Henry James (1843–1916) war ein Amerikaner, den es immer wieder nach Europa zog. Die meiste Zeit seines Lebens bereiste er deshalb die Alte Welt, wo er mit allen großen Schriftstellern befreundet war, etwa mit Maupassant, Stevenson oder Turgenjew. Und er wurde selbst einer der ganz Großen der Literatur, ein Meister des psychologischen Erzählens, der zwanzig Romane und über hundert Erzählungen verfasste. 1915, ein Jahr vor seinem Tod, ließ er seine Heimat auch amtlich hinter sich, als er die britische Staatsangehörigkeit annahm. Während James im angelsächsischen Sprachraum, gleich ob diesseits oder jenseits des Atlantiks, geradezu kultisch verehrt wird, dürfte sein Ruhm sich hierzulande noch mehren.
Die Geschichte hatte uns, die wir um das Kaminfeuer versammelt waren, in einigermaßen atemloser Spannung gehalten, doch abgesehen von der naheliegenden Feststellung, sie sei gruselig gewesen, ganz so, wie es sich für eine am Weihnachtsabend in einem alten Haus erzählte merkwürdige Geschichte geziemte, kann ich mich an keinen Kommentar erinnern, der geäußert worden wäre, bis jemand bemerkte, dies sei der einzige ihm bekannte Fall, in dem ein Kind Opfer einer solchen Heimsuchung geworden sei. Dabei handelte es sich, wie ich erwähnen darf, um eine Erscheinung just in einem solch alten Haus wie dem, das uns damals beherbergte – eine Erscheinung grauenvoller Art, die sich einen kleinen Jungen aussuchte, der mit seiner Mutter in einem Zimmer schlief und sie in seinem grenzenlosen Entsetzen weckte – sie weckte, nicht damit sie seine Angst zerstreute und ihn wieder in den Schlaf wiegte, sondern damit sie, noch ehe ihr das gelungen war, selbst dem Anblick ausgesetzt wurde, der ihn so bestürzt hatte. Es war diese Bemerkung, die Douglas – nicht sofort, sondern im Verlauf des Abends – eine Erwiderung entlockte, welche dann die denkwürdige Folge zeitigte, auf die ich die Aufmerksamkeit lenken möchte. Jemand aus unserem Kreis erzählte eine nicht sonderlich fesselnde Geschichte, der Douglas, wie ich merkte, gar nicht zuhörte. Darin sah ich ein Zeichen, dass er selbst etwas zum Besten zu geben hatte und dass wir nur zu warten brauchten. Tatsächlich mussten wir bis zum übernächsten Abend warten; aber noch am selben Abend, bevor wir auseinandergingen, deutete er an, was ihn beschäftigte.
»Ich räume – im Hinblick auf Griffins Geist oder was immer es war – durchaus ein, dass die Tatsache, dass er zunächst dem kleinen Jungen erschien, einem Kind in so zartem Alter, der Geschichte einen besonderen Reiz verleiht. Aber es ist nicht die erste mir bekannte Begebenheit dieser übersinnlichen Art, von der ein Kind betroffen ist. Und wenn schon das eine Kind die Spannung in die Höhe schraubt, was sagen Sie dann erst zu zwei Kindern …?«
»Selbstverständlich sagen wir«, rief jemand, »dass zwei Kinder die Spannung doppelt erhöhen! Und außerdem, dass wir Ihre Geschichte hören wollen.«
Ich sehe Douglas noch vor mir; er war aufgestanden, hatte sich mit dem Rücken zum Kamin gestellt und blickte, die Hände in den Taschen, auf den Sprecher hinunter. »Niemand außer mir hat sie bisher gehört. Sie ist einfach zu entsetzlich.« Natürlich erhoben sich sofort mehrere Stimmen, die erklärten, dass gerade das die Sache äußerst interessant mache, worauf unser Freund mit souveräner Gelassenheit seinen Triumph vorbereitete, indem er seinen Blick über uns hinweggleiten ließ und fortfuhr: »Sie übertrifft alles. Nichts, aber auch rein gar nichts, was ich kenne, reicht an sie heran.«
»Weil sie gar so schaurig ist?«, erinnere ich mich, gefragt zu haben.
