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Table of Contents

Titel

Impressum

Tulpen lagen zu ihren Füßen – Tia Bienvenida

Winter im Jahre 2087

Koloss heute

Das Erwachen

Koloss Winterzeit

Draußen in der Stadt um ein Uhr nachts, bei klirrender Kälte

Die Begegnung

Die Nacht begann um den Wettlauf nach Rettung

Am Rande der Stadt

Lebensgefahr

Die Suche

Kalte Nächte schützen nicht

Das Labor in Sungaden

Gefangenschaft

Umdenken

Die Liebe besiegt die Angst

Planspiel

Pochende Herzen

Der Vormarsch

Schützende Hände

Der Entschluss

Kein Mitleid

Entscheidung

Das Geschäft

Alter Bekannter

Die Suche nach dem nicht Möglichen

Donner über Koloss

Kampfbeginn

Der Ausgang

Rückzug

Das Labor in Sungaden

Zusammenkunft

Eine Lüge lebt

Zuversicht

Zurück in eine neue Zukunft

Verrat

Die Hoffnung

Der Doktor

Der Weg zurück

Zuhause

Rettung

Der Präsident

Der Plan geht auf

Abgeholt

Die Verhaftung

Kennenlernen

Die Aussprache

Liebe findet ihren Weg

Das Urteil

Zukunftsängste

Sungaden

Die Einladung

Der Tag, der alles ändern sollte

ÜBER DEN AUTOR

MEHR SPANNUNG VON ROLAND KLAUS BEI DEBEHR

 

 

Roland Klaus

 

 

 

Projekt Bluelife

– Bald bist auch du tot

 

 

 

 

 

 

Postapokalyptischer

Endzeit-Thriller

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Roland Klaus

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2021

ISBN: 9783957538642

Umschlaggrafik Copyright by AdobeStock by © grandeduc

 

Tulpen lagen zu ihren Füßen – Tia Bienvenida

 

Die Welt, in der ich seit meiner Geburt leben durfte, war mir mittlerweile mehr als fremd geworden, obwohl ich sie erst seit einigen Jahren so richtig bewusst wahrnahm. Endlich hatte ich mich damit abgefunden, dass das mein Leben sein sollte und nichts anderes mehr dazukommen könne. Es war ein Leben, das nachtein, nachtaus sich nicht voneinander trennte und einen schon lieb gewordenen Zeitablauf mit sich brachte. Die Zeit hatte jede bestimmte Art verloren und spiegelte nur noch die Ziffern auf der großen Wanduhr wider, sodass sie trotz allem nicht in Vergessenheit geriet. Realisiert, warum sich mein Leben wie aus dem Nichts heraus so änderte, war in meiner geistigen Gefangenschaft nicht so einfach. Gerade ich, der sein ganzes lausiges Leben zuvor noch als krasser Außenseiter in der Unterschicht der Menschheit verbrachte, bekam diese Chance und konnte sie trotz meines damaligen Willens nicht so nutzen, dass alles, was sich mir nun bot, sich in das verwandelte, was mir dieses Glücksgefühl des Erfolges brachte und noch lange erhalten bleiben sollte.

Nun lagen die Tulpen zu ihren Füßen und ich war einfach nicht in der Lage, mich zu bewegen oder auch nur Trauer darüber zu zeigen. Obwohl sie es in irgendeiner Art und Weise mehr als verdient gehabt hätten, für das, was sie alles für mich taten.

 

Winter im Jahre 2087

 

Paul Mirror ging wie jede Nacht noch vor dem Sonnenaufgang die ganzen Papier- und Mülltonnen im angrenzenden Park seines Wohngebietes durch, und versuchte, so noch vor den städtischen Entsorgungsunternehmen das eine oder andere zu erhaschen, das er glaubte, für seine Zwecke nutzen zu können, bevor sie auf Nimmerwiedersehen verloren waren. Eine ganze halbe Stunde blieb ihm zumeist vor der Sirene, um noch an einige Flaschen mit Restflüssigkeit oder, wenn er viel Glück hatte, noch an brauchbare Essensreste zu gelangen. Waren erst einmal die ganz in blauen Overalls eingehüllten städtischen Reinigungskräfte vor Ort, gab es nichts mehr, wonach man hätte suchen können. Jeder Beweis einer vorangegangenen Nacht wurde mit Anbruch des Tages penibel und mit Sorgfalt vernichtet, sodass die selbsternannte Oberschicht der regierungstreuen Anhänger einen Eindruck von einer perfekten Welt geboten bekam, in der alles getan würde für ihre Bedürfnisse, um es an nichts fehlen zu lassen, wonach sie strebten. Tageslicht bedeutete alles und war von weitaus höherer Qualität, als alles andere einige Stunden zuvor, als Menschen wie Paul Mirror in der Abgeschiedenheit der Nacht ihre Berechtigung des Lebens auf dieser Erde fanden.

Keiner dieser beiden Gesellschaftsschichten war es möglich, sich, auch wenn sie es gewollt hätten, in die anderen hineinzudenken. Für die Menschen, die die Sonne höchstens durch ihre Fantasie erahnen hätten können, gab es aber so etwas wie Glück nicht. Paul jedenfalls hatte noch nie von jemandem gehört, dass es je einer aus seiner Gesellschaftsschicht ins Tageslicht geschafft hätte. Wie viele aber vom Tag in die Nacht wechselten und sich Hoffnungen machten, eines Tages wieder in Gnade aufgenommen zu werden, überschritt seine Art von Zählen um vieles. Doch diese Hoffnung war eine, die nie mehr zustande kam, dies wusste sogar Paul Mirror. Hineingeboren in eine Welt, ohne jegliche Chance, etwas mehr daraus zu machen zu können. Millionen von Menschen lebten peinlichst genau registriert hier im Stadtstaat Koloss, der der alphabetischen Reihenfolge der Nachbarstaaten angeschlossen wurde, so zumindest wurde es ihnen von klein auf gelehrt.

Insgesamt gab es zehn dieser Genforschungsstaaten der amerikanischen Regierung, gekoppelt mit zwölf europäischen Einrichtungen. Zappados nannten die Wissenschaftler 1990 die erste Maschine, die die künstliche Befruchtung einzelner Eizellen ohne die Gebärmutter einer lebenden Frau verrichten konnte. Anfangs noch heiß diskutiert und in den Streitdisputen als Teufelszeug verachtet, änderten sich die Meinungen mit jeder weiteren Naturkatastrophe, die die Erde heimsuchte, sehr rasch. Was zuerst verflucht wurde, wurde nun als die Rettung der Menschheit von allen gefeiert. Wissenschaftler bekamen von den zwölf führenden Machtstaaten absolut freie Hand, kostete es, was es wolle. Einzig das Ergebnis musste am Ende stimmen und Eindruck machen. Zappados wurde so Jahr für Jahr weiterentwickelt, bis sie 2035 feststellten, dass es nicht mehr besser ging. Und so starteten sie das Projekt Bluelife am 27.08.2035. Zappados produzierte Woche für Woche Neugeborene für die sogenannte Neue Welt. Während die Staaten im rasanten Tempo auf Kontinenten, die man von nun an nicht mehr brauchte, rücksichtslos Platz machten für eine neue Generation, der man zutraute, alles besser zu machen, als es je zuvor gelang. Erste Hochrechnungen im Jahre 2038 ergaben, dass das ausgegebene Ziel von dreißig Millionen Retortenmenschen schon im Jahre 2057 um acht Millionen überschritten werden würde. Weshalb daraufhin die zwölf Staatsmächte einheitlich beschlossen, jeden Menschen, der ab 2042 über 67 Jahre gelangt war, einen freiwilligen Tod zu ermöglichen. Wobei hier in den Überlegungen nur die jeweiligen amtierenden Staatsoberhäuser nebst Familien, sowie alle Industriebosse mit ihren Familien von dieser Regelung ausgeschlossen werden sollten. Dass Planung und die reale Praxis sich 2087 weit überschnitten, dies konnten sie nicht vorhersehen, bei all ihren Bemühungen, die menschliche Rasse am Leben zu erhalten.

Und so hatten die darauffolgenden Nachfahren dieser Ideengeber die neue Idee, durch eine Zweiklassengesellschaft dieses Problem in dem Griff zu bekommen. So wurden die Menschen und ihre künstlichen Gegenstücke kurzerhand in die Ebenen Tag und Nacht aufgeteilt. Gutbetuchte und noch real geborene Kinder wurden nach der Stilllegung von Zappados in den Tag eingeteilt. Während die einfache Gesellschaft zusammen mit den Retortenmenschen, sowie Gewalttäter und Räuber in die Nachtphase verfrachtet wurden. Paul Mirror war eine von diesen in die Nachtebene hineingeborene lebende Leiche, wie sie sich ironisch selbst nannten. Sie mussten weder hungern noch Durst leiden und hatten die Selbstverwaltung, sich eine Struktur zu schaffen, die ihnen ein fast harmonisches Leben miteinander ermöglichte. Selbst unter diesen einzigen schweren Bedingungen, womöglich nie wieder das Tageslicht sehen zu dürfen. Es war ein einfacher, aber dennoch mehr als gelungener Schachzug der nun herrschenden Regierungen, sich schnell und rasch von dieser Fußfessel der Menschheit zu befreien. Denn so war es ihnen möglich, mit einem mehr als geringen Personalaufwand die in der Nacht lebenden Menschen auf jeden seiner einzelnen Schritte zu kontrollieren. Sie formten ein Computerspiel der frühen 2000er nach und gründeten Abteilungen, die alle Nachtmenschen überwachten, sodass kein Nachtmensch aus dem Raster entfliehen konnte. Selbst der wenige Widerstand und die kritischen Stimmen, die es wagten, sich lautstark gegen dieses System zu stellen, bezeichneten diese Menschen als „Lebendes Puppenspiel.“ Die Bürokratie und Reglung bestand jetzt nur noch auf dem alten Modell von Professor Jason Brenndorn von der New Yorker Universität, das die Regelung der Einteilung der neugeborenen Kinder bestimmte. Auf natürliche Weise geborene Kinder, die zwischen 8.00 – 22.00 Uhr zur Welt kamen, lebten in der Tagzone. Die anderen wurden in die Nacht versetzt. Wobei Retortenkinder in dieser Bestimmung keinen Anklang fanden und automatisch der Nacht zugeteilt wurden.

An dieses Modell mussten sich fortan alle Regierungen halten, um die Zuwächse der einzelnen Stadtstaaten vor der Überbevölkerung zu schützen. Durch dieses strikte Verfahren wurde jede Art von Neid unter den Bevölkerungen im Keime erstickt. Was auch als Nebeneffekt eine Revolution Andersdenkender von vorneherein nicht zuließ, da sie dadurch einfach nicht genügend Mitstreiter ins Boot bekamen, die sich einer dieser Gruppen anschlossen. Regeln in den Zonen bestanden fast keine und solange man sich nichts zuschulden kommen ließ, was ohne die Genehmigung des Regulators kam, brauchte man sich keine Sorgen zu machen für eine Abstufung im ersten Fall oder gar den Tod im Falle der Nachtmenschen.

Koloss und seine Brüderstaaten lebten unter diesen bestimmten Voraussetzungen, die dieses System zu bieten hatte, einfach schon zu lange. Sie hatten sich auf die Wissenschaftler verlassen und trauten ihren Aussagen. Zweifel gab es nie daran, denn es lief alles wie am Schnürchen bis eines Tages …!

 

Koloss heute

 

Mit dem linken Handrücken zog Paul unterhalb seiner Nase entlang und betrachtete das Blut, das sich schleimig und leicht schwarz verfärbt dort widerspiegelte. In den letzten Tagen war es ihm aufgefallen, dass er nun schon in immer kürzeren Abständen des Öfteren Nasenbluten bekam. Er brauchte dafür keine Verletzung oder Überanstrengung vorzuweisen, um diese hervorzurufen. Was ihn aber mehr beunruhigte, als die Tatsache, dass er plötzlich vermehrt aus der Nase blutete, war, dass dieses Blut anfing sich zu verfärben. Von ganz leichtem Rot in nun dickflüssiges Dunkelrot mit schwarzen Streifen darin, die nichts Gutes vermuten ließen bei ihrem Anblick. Paul kannte die alten Geschichten, die vorhersagten, dass dieses Bluten den Tod recht bald nach sich ziehen würde. Aber glauben daran, wollte er nicht so recht. Einerseits hätte er liebend gerne darüber gelacht. Doch andererseits war er sich immer noch nicht so sicher, ob er es wagen sollte, sich mit diesen in der letzten Zeit aufkommenden Gerüchten auseinanderzusetzen. Denn an jeder Geschichte, so wurde es ihm seit seinen Kindheitstagen immer und immer wieder eingebläut, gab es auch einen Hauch der Wahrheit. Angeblich, so wurde es ihm unter der Hand erzählt, soll jedem Retortenkind ein Gen mit verpasst worden sein, das von vorneherein nur eine Lebenserwartungsdauer von zweiundfünfzig Jahren zuließ, um den Naturgeborenen die Möglichkeit zu bieten, nicht auf dieselbe Stufe gestellt zu werden, wie ihre im Labor gezüchteten Brüder und Schwestern.

 

Sein Blick auf das gegenüberliegende Schaufenster gab das wider, das er auch hier in seiner Welt darstellte. Ein Mann, der laut seinem Chip neununddreißig Jahre alt sein sollte. Aber sich momentan fühlte, als wäre er schon an die 60. Seine Haut war blass und fast schon so hellhäutig geworden, dass sie krank erschien. Was aber nach seiner Meinung nicht nur an der fehlenden Sonne lag, sondern wohl auch an den Zustand, den die Mülltonnen mitbrachten. Die, die Menschen seinesgleichen dort Nacht für Nacht herausholten. Einige Sekunden verharrte er mit diesem Blick in sein spiegelndes Aussehen und verlor sich dabei in seiner eigenen Gedankenwelt, die er sich zu jeder Minute so sehr wünschte, erleben zu dürfen. Dabei fragte er sich immer, ob es ihm besser gehen würde, wenn er ein Tagmensch geworden wäre. Oder ob er jetzt auch genau an dieser Stelle stand mit einigen seiner Habseligkeiten in der Hand, die ihm eigentlich gar nicht gehörten. Warum er sich nun gerade jetzt im Anblick seines menschlichen Wesens diese Frage stellte, konnte er für sich selbst in diesem Moment nicht beantworten. Neid, dem anderen gegenüber, es nicht zu haben oder Mitleid mit sich selbst, war es auf keinen Fall. Denn er kannte nur dieses eine Leben, das er nachts immer in derselben Routine lebte, ohne einmal lauter zu hinterfragen, warum ausgerechnet er es sein musste, der dort dann immer stand. Einen Tagmenschen hatte er noch nie zu Gesicht bekommen, weshalb er vermutete, dass ihn die Neugier zu diesem verbotenen Gedanken trieb. Paul packte rasch ein, was er nur finden konnte. Bevor der pfeifende Countdown begann, der die Nachtmenschen aufforderte, sich in ihre Unterkünfte zum Einschluss zu begeben. Noch hatte er aber zu wenige brauchbare Tauschobjekte für den samstäglichen Liebespartner gefunden. Zwei ganze Nächte blieben ihm noch, um ihn in eine vordere Position der Anwärter bringen zu können. Erst einmal hatte er das Vergnügen, als er eine Kugel aus Glas mit seltsamen Dingen darin fand, eine vordere Position der Anwärter zu bekommen. Und so wusste er nur zu gut, wie wichtig es war, etwas zu finden, das kein anderer aufbieten konnte. Damals gönnte ihm der Regierungsmitarbeiter die erste Wahl. Warum sich Paul ausgerechnet für Belinda entschied, war wohl mehr die Neugier, ob es sich bei einer Naturgeborenen genauso anfühlte, wie bei einer seinesgleichen. Doch mit der Zeit verlor sich auch diese Neugier in ihm. Wobei er die Gespräche mit Belinda immer noch sehr vermisste. Durch sie hatte er das Gefühl, selbst einen freien Gedanken äußern zu können, ohne gleich in die Schublade des Ahnungslosen geschoben zu werden. Der darauffolgende Sex glich bis auf den einzigen Unterschied, dass er es genoss, bei einer naturgeborenen Frau, nicht die gleiche Unreinheit seines eigenen Körpers zu spüren. Welches Gen auch immer die Wissenschaftler damals den Retortenmenschen mitgaben, das ein Altern der Haut dermaßen vorantrieb, dass sie einem zusammengelegten Segeltuch glich, wurde nie angesