist!“
Windspiel wandte sich um, sah, was geschehen war, und begann, wenn auch zögernd, ihre eigene Schnur einzuholen. „Später, Drache“, sagte sie leise. Er wehrte sich, wollte mehr, doch Armlänge für Armlänge brachte sie ihn wieder dem Boden näher. Als sie ihn schließlich in der Hand hielt, hatten sich die anderen Kinder um sie geschart. „Du hast gewonnen“, verkündete Markus, der Schiedsrichter. Windspiel nickte. Was sie betraf, hatte das nie in Frage gestanden. Wer sollte ihren Drachen schon schlagen?
Peter kam, sie hielt die Hand auf, und er gab ihr den versprochenen Schokoriegel. Wette eingelöst. Dann sah Markus auf die Uhr, und die anderen machten sich auf den Heimweg. Windspiel blieb, als alle gegangen waren. Sie hätte zum Abendessen zu Hause sein sollen, doch der Wind zerrte verlockend an ihren langen Haaren. Sie zuckte die Schultern und ließ den Drachen wieder los.
Es dämmerte, und der Himmel begann sich zu verfärben. Windspiel, deren Blick ihrem Drachen folgte, sah graue Wolkenfetzen vor goldenem, dann orangenem und rotem Hintergrund. Der Drache flog so weit nach oben, wie die Schnur es gestattete. Er tanzte mit dem Wind, das Maul weit aufgerissen. Windspiel lachte, als sie ihm zusah. Die anderen Kinder hatten Plastikdrachen, auf die Comic-Motive gemalt waren, aber ihrer, das war ein echter Drache. „Ist dir der nicht zu wild?“, hatte ihre Mutter gefragt, als sie im Kaufhaus auf ihn gezeigt hatte. „Der sieht ja gefährlich aus!“ Windspiel hatte den Kopf geschüttelt. So waren echte Drachen eben, sie hatten Schuppen und Stachelmähnen und Unmengen spitzer Zähne. Dass dieser hier nicht böse sein konnte, sah man doch an den sanft funkelnden Augen.
„Leider kannst du nicht höher fliegen, Drache“, sagte sie bedauernd in den Wind hinein. „Die Schnur ist zu kurz.“ Sie würde daheim nach einer längeren suchen müssen. Der Drache zerrte und schlug um sich, doch ihre kleinen Finger waren stärker. Trotz seiner Wildheit gehorchte der Drache ihr. Sie sah ihm zu, wie er vor dem Abendhimmel tanzte. Auf einmal jedoch geschah etwas, das ihren Blick gefangen nahm: An einer Stelle verschoben sich die Wolken, flossen zusammen und auseinander und bildeten plötzlich eine klare, eindeutig zu erkennende Gestalt – einen riesigen Drachen.
Windspiel starrte die Wolken an. Es gab keinen Zweifel. Die gewaltigen Fledermausflügel, die gezackte Mähne, das Maul, die Klauen … Sie konnte sogar die Augen erkennen, zwei Löcher in den Wolken, hinter denen der Abendhimmel glühte.
„Guten Abend!“
Im ersten Atemzug glaubte sie zu träumen. Aber die Worte waren da, tief in ihrem Kopf und doch so deutlich, als hätte jemand neben ihr gesprochen. Sie blickte sich um. Niemand sonst stand auf der Wiese.
„Hier oben musst du suchen.“
Ungläubig kniff sie die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Der Drache war noch immer da.
Er lächelte ihr zu. „Weißt du, was ich bin?“
„Ein Drache“, antwortete sie, ohne nachzudenken. „Genau wie meiner.“
„Genau wie deiner“, bestätigte das Wolkenwesen. Ein letzter Sonnenstrahl ließ seine Klauen golden schimmern. Windspiels Drache zerrte an seiner Schnur, als hätte auch er den Neuankömmling bemerkt. „Er will mich begrüßen, siehst du?“
„Er ist ein Zauberdrache.“ Das war die Wahrheit, doch Windspiel kannte auch die Antworten, die stets auf diesen Satz folgten. Das Wolkenwesen aber nickte.