Er schien sagen zu wollen, dass es so einfach nicht sei, schien wirklich nicht zu wissen, wie er sie charakterisieren sollte. Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, verzog eine Sekunde lang das Gesicht zu einer zuckenden Grimasse. »Weil sie so grauen… so grauenvoll ist.«
»Ach wie köstlich!«, rief eine der Frauen.
Douglas schenkte ihr keine Beachtung; er blickte mich an, allerdings so, als sehe er nicht mich, sondern das, wovon er sprach. »Weil sie durch und durch unheimlich, abstoßend, entsetzlich und erschütternd ist.«
»Nun, dann setzen Sie sich, und fangen Sie an zu erzählen«, forderte ich ihn auf.
Er drehte sich zum Feuer, trat mit dem Fuß nach einem Holzscheit und betrachtete es einen Augenblick. Dann wandte er sich wieder uns zu. »Das kann ich nicht. Ich muss dazu erst jemanden nach London schicken.« Dies wurde mit allgemeinem Aufstöhnen und großem Gemurre aufgenommen, worauf er in seiner gedankenverlorenen Art erklärte: »Die Geschichte ist niedergeschrieben. Sie liegt in einer verschlossenen Schublade – seit Jahren habe ich sie nicht herausgenommen. Ich könnte meinem Diener ein paar Zeilen schreiben und ihm den Schlüssel beilegen; er könnte das Päckchen herschicken, sowie er es gefunden hat.« Er schien sich mit diesem Vorschlag insbesondere an mich zu wenden – schien fast darum zu bitten, ich möge ihn darin bestärken, mit der Ausführung nicht zu zögern. Er hatte eine dicke Eisschicht durchbrochen, die über viele Winter hinweg entstanden war, hatte seine Gründe für sein langes Schweigen gehabt. Die anderen nahmen ihm den Aufschub übel, mich hingegen reizten gerade seine Skrupel. Ich beschwor ihn, gleich mit der ersten Post einen Brief abzuschicken und mit uns einen baldigen Termin für die Lesung zu verabreden; dann fragte ich ihn, ob er die betreffende Begebenheit selbst erlebt hätte. Seine Antwort kam prompt. »Nein, gottlob nicht!«
»Aber der Bericht, der stammt von Ihnen? Sie haben die Sache festgehalten?«
»Nur den Eindruck. Den halte ich hier fest« – er schlug sich an die Brust. »Ich bin ihn nie mehr losgeworden.«
»Dann ist Ihr Manuskript …?«
»… in alter, ausgeblichener Tinte und in der schönsten Handschrift geschrieben.« Er stockte kurz. »In der einer Frau. Sie ist seit zwanzig Jahren tot. Sie übersandte mir die fraglichen Seiten, bevor sie starb.« Nun hörten ihm alle zu, und natürlich fand sich jemand, der eine stichelnde Bemerkung oder wenigstens eine zweideutige Anspielung machen musste. Douglas überging die Anspielung ohne ein Lächeln, aber auch ohne jede Verärgerung. »Sie war eine äußerst bezaubernde Person, doch sie war zehn Jahre älter als ich. Sie war die Gouvernante meiner Schwester«, sagte er ruhig. »Sie war die liebenswürdigste Vertreterin ihres Standes, die ich je kennengelernt habe; sie wäre jeder gesellschaftlichen Stellung würdig gewesen. Doch das ist lange her, und diese Ereignisse fanden noch früher statt. Ich besuchte damals das Trinity College; als ich den zweiten Sommer nach Hause kam, traf ich sie dort an. Ich war in jenem Jahr oft zu Hause – es war ein herrliches Jahr; und in ihren freien Stunden unternahmen wir zuweilen Spaziergänge im Garten und führten Gespräche – Gespräche, in denen sie einen furchtbar klugen und netten Eindruck auf mich machte. Ja, ja, Sie brauchen gar nicht zu schmunzeln: Ich hatte sie ausnehmend gern, und bis auf den heutigen Tag stimmt mich der Gedanke froh, dass sie mich ebenfalls mochte. Andernfalls hätte sie mir ihre Geschichte nicht anvertraut. Sie hatte niemandem je davon erzählt. Nicht, dass sie das behauptet hätte; ich wusste ganz einfach, dass sie mit niemandem darüber gesprochen hatte. Ich war mir dessen sicher; ich konnte es sehen. Sie werden den Grund dafür mühelos erkennen, wenn Sie die Geschichte hören.«
»Weil die Sache gar so schrecklich war?«
Douglas hielt den Blick weiterhin auf mich gerichtet. »Sie werden es mühelos erkennen«, wiederholte er. »Sie ganz gewiss.«
Ich erwiderte seinen Blick. »Ich verstehe. Sie war verliebt.«
Er lachte zum ersten Mal. »Sie sind in der Tat scharfsinnig. Ja, sie war verliebt. Das heißt, sie war es gewesen. Das kam an den Tag – sie konnte ihre Geschichte nicht erzählen, ohne dass es an den Tag kam. Ich sah es, und sie sah, dass ich es sah; aber keiner von uns beiden sprach darüber. Ich erinnere mich an die Stunde und den Schauplatz – an den Winkel des Gartens, den Schatten der großen Buchen und den langen, heißen Sommernachmittag. Es war kein Ort, der einen schaudern ließ; aber ach …!« Er trat vom Kamin zurück und ließ sich wieder in seinen Sessel fallen.
