Thekla Wilkening
Robin Haring
Das Bio-Pizza Dilemma
Thekla Wilkening
Robin Haring
Das Bio-Pizza Dilemma
Der überraschende Wegweiser zu mehr Nachhaltigkeit
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2. Auflage 2021
© 2021 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
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Redaktion: Christiane Otto
Umschlaggestaltung: Karina Braun
Umschlagabbildung: bsd/ Shutterstock
Illustrationen: Lotta Meyer
Satz: ZeroSoft, Timisoara
Druck: CPI, Ebner & Spiegel, Ulm
eBook by tool-e-byte
ISBN Print 978-3-86881-848-2
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-335-2
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-336-9
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Inhalt
Chaos
Inspiration
Neugierde
Aufbruch
1x1 für die Dinnerparty
Suche Zuversicht – biete Zukunft
Weiter, immer weiter
Es ist nicht deine Schuld
Made by Human – wie leben wir eigentlich?
Das Gegenteil von nachhaltig ist nachhaltig gemeint
Immer nur Eisbären
Wir sind die 0,01 Prozent
Eine geteilte Erde
Geht nicht? Gibt’s nicht!
Richtung Zukunft durch die Nacht
Grüne Regeneration und die Welt danach
Auch ohne Klimakrise haben wir ein Konsumproblem
Die dunkle Seite der Mode
Lobbyismus oder die Geschichte der Haiflossen
Entwürfe
Dance like nobody’s watching
Die Basics
Dein ikigai
Kein Mensch ist eine Insel
Yoga oder eine Frage der Gemeinschaft
Wir haben alles, was Sie brauchen
Körper
Widerstand (eine kurze Geschichte des gewaltfreien Protests)
Fashion Revolution oder auch: don’t forget the music
Dinge, die vielleicht nicht die Welt retten, aber trotzdem gut sind
Achtsamkeit (oder vom Wunsch, möglichst schnell wieder gut drauf zu sein)
Anohni
Eine Blume blüht auch nicht das ganze Jahr
Aufhalten oder bereit machen
Die Utopie vom plastikfreien Bad
Die Zukunft sind Räume
Going local
Der Preis der Freiheit
Die Zukunft der Mode
Du brauchst kein Profil, du brauchst Community
Hi, Politik!
Ich, du, wir Bürger*innen
Brüche in der Zeitschiene
Es gibt kein richtiges Leben im falschen
Deine erste MTV-Dinnerparty
Status quo: der ökologische Fußabdruck
Zukunft: der soziale Handabdruck
Verbindung oder auch Relationships Between Love and Death
Alles mach NEU
Alle Lösungen sind da
Epilog
Über die Autoren
Bücher zum Weiterlesen
Anhang
Für Melitta
Im Jahr 2012 habe ich mein erstes eigenes Unternehmen gegründet: Kleiderei. Zusammen mit Pola Fendel, die seit dem letzten Jahr vor unserem Abitur in Köln meine Partnerin-in-Crime ist. Ein knappes Jahr nachdem ich in der Hansestadt angekommen war, während meines ersten Semesters an der HAW Hamburg im Fach Bekleidungstechnik, saßen Pola, die ebenfalls in Hamburg Kunst studierte, und ich im Sommer in der Küche von Freunden. Es war ein lustiger Abend, der unser Leben verändern sollte. Anfangs war es nur ein Witz, ein Missverständnis gewesen. Jemand erzählte davon, wie er seine Freundin in der Modeabteilung einer Bibliothek abgeholt hatte, und in der weingeschwängerten Stimmung kam die Frage auf, ob sie sich dort Kleidung geliehen hätte.
Kleiderei – die Bücherei für Kleider war geboren. Am nächsten Tag rief ich Pola an – ich wollte dieses Projekt unbedingt umsetzen. Kleidung leihen war für mich die Lösung, um Ressourcen zu schonen, nachhaltig zu konsumieren und trotzdem mit Mode zu experimentieren. Alles Komponenten, für die mir weder in der Ausbildung noch im Studium jemand Lösungen hatte aufzeigen können. Pola war dabei. Sie ist und war ein Freigeist, gelockt von der Lust auf Abenteuer. Kleiderei war ihr neues Abenteuer und unser neues Ziel. Wir hatten die letzten fünf Jahre zusammen getan was wir wollten, und jetzt taten wir es wieder: Wir gründeten eine Firma.