„Natürlich. Und du musst eine kleine Zauberin sein, wenn er dir gehorcht.“
Windspiel zuckte die Schultern. Darüber wusste sie nichts. „Mein Vater war ein Zauberer“, sagte sie nach einer Weile.
Wieder nickte der Drache. „Dann bist du auch einer.“
In dem Moment, wo er es sagte, wusste Windspiel, dass es stimmte. Sie blickte in die rötlich glühenden Augen. „Wie heißt du, Drache?“
Er lachte, leise und freundschaftlich. „Wir haben keine Namen. Aber die anderen nennen mich Den-der-aus-Abendwolken-erscheint.“
Für Windspiel klang das steif und feierlich. „Kann ich dich einfach Wolkendrache nennen?“
„Gern, kleine Zauberin. Und wie heißt du?“
„Windspiel.“ Auch die Reaktionen darauf kannte sie zur Genüge, doch wieder nickte der Drache. „Natürlich. Wie sonst würde der Winddrache dir gehorchen? Denn eigentlich will er nicht gehalten werden“, fuhr der Wolkendrache fort. „Er sehnt sich danach, zu fliegen.“
„Er fliegt doch schon.“
Der Wolkendrache schüttelte den Kopf. Fetzen lösten sich aus seiner Mähne und formierten sich neu. „Fliegen heißt, sich höher und höher treiben zu lassen, bis zu den Wolken und noch weiter. Ihr Menschen könnt das nicht verstehen.“
„Wir können auch fliegen“, widersprach Windspiel ihm. „Mit Flugzeugen. Da sieht man die Wolken durchs Fenster. Ich bin schon geflogen, zweimal sogar, hin und zurück. Damals, als mein Vater –“ Sie verstummte.
Der Drache schien ihr Zögern nicht bemerkt zu haben. „Wir können noch höher fliegen als eure Flugzeuge“, sagte er. „Viel höher. Das weiß dein Winddrache auch. Siehst du, wie er sich windet? Er will, dass du ihn fliegen lässt.“
„Das geht nicht. Die Schnur ist zu kurz.“
„Dann lass ihn frei, kleine Zauberin.“
Windspiel wandte den Blick ab. Ihr Zauberdrache wollte sich tatsächlich befreien, er zerrte und zog und konnte sich doch nicht aus ihrem Griff entwinden. Sie spürte, dass der Wolkendrache sie beobachtete und ihre Gedanken erahnte. „Nein“, sagte sie leise. „Mein Vater hat ihn mir gekauft. Ich habe sonst nichts von ihm.“
„Das ist nicht wahr, Zauberin Windspiel.“ Die Stimme war sanft und verstehend. „Du erinnerst dich gut an ihn. Du wirst ihn immer in dir haben.“
Auch das stimmte. Genau wie vorhin spürte sie, dass der Drache die Wahrheit sagte. Sie blickte erneut hinauf zum Winddrachen. Mit ungebrochener Wildheit versuchte er, höher in den Himmel zu gelangen. Einen Moment lang hoffte sie, die Schnur würde reißen und ihr die Entscheidung abnehmen, doch der dünne Nylonfaden hielt. Der Drache zerrte und drängte und wehrte sich verzweifelt.
Sie ließ los.
Für einen Atemzug verharrte der Winddrache auf der Stelle. Dann schoss er nach oben, einer Rakete gleich auf den Wolkendrachen zu. Windspiel versuchte ihm mit ihrem Blick zu folgen, doch er wirbelte wie ein Derwisch, fegte über den Himmel, hin und her und zurück – und dann war er hoch oben in der Unendlichkeit verschwunden.
„Das hast du gut gemacht, Zauberin Windspiel.“ Mit den letzten Worten verklang die Stimme in ihrem Inneren. Vor Windspiels Augen löste sich der Wolkendrache auf. Sie konnte sehen, wie seine Fetzen auseinanderflossen. Es waren nur noch Wolken, nichts weiter. Sie blieb allein zurück und wünschte sich jetzt, sie hätte ihren Drachen nicht fliegen lassen. Windspiel fing an zu weinen. Sie konnte nichts dagegen tun.
Eher zufällig blickte sie zu Boden. Etwas Goldenes lag da. Wahrscheinlich nur ein Stück weggeworfene Folie, und doch – Sie wischte die Tränen weg und bückte sich danach. Es sah aus wie ein kleiner, dreieckiger Stein. Windspiel lächelte, als sie begriff, was es wirklich war.
Es war schon dunkel, als sie nach Hause kam, doch ihre Mutter schimpfte nicht. Kaum wollte sie etwas sagen, fiel ihr Blick auf Windspiels leere Hände, und sie schwieg.
„Der Drache ist fort“, sagte Windspiel.
„Das tut mir leid.“
Windspiel schüttelte den Kopf. „Ich habe ihn selbst fliegen lassen. Der Wolkendrache wollte es so. Aber er hat mir etwas anderes dafür gegeben.“ Sie zeigte ihrer Mutter das winzige Stückchen Gold.
„Das ist ein schöner Stein, den du da gefunden hast.“
Windspiel schüttelte erneut den Kopf. Sie lächelte. „Das ist eine Klauenspitze vom Wolkendrachen.“
Später, als ihre Mutter ihr Gute Nacht gewünscht und das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Windspiel im Dunkeln nach dem Foto auf ihrem Nachtkästchen um. „Ich musste es tun“, sagte sie leise. „Er wollte doch fliegen.“ Ihr Vater lächelte verstehend, und Windspiel kuschelte sich beruhigt in die Kissen.
In dieser Nacht träumte sie, die Drachenklaue fest umklammernd, von einem Wind- und einem Wolkendrachen. Gemeinsam schwebten sie über den Himmel, höher und höher, an allen Flugzeugen der Welt vorbei.
Bis hinauf zu ihrem Vater.
Weit oben in der Unendlichkeit, wo es eigentlich keine Wolken mehr geben sollte, entstand scheinbar aus dem Nichts ein luftiges, graues Gebilde. Der Wolkendrache blickte nach unten. Er dachte an einen Winddrachen, der endlich das Fliegen gelernt hatte, und an eine kleine Zauberin, die ihn losgelassen hatte. Der Wolkendrache verzog sein Maul zu einem Lächeln. Menschen … Bei manchen von ihnen wünschte man sich tatsächlich, sie hätten auch Flügel.
Katja Rocker ist nicht nur Autorin und Tagesmutter, sondern war auch schon Gärtnerin, Klangmasseurin, Kerzenverkäuferin, Textilverkäuferin und Schmuckdesignerin. Sie ist seit 20 Jahren verheiratet, hat zwei Söhne und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Dorf südlich von Mainz.
Im Frühjahr 2020 erscheinen ihre Kurzgeschichten „Luce“ und „Drachenschnupfen“ in den beiden „Drachen lachen“-Anthologien im Machandel Verlag.
Zitadelle – Mainz
Idris schaute empört auf den Jungdrachen, der auf den stacheligen Ranken eines Brombeerstrauches balancierte.
„Verflixt nochmal Luce, komm sofort wieder hierher!“
Luce sah ihn mit schiefgelegtem Kopf aus seinen rubinroten Augen an und pflückte dann mit seiner langen Zunge eine reife Brombeere. Verzückt schloss er die Augen und kaute die Beere genüsslich.
Idris lachte. „Also gut, du hast gewonnen. Aber rechne nicht damit, dass ich dir nachher helfe, aus diesem Gewirr herauszufinden, ich hole mir keine blutigen Schrammen.“
Luce fauchte zustimmend und kletterte weiter im Brombeergebüsch umher, auf der Suche nach den reifsten Beeren.
Idris war zwar amüsiert, aber dennoch ein wenig besorgt. Die zarten Flügel des jungen Libellendrachens waren noch nicht so zäh und ledrig wie die der ausgewachsenen Exemplare und konnten leicht einreißen.