»Sie werden das Päckchen am Donnerstagvormittag erhalten?«, fragte ich.
»Vermutlich erst mit der zweiten Post.«
»Nun dann, nach dem Abendessen …«
»Sie werden alle hier sein?« Er blickte erneut in die Runde. »Reist denn niemand ab?« Fast klang es, als hoffe er darauf.
»Alle werden bleiben!«
»Ich bleibe – ich bleibe auch!«, riefen die Damen, deren Abreise bereits festgelegt gewesen war. Mrs Griffin indes äußerte das Bedürfnis nach etwas mehr Aufklärung. »In wen war sie denn verliebt?«
»Das wird die Geschichte enthüllen«, übernahm ich es, zu antworten.
»Aber ich kann nicht auf die Geschichte warten!«
»Die Geschichte wird es nicht enthüllen«, sagte Douglas, »jedenfalls nicht platt und unverblümt.«
»Jammerschade. Das ist das Einzige, das ich verstehe.«
»Wollen Sie es uns nicht verraten, Douglas?«, fragte ein anderer.
Douglas sprang erneut auf. »Ja – morgen. Jetzt muss ich zu Bett. Gute Nacht.« Schnell ergriff er einen Kerzenleuchter und ließ uns ein wenig verwirrt zurück. An dem Ende der großen, eichengetäfelten Eingangshalle, an dem wir saßen, hörten wir seine Schritte auf der Treppe, woraufhin Mrs Griffin erklärte: »Nun, ich weiß zwar nicht, in wen sie verliebt war, aber ich weiß, in wen er verliebt war.«
»Sie war zehn Jahre älter«, entgegnete ihr Gatte.
»Raison de plus – in dem Alter! Aber seine lange Verschwiegenheit, die finde ich wirklich nett.«
»Vierzig Jahre!«, warf Griffin ein.
»Und nun endlich dieser Ausbruch.«
»Der Ausbruch«, erwiderte ich, »wird den Donnerstagabend zu einem außerordentlichen Ereignis machen.« Alle stimmten mir vorbehaltlos zu, sodass wir angesichts dieser Erwartung jegliches Interesse an allen anderen Dingen verloren. Die letzte Geschichte, obgleich unvollständig und bloßer Auftakt zu weiteren Fortsetzungen, war erzählt. Wir wünschten uns gegenseitig eine gute Nacht, »bewaffneten« uns, wie jemand sagte, mit Kerzenleuchtern und gingen zu Bett.