Kleiderei funktioniert wie eine Bibliothek für Kleidung. Wir haben Kleidung im Monatsabo an Kund*innen verliehen, zuerst in einem kleinen Laden auf St.Pauli in Hamburg – später deutschlandweit. Kleiderei war für uns die Alternative zur Wegwerfgesellschaft.
So haben wir damals, 2012, vor fast zehn Jahren, unsere Vision in Worte gefasst. Begriffe wie »kollaborativer Konsum« oder »Sharing Economy« brachte uns Mischa, der Journalist, der ein Portrait für die brand eins über uns schrieb, bei. Er hatte die Theorie, dass wir mitten in einer Gründung steckten, weil wir etwas gefühlt hatten: Wir wollten Dinge, und vor allem Mode, die wir ja längst nicht mehr aus Bedarf, sondern aus Bedürfnis (wahrscheinlich glatt nur LUST) heraus kauften, nicht mehr besitzen. Wir waren uns nicht sicher, ob es anderen auch so ging, obwohl… eigentlich waren wir uns sehr sicher.
Im Mai 2013, ein gutes halbes Jahr nach unserer Gründung, erschien der Bericht1 in der brand eins mit einer Doppelseite mit Fotos von Pola und mir – und meinem Mini-Baby-Bäuchlein. Wir waren mittendrin. Wir wurden zu einer Konferenz nach Berlin eingeladen, auf der die Ausgabe auslag, Spotify und Airbnb unsere Co-Redner waren und der Moderator Nick uns fragte, wie mensch denn zu solch einer Doppelseite in der brand eins käme. Jahre später besuchte er uns, als wir im Mercedes me Store in Hamburg einen ganzen Monat lang Events zum Thema »Slow Fashion« organisierten. Seine Frage dort war die gleiche: Wie habt ihr das geschafft? Wir wussten es selbst nicht. Für uns war die einfache Erklärung: Wir waren jung, und unser Gespür traf den Zeitgeist. Oder vielleicht waren wir auch so erfolgreich, eben weil wir ihn hinterfragten.
Mit Kleiderei gesellten wir uns damals in die noch, im wahrsten Sinne des Wortes, ziemlich farblose Welt der nachhaltigen Mode. Es gab 2012 wirklich wenig. Wenn überhaupt, die Pioniere von Hessnatur, ein paar Visionäre wie Patagonia im Outdoorbereich; aber Armedangels war noch vergleichsweise klein, und von so etwas Coolem wie Jan‘n June hätten wir nur träumen können. Secondhand hatte ein angestaubtes Image und schien eher etwas für die ältere Generation aus der sozial-ökologischen Ecke zu sein, als für junge und hippe Menschen. Uns war also direkt klar: Wir brauchen Farbe und Sexiness. Das war die Vision für unsere CI, unsere Corporate Identity: coole Mädels (natürlich aus unserem Freundeskreis), die alle was im Kopf haben und darum lieber nachhaltig konsumieren – aber trotzdem sexy sind. Im Grunde haben wir uns gefragt: Was wollen wir selbst sehen? Was würde uns inspirieren?
Ich würde jetzt gerne in die Tasten hauen und sagen: Das ist alles Schnee von gestern. Heute sind wir schon so viel weiter. Aber leider, wenn wir von der Unternehmensgröße von Armedangels absehen, stimmt das nicht.
Die Bürger*innen scheinen nach wie vor verloren in einer Welt zu sein, die uns sagt, dass Konsum glücklich macht. Vielleicht mit dem Unterschied, dass es heute so etwas wie den »perfekten Konsum« gibt. Dem kann mensch vor allem in Großstädten oder online frönen. Es steht in der Regel Bio, Fair oder Vegan drauf, und daneben kleben lustige Logos. Sie sind aber nicht wie die Sticker von Bands, die wir früher auf unsere Laptops klebten, weil wir sie liebten, sondern es sind Siegel.