Hinter ihm erklang ein leises Lachen.
„Na, deinen Drachen hast du noch nicht ganz im Griff, oder?“ Maximiliane von Eichenlohe, von allen nur Maxi genannt, grinste ihren Kumpel an. „Mir ist es zu Anfang mit Lily auch etwas schwergefallen. Sie hat mir ständig die Wurst vom Brot geklaut.“
„Du kannst eine Waldschrätin aber nicht mit einem Libellendrachen vergleichen.“
„Warum nicht? Sie sind beide Familiare von Hexen, sie haben uns als ihre Begleitung erwählt und beide werden unser ganzes Leben lang bei uns bleiben. Wo ist der Unterschied?“
„Mein Drache frisst kein Fleisch“, erwiderte Idris naserümpfend.
„Dafür muss ich nicht ständig für frisches Obst und Gemüse sorgen, sondern kann Lily zur Not auch mal Blut geben.“
Idris schüttelte den Kopf. „Ich könnte das nicht, mir einfach so in die Haut ritzen. Das tut doch weh. Und die ganzen Narben.“
„Von wem hast du denn das gehört? Ich habe Lily erst einmal Blut von mir gegeben und mich dafür gar nicht geschnitten. Opa Jo hat mir geholfen und mir das Blut mit der Spritze abgenommen. Ich habe doch nur gesagt, dass ich ihr im NOTFALL Blut geben könnte.“
Idris zuckte mit den Schultern. „Ist ja auch egal. Ich mache mir Sorgen um Luce. Ich habe schon ein wenig Angst, dass er sich die Flügel aufreißt.“
Der kleine Drache kletterte entgegen den Sorgen seines Freundes recht geschickt in dem Strauch herum, unter dem die beiden Menschenkinder saßen, und ergatterte eine reife Beere nach der anderen.
„Soll ich Lily hinterherschicken?“
„Meinst du, das funktioniert?“
„Klar, ich muss ihr nur eine Belohnung versprechen.“ Maxi drehte sich um und tippte die kleine Waldschrätin an, die neben ihr auf der Wiese einen erbeuteten Regenwurm verspeiste. „Lily, kletterst du Luce hinterher und sagst ihm, dass er zu uns zurückkommen soll? Du bekommst ein Würstchen dafür.“
Lily sah sie mit ihren dunklen Augen scharf an. Dann flitzte sie auf ihren kurzen Beinchen wieselflink in das Gebüsch und schnatterte etwas in ihrer eigenen Sprache. Luce schien sie zu verstehen, denn ein Fauchen erklang und einen Moment später kroch der grüne Libellendrache aus dem Strauch heraus. Seine Federn schillerten im Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben.
Idris streckte seinen Arm aus und Luce kletterte vorsichtig hinauf. Seine Krallen waren zwar nicht lang, aber spitz und wenn er fest zupackte, konnte er problemlos menschliche Haut aufritzen. Nicht, dass er das tatsächlich wollte, aber junge Libellendrachen waren ab und zu etwas ungestüm.
Idris kraulte Luce unter dem Kinn. Der Drache schloss leise knurrend die Augen, legte den Kopf schief und genoss die Liebkosung des Jungen.
„Ich habe früher nicht richtig verstanden, was das Ganze mit einem Familiar wirklich bedeutet. War es bei dir und Lily auch irgendwie gleich so intensiv? So fast wie Liebe?“ Idris senkte verlegen den Blick, mit 13 Jahren war das ein echt unangenehmes Thema. Er sah Maxi dann aber trotzdem fragend an.
„Kann man so sagen. Wobei Liebe bei Waldschraten eher relativ ist. Die geht bei denen durch den Magen.“ Maxi kicherte bei der Erinnerung. „Sie hat mir mein Blut vom Finger geleckt. Und als ich ihr dann in die Augen geschaut habe, war es um mich geschehen.“ Sie errötete. Es war ihr ein wenig peinlich, so offen darüber zu sprechen, aber schließlich waren Idris und Luce erst seit ein paar Tagen zusammen und sie die einzige andere Hexe weit und breit, die ihm etwas aus eigener Erfahrung erzählen konnte.