Am nächsten Tag erfuhr ich, dass mit der ersten Post ein Brief samt Schlüssel an Douglas’ Londoner Wohnung abgegangen war; aber trotz – oder vielleicht gerade wegen – des allmählichen Durchsickerns dieser Nachricht ließen wir Douglas bis nach dem Abendessen weitgehend unbehelligt, ja bis zu jener Abendstunde, die wohl am ehesten der Art von Gemütsverfassung entspricht, an die sich unsere Hoffnungen knüpften. Dann aber wurde er so mitteilsam, wie wir es uns nur wünschen konnten, und nannte uns auch einen guten Grund dafür. Wieder lauschten wir ihm vor dem Kaminfeuer in der Halle, wo wir schon am Abend zuvor manch sanften Schauder erlebt hatten. Offenbar bedurfte die Geschichte, die vorzulesen er uns versprochen hatte, zum rechten Verständnis tatsächlich ein paar Worte der Einführung. Lassen Sie mich an dieser Stelle ein für alle Mal deutlich sagen, dass es ebendiese Geschichte ist, die ich, nach einer erst viel später von mir angefertigten genauen Abschrift, im Folgenden erzählen werde. Der arme Douglas vertraute mir – als er seinen Tod herannahen sah – das Manuskript an, das ihn damals am dritten Tag erreichte und das er am Abend des vierten Tages am gleichen Ort mit ungeheurer Wirkung unserem verstummten kleinen Kreis vorzulesen begann. Die Damen, die im Begriff gewesen waren, abzureisen, dann aber erklärt hatten, sie wollten bleiben, waren gottlob natürlich doch nicht geblieben: Sie waren aufgrund bereits getroffener Verabredungen abgereist, gepeinigt von rasender Neugier, wie sie bekannten, infolge der Andeutungen, mit denen Douglas uns bereits aufgewühlt hatte. Doch das machte die kleine Zuhörerschaft, die ihm schließlich lauschte, nur geschlossener und exklusiver, hielt sie dort vor dem Kamin in allgemeiner Spannung gefangen.
Die erste dieser Andeutungen machte darauf aufmerksam, dass die schriftliche Aufzeichnung der Geschichte erst zu einem Zeitpunkt einsetzt, da diese gewissermaßen bereits begonnen hatte. Es galt daher, vorab Kenntnis davon zu haben, dass Douglas’ alte Freundin, die jüngste von mehreren Töchtern eines armen Landpfarrers, im Alter von zwanzig Jahren zwecks einer ersten Anstellung als Lehrerin mit bangem Zagen nach London gekommen war, um sich persönlich auf eine Annonce hin vorzustellen, die bereits zu einem kurzen Briefwechsel mit dem Inserenten geführt hatte. Dieser erwies sich, als sie sich in einem Haus in der Harley Street einfand, das ihr riesengroß und imposant vorkam – dieser künftige Arbeitgeber erwies sich als ein vornehmer Herr, ein Junggeselle in den besten Jahren, eine Erscheinung, wie sie einem aufgeregten, schüchternen Mädchen aus einem Pfarrhaus in Hampshire außer im Traum oder in einem alten Roman noch nie vor Augen gekommen war. Sein Typus war leicht zu bestimmen; er stirbt, glücklicherweise, nie aus. Er war gut aussehend, selbstbewusst und von gewinnendem Wesen, ungezwungen, lebenslustig und zuvorkommend. Zwangsläufig fand sie ihn galant und nobel, doch was sie noch mehr für ihn einnahm und ihr den Mut gab, den sie später bewies, war, dass er die ganze Sache als eine Gefälligkeit ihrerseits darstellte, als eine Verpflichtung, die er dankbar einginge. Sie stellte sich vor, er sei reich, aber auch schrecklich verschwenderisch – sah ihn im Abglanz höchster Eleganz, guten Aussehens, kostspieliger Gewohnheiten und charmanter Umgangsformen mit Frauen. In der Stadt bewohnte er ein großes Haus, das mit Reiseandenken und Jagdtrophäen angefüllt war; sie sollte sich jedoch unverzüglich zu seinem Landhaus, einem alten Familienbesitz in Essex, begeben.