Siegel, die uns Auskunft geben über richtig und falsch, die aber niemand versteht und auch bei niemandem Gefühle hervorrufen. Dafür ist der Begriff »Siegel-Dschungel« entstanden. Inzwischen gibt es sogar Websites, die uns durch diesen Dschungel helfen sollen. Davon später mehr. Erschwerend hinzu kommt, dass jede Company ihr eigenes Siegel oder ihren eigenen Claim für Nachhaltigkeit erfinden kann. Und so mag auf einer Jeans heute ein fröhliches, grünes Better kleben, aber was heißt das eigentlich genau, und ist besser schon gut?
Es gibt kein Patent auf »Nachhaltigkeit« und keine eingetragene Definition, an die wir uns halten könnten.
Konkret wurde die Idee, dieses Buch zu schreiben, als meine Freundin Cecilia auf Instagram das Foto einer PizzaWerbung postete: »Yoga-Pizza Vegan mit Bio-Dinkelboden.« Unten auf der Verpackung stand: »Mit Hummussoße und ayurvedischen Gewürzen« und dann klebten da zwei Siegel-Sticker drauf: BIO und VEGAN. Und ein dritter, auf dem stand: »5 Cent für gesunde Böden.« Diese Pizza-Werbung würde sich hervorragend als Trinkspiel oder Bingo-Bogen eignen: »Vegan« – Check, »Yoga« – Check, »Bio« – Check. BINGO! Hicks. Das gute Gewissen gibt’s Gratis, denn 5 Cent werden ja für gesunde Böden gespendet. Doch wer oder was sind eigentlich die gesunden Böden? Der BioDinkelboden der Pizza? Die Anbauflächen der ayurvedischen Gewürze?
Ich sage nicht, dass Pizza jemals das einfachste Lebensmittel war. Wir alle haben sicher Stunden damit zugebracht, abgegriffene Pizza-Flyer aus Küchenschubladen durchzukämmen, um uns für die beste Wahl zu entscheiden. In unseren Kleiderei-Zeiten war Pizza unser Hauptnahrungsmittel. Als wir noch unseren ersten Laden auf St.Pauli hatten, holten wir uns immer die Mini-Pizza aus dem Kaminofen der Pizzeria »Alt Hamburg«. Wir mussten nicht in das Restaurant hineingehen, sondern konnten direkt außen an einer kleinen Theke bestellen. Vor unseren Augen wurde die Kaminofenpizza frisch zubereitet. Das war praktisch, denn als Jungunternehmerinnen litten wir natürlich chronisch unter Zeitnot. Darauf werde ich später noch genauer eingehen. Zurück zur Pizza: Sie war kross, frisch und lecker und ist bis heute Kult an der Hamburger Reeperbahn. Als wir später mit Kleiderei online gingen und unser Headquarter nach Hammerbrook verlegten, bestellten wir immer dann Pizza, wenn wir bis in die späten Abendstunden an unserem Business tüftelten. Oder an der Steuer.
Scharfe Peperonis, keine Peperonis? Auf Pizza schmecken auch Dinge hervorragend, die mensch sonst nicht essen würde, Sardellen zum Beispiel. Pizzabelag war schon immer ein hervorragendes Streitthema. Ich hatte in Köln mal einen Mitbewohner, der nicht müde wurde, mir in unserer WG-Küche bei jeder Pizzaparty zu erklären, dass auf eine original italienische Pizza nichts anderes als Tomaten, Mozzarella und Basilikum gehörten. Unnötig zu erwähnen, dass wir ihm auch meistens zu laut waren bei diesen Pizzapartys. Eine angemessene Reaktion darauf beschreibt Sophie Passmann in ihrem Roman Komplett Gänsehaut: »Vor ein paar Jahren haben Arschlöcher angefangen, jedes Mal, wenn jemand Pizza gegessen hat, zu erwähnen, dass das ursprünglich mal ein Arme-Leute-Essen war«, nur um dann Pizzerien zu eröffnen, die alle möglichen speziellen Pizzabeläge anbieten, die arme Leute sich nicht mehr leisten können.«
Pizza ist für alle da! Nichts hilft einem besser aus einem Kater heraus als Pizza. Nichts spendet mehr Trost auf dem Sofa. Und nichts sagt mehr über deine Persönlichkeit aus. Beständige oder ängstliche Menschen bestellen immer dieselbe Pizza (Beständigkeit und Angst liegen ja auch nahe beieinander). Wilde Menschen probieren gerne etwas Neues aus und werden auch schon mal enttäuscht, was aber nicht schlimm ist. Besonders unsichere Menschen sind öfter mal enttäuscht von ihrer Wahl, und als Gratis-Topping liegt auf ihrer Pizza der Futterneid. Die Cleveren unter uns organisieren sich direkt einen Tauschpartner oder bestellen gleich halb/halb. Dann gibts nichts zu bedauern. Bereuen wollen wir ja sowieso nichts.
Das Schöne an Pizza ist wie bei vielen anderen Guilty Pleasures: Grundsätzlich macht sie jede Form körperlicher Aktivität sehr unwahrscheinlich – eine Form der Entschleunigung, die durchaus entlastend sein kann (und daher gewollt).
Mit dem Post von Cecilia und dieser Pizza, die nichts mehr von Guilty Pleasure hat, sondern zum Bio-Pizza Dilemma wird, das einem nur noch sagen will, wie es RICHTIG geht, war es um uns geschehen und wir wollten etwas schreiben, was diesem ganzen perfekten Konsum-Blabla einen anderen Zugang erlaubt. Denn was mal gut anfing, mit Produkten vom Demeter-Hof, ist inzwischen in eine Maschinerie ausgeartet, die komplett intransparent genauso an uns verdient wie die konventionelle Industrie. Und genauso, wie es nicht stimmt, dass Bio immer gesund ist – und demzufolge natürlich auch nicht dick macht, ist auch nicht alles gut, sobald nur »Bio« draufsteht. Warum nicht? Weil Bio allein nicht bedeutet, dass die Menschen entlang der Lieferkette fair bezahlt wurden. Und umgekehrt. Doch auch dazu später mehr.
Wir sind vielleicht nur ein kleines Stück dieser Pizza, die sich Krise nennt. Umweltkrise, Klimakrise, Menschenrechtskrise, Zukunftskrise. Aber wie groß ist unser Anteil? Wir, die Bürger*innen, die zwischendurch zu Konsument*innen werden, denen eine ganze Industrie nun erzählt, es wäre unsere Verantwortung, es wäre unser Bio-Pizza Dilemma. Aber was, wenn es das nicht ist? Wenn die Lösung nur bedingt in unserer Hand liegt? Dem wollen wir auf die Spur gehen.
Außerdem finden wir, dass, wie bei unserem Lieblingspizzabelag, jeder Mensch seine eigene Nachhaltigkeit haben sollte. Für die einen gibt es einen ganz konkreten Fahrplan, der jeden Tag umgesetzt werden will. Für die anderen wird jeder Tag neu justiert, weil das Leben einfach wild ist.
Dazu soll dieses Buch ermuntern.
Finde deine eigene Nachhaltigkeit.
In erster Linie geht es darum herauszufinden, was gut für dich ist. Für dich, ganz persönlich. Niemand weiß, wie »perfekter« Konsum geht und wie viel Macht wir überhaupt haben.
In den sozialen Netzwerken trended der Ausspruch: »Dein Kassenzettel ist dein Stimmzettel.« Aber gibt es überhaupt eine Wahl zu diesem Stimmzettel? Oder ist unser Kassenzettel am Ende nur unsere Meinung. Und kann eine Meinung überhaupt Strukturen ändern? Oder braucht es mehr?
Perfekter, nachhaltiger Konsum ist nicht die Lösung, soviel möchten wir schon mal vorab feststellen. Du kannst es also nur falsch machen. Und niemand, glaube mir, wirklich niemand weiß, wie es richtig geht. Wenn dir also jemand bei der nächsten WG-Party (hoffentlich ist es bald wieder soweit), erklärt, wie mensch ein anständiger Veganer wird oder dass Hafermilch einfach so viel besser ist als Mandel- oder Sojamilch, dann sag höflich: »Danke«, und geh.
Thekla: Ich war 17, als ich wusste, dass ich die Modeindustrie radikal ändern möchte. Konkret bedeutet das für mich: Nachhaltigkeit implementieren. Ich hatte eine Vision, ein Ziel, eine Aufgabe und war dabei noch blutjung. Mir ist klar, dass das mehr als selten ist und auch eine unfassbar glückliche Fügung.
