U.N.E.

 

U.N.E.

Der Funke der Rebellion

Von Michaela Harich

 

 

Garantiert glutenfrei und vegan.

 

1. Auflage, 2019

© Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr. 11, 72827 Wannweil

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Viktoria Lubomski

 

ISBN: 9783945814383

 

 

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Die Personen und die Handlung des Buches sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

 

 

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Ray Yannick Allgier

 

 

 

 

Mariella zuckte zusammen, als das schrille Klingeln der Schulglocke ertönte und das Ende des Unterrichts verkündete. Laute Geräusche ließen sie immer zusammenfahren, erschreckten sie, auch wenn es keinen Grund dafür gab. Wenige Augenblicke zuvor erst hatte ihr Geschichtslehrer davon erzählt, wie es zur Neubildung der Regierungen gekommen war und dass sie alle noch nie so sicher gewesen seien wie jetzt. Dass sie es geschafft hatten, Krieg, Verbrechen, Gewalt zu verbannen. Dass sie das Privileg besaßen, auf dem sichersten Kontinent der Welt zu leben, seit die Länder sich neuformiert hatten, als die Europäische Union zusammengebrochen war und Chaos drohte, die westliche Zivilisation zu zerrütten. Unter deutscher Führung hatte sich die U.N.E. geformt – die „United Nations of Europe“. Mariella rümpfte die Nase. Im Prinzip nichts anderes als die EU, wenn sie es richtig verstanden hatte, nur unter anderem Namen, dafür aber mit absoluter Überwachung.

Aus diesem Grund geschahen auch keine Gewaltverbrechen mehr. Wer sich nicht dem System fügte oder auffällig war, wurde entfernt. Was aber nur dazu beitrug, jeden Menschen gleichgestellt, gleichberechtigt und beschützt zu machen. Mariella zitterte, als sie auf die Uhr sah, während sie ihre Sachen zusammenpackte. Sie musste sich beeilen. Ihre Zeit war begrenzt, und wenn sie sich keinen Ärger einhandeln wollte, musste sie zusehen, dass sie zum Checkpoint kam. Sie sprang die Stufen der Treppe hinunter, nahm sich nicht die Zeit, um sich von ihren Freunden zu verabschieden – gut, wie auch? Ihr Zeitfenster ließ das einfach nicht zu – sie winkte ihnen lediglich zu, während diese zu ihren Klassenzimmern gingen. Sie selbst gehörte zu den wenigen, die heute früher gehen durften. Etwas, was Privileg und Strafe zugleich war, denn diese Art von freier Zeit konnte einen zu Dummheiten verleiten. Mariella biss sich auf die Lippe. Ihre Schwester war das beste Beispiel dafür.

Mit großen Schritten überquerte sie den großen Hof, passierte das Tor und suchte in ihrer Tasche nach ihrem Ausweis. Der Ausweis, der früher nur zu Identifikationszwecken gedient hatte, war schon lange mehr als das. Mariella dachte an ihre Großeltern, die ihr immer wieder erzählten, wie es früher gewesen war. Sah die Traurigkeit in den Augen ihrer Eltern, die sich auch noch an die Zeit vor dem Protokoll erinnerten. Doch sie alle hielten sich daran. Zumindest seit der Sache mit Elena.

»Mariella Vegaliante. Eingecheckt. Fünf Minuten bis zur Haltestelle DaVinci-Gymnasium.« Die computergenerierte Stimme knackte, verstummte. Mariella verzog das Gesicht. Fünf Minuten. Sie würde sich wieder einmal beeilen müssen. Doch die Konsequenzen der Nichteinhaltung der Zeitvorgabe waren zu schwerwiegend, als dass sie es riskieren konnte. Ihr Herz raste – es versetzte sie immer in eine seltsame Aufregung, fast schon Panik, wenn sie die Zeitvorgaben einzuhalten hatte. Nur zu Hause, in ihrem Zimmer, gestattete es sich Mariella, zur Ruhe zu kommen. Denn dort brauchte sie sich nirgends einzuchecken. Zuhause durfte sie sich nahezu frei fühlen. Als sie die Menschenmenge an der Haltestelle erblickte, stutzte sie. An anderen Tagen um diese Zeit standen nicht einmal halb so viele Personen dort. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Etwas stimmte nicht, da war sie sich sicher. Ein kurzer Blick auf ihre Uhr – sie lag gut in der Zeit – und Mariella ging langsamer, ihre Tasche fest an sich gedrückt. Sie durfte ihren Ausweis unter keinen Umständen verlieren, und wenn ihre Vermutung stimmte, dann befanden sich unter diesen Menschen auch Aufständische. Wenn denen ihr Ausweis in die Hände fiel, war sie erledigt. Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch etwas, ein feiner Schweißfilm bildete sich auf ihrer Stirn. Mariella trat an den Checkpoint der Haltestelle, ihr blieben nur noch Sekunden. Die Blicke einiger Menschen im Rücken spürend, zog sie ihren Ausweis hervor und checkte sich ein.

»Mariella Vegaliante. Eingecheckt. Fahrterlaubnis: drei Haltestellen, dreiundzwanzig Minuten. Zielhaltestelle: Engelsburg. Ankunft der Linie 4: acht Minuten.« Die Computerstimme kam Mariella unangenehm laut vor. Sie hatte das Gefühl, als hätten um sie herum mit einem Mal alle die Ohren gespitzt, als würde man sie nun erst recht beobachten. Vorsichtig verstaute sie den Ausweis wieder – ihre Schuluniform hatte dafür keine Tasche vorgesehen – und entfernte sich von den anderen. Sie wollte im Falle eines Aufstandes nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Die Tasche an die Brust gedrückt, den Blick gesenkt, wartete sie auf die Straßenbahn, das einzige, öffentliche Verkehrsmittel, das man ohne großen Antrag nutzen durfte.

Acht Minuten. Sie stieß zitternd den Atem aus. Das ungute Gefühl ließ ihre Gedanken verrücktspielen. Die unterschiedlichsten Szenarien liefen in ihrem Kopf ab, eines schlimmer als das andere. Ein großgewachsener Mann mit Haaren, so blond, dass sie glaubte, die Sonne selbst würde aus ihnen leuchten, ging an ihr vorbei, hinüber zum Checkpoint. Neugierig und auch dankbar über die Ablenkung beobachtete Mariella ihn, wobei sie sich ein wenig schämte. Nun war sie nicht besser als die anderen um sie herum, die sie beobachtet hatten. Doch dieser Mann hatte etwas an sich, was sie unweigerlich anzog. Sein Gesicht kam ihr bekannt vor, Mariella konnte nur nicht sagen, woher. Sie verengte die Augen, musterte ihn. Die Härte, die er ausstrahlte, stand im Gegensatz zu der Lässigkeit, mit der er sich bewegte. Selbstsicher, beinahe schon arrogant, als wäre er sich seiner Wirkung auf andere bewusst, bewegte er sich etwas vom Checkpoint weg. Mariella zog unwillkürlich den Kopf ein, wollte ihm nicht auffallen, denn das Protokoll war streng. Wollten zwei Menschen eine Partnerschaft eingehen, musste auch das der Regierung gemeldet werden, die dann prüfte, ob alle Faktoren zusammenpassten. So sollte gewährleistet werden, dass das Beste aus allen Genen und Generationen herausgeholt wurde. Manchmal, in Momenten wie diesen, sehnte sich Mariella nach der Zeit, von der ihre Großmutter ihr erzählt hatte. Als die Menschen sich noch frei verlieben, ihren Partner unabhängig von jeglichen Bestimmungen wählen und diesen nach Belieben wechseln konnten. Sie wagte nicht einmal, sich diese Freiheit zu wünschen. Die Angst davor, was geschah, wenn sie sich gegen das Protokoll wehrte und damit ihren Eltern großen Kummer bereiten würde, war zu groß, die Versuchung, sich diesem Wunsch zu verschreiben, zu mächtig. Sie warf einen Blick auf die Uhr, musste sich einfach mit Belanglosigkeiten ablenken. Der gutaussehende Fremde brachte sie zu sehr durcheinander, ließ sie Dinge fühlen, die sie nicht fühlen wollte, und weckte Sehnsüchte, die sie sich selbst verbat.

Vier Minuten noch. Mariellas Herz wurde schwer. Vier Minuten konnten eine verdammt lange Zeit sein. Erneut huschte ihr Blick hinüber. Der blonde Fremde schien sich bewusst zu sein, dass er Aufmerksamkeit auf sich zog, doch es schien ihn im gleichen Maß nicht zu interessieren. Es faszinierte sie. In Zeiten, in denen jeder strengster Beobachtung unterstand, schien er sich als einer der wenigen völlig selbstsicher durch die Welt zu bewegen, als wäre die Überwachung nichts, wovor man sich fürchten musste. Mariella runzelte die Stirn. Dass er sich nicht fürchtete, konnte nur bedeuten, dass er zur Regierung gehörte. Für einen Protokollbeamten erschien er ihr zu locker, für ein Regimemitglied zu lässig, und für einen Soldaten war er zu sehr im Stil der zivilen Bevölkerung gekleidet. Was also war er? Doch ihre Überlegungen wurden vom lauten Tröten der Straßenbahn unterbrochen, die soeben einfuhr. Pünktlich, wie Mariella feststellte. Wie alles in ihrem Land. Wie alles in der U.N.E.. Ihr Blick wanderte über die vielen Menschen, die in die Bahn strömten, und erneut überkam sie die Angst, ließ ihr Herz schneller schlagen. Niemand drängelte. Niemand drückte sich rücksichtlos in die Bahn – auch wenn das Zeitfenster zum nächsten Checkpoint kleiner war, als man wollte. Jeder von ihnen befürchtete zu sehr, gegen eine Regel des Protokolls zu verstoßen. Nur Aufständische, Aussätzige ohne Ausweis, hatten nichts zu befürchten. Als eine der letzten stieg sie schließlich ein. Sie drückte sich eng an eine der Haltestangen, die Tasche immer noch fest umklammert. Plätze gab es keine mehr. Die waren den ältesten vorbehalten, denn erst, wenn diese saßen, durften die jüngeren sich hinsetzen. Respekt vor dem Alter, nannte es das Protokoll. Und auch wenn mehr Menschen als sonst in die Bahn gestiegen waren, war sie eine der wenigen, die keinen Platz gefunden hatte.