Durch den Tod seiner Eltern in Indien war er zum Vormund eines kleinen Neffen und einer kleinen Nichte geworden, der Kinder seines jüngeren Bruders, der Soldat gewesen war und den er zwei Jahre zuvor verloren hatte. Diese Kinder, infolge der seltsamsten Schicksalsfügungen in seine Obhut gelangt, waren für einen Mann in seiner Lage – einen alleinstehenden Mann ohne entsprechende Erfahrung, ohne ein Quäntchen Geduld – eine schwere Last. Das Ganze war bisher mit reichlich Sorgen und Mühe und zweifellos auch mit einer Reihe von Fehlern seinerseits verbunden gewesen, aber die armen Würmchen taten ihm unendlich leid, und er hatte getan, was er nur konnte; hatte sie vor allem in sein Landhaus geschickt, denn der geeignetste Aufenthaltsort für sie war natürlich das Land, hatte sie dort von Anfang an den besten Leuten anvertraut, die er hatte finden können, damit sie sich um sie kümmerten, hatte sich zu diesem Zweck sogar von seinen eigenen Dienstboten getrennt und fuhr selbst hin, wann immer es ihm möglich war, um nach den beiden zu sehen. Das Missliche war, dass sie praktisch keine anderen Verwandten hatten und dass seine eigenen Angelegenheiten seine ganze Zeit in Anspruch nahmen. Er hatte ihnen Bly, ein gesundes und sicheres Zuhause, überlassen und an die Spitze ihres kleinen Haushalts – nur der Dienstboten, versteht sich – eine vortreffliche Person gestellt, eine gewisse Mrs Grose; er war überzeugt, seine Besucherin würde sie, die früher Zofe bei seiner Mutter gewesen war, mögen. Jetzt wirkte sie als Haushälterin und vorübergehend auch als Aufsichtsperson des kleinen Mädchens, das sie, die selbst kinderlos war, zum Glück fest ins Herz geschlossen hatte. Es waren eine Menge Leute da, um zu helfen, aber natürlich sollte die junge Dame, die als Gouvernante hinkäme, die Oberaufsicht haben. In den Ferien müsste sie auch den kleinen Jungen betreuen, der seit diesem Trimester eine Internatsschule besuchte – auch wenn er dafür noch recht jung war, aber was sollte man sonst tun? –, und der nun, da der Ferienbeginn unmittelbar bevorstand, von einem Tag auf den anderen zurückkehren würde. In der ersten Zeit sei eine junge Dame für die Kinder da gewesen, die jedoch unglücklicherweise von ihnen gegangen sei. Diese junge Dame – eine äußerst ehrbare Person – habe ihre Aufgabe ganz wunderbar erfüllt – bis zu ihrem Tod, dieser wahrhaft misslichen Wendung, die dann keine andere Wahl ließ, als den kleinen Miles aufs Internat zu schicken. Seitdem habe Mrs Grose in Hinblick auf Umgangsformen und dergleichen für Flora getan, was sie konnte; zum Haushalt gehörten außerdem eine Köchin, ein Stubenmädchen, eine Milchmagd, ein altes Pony, ein alter Pferdeknecht und ein alter Gärtner, allesamt ebenfalls höchst ehrbar.
So weit war Douglas mit seinen Ausführungen gekommen, als jemand eine Frage stellte. »Und woran ist die frühere Gouvernante gestorben? An lauter Ehrbarkeit?«
Die Antwort unseres Freundes kam umgehend. »Das wird sich zeigen. Ich will nicht vorgreifen.«
»Pardon – ich dachte, genau das täten Sie gerade.«
»Wäre ich an der Stelle ihrer Nachfolgerin gewesen«, meldete ich mich zu Wort, »hätte ich bestimmt erfahren wollen, ob die Aufgabe zwangsläufig …«
»… mit Lebensgefahr verbunden sei?«, führte Douglas meinen Gedanken zu Ende. »Das wollte sie auch erfahren, und sie erfuhr es. Sie werden morgen hören, was sie erfuhr. Zunächst einmal erschienen ihr die Aussichten natürlich etwas düster. Sie war jung, unerfahren, verunsichert: Der Posten verhieß ernst zu nehmende Pflichten und wenig Geselligkeit, ja genau genommen große Einsamkeit. Sie zögerte – nahm sich ein paar Tage Zeit, um abzuwägen und zu überlegen. Doch das gebotene Gehalt überstieg ihre bescheidenen Erwartungen bei Weitem, und bei einem zweiten Gespräch ließ sie sich auf das Abenteuer ein und sagte zu.« Hier machte Douglas eine Pause, die ich nutzte, um stellvertretend für unsere kleine Gesellschaft einzuwerfen:
»Den Ausschlag gab natürlich die von dem galanten jungen Mann ausgehende Verführung. Ihr ist sie erlegen.«
Douglas stand auf und ging, wie schon am Abend zuvor, zum Feuer, trat mit dem Fuß gegen ein Holzscheit und blieb dann einen Augenblick lang mit dem Rücken zu uns stehen. »Sie hat ihn nur zweimal gesehen.«