„Lily und ich sind ein Herz und eine Seele, solange sie keinen Hunger hat. Wenn sie hungrig ist, kann sie ein kleines Biest sein. Wie ist das denn so mit Luce?“
Idris zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es noch nicht so genau. Wir kennen uns doch erst ein paar Tage. Papa hat mich vorgestern einfach ins Auto gesteckt und ist mit mir zum Drachenfelsen gefahren. Ich habe schon gedacht, dass er nicht alle Tassen im Schrank hat, bei der Hitze auf einem Felsen herumzuklettern. Aber auf der Fahrt hat er mir dann erklärt, dass wir einen Drachen für mich finden werden. Wir sind in der prallen Sonne hochgeklettert und er hat mir eine Schüssel mit Himbeeren und Heidelbeeren in die Hand gedrückt. Ich sollte still sein und warten, was passiert. Und dann kam Luce plötzlich angeflogen, hat sich eine Himbeere aus der Schale geschnappt und ist mir ins Gesicht geflogen. Die Schüssel ist mir aus der Hand gefallen, überall haben Beeren herumgelegen und Luce hat mich erst einmal total verwirrt angeguckt. Und dann hat er gefaucht und Papa meinte, dass ich Luce füttern soll. Und seitdem ist er bei mir.“
Luce saß mit geschlossenen Augen auf Idris Arm und schien zu dösen. Ab und zu zwinkerte er, öffnete ein Auge und schaute prüfend in den Himmel, an dem ein Greifvogel rüttelnd nach Beute Ausschau hielt.
„Opa Jo war ähnlich geheimnisvoll. Bei mir war es saukalt. Er hat mich mitten in die Pampa gelotst, an einen kleinen Teich im Wald. Und ich wollte Lily zuerst gar nicht.“ Maxi schaute Lily lächelnd an. Die kleine Waldschrätin knabberte mittlerweile an einem Würstchen herum, dass Maxi aus ihrem Rucksack gekramt hatte und hielt in der anderen Hand einen Schmetterling, der noch flatterte. Im Gegensatz zu dem Libellendrachen war sie ein kleines Raubtier, immer auf der Suche nach etwas Lebendigem.
„Luce und ich müssen uns erst noch richtig kennenlernen. Aber wir haben ja ewig Zeit dazu. Papa sagt, dass Libellendrachen so lange bei einem bleiben, bis man stirbt.“
Maxi nickte. „Ist bei Waldschraten genauso. Ob das bei den anderen Familiaren auch so funktioniert? Ich meine, wir Eichenlohes haben die Waldschrate, ihr de Grecis habt die Libellendrachen. Und die anderen Clans? Was haben die für Begleiter? Wichtel und Kobolde, von denen weiß ich sicher. Aber ob die so lange leben?“
„Ich glaube schon. Aber mir hat ja bisher keiner was gesagt. Es hieß immer, das lernst du dann, wenn es soweit ist. Na ja, jetzt ist es soweit und ich muss Papa mit Fragen löchern. Meine Oma, sie hat eine kleine Pixiefrau. Und Tante Iris aus Irland hat einen Leprechaun, den finde ich echt spannend.“
„Ach, sei es drum, Hauptsache, unseren beiden hier geht es gut. Luce wird sich bald richtig an dich gewöhnt haben und auf dich hören. Lily ist verdammt clever und es sollte mich echt wundern, wenn dein Drache nicht genauso auf Draht ist. Und das mit der Gedankenverbindung wird schon noch werden, das sagt jedenfalls Opa Jo. Bisher haben Lily und ich das auch noch nicht geschafft.“
„Ja, Papa sagte ebenfalls so etwas in der Richtung. Ich soll mir da keine Sorgen machen.“
Aus heiterem Himmel rauschten Schwingen und ein schrilles Quieken ertönte. Vollkommen verblüfft starrten Maxi und Idris einen Falken an, der seine Fänge um die zappelnde Lily gekrallt hatte. Sie schrie panisch und versuchte verzweifelt, sich aus dem festen Griff zu winden. Bevor der Falke mit seinem Schnabel zupacken konnte, stürzte sich ein fauchender Luce auf ihn. Er stieß eine kleine Flamme aus und griff ihn vehement mit seinen kurzen Krallen an. Der Falke kreischte durchdringend und flog mit Lily in seinen Fängen davon, gefolgt von einem völlig aufgebrachten Luce.