Heute sagen mir Menschen oft, dass sie nicht wissen, wo sie anfangen sollen mit diesem nachhaltigen Konsum. Und ob mensch es überhaupt perfekt machen kann? Sie erzählen mir, dass sie fürchten, dass ihr Job sinnlos ist. Dass sie nicht jeden Tag die Welt retten – aber doch eigentlich sollten, oder? Ich schreibe dieses Buch für alle diese Menschen. Und für dich. Denn da du dieses Buch in der Hand hältst, vermute ich, dass du die gewisse Neugierde besitzt, die wir für einen Wandel brauchen.
In erster Linie hatte ich das Glück, mit 17 zu spüren, was gut für mich ist. Und was gut für dich ist, ist auch gut für die Welt – um diesen Zusammenhang soll es in diesem Buch gehen. Dieses Buch ist voll überraschender Entwürfe und Inspirationen für mehr Nachhaltigkeit, dabei aber so klein, dass du es problemlos jeden Tag mit dir herumtragen kannst. Es soll dein ständiger Begleiter sein, auf der Suche nach deinem Weg für ein gutes Leben, für dich und deine Umwelt.
Robin: Seit einigen Jahren schon stelle ich Studierenden in meinen Seminaren immer die gleiche Frage: »Geht die Welt auf oder unter?«
Die Antwort ist stets dieselbe: Die Welt geht unter! Nur einmal saß meine achtjährige Tochter, zwischen ihren Malstiften vergraben, mit im Seminar und erhob entschieden Einspruch: »Die Welt geht auf!«
Seitdem beschäftigt mich die Frage, warum gerade die jüngsten Mitglieder einer Wohlstandsgeneration mehrheitlich davon überzeugt sind, dass ihre Welt untergeht.
Leben wir tatsächlich in einer Gesellschaft ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft?
Ohne Wissen können wir nur unvollständig sehen.2
– Frank Berzbach
Nach dem Abitur habe ich mich für eine Ausbildung zur Bekleidungstechnischen Assistentin entschieden. Mein Schuldirektor schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich mir meine beglaubigte Zeugniskopie abholte und murmelte so etwas wie: »Mit so einem Abitur macht man doch keine Ausbildung.« Aber ich wollte verstehen, wie das ganze System Textilindustrie funktioniert und fand, dass ein theoretisches Studium dafür nicht der richtige Zugang war. Ich wollte Nähen lernen, Materialien anfassen, ganz am Anfang beginnen, um so viel Wissen zu gewinnen, dass ich das System gekonnt hinterfragen kann.
Und so wollen wir auch mit diesem Buch beginnen. Hier kommt das 1x1 für die Dinnerparty, mit dem du erstmal vieles kennenlernst, was diesen unendlichen Kosmos »Nachhaltigkeit« ausmacht, und noch viel wichtiger: welche Grenzen wir in diesem Kosmos bereits erreicht haben. Garniert auch hier immer mit einer Portion Humor, denn Humor ist das beste Mittel für Wandel. Angst sollst du keine bekommen. Angst lähmt, und wir wollen ja handeln.
Und dann fragt dich auf einmal jemand: Siehst du den nächsten zwölf Monaten mit Hoffnungen entgegen?
Es wird kurz still, du stehst da und fragst dich: Ja, was gibt mir denn eigentlich Hoffnung? Tatsächlich stellt das Umfrageinstitut Allensbach diese Frage schon seit mehreren Jahren, wobei erst im letzten Jahr ein historischer Tiefpunkt erreicht wurde: In der Generation der 30- bis 59-Jährigen sehen nur noch 22 Prozent den nächsten zwölf Monaten mit Hoffnungen entgegen. Im Vergleich dazu sahen im Jahr 2015 noch strahlende 57 Prozent der Zukunft mit Hoffnung entgegen.3 Ein erdrutschartiges Stimmungstief, das vor allem durch den ungewissen Verlauf der Pandemie und die damit verbundene Unsicherheit entstanden ist.