»Gewiss, aber das ist gerade das Schöne an ihrer Leidenschaft.«
Daraufhin drehte sich Douglas, ein wenig zu meiner Überraschung, zu mir um. »Das war tatsächlich das Schöne daran. Es gab andere«, fuhr er fort, »die dieser Verführung nicht erlegen waren. Er schilderte ihr offen seine Schwierigkeiten – dass nämlich für mehrere Bewerberinnen die Bedingungen unannehmbar gewesen waren. Sie hatten aus irgendeinem Grund einfach Angst gehabt. Es klang undurchsichtig – es klang befremdlich, und dies vor allem seiner Hauptbedingung wegen.«
»Die da war …?«
»Dass sie ihn niemals behelligen sollte – niemals und unter keinen Umständen: Sie sollte ihn weder um etwas bitten noch sich beklagen, noch sich wegen irgendeiner Sache schriftlich an ihn wenden, sondern sollte alle Probleme selbst lösen, alle Gelder von seinem Anwalt erhalten, die ganze Angelegenheit allein in die Hand nehmen und ihn in Ruhe lassen. Das versprach sie, und sie erwähnte mir gegenüber, dass sie sich schon belohnt gefühlt habe, als er, erleichtert und erfreut, einen Augenblick lang ihre Hand hielt, um ihr für ihr Opfer zu danken.«
»War das ihr ganzer Lohn?«, fragte eine der Damen.
»Sie sah ihn nie wieder.«
»Oh!«, sagte die Dame, was, da unser Freund uns gleich darauf wieder verließ, das einzige weitere Wort von Bedeutung zu dem Thema war, bis er, am nächsten Abend, in der Kaminecke im besten Sessel den verblassten roten Deckel eines dünnen altmodischen Albums mit Goldschnitt aufschlug. Die ganze Sache nahm freilich mehrere Abende in Anspruch, doch bei der ersten Gelegenheit schon stellte die gleiche Dame abermals eine Frage. »Wie lautet der Titel Ihrer Geschichte?«
»Sie hat keinen.«
»Oh, ich wüsste einen!«, sagte ich. Doch Douglas hatte, ohne mich zu beachten, schon zu lesen begonnen, mit schöner, klarer Stimme, als wolle er dem Ohr die Schönheit der Handschrift vermitteln.
In meiner Erinnerung erscheint mir der Anfang des Ganzen als eine Abfolge von Höhen und Tiefen, als ein ständiges Hin und Her zwischen begründetem und grundlosem Herzklopfen. Nachdem ich mich in London dazu durchgerungen hatte, seiner Bitte nachzukommen, hatte ich jedenfalls ein paar sehr schlimme Tage – ich fühlte den Stachel des Zweifels wieder in mir, ja ich war mir sicher, einen Fehler begangen zu haben. In dieser Gemütsverfassung verbrachte ich die langen Stunden in der dahinholpernden, schaukelnden Kutsche bis zu der Poststation, an der ich von einem Gefährt des Hauses abgeholt werden sollte. Dies sei, so sagte man mir, zu meiner Bequemlichkeit angeordnet worden, und tatsächlich fand ich, gegen Ende jenes Juninachmittages, einen für mich bereitstehenden geräumigen Einspänner vor. Die Fahrt zu dieser Stunde und an einem so schönen Tag durch eine Landschaft, deren sommerliche Lieblichkeit wie ein freundlicher Willkommensgruß auf mich wirkte, gab mir neuen Mut, der sich, als wir in die Allee einbogen, zu einem Höhenflug aufschwang und damit wohl nur bewies, wie tief er zuvor gesunken war. Wahrscheinlich hatte ich etwas so Trostloses vorzufinden erwartet – oder befürchtet –, dass der Anblick, der sich mir dann bot, eine wohltuende Überraschung war. Ich erinnere mich, dass die breite, klar gegliederte Fassade, die offenen Fenster, die frisch gewaschenen Vorhänge und die beiden Stubenmädchen, die herausschauten, einen äußerst erfreulichen Eindruck auf mich machten. Ich erinnere mich an den Rasen und die bunten Blumen, an das Knirschen der Räder auf dem Kies und die dicht aneinandergedrängten Baumwipfel, über denen am goldenen Himmel die Krähen kreisten und krächzten. Der Anblick war von einer Großartigkeit, die keinen Vergleich mit meinem eigenen bescheidenen Zuhause gestattete; sofort tauchte an der Tür eine adrette Person mit einem kleinen Mädchen an der Hand auf; die Frau machte vor mir einen so artigen Knicks, als wäre ich die Hausherrin oder eine vornehme Besucherin. Mir war in der Harley Street eine bescheidenere Vorstellung von dem Anwesen vermittelt worden, und als ich mich nun daran erinnerte, sah ich mich veranlasst, den Besitzer für einen noch größeren Gentleman zu halten, war es doch naheliegend, dass das, was mich erwartete, seine Versprechungen übertreffen könnte.
Bis zum nächsten Tag hatte ich kein neuerliches Stimmungstief, da ich der Bekanntschaft mit dem jüngeren meiner Zöglinge ein Hochgefühl verdankte, das mich durch die folgenden Stunden trug. Das kleine Mädchen in Mrs Grose’ Begleitung nahm mich auf der Stelle für sich ein als ein Geschöpf, das viel zu bezaubernd war, um den Umgang mit ihm nicht als großes Glück zu erachten. Es war das hübscheste Kind, das ich je gesehen hatte, und ich fragte mich im Nachhinein, warum mein Brotherr dies mir gegenüber nicht weiter erwähnt hatte. Ich schlief nur wenig in jener Nacht – ich war viel zu aufgeregt; auch das erstaunte mich, wie ich mich erinnere, es hielt an und ließ mich die Großzügigkeit, mit der ich behandelt wurde, nur noch stärker empfinden. Das große, imposante Zimmer, eines der besten im ganzen Haus, das stattliche Bett, das mir fast wie ein Prunkbett vorkam, die schweren, in sich gemusterten Vorhänge, die langen Spiegel, in denen ich mich, zum ersten Mal, von Kopf bis Fuß betrachten konnte, all diese Dinge schienen mir – wie der wundersame Liebreiz meines kleinen Schützlings – reiche Zugaben. Als eine solche Zugabe empfand ich es auch, dass ich mich, vom ersten Augenblick an, gut mit Mrs Grose verstand, denn die Frage unseres Verhältnisses hatte mir unterwegs in der Kutsche doch einiges Kopfzerbrechen bereitet. Das Einzige, das mich, von dieser frühen Warte aus, hätte erneut zurückschrecken lassen können, war freilich, dass sie so übermäßig froh schien, mich zu sehen. Binnen einer halben Stunde merkte ich, dass sie – die wackere, einfache, biedere, ehrliche, freundliche Frau – so froh war, dass sie sich augenfällig davor in Acht nahm, es allzu deutlich zu zeigen. Selbst damals wunderte ich mich schon ein wenig darüber und fragte mich, warum sie es denn nicht zeigen wollte; bei genauerer Erwägung, mit etwas Argwohn, hätte mich das natürlich beunruhigen können.
Es war indes ein Trost, dass es in Verbindung mit etwas so Beseligendem, wie es die strahlende Erscheinung meines kleinen Mädchens war, nichts Beunruhigendes geben konnte, und vermutlich war es der Anblick dieser engelsgleichen Schönheit, der mehr als alles andere zu meiner Ruhelosigkeit beitrug, die mich, bis zum Morgen, mehrmals aufstehen und in meinem Zimmer umherwandern ließ, damit ich mir all das Erlebte und zu Erwartende vor Augen führte; vom offenen Fenster aus beobachtete ich das allmähliche Heraufdämmern eines Sommertages, ich betrachtete die übrigen Teile des Hauses, auf die ich einen Blick erhaschen konnte, und lauschte, während in der schwindenden Dunkelheit die ersten Vögel zu zwitschern begannen, auf die mögliche Wiederholung von ein, zwei weniger natürlichen Geräuschen, die ich nicht draußen, sondern im Haus zu hören geglaubt hatte. Einmal hatte ich mir eingebildet, schwach und weit entfernt, den Schrei eines Kindes zu erkennen; ein anderes Mal war ich hochgeschreckt, weil ich meinte, ich hätte im Flur, vor meiner Tür, leise Schritte vernommen. Doch diese flüchtigen Wahrnehmungen beeindruckten mich nicht so sehr, als dass ich sie nicht bald wieder vergessen hätte, und erst jetzt, im Licht oder, wie ich besser sagen sollte, im Schatten anderer, späterer Ereignisse, fallen sie mir wieder ein. Die kleine Flora zu behüten, zu unterrichten, zu »formen« würde mir ganz fraglos ein glückliches und