Über Henry James

Henry James (18431916) war ein Amerikaner, den es immer wieder nach Europa zog. Die meiste Zeit seines Lebens bereiste er deshalb die Alte Welt, wo er mit allen großen Schriftstellern befreundet war, etwa mit Maupassant, Stevenson oder Turgenjew. Und er wurde selbst einer der ganz Großen der Literatur, ein Meister des psychologischen Erzählens, der zwanzig Romane und über hundert Erzählungen verfasste. 1915, ein Jahr vor seinem Tod, ließ er seine Heimat auch amtlich hinter sich, als er die britische Staatsangehörigkeit annahm. Während James im angelsächsischen Sprachraum, gleich ob diesseits oder jenseits des Atlantiks, geradezu kultisch verehrt wird, dürfte sein Ruhm sich hierzulande noch mehren.

»Ich räume – im Hinblick auf Griffins Geist oder was immer es war – durchaus ein, dass die Tatsache, dass er zunächst dem kleinen Jungen erschien, einem Kind in so zartem Alter, der Geschichte einen besonderen Reiz verleiht. Aber es ist nicht die erste mir bekannte Begebenheit dieser übersinnlichen Art, von der ein Kind betroffen ist. Und wenn schon das eine Kind die Spannung in die Höhe schraubt, was sagen Sie dann erst zu zwei Kindern …?«

»Selbstverständlich sagen wir«, rief jemand, »dass zwei Kinder die Spannung doppelt erhöhen! Und außerdem, dass wir Ihre Geschichte hören wollen.«

Ich sehe Douglas noch vor mir; er war aufgestanden, hatte sich mit dem Rücken zum Kamin gestellt und blickte, die Hände in den Taschen, auf den Sprecher hinunter. »Niemand außer mir hat sie bisher gehört. Sie ist einfach zu entsetzlich.« Natürlich erhoben sich sofort mehrere Stimmen, die erklärten, dass gerade das die Sache äußerst interessant mache, worauf unser Freund mit souveräner Gelassenheit seinen Triumph vorbereitete, indem er seinen Blick über uns hinweggleiten ließ und fortfuhr: »Sie übertrifft alles. Nichts, aber auch rein gar nichts, was ich kenne, reicht an sie heran.«

Er schien sagen zu wollen, dass es so einfach nicht sei, schien wirklich nicht zu wissen, wie er sie charakterisieren sollte. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, verzog eine Sekunde lang das Gesicht zu einer zuckenden Grimasse. »Weil sie so grauen… so grauenvoll ist.«

»Ach wie köstlich!«, rief eine der Frauen.

Douglas schenkte ihr keine Beachtung; er blickte mich an, allerdings so, als sehe er nicht mich, sondern das, wovon er sprach. »Weil sie durch und durch unheimlich, abstoßend, entsetzlich und erschütternd ist.«

»Nun, dann setzen Sie sich, und fangen Sie an zu erzählen«, forderte ich ihn auf.

Er drehte sich zum Feuer, trat mit dem Fuß nach einem Holzscheit und betrachtete es einen Augenblick. Dann wandte er sich wieder uns zu. »Das kann ich nicht. Ich muss dazu erst jemanden nach London schicken.« Dies wurde mit allgemeinem Aufstöhnen und großem Gemurre aufgenommen, worauf er in seiner gedankenverlorenen Art erklärte: »Die Geschichte ist niedergeschrieben. Sie liegt in einer verschlossenen Schublade – seit Jahren habe ich sie nicht herausgenommen. Ich könnte meinem Diener ein paar Zeilen schreiben und ihm den Schlüssel beilegen; er könnte das Päckchen herschicken, sowie er es gefunden hat.« Er schien sich mit diesem Vorschlag insbesondere an mich zu wenden – schien fast darum zu bitten, ich möge ihn darin bestärken, mit der Ausführung nicht zu zögern. Er hatte eine dicke Eisschicht durchbrochen, die über viele

»Aber der Bericht, der stammt von Ihnen? Sie haben die Sache festgehalten?«

»Nur den Eindruck. Den halte ich hier fest« – er schlug sich an die Brust. »Ich bin ihn nie mehr losgeworden.«

»Dann ist Ihr Manuskript …?«

»… in alter, ausgeblichener Tinte und in der schönsten Handschrift geschrieben.« Er stockte kurz. »In der einer Frau. Sie ist seit zwanzig Jahren tot. Sie übersandte mir die fraglichen Seiten, bevor sie starb.« Nun hörten ihm alle zu, und natürlich fand sich jemand, der eine stichelnde Bemerkung oder wenigstens eine zweideutige Anspielung machen musste. Douglas überging die Anspielung ohne ein Lächeln, aber auch ohne jede Verärgerung. »Sie war eine äußerst bezaubernde Person, doch sie war zehn Jahre älter als ich. Sie war die Gouvernante meiner Schwester«, sagte er ruhig. »Sie war die liebenswürdigste Vertreterin ihres Standes, die ich je kennengelernt habe; sie wäre jeder gesellschaftlichen Stellung würdig gewesen. Doch das ist lange her, und diese Ereignisse fanden noch früher statt. Ich besuchte damals das Trinity College; als ich den zweiten

»Weil die Sache gar so schrecklich war?«

Douglas hielt den Blick weiterhin auf mich gerichtet. »Sie werden es mühelos erkennen«, wiederholte er. »Sie ganz gewiss.«

Ich erwiderte seinen Blick. »Ich verstehe. Sie war verliebt.«

Er lachte zum ersten Mal. »Sie sind in der Tat scharfsinnig. Ja, sie war verliebt. Das heißt, sie war es gewesen. Das kam an den Tag – sie konnte ihre Geschichte nicht erzählen, ohne dass es an den Tag kam. Ich sah es, und sie sah, dass ich es sah; aber keiner von uns beiden sprach darüber. Ich erinnere mich an die Stunde und den Schauplatz – an den Winkel des Gartens, den Schatten der großen Buchen und den langen, heißen Sommernachmittag. Es war kein Ort, der einen schaudern ließ;

»Sie werden das Päckchen am Donnerstagvormittag erhalten?«, fragte ich.

»Vermutlich erst mit der zweiten Post.«

»Nun dann, nach dem Abendessen …«

»Sie werden alle hier sein?« Er blickte erneut in die Runde. »Reist denn niemand ab?« Fast klang es, als hoffe er darauf.

»Alle werden bleiben!«

»Ich bleibe – ich bleibe auch!«, riefen die Damen, deren Abreise bereits festgelegt gewesen war. Mrs Griffin indes äußerte das Bedürfnis nach etwas mehr Aufklärung. »In wen war sie denn verliebt?«

»Das wird die Geschichte enthüllen«, übernahm ich es, zu antworten.

»Aber ich kann nicht auf die Geschichte warten!«

»Die Geschichte wird es nicht enthüllen«, sagte Douglas, »jedenfalls nicht platt und unverblümt.«

»Jammerschade. Das ist das Einzige, das ich verstehe.«

»Wollen Sie es uns nicht verraten, Douglas?«, fragte ein anderer.

Douglas sprang erneut auf. »Ja – morgen. Jetzt muss ich zu Bett. Gute Nacht.« Schnell ergriff er einen Kerzenleuchter und ließ uns ein wenig verwirrt zurück. An dem Ende der großen, eichengetäfelten Eingangshalle, an dem wir saßen, hörten wir seine Schritte auf der Treppe, woraufhin Mrs Griffin erklärte: »Nun, ich weiß zwar nicht, in wen sie verliebt war, aber ich weiß, in wen er verliebt war.«

»Raison de plus – in dem Alter! Aber seine lange Verschwiegenheit, die finde ich wirklich nett.«

»Vierzig Jahre!«, warf Griffin ein.

»Und nun endlich dieser Ausbruch.«

»Der Ausbruch«, erwiderte ich, »wird den Donnerstagabend zu einem außerordentlichen Ereignis machen.« Alle stimmten mir vorbehaltlos zu, sodass wir angesichts dieser Erwartung jegliches Interesse an allen anderen Dingen verloren. Die letzte Geschichte, obgleich unvollständig und bloßer Auftakt zu weiteren Fortsetzungen, war erzählt. Wir wünschten uns gegenseitig eine gute Nacht, »bewaffneten« uns, wie jemand sagte, mit Kerzenleuchtern und gingen zu Bett.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass mit der ersten Post ein Brief samt Schlüssel an Douglas’ Londoner Wohnung abgegangen war; aber trotz – oder vielleicht gerade wegen – des allmählichen Durchsickerns dieser Nachricht ließen wir Douglas bis nach dem Abendessen weitgehend unbehelligt, ja bis zu jener Abendstunde, die wohl am ehesten der Art von Gemütsverfassung entspricht, an die sich unsere Hoffnungen knüpften. Dann aber wurde er so mitteilsam, wie wir es uns nur wünschen konnten, und nannte uns auch einen guten Grund dafür. Wieder lauschten wir ihm vor dem Kaminfeuer in der Halle, wo wir schon am Abend zuvor manch sanften Schauder erlebt hatten. Offenbar bedurfte die Geschichte, die vorzulesen er uns versprochen hatte, zum rechten Verständnis tatsächlich ein paar Worte der Einführung. Lassen Sie mich an dieser Stelle

Die erste dieser Andeutungen machte darauf aufmerksam, dass die schriftliche Aufzeichnung der Geschichte erst zu einem Zeitpunkt einsetzt, da diese gewissermaßen bereits begonnen hatte. Es galt daher, vorab Kenntnis davon zu haben, dass Douglas’ alte Freundin, die jüngste von mehreren Töchtern eines armen Landpfarrers, im Alter von zwanzig Jahren zwecks einer ersten Anstellung als Lehrerin mit bangem Zagen nach London gekommen war, um sich persönlich auf eine Annonce hin vorzustellen, die bereits zu einem kurzen Briefwechsel mit dem Inserenten geführt hatte. Dieser erwies sich, als sie sich in einem Haus in der

Durch den Tod seiner Eltern in Indien war er zum Vormund eines kleinen Neffen und einer kleinen Nichte geworden, der Kinder seines jüngeren Bruders, der Soldat gewesen war und den er zwei Jahre zuvor verloren hatte. Diese Kinder, infolge der seltsamsten Schicksalsfügungen in seine Obhut gelangt, waren für einen Mann in seiner Lage – einen alleinstehenden Mann ohne entsprechende Erfahrung, ohne ein Quäntchen Geduld –

So weit war Douglas mit seinen Ausführungen gekommen, als jemand eine Frage stellte. »Und woran ist die frühere Gouvernante gestorben? An lauter Ehrbarkeit?«

Die Antwort unseres Freundes kam umgehend. »Das wird sich zeigen. Ich will nicht vorgreifen.«

»Pardon – ich dachte, genau das täten Sie gerade.«

»Wäre ich an der Stelle ihrer Nachfolgerin gewesen«, meldete ich mich zu Wort, »hätte ich bestimmt erfahren wollen, ob die Aufgabe zwangsläufig …«

»… mit Lebensgefahr verbunden sei?«, führte Douglas meinen Gedanken zu Ende. »Das wollte sie auch erfahren, und sie erfuhr es. Sie werden morgen hören, was sie erfuhr. Zunächst einmal erschienen ihr die Aussichten natürlich etwas düster. Sie war jung, unerfahren, verunsichert: Der Posten verhieß ernst zu nehmende

»Den Ausschlag gab natürlich die von dem galanten jungen Mann ausgehende Verführung. Ihr ist sie erlegen.«

Douglas stand auf und ging, wie schon am Abend zuvor, zum Feuer, trat mit dem Fuß gegen ein Holzscheit und blieb dann einen Augenblick lang mit dem Rücken zu uns stehen. »Sie hat ihn nur zweimal gesehen.«

»Gewiss, aber das ist gerade das Schöne an ihrer Leidenschaft.«

Daraufhin drehte sich Douglas, ein wenig zu meiner Überraschung, zu mir um. »Das war tatsächlich das Schöne daran. Es gab andere«, fuhr er fort, »die dieser Verführung nicht erlegen waren. Er schilderte ihr offen seine Schwierigkeiten – dass nämlich für mehrere Bewerberinnen die Bedingungen unannehmbar gewesen waren. Sie hatten aus irgendeinem Grund einfach Angst gehabt. Es klang undurchsichtig – es klang befremdlich, und dies vor allem seiner Hauptbedingung wegen.«

»Die da war …?«

»Dass sie ihn niemals behelligen sollte – niemals und unter keinen Umständen: Sie sollte ihn weder um etwas bitten noch sich beklagen, noch sich wegen irgendeiner

»War das ihr ganzer Lohn?«, fragte eine der Damen.

»Sie sah ihn nie wieder.«

»Oh!«, sagte die Dame, was, da unser Freund uns gleich darauf wieder verließ, das einzige weitere Wort von Bedeutung zu dem Thema war, bis er, am nächsten Abend, in der Kaminecke im besten Sessel den verblassten roten Deckel eines dünnen altmodischen Albums mit Goldschnitt aufschlug. Die ganze Sache nahm freilich mehrere Abende in Anspruch, doch bei der ersten Gelegenheit schon stellte die gleiche Dame abermals eine Frage. »Wie lautet der Titel Ihrer Geschichte?«

»Sie hat keinen.«

»Oh, ich wüsste einen!«, sagte ich. Doch Douglas hatte, ohne mich zu beachten, schon zu lesen begonnen, mit schöner, klarer Stimme, als wolle er dem Ohr die Schönheit der Handschrift vermitteln.

In meiner Erinnerung erscheint mir der Anfang des Ganzen als eine Abfolge von Höhen und Tiefen, als ein ständiges Hin und Her zwischen begründetem und grundlosem Herzklopfen. Nachdem ich mich in London dazu durchgerungen hatte, seiner Bitte nachzukommen, hatte ich jedenfalls ein paar sehr schlimme Tage – ich fühlte den Stachel des Zweifels wieder in mir, ja ich war mir sicher, einen Fehler begangen zu haben. In dieser Gemütsverfassung verbrachte ich die langen Stunden in der dahinholpernden, schaukelnden Kutsche bis zu der Poststation, an der ich von einem Gefährt des Hauses abgeholt werden sollte. Dies sei, so sagte man mir, zu meiner Bequemlichkeit angeordnet worden, und tatsächlich fand ich, gegen Ende jenes Juninachmittages, einen für mich bereitstehenden geräumigen Einspänner vor. Die Fahrt zu dieser Stunde und an einem so schönen Tag durch eine Landschaft, deren sommerliche Lieblichkeit wie ein freundlicher Willkommensgruß auf mich wirkte, gab mir neuen Mut, der sich, als wir in die Allee einbogen, zu einem Höhenflug aufschwang und damit wohl nur bewies, wie tief er zuvor gesunken war. Wahrscheinlich hatte ich etwas so Trostloses vorzufinden erwartet – oder befürchtet –, dass der Anblick, der sich mir dann bot, eine wohltuende Überraschung

Bis zum nächsten Tag hatte ich kein neuerliches Stimmungstief, da ich der Bekanntschaft mit dem jüngeren meiner Zöglinge ein Hochgefühl verdankte, das mich durch die folgenden Stunden trug. Das kleine Mädchen in Mrs Grose’ Begleitung nahm mich auf der Stelle für sich ein als ein Geschöpf, das viel zu bezaubernd war, um den Umgang mit ihm nicht als großes Glück zu erachten. Es war das hübscheste Kind, das ich je gesehen hatte, und ich fragte mich im Nachhinein, warum mein Brotherr dies mir gegenüber nicht weiter erwähnt hatte.

Es war indes ein Trost, dass es in Verbindung mit etwas so Beseligendem, wie es die strahlende Erscheinung meines kleinen Mädchens war, nichts Beunruhigendes geben konnte, und vermutlich war es der Anblick dieser

»Und der Junge – sieht er ihr ähnlich? Ist er auch ein derart bemerkenswertes Kind?«

Man sollte, darauf hatten wir uns bereits verständigt, einem Kind nicht allzu sehr schmeicheln. »Ach, Miss, höchst bemerkenswert. Wenn Sie schon von der Kleinen hier so viel halten …!« Sie stand mit einem Teller in der Hand da, strahlte unseren Schützling an, der seinerseits einmal die eine, einmal die andere mit sanften, himmlischen Augen anblickte, aus denen nichts sprach, was uns Einhalt geboten hätte.

»Dann werden Sie vom kleinen Gentleman geradezu hingerissen sein!«

»Nun, ich denke, das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin – um mich hinreißen zu lassen. Allerdings fürchte ich«, fühlte ich mich, wie ich mich erinnere, befleißigt hinzuzufügen, »ich lasse mich recht leicht hinreißen. Ich war schon in London hingerissen!«

Ich sehe Mrs Grose’ Gesicht noch vor mir, mit dem sie die Eröffnung aufnahm. »In der Harley Street?«

»In der Harley Street.«

»Nun, Miss, da sind Sie nicht die Erste – und Sie werden auch nicht die Letzte sein.«

»Oh, ich behaupte nicht, die Einzige zu sein«, vermochte ich lachend zu erwidern. »Mein anderer Zögling kommt also, wenn ich recht verstanden habe, morgen zurück?«

»Nein, nicht morgen – am Freitag, Miss. Er kommt wie Sie mit der Postkutsche, in der Obhut des Kondukteurs, und wird ebenfalls mit dem Einspänner abgeholt.«

Daraufhin wollte ich unverzüglich wissen, ob es denn nicht eine ebenso angebrachte wie freundliche und nette Geste wäre, wenn ich ihn bei Ankunft der Postkutsche mit seiner kleinen Schwester erwartete; ein Vorschlag, dem Mrs Grose so von Herzen zustimmte, dass ich ihr Verhalten als eine Art ermutigendes Zeichen dafür nahm – es wurde gottlob nie widerlegt! –, dass wir in allen Fragen völlig einer Meinung sein würden. Oh, sie war froh, dass ich da war!

Was ich am nächsten Tag empfand, konnte man