Passend dazu hat die Weltuntergangsuhr im Januar 2020 einen neuen Spitzenwert erreicht und steht nun auf 100 Sekunden vor Mitternacht. Seit 1947 zeigt diese symbolische Uhr, auch genannt Doomsday Clock, unsere Nähe zum Weltuntergang an. Um über den Zeigerstand der Uhr zu entscheiden, treffen sich zum Anfang eines jeden Jahres angesehene Wissenschaftler und Nobelpreisträger und debattieren. Während die Gründe für das Umstellen der Uhr in den letzten Jahrzehnten das atomare Wettrüsten oder politische Konflikte waren, bietet nun auch der Klimawandel zunehmend Anlass zur Sorge. Die Zeiger stehen aus unterschiedlichen Gründen mal auf 7 vor 12, dann 3 vor 12 oder wieder auf 5 vor 12. Heute deuten die Zeiger auf 100 Sekunden vor Mitternacht, und die Welt steht so kurz vor dem Untergang wie nie zuvor.4
Hören wir dazu die bemerkenswerte Rede des UN-Generalsekretärs António Guterres »Zur Lage des Planeten« vom Dezember 2020 an der Columbia University in New York. Die ersten Minuten der Rede sollte niemand auf nüchternem Magen hören, denn auf die einleitenden Worte »…der Zustand des Planeten ist gebrochen« folgt eine verstörend lange Aufzählung und äußerst drastische Beschreibung über das Ausmaß der menschlichen Zerstörung des Planeten Erde.
Passend dazu erscheinen im Wochentakt fortlaufend neue Studien, Diagnosen und Prognosen zum bevorstehenden Weltuntergang.
Fassen wir die Lage der Welt nochmals mit den Worten des UN-Generalsekretärs Guterres zusammen: »Die Menschheit führt Krieg gegen die Natur. Das ist Selbstmord… Menschliche Aktivitäten sind die Wurzel unseres Abstiegs in Richtung Chaos.«6
Nun, sind das die Gründe für unsere schwindenden Hoffnungen in Bezug auf die Zukunft? Haben wir den Glauben an die Zukunft wirklich verloren oder nur den Anschluss?
Wer den Anschluss verliert, kann aber auch kein Interesse aufbringen. Denn an dieser Stelle müssen wir genauer unterscheiden: Der Glaube an die Zukunft ist für jeden von uns der Grund, morgens aufzustehen. Wäre dieser Glaube verloren gegangen, hätten wir es heute Morgen nicht bis unter die Dusche geschafft. Was wir aber tatsächlich verloren haben, ist das Interesse an einer Zukunft als Verlängerung der Gegenwart. Wenn das Morgen nämlich genauso aussehen soll wie das Heute oder das Gestern, dann wird das nichts mit der Zukunft. Und die zunehmende Sichtbarkeit der negativen Konsequenzen unseres Umgangs mit der Welt tun ihr Restliches dazu. Wir verlieren das Interesse.
Unser Glaube an die Zukunft ist hingegen so unerschütterlich, dass er schon viele Jahrhunderte und viele Weltuntergangsszenarien überlebt hat. »Die Zeit ist nahe«, stellte der Prophet Johannes bereits im biblischen Buch der Offenbarung ist Aussicht.7 Seitdem ist die Welt unzählige Male und auf verschiedenste Weise (fast) untergegangen. Wieder und wieder, eigentlich ständig. Im Grunde ist die Welt schon immer untergegangen. Mensch könnte mit einem flüchtigen Blick auf die Doomsday Clock fast denken, dass es unsere feste Überzeugung vom unmittelbar bevorstehenden Ende dieser Welt ist, die uns Menschen wirklich einzigartig macht. Aber es wird ja eine Zukunft geben. Unvorstellbar vielleicht. Doch es wird eine geben.
Die Lust an der Katastrophe ist also nichts Neues. In meinem Studium der Demografie war es eine beliebte Übung, das Wachstum von Bevölkerungen (es konnten auch Maikäfer oder Rotwild sein) so zu berechnen, dass am Ende die gesamte Erdoberfläche besetzt wäre. Vorausberechnungen aus den 60er-Jahren hatten ergeben, dass der Anstieg der Weltbevölkerung dazu führt, dass am 21. Juni 2116 jeder Mensch nur noch einen Stehplatz auf der Erdoberfläche zur Verfügung hat.8 Und doch bleiben wir dran und machen weiter.
Die oben genannten Ergebnisse des Umfrageinstituts Allensbach können wir auch als »Zukunftsatheismus« verstehen. Diesen Begriff prägte der bekannte Philosoph Peter Sloterdijk und bezeichnet damit das Phänomen unserer Zeit, einerseits um die Gefahren unseres Handelns in der Welt zu wissen, diese aber nicht in politisches Handeln oder Konsequenzen übersetzen zu können. Was uns also abhandengekommen ist, scheint der Glaube an die Gestaltbarkeit der Zukunft zu sein.