Dreiundzwanzig Minuten. Es durfte einfach nichts passieren, solange sie noch in der Bahn war. Das konnte ja wohl nicht allzu schwer sein.

Plötzlich stieß jemand gegen sie. Mariella taumelte. Gerade, als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden zu haben schien, stieß erneut jemand gegen sie. Dieses Mal stolperte sie, fiel zu Boden. Der Aufprall tat weh. Ihre Hüfte schmerzte. Mariella blinzelte, als vor ihrem Gesicht eine Hand erschien.

»Hast du dir etwas getan? Komm, ich helfe dir.«

Sie sah auf. Der Fremde streckte ihr die Hand entgegen. Ihr Herzschlag dröhnte in den Ohren, als sie sich aufhelfen ließ. »Danke«, hauchte sie. Sittsam den Blick gesenkt, suchte sie nach ihrer Tasche, die sie bei ihrem Sturz losgelassen hatte. Wenige Meter entfernt von ihr lag sie auf dem Boden, der Überschlag war offen. Mariella unterdrückte einen Fluch. Als genau in diesem Moment jemand die Tasche aufhob, glaubte sie, ihr schlimmster Albtraum würde wahr werden. Sie nahm all ihren Mut zusammen. »Könnte ich bitte meine Tasche zurückhaben?« Ihre Stimme zitterte. Die Worte wollten nur schwer über ihre Lippen kommen. Der junge Mann, der sie aufgehoben hatte, starrte ihr ins Gesicht, den Mund zu einem unverschämten Lächeln verzogen. Mariella knabberte an der Unterlippe.

»Sie haben die junge Frau gehört! Geben Sie die Tasche her«, befahl der Fremde mit unerbittlicher Stimme. Plötzlich wurden sie beide umgeworfen. Mariella taumelte gegen einen anderen Mann, der sie von sich stieß. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke fiel sie zu Boden. Panik breitete sich in ihr aus. Aufständische. Jetzt war sie sich absolut sicher. Sie betete, dass er ihren Ausweis nicht fand. Ein Klicken ertönte. Ein Raunen ging durch die Menge. Mariella wandte den Kopf. Der Fremde hatte eine Waffe gezückt und hielt sie auf den Aufständischen gerichtet. »Gib die Tasche zurück. Sofort.«

Der Mann warf ihre Tasche zu Boden, schob sie mit dem Fuß schwungvoll in Mariellas Richtung. Sie glaubte, in seinen Augen etwas zu erkennen, das ihr einen Schauder über den Rücken jagte. Ein wütendes Gemurmel, wie das wilde Brummen eines Bienenschwarmes, erhob sich. Mariella griff mit zitternden Händen nach ihrer Tasche und rappelte sich auf. Instinktiv suchte sie die Nähe des Fremden, dessen Waffe noch immer auf den Aufständischen gerichtet war.

»Jetzt beruhigen wir uns alle wieder.« Sein Tonfall widersprach dem Ausdruck in seinen Augen. Die Waffe noch immer auf den Mann gerichtet, neigte er den Kopf und sprach in einen Knopf am Revers seiner Jacke. »Hier Dominic Bianchi. Ich benötige Verstärkung. Eine große Gruppe Aufständischer befindet sich in Linie 4. Wir erreichen demnächst die Haltestelle Engelsburg.«

Ein leises Knacken ertönte. Doch Mariella war nah genug, um das mechanisch verzerrte »Verstanden« zu hören. Dominic Bianchi. Sie hätte es sich denken können. Der Name war in aller Munde. Bianchi war der berüchtigtste Kopfgeldjäger des Regimes. Kein Wunder, dass er sich so selbstsicher bewegte. Er hatte nun wirklich nichts zu befürchten.

»Bianchi!« Es klang wie ein Fluch. Gänsehaut überzog ihren Körper. Das wütende Brummen wurde lauter. »Bianchi hat er gesagt.«

Mariella drückte sich enger an Dominic. Wenn sie jemand beschützen konnte, dann er. Seine Kampfkünste waren legendär. Die Aufständischen schienen sich von der Waffe nicht beeindrucken zu lassen. Sie kamen näher, blanker Hass blitzte in ihren Augen. Vielleicht war es doch nicht so klug, so nah bei Dominic zu stehen, überlegte sich Mariella. Doch es war zu spät. Sie waren eingekreist. Dominic stieß sie zur Seite, als sich der erste auf ihn stürzte. Schlag um Schlag – Mariella schloss die Augen, es reichte ihr, den Kampf zu hören. Erinnerungen drängten sich mit aller Macht auf. Bilder, die sie längst vergessen geglaubt hatte.

»Geh in Deckung, Mädchen!«

Mariella riss die Augen auf. Dominics harscher Befehl war wie eine kalte Dusche. Sie drückte sich weiter von ihm weg – und fand sich Aufständischen gegenüber, die sie mit Blicken taxierten, die ihre Panik verstärkten.