Idris und Maxi hatten dem ganzen Schauspiel verdattert zugeschaut.
Idris sprang auf. „Komm mit, wir müssen hinterher!“ Er packte Maxi am Arm und half ihr hoch. „Los, mach schon!“
„Ja, wohin denn? Der ist doch auf und davon! Ich werde Lily nie wiedersehen!“ Dem Mädchen stiegen Tränen in die Augen und es schluchzte.
„Mensch, komm einfach mit! Das war ein Falke. Und die brüten doch am Dom!“
Maxi schaute Idris mit tränenverschleierten Augen an und schniefte. „So etwas weißt du? Du bist echt ein Nerd.“
„Ja, ja, ich weiß. Aber jetzt komm endlich!“
Die beiden sprinteten los. Sie liefen den Zitadellenweg entlang, bis sie zur Windmühlenstraße gelangten, und von dort weiter bergab. Die Ampel beim Radhaus konnten sie grade noch rechtzeitig überqueren, ehe der Verkehr wieder einsetzte und sie wertvolle Minuten kostete.
„Der kürzeste Weg ist durch die Fußgängerzone, oder?“
Maxi nickte nur und rannte neben Idris her. Passanten schauten ihnen verwundert hinterher, als sie vorbeihasteten.
Nach wenigen Minuten hatten sie den Dom erreicht. Maxi beugte sich vornüber, der Schweiß lief ihr übers Gesicht. Auch Idris keuchte, auch wenn er etwas weniger außer Atem war.
„Und jetzt?“, fragte Maxi. Idris zeigte nach rechts oben zu einem der beiden spitz zulaufenden Seitentürme. „Da oben brütet ein Wanderfalkenpärchen. Das weiß ich von einer Domführung. Und da finden wir Lily und bestimmt auch Luce.“
„Wie sollen wir da denn hochkommen? Wir kommen in den Dom, aber da ist doch alles abgesperrt und bewacht.“
Idris zog eine Augenbraue hoch. „Bist du nun eine Hexe oder nicht?“
Maxi öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder.
Am Dom
Luce war verängstigt. Er hatte den Falken angegriffen, ohne nachzudenken, und war ihm einfach gefolgt. Und nun kauerte er in einer Fensternische und wurde vom heftigen Wind durchgerüttelt. Den Falken und seine Brut interessierte das allerdings wenig. Die hatten genug mit Lily zu tun, die zähnefletschend und knurrend zwischen den halbflüggen Falkenjungen kauerte und um sich biss, wenn ihr ein Schnabel zu nahe kam. Lilys Blick fiel auf Luce und sie schnatterte etwas. Luce blinzelte und fauchte zurück. Der Laut erregte die Aufmerksamkeit des Falkenweibchens, es drehte sich zu ihm um und kreischte durchdringend. Lily nutzte die Gelegenheit augenblicklich, krabbelte so schnell sie konnte aus dem Nest und hopste auf den steinernen Boden. Sie zwängte sich durch eine Lücke in der Bodenluke und war verschwunden. Luce stieß eine Flamme aus, der Falke zuckte zurück. Luce überlegte. Sollte er versuchen, Lily zu folgen und sich durch den schmalen Spalt zu quetschen oder sollte er fortfliegen und sie zurücklassen? Um ihr zu helfen, würde er Idris finden müssen. Unschlüssig fauchte er den Falken und seine Brut weiter an.