Nicht zu wissen, wie der Untergang der Welt konkret aussieht oder abläuft, ist ja völlig in Ordnung. Das liegt im Wesen der Geschichte, die viele Sprünge kennt. Epochale Ereignisse ohne Vorlauf, Vorbereitung oder Vorspiel. Herleiten lässt sich die Zukunft jedenfalls nicht. Und schon gar nicht aus der scheinbar unumstößlichen Gegenwart. Sicher ist nur, dass viele der heute geborenen Jungen und Mädchen, bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von rund 80 Jahren, beste Chancen haben, die Welt im Jahr 2100 zu erleben. Wie auch immer sie dann aussieht.
Wenn ich auf meinen jährlichen Bescheid der Rentenversicherung schaue, lese ich dort als offizielles Datum meines Renteneintritts das Jahr 2048. Jahr für Jahr finde ich diesen Bescheid der Rentenversicherung zuverlässig in meinem Briefkasten vor und stelle mir dann immer dieselben zwei Fragen: 2048 – das Unplanbare: Was werde ich alles erleben bis dahin? Das Unvorhersehbare: Was erwartet mich?
Während wir für unser persönliches Leben noch Neugierde und Interesse übrig haben, entwerfen wir für die gesamte Menschheit mit erdrückenden Zahlen und düsteren Szenarien das Bild einer Zukunft auf einem geplünderten und kaputten Planeten. Ganz wissenschaftlich und nüchtern analysiert, ist das Ende der menschlichen Zivilisation bis zum Jahr 2050 sogar das wahrscheinlichste Szenario.9 Haben wir wirklich die Hoffnung verloren, die Zukunft unserer Welt gestalten zu können?
Eine Frage - drei Antworten
Was gibt dir Hoffnung?
Thekla:
Okay, ich sage es mal ganz ehrlich: nichts anderes, als der feste Entschluss, Hoffnung zu haben. Wenn es mies läuft (und das tut es ja nur allzu oft), dann sage ich mir: Es wird wieder besser werden.
Robin:
Viele kleine Schritte, von vielen, immer wieder.
Du:
Okay, einmal kurz auf Anfang: Wie sind wir überhaupt in die Umwelt- und Klimakrise geraten, und gibt es natürliche Grenzen des Wachstums?
Es gibt genau einen Menschen, der schon einmal in der Zukunft war. Der russische Astronaut Gennadi Padalka hält den aktuellen Rekord zur Aufenthaltslänge im Weltraum, insgesamt 879 Tage10, und laut Albert Einsteins spezieller Relativitätstheorie könnten wir jeden beliebigen Zeitpunkt in der Zukunft erreichen, wenn wir uns in einem Raumschiff hinreichend zügig (nahezu mit Lichtgeschwindigkeit) von der Erde fortbewegen und dann wieder zurückkehren. Da sein Arbeitsplatz mit einem Tempo von 28.000 km/h um die Erde kreist, ist der Astronaut Padalka ganze 25,5 Tausendstelsekunden in der Zeit gereist und damit von uns allen am weitesten in die Zukunft vorgedrungen.11
Realistischer ist es also, es mit dem Blick in die Vergangenheit zu versuchen, um etwas über die Zukunft zu lernen. Es ist nämlich so, dass die ersten Warnungen einer Klimaund Umweltkatastrophe inzwischen fast 70 Jahre alt sind. Schon im Jahr 1948 erschienen Bücher mit Titeln wie Unsere geplünderte Erde oder Road to Survival.
Überhaupt ist das Jahr 1948 ein wichtiges Datum, denn genau zu dieser Zeit nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die wir heute als die »große Beschleunigung« bezeichnen.12 Seit den 50er-Jahren erleben wir einen rasanten Anstieg verschiedenster gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und ökologischer Entwicklungen. Gleichzeitig leben wir seitdem aber mit dem Wissen über den Zustand unserer Erde und die Auswirkungen unseres Handelns. In gewisser Weise haben wir also unsere Zukunft schon erlebt: Nur wie können wir sie dieses Mal anders gestalten?