Ein Schuss ertönte. Eine Scheibe zersprang. Eine Frau schrie. Es dauerte einen Herzschlag, bis Mariella begriff, dass sie es war, die schrie. Sie zitterte, als sie das Blut sah, das die Wände der Bahn bedeckte. Dominic hatte auf einen der Aufständischen geschossen.

Und genau in diesem Moment brach die Hölle los.

Blaulicht, Sirenen, Soldaten – Mariella hielt den Atem an. Die Aufständischen schrien, schlugen die Scheiben ein. Sie versuchten zu entkommen. Dominic schoss noch einmal, dieses Mal in die Luft.

»Keiner verlässt die Bahn. Der Wagon ist umstellt. Halten Sie Ihre Ausweise bereit.« Seine Stimme war laut, übertönte das Geschrei und die Sirenen. Mariella stieß zitternd den Atem aus. Dominic ergriff ihren Arm, seine Berührung war sanft, warm. »Ich nehme dich mit, Mädchen. Du siehst aus, als würdest du jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Wo musst du denn hin?«

»Ich -« Mariella räusperte sich. »Ich muss in die Lungotevere Castello.«

Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Wusste er, wer sie war? Wer ihre Schwester war?

»Nun, dann bringe ich dich zum Checkpoint. Von dort aus sollte dir keine Gefahr mehr drohen.« Seine Stimme hatte den warmen Klang verloren. Mariella spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Die Türen schwangen auf, Soldaten stürmten in den Wagon, nickten Dominic zu. Dieser warf Mariella einen auffordernden Blick zu. Er wollte gehen und sie loswerden. Immer noch zitternd folgte sie ihm aus der Bahn und hinüber zu einem schwarzen Mercedes Benz. Sie stieg ein, die Tasche wieder fest an die Brust gedrückt. Seine ablehnende Haltung, die Kälte in seiner Stimme – sie verstärkten ihre Nervosität. Angespannt starrte sie aus dem Fenster, sah, wie die Soldaten die Aufständischen festnahmen, die sich mit aller Macht zur Wehr setzten. Mariella hatte das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte. Aufständische waren normalerweise vorsichtiger. Zeigten sich nicht in so großen Gruppen. Und ergriffen meistens die Flucht, anstatt zu kämpfen.

»Mädchen, wir sind gleich am Checkpoint. Dann hast du nichts mehr zu befürchten und kannst in dein großes Haus zurückkehren.« Hörte sie da etwa Neid aus seiner Stimme? Ja, die Bewohner der Lungotevere Castello lebten in großen, herrschaftlichen Häusern. Allerdings hatten sie sich nach der Umverteilung und Gleichstellungssozialisierung diese Häuser schwer erarbeitet, und Mariellas Eltern hatten alles daran gesetzt, das Heim der Familie zu bewahren. Ihr Vater hatte stets betont, dass sich der Urgroßvater aus dem Grab erheben würde, wenn er bei der Umverteilung das Haus nicht behalten konnte. So hatten sie als eine der wenigen besser gestellten Familien ihr Heim nicht abgeben und verlassen müssen. Als hochrangiges Mitglied des Amtes für innere Staatssicherheit und Sozialisierung, die hauptsächlich daran beteiligt waren, die Vermögensgleichheit herzustellen, sollte Dominic Bianchi das doch wissen. Zumindest hatte ihr Vater das stets betont. Von der Engelsburg zum Checkpoint war es nicht weit, weshalb Mariella nicht überrascht war, dass das Auto nach kurzer Zeit hielt. Der Fahrer öffnete die Tür. Unschlüssig wusste sie für einen Moment nicht, was sie tun sollte. Dann erinnerte sie sich wieder an das Protokoll und bedankte sich artig, bevor sie ausstieg. Insgeheim hoffte sie, dabei möglichst anmutig auszusehen, wobei wohl eher das Gegenteil der Fall war, so nervös wie sie war. Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, hielt den Kopf gesenkt – er musste ja nicht sehen, wie lächerlich sie aussah, wenn sie errötete – und eilte auf den Checkpoint zu. Ihr Blick glitt dabei wie so oft über den nackten, schmucklosen Bungalow mit den vergitterten Fenstern. Checkpoints wie dieser waren mehr eine Art Wachhäuschen. Sie besaßen eigene Zellen und ein großes Aufgebot an Soldaten. Und seit der Sache mit ihrer Schwester fühlte sie sich in der Nähe dieser Checkpoints stets, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Mit einer Hand in der Tasche kramend, näherte sie sich den Kontrolleuren und lächelte zaghaft. Die Spiegelung im Fenster des Häuschens zeigte ihr, dass der Mercedes Benz, in dem sie hierhergekommen war, noch immer an Ort und Stelle verweilte. Mit Dominic Bianchi darin. Mariella schluckte.

»Ausweis!«, verlangte der Kontrolleur vor ihr mit harscher Stimme. Mariella warf ihm einen kurzen Blick zu und hätte beinahe die Stirn gerunzelt. Es war der Kontrolleur, der jeden Morgen ein fröhliches Liedchen pfiff, wenn er sich unbeobachtet fühlte, und stets freundlich lächelte. Jetzt allerdings sah er aus, als hätte man ihm Pferdemist unter die Nase gerieben. Hielt er sie für eine der Aufständischen aus der Bahn? Er hatte doch erst heute Morgen ihren Ausweis kontrolliert! Mariella zwang sich, gleichmäßig zu atmen, versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen, während sie noch immer nach ihrem Ausweis suchte.

»Ausweis!« Dieses Mal klang er noch unfreundlicher und ungeduldiger.

»Ich -« Sie stockte. »Ich hab ihn gleich. Einen Moment bitte.«

»Sie wissen, dass Sie den Ausweis bereithalten müssen, sobald Sie sich einem Checkpoint nähern. Das bedeutet einen Verstoß gegen das Protokoll. Zeigen Sie mir augenblicklich Ihren Ausweis, oder ich lasse Sie festnehmen!«

Mariella schluckte trocken. Ihr schlimmster Albtraum schien wahr zu werden. »Ich habe ihn gleich. Bitte haben Sie einen Mom-«

»Mädchen, was glaubst du denn, was das hier ist?« In seiner Wut schien er die Regeln des Protokolls vergessen, denn er duzte sie. Seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck, als er wie schon Dominic zuvor in ein Mikrofon an seinem Hemdkragen sprach. »Ich habe hier eine Person ohne Identität. Ich wiederhole: Person ohne Identität.«

»Ich habe eine Identität! Fragen Sie meine Eltern. Fragen Sie Dominic Bianchi!« Mariella kippte kurzerhand ihre Tasche aus, der Inhalt verteilte sich auf dem Boden. Dieser verdammte Ausweis musste hier doch irgendwo sein. »Ich habe – die Aufständischen aus der Bahn! Einer von ihnen muss meinen Ausweis gestohlen haben, Sie müssen mir glauben!« Ihr Blick huschte hinüber zum Mercedes. Doch bevor sie etwas sagen oder reagieren konnte, packten sie zwei Soldaten an den Armen. »Was? Nein! Lasst mich … bitte, bitte lasst mich! Ich bin keine Aufständische!« Mariellas Stimme kippte. Sie kämpfte den Drang nieder, sich zu wehren, doch damit würde sie alles nur schlimmer machen. Ihr kamen die Tränen. Bemüht, stark zu bleiben, schluckte sie sie hinunter. Jedes Zeichen der Schwäche würden sie ihr als Schuldgeständnis auslegen, da war sich Mariella sicher. Ein letzter Blick auf ihre Sachen, dann fiel die Sicherheitstür ins Schloss, und Mariellas Herz drohte stehenzubleiben. Die Soldaten führten sie an den Zellen vorbei durch einen kalten Korridor. Schließlich blieben sie vor der letzten Tür des Ganges stehen. Rücksichtslos wurde sie hineingestoßen.

 

 

Mariella fröstelte. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit man sie hier in dieser Zelle zurückgelassen hatte, aber es war lange genug gewesen, um sich die schlimmsten Szenarien auszumalen. Der nackte Beton in ihrem Rücken ließ sie schaudern. Obwohl die Sonne Italiens ihr Bestes gab, schien sie diese Mauern nicht erwärmen zu können. Mariella rieb sich die Arme. Die Stimmen aus den anderen Zellen zerrten an ihren Nerven, und sie hoffte, ihre Eltern würden sie hier rausholen. Doch dafür müsste schon ein Wunder geschehen. Sie kannte das Protokoll, sie kannte die Gesetze. Ohne Ausweis galt man als Aufständischer, ein Feind des Regimes. Nur die Begnadigung durch die Präsidentin würde sie retten können, doch seit der Gründung der U.N.E. war es nicht einmal vorgekommen, dass Präsidentin Ziegler jemanden begnadigt hatte. Mariella kauerte sich zusammen, formte sich zu einer Kugel. Sie erinnerte sich daran, dass ihre Schwester ihr dazu geraten hatte, als das Heizöl knapp und ihr Vater damit beschäftigt war, sich zurück an die Spitze des Familienunternehmens zu arbeiten. Die Umverteilung des Vermögens, das Gleichstellungsgesetz, hatte vor allem die Reichen und Mächtigen getroffen, und ihr Großvater war noch immer nicht darüber hinweg. Damals war alles besser gewesen – für ihre Familie.

Ein Schrei ertönte. Mariella drückte sich enger an die Wand. Was auch immer hier vorging, sie wollte es nicht wissen. Furcht hatte sich in ihrem Herzen festgesetzt. Sie wollte nach Hause. Sie wollte diesen Tag vergessen. Und doch wusste sie, dass es nichts gab, was sie all das vergessen lassen könnte. Mariella zog die Schultern hoch. Die Kälte der Mauern, die seltsame Beschaffenheit des Bungalows – sie wollte nur noch aus diesem Albtraum erwachen. Was würde ihre Schwester tun? Was würde Elena machen? Mariella schnaubte. Elena würde kämpfen. Elena würde einen Ausweg suchen – und finden. Elena würde nicht weinen, würde sich nicht fürchten. Mit steifen Gliedern richtete sie sich auf. Sollte sie diesen Weg beschreiten? Ihrer Schwester folgen? Ein plötzlicher Aufruhr ließ sie zusammenzucken, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie spitzte die Ohren, wagte nicht, sich der Zellentür zu nähern. Die Angst, erneut in etwas hineingezogen zu werden, war zu groß. Vielleicht würde man sie nicht ganz so hart behandeln, wenn sie kooperativ war.