sinnvolles Leben gewähren. Mrs Grose und ich hatten vereinbart, dass ich die Kleine nach diesem ersten Tag selbstverständlich auch nachts in meiner Obhut haben solle, weshalb ihr weißes Bettchen bereits in meinem Zimmer aufgestellt worden war. Schließlich hatte ich ihre umfassende Betreuung übernommen, und nur weil wir darauf, dass ich ihr zwangsläufig fremd war, und auf ihre natürliche Scheu Rücksicht nehmen wollten, war sie dieses letzte Mal noch bei Mrs Grose geblieben. Trotz dieser Scheu – das Kind selbst hatte sie, auf die erstaunlichste Weise der Welt, ganz offen und tapfer zugegeben, hatte es uns, ohne ein Anzeichen von Missbehagen oder Befangenheit, vielmehr in der tiefen, heiteren Gelassenheit eines der heiligen Kinder Raffaels möglich gemacht, darüber zu sprechen, sie vorauszusetzen und uns auf sie einzustellen – trotz dieser Scheu war ich überzeugt, dass die Kleine mich bald mögen würde. Auch deswegen hatte ich Mrs Grose bereits ins Herz geschlossen, weil ich sehen konnte, welche Freude ihr meine Bewunderung und mein Staunen bereiteten, als ich beim Schein von vier hohen Kerzen mit meiner Schülerin beim Nachtmahl saß, die mich, ein Lätzchen um den Hals, aus ihrem Hochstuhl zwischen den Kerzen hindurch über Brot und Milch hinweg mit strahlendem Gesichtchen ansah. Natürlich gab es Dinge, über die wir uns in Floras Gegenwart nur durch vielsagende, stolze Blicke, mit dunklen, vagen Andeutungen verständigen konnten.
»Und der Junge – sieht er ihr ähnlich? Ist er auch ein derart bemerkenswertes Kind?«
Man sollte, darauf hatten wir uns bereits verständigt, einem Kind nicht allzu sehr schmeicheln. »Ach, Miss, höchst bemerkenswert. Wenn Sie schon von der Kleinen hier so viel halten …!« Sie stand mit einem Teller in der Hand da, strahlte unseren Schützling an, der seinerseits einmal die eine, einmal die andere mit sanften, himmlischen Augen anblickte, aus denen nichts sprach, was uns Einhalt geboten hätte.
»Ja, wenn ich das tue …?«
»Dann werden Sie vom kleinen Gentleman geradezu hingerissen sein!«
»Nun, ich denke, das ist der Grund, weshalb ich gekommen bin – um mich hinreißen zu lassen. Allerdings fürchte ich«, fühlte ich mich, wie ich mich erinnere, befleißigt hinzuzufügen, »ich lasse mich recht leicht hinreißen. Ich war schon in London hingerissen!«
Ich sehe Mrs Grose’ Gesicht noch vor mir, mit dem sie die Eröffnung aufnahm. »In der Harley Street?«
»In der Harley Street.«
»Nun, Miss, da sind Sie nicht die Erste – und Sie werden auch nicht die Letzte sein.«
»Oh, ich behaupte nicht, die Einzige zu sein«, vermochte ich lachend zu erwidern. »Mein anderer Zögling kommt also, wenn ich recht verstanden habe, morgen zurück?«
»Nein, nicht morgen – am Freitag, Miss. Er kommt wie Sie mit der Postkutsche, in der Obhut des Kondukteurs, und wird ebenfalls mit dem Einspänner abgeholt.«
Daraufhin wollte ich unverzüglich wissen, ob es denn nicht eine ebenso angebrachte wie freundliche und nette Geste wäre, wenn ich ihn bei Ankunft der Postkutsche mit seiner kleinen Schwester erwartete; ein Vorschlag, dem Mrs Grose so von Herzen zustimmte, dass ich ihr Verhalten als eine Art ermutigendes Zeichen dafür nahm – es wurde gottlob nie widerlegt! –, dass wir in allen Fragen völlig einer Meinung sein würden. Oh, sie war froh, dass ich da war!
Was ich am nächsten Tag empfand, konnte man