Feigling!

Mariella schüttelte den Kopf. Jetzt bildete sie sich in ihrer Panik schon ein, die Stimme ihrer Schwester zu hören. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken und sich wundern konnte, ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Die Wände wackelten. Staub rieselte auf sie herab. Schreie drangen zu ihr durch. Stimmen schrien durcheinander. Schüsse knallten.

»Hier ist auch noch eine. Los, holt sie raus.« Die Stimme war nah, als befände sich der Sprecher vor ihrer Tür. »Die sieht ja völlig verängstigt aus! Die Schweine! Was haben sie ihr nur angetan?« Licht fiel herein, als die Tür geöffnet wurde. Mariella blinzelte, bedeckte ihre Augen. Ein großer Mann kam auf sie zu, die Hände beschwichtigend vor sich haltend. »Keine Angst, ich tu dir nichts. Du bist jetzt in Sicherheit.« Er ging vor ihr in die Hocke. »Fürchte dich nicht. Wir sind nicht deine Feinde.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Mariella zögerte. Blinzelte. Der Mann erinnerte sie an ihren Vater. An ihren Vater aus sorglosen Tagen. Aus Tagen, an denen er mit ihr und ihrer Schwester gespielt und gelacht hatte. Er schien geduldig zu warten, seine Augen strahlten eine Wärme und ein Verständnis aus, die im Gegensatz zur Hektik auf dem Gang stand. Wenn sie seine Hand ergriff und mit ihm ging, dann gab es kein Zurück mehr. Dann war sie eine von ihnen. Eine Aufständische.

Ein Schuss. Ein Schrei.

Mariella griff nach der Hand, ließ sich auf die Füße ziehen und folgte dem Mann. Sie rannten durch den Korridor, sprangen über die Trümmer von Zellentüren, über stöhnende Körper, die sich vor Schmerzen wanden. Blut, so viel Blut. Und Staub. Mariella war sich sicher, dieses Bild nie wieder vergessen zu können.

»Komm. Sie dürfen uns nicht erwischen. Beeil dich.« Er ließ ihre Hand nicht los, zog sie mit sich. »Sind sie abgelenkt?«, fragte er einen jungen Mann, dem Schweiß und dünne Rinnsale aus Blut über das Gesicht strömten und der auf sie gewartet zu haben schien. Er hatte sich an einem Loch in der Wand abgestützt, das wohl auch der Eingang der Aufständischen gewesen war.

»Ja. Die meisten der Wachen hier sind an der Engelskirche. Die anderen suchen gerade die anderen Sprengladungen, von denen wir ihnen erzählt haben. Ramos hat sich bereit erklärt, sich gefangen nehmen zu lassen. Er hat die Schlüssel zu den unteren Zellen.« Sein Blick glitt über sie. »Er hat Ibuprofen Forte Extrazu sich genommen, er wird also nichts spüren.«

»Gut. Ich verstehe immer noch nicht, warum sie die Zellen im Erdgeschoss haben, aber vielleicht glauben sie, so würde man sich weniger trauen, die Insassen zu befreien. Idioten.« Er lächelte Mariella an. »Du siehst verwirrt aus. Keine Sorge, wir erklären dir alles. Nun komm. Bevor sie entdecken, dass es keine weiteren Bomben gibt.« Zu dritt kletterten sie aus dem Loch, schlichen aus dem Wachhäuschen, hinüber zur Mauer. Ihr Befreier schien an der Mauer etwas zu suchen, und Mariella versuchte neugierig herauszufinden, was es war. Doch was immer er suchte, es blieb ihr verborgen. Die Mauer war gepflegt, der Rasen getrimmt – was also war es, was er suchte?

»Ah, hier ist es.« Der ältere Mann kniete sich hin, sah sich um. Kein Soldat war ihnen gefolgt. Kein Passant schenkte ihnen Aufmerksamkeit. Was immer im Wachhäuschen vorging, hatte dafür gesorgt, dass alle so schnell wie möglich in den Häusern verschwunden waren. Mariella kniete sich ebenfalls hin, musterte den Boden, an dem der Mann herumnestelte. Das Stück Rasen löste sich unter seinen Fingern. Wie ein Pflaster zog er es ab, und eine Falltür kam zum Vorschein. »Nach euch. Jemand muss das hier ja wieder verdecken.« Er lachte.

Mariella schluckte, kletterte aber als erste durch die Öffnung, hinab in die Dunkelheit. Der junge Mann folgte ihr. Ihr Herz überschlug sich beinahe, doch sie bemühte sich, sich nicht von ihrer Angst überwältigen zu lassen. Mit Bedacht kletterte sie die Leiter hinunter, ertastete vorsichtig Sprosse für Sprosse. Über sich konnte sie den jungen Mann schnauben hören.

»Lass gut sein, Giovanni. Sie benutzt diese Leiter zum ersten Mal und ist völlig verängstigt. Wer weiß, was sie durchgemacht hat.« Der ältere Mann klang streng. Sie sah, wie er den Rasen wieder über die Öffnung legte und die Falltüren schloss, deren Flügel nach innen aufgegangen war. Mit einem Mal verstand Mariella, wie die Aufständischen so schnell an einem Ort auftauchen konnten, ohne durch die Checkpoints gehen zu müssen und aufzufliegen. Wahrscheinlich war diese Art von Türen über die ganze Stadt verteilt. Gegen ihren Willen war Mariella beeindruckt. Sie spürte Boden unter ihren Füßen und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung fallen. Zwar wurden sie noch immer von der Dunkelheit verschluckt, allerdings fühlte sie sich nun sicherer, weit weg von den Soldaten. Der junge Mann, Giovanni, pfiff. Es klang wie eine Melodie, schien aber ein spezielles Erkennungszeichen zu sein, denn kurze Zeit später flammten Lampen auf. Halogenlampen, wie sie verblüfft feststellte. Diese Lampen galten schon lange als verboten, weil sie nicht den Umweltbestimmungen entsprachen, die die U.N.E. erlassen hatte. Immer noch etwas außer Atem und fasziniert von dem weißen Licht der Halogenleuchten musste sie an ein weiteres Thema denken, das sie erst vor wenigen Tagen wieder im Geschichtsunterricht behandelt hatte: Wegen der verschärften Umweltgesetze der U.N.E. war es damals zu einem verheerenden Krieg mit China gekommen, wobei die Umweltbestimmungen nicht allein ausschlaggebend gewesen waren. Mariella erinnerte sich an die Gerüchte, dass auch der Herrschaftsanspruch der U.N.E. über alle europäischen Nationen ein Grund gewesen sein sollte. Dass die Präsidentin des Parlaments die uneingeschränkte Macht hatte, Gesetze erlassen konnte und die Regierungen der anderen Nationen nur noch zum Schein existierten. Andere Länder wie Amerika und Russland hatten das nicht unbedingt mit großer Begeisterung aufgenommen, aber sie alle hatten zu viel Angst vor einem Embargo gehabt. Naja, alle bis auf China. Produkte aus diesem Land waren verboten, galten als minderwertig und schädigend für Mensch, Tier, Land …

»Was ist? Willst du hier Wurzeln schlagen?«, fuhr Giovanni sie an. Beschämt bemerkte sie, dass die beiden Männer offensichtlich nur auf sie gewartet hatten und bereit waren, tiefer in die Tunnel vorzudringen.

»Tut mir leid«, murmelte sie und setzte sich mit ihnen in Bewegung. Giovanni und ihr Befreier redeten in einer ihr fremden Sprache miteinander, und sie wurde das Gefühl nicht los, dass Giovanni über sie sprach. Der Weg durch den Tunnel schien ihr ewig vorzukommen, sie konnte sich beim besten Willen nicht merken, wann sie in welche Richtung abbogen, und langsam spürte sie, wie Müdigkeit sie übermannte. Der heutige Tag, auch wenn er noch nicht vorbei war, war doch etwas viel für sie gewesen. Mariella gab in einem Moment der Schwäche nach, lehnte sich gegen die kühle Wand des Tunnels und schloss die Augen. Sie würde sich nur ganz kurz ausruhen, sagte sie sich. Nur ganz kurz rasten, um wieder zu Kräften zu kommen.

Plötzlich verlor sie den festen Boden unter ihren Füßen. Jemand hob sie in die Luft. Starke Arme hatten sich um sie geschlungen, trugen sie.

»Die Ärmste ist völlig erschöpft. Ich möchte nicht wissen, was sie durchlitten hat. So verängstigt wie sie war, als ich sie in ihrer Zelle gefunden habe.« Die Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen. Mariella kuschelte sich in die fremden Arme, fühlte sich geborgen und sicher.

»Bist du dir sicher, dass sie nicht eine Spionin ist? Eine verdammt gute Schauspielerin?« Die Brust, an der sie lag, vibrierte. Mariella seufzte. Es fühlte sich gut an.

»Ja. Ich habe sie wiedererkannt. Sie würden niemals sie als Spionin auswählen. Niemals, das kannst du mir glauben.«

Das Schaukeln hörte auf. Wer immer sie auf den Armen getragen hatte, setzte sie ab. Mariella spürte, wie sie von weichen Kissen umfangen wurde. Sie kuschelte sich ein, vermisste allerdings die Wärme und Geborgenheit. Mit einem Seufzer glitt sie in einen tiefen Schlaf.

 

***

 

Ein Knall. Mariella fuhr senkrecht aus dem Schlaf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Verwirrt sah sie sich um. Sanftes Kerzenlicht erhellte den Raum, der an eine Höhle erinnerte. Flauschige Teppiche lagen auf den Boden, weiche Kissen waren darauf verteilt. Neugierig wanderte ihr Blick umher. Sie lag auf einem Bett, die Matratze war weich und nachgiebig. Ein fremdartiger, süßer Duft lag in der Luft. Bücher und Stifte, Papier und Farben lagen verteilt auf einem großen Schreibtisch.

»Wo … wo bin ich?«, fragte sie, in der Hoffnung, nicht allein zu sein. Sicher war jemand bei ihr gewesen und hatte über sie gewacht – oder auf sie aufgepasst.

»In meinem Zimmer.« Diese Stimme – Giovanni, das musste Giovanni sein. Mariella fuhr sich reflexhaft durch die Haare, in dem hoffnungslosen Versuch, sie zu glätten. Sie wusste genau, was im Schlaf mit ihren Haaren geschah. Sobald sie aufwachte, sah sie aus, als hätte sie ein Vogelnest aus schwarzen Locken auf ihrem Kopf. »Du bist also endlich aufgewacht, ja? Wurde auch Zeit. Sie warten auf dich.«

»Sie?« Mariella rieb sich die Augen. Sie war noch in ihre Schuluniform gekleidet, wie sie mit einem kurzen Blick feststellte. Das ersparte ihr zumindest eine Peinlichkeit. Schwungvoll wollte sie aufstehen, doch die weiche Matratze gab nach, und sie sank noch tiefer. Giovanni grunzte ungeduldig, schien wie aus dem Nichts plötzlich vor ihr zu stehen – sie war sicher, dass er eben noch auf einem Stuhl in der Ecke gesessen hatte – und zog sie auf die Beine.

»Kannst du auch etwas allein, oder brauchst du für alles einen Babysitter?«, grummelte er. Mariella spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg, und sie errötete. Sie befand sich genau auf Höhe seiner Brust. Die Erinnerung, wie sie wenige Stunden zuvor an eben dieser Brust gelegen und die Wärme, die von ihr ausging, und den beruhigenden Herzschlag genossen hatte, ließen sie noch mehr erröten. Sehnlichst wünschte sie sich, der Boden würde sich auftun und sie verschlingen.

»Bist du fertig? Haben wir es endlich? Können wir los?« Er schien es kaum erwarten zu können, sie loszuwerden. »Sie warten immer noch auf dich. Und auch ich bin gespannt, wer du wirklich bist und was du in dieser Zelle zu suchen hattest.« Er packte sie am Arm, als Mariella keine Anstalten machte, ihm zu folgen, und zog sie mit sich.

»Du bist echt unmöglich.« Die Abneigung in Giovannis Stimme war nur zu deutlich zu hören.

Wieder ging es durch Gänge und Tunnel. Mariella schwirrte der Kopf. Sie würde niemals wieder aus eigener Kraft hinausfinden. Wenn sie es versuchte, würde sie sich verlaufen und in den Tiefen dieses Systems zugrunde gehen, da war sie sich sicher.

»Wo gehen wir hin? Was ist das alles?«, wollte sie wissen, um sich abzulenken. Doch Giovanni schien nicht bereit zu sein, sich auf ihr Spielchen einzulassen.

»Das wirst du noch früh genug erfahren«, lautete seine knappe Antwort. Er klang dabei so abweisend, dass Mariella wohlweislich den Mund hielt, um ihn nicht noch weiter zu verärgern. Vor einer runden Holztür blieben sie stehen. Giovanni bedachte sie mit einem knappen Blick, bevor er die Hand hob und klopfte. Die Tür schwang kurz darauf auf, und er zog sie mit sich hinein. »Ich bin echt gespannt, was du zu sagen hast.«

Mariella schluckte, riss sich los. Ihr Blick wanderte über einen großen, langen Tisch, an dem mehrere Männer und Frauen saßen. Alle Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet. Ihr Herzschlag beschleunigte sich erneut. Nervös griff sie nach ihrem Rocksaum und zwirbelte ihn.

»Mariella, hab keine Angst. Es wird dir nichts passieren.« Sie kannte diese Stimme, auch wenn es schon lange her war, dass Mariella sie das letzte Mal gehört hatte. Sie schien amüsiert und doch zugleich besorgt zu sein.

Mariella erstarrte. »Elena?«

 

 

»Was machst du hier?« Fassungslos starrte Mariella ihre Schwester an.

»Das gleiche wie du, Schwesterherz. Wir sind nun beide Aufständische.« Elena verließ ihren Platz am Tisch und kam auf sie zu. »Es tut gut, dich wiederzusehen. Es ist so lange her.«

»Ja, es ist furchtbar lange her, seit du deinen Ausweis verbrannt und Papa fast in den Ruin getrieben hast!« Mariella schüttelte den Kopf. Plötzlich ihrer Schwester gegenüberzustehen, war zu viel für sie. Endete denn dieser Albtraum niemals? »Ich verstehe das alles nicht! Was ist das hier? Warum bin ich hier?« Sie schluckte die Tränen hinunter.

»Ach, Mariella. Du hast keine andere Wahl. Dein Ausweis ist verschwunden, du kannst nirgends mehr hingehen.« Elena stand nun genau vor ihr und schloss sie in die Arme. »Du bist hier in Sicherheit. Aber du musst uns einige Fragen beantworten. Wir müssen sicher sein, dass du nicht doch für die andere Seite arbeitest.«

»Ich … ich bin kein Spion! Ich will -« Mariella schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn auszusprechen, was in ihr vorging. Sie wollte nicht hier sein. Sie wollte keine Aufständische sein. Sie wollte einfach nur nach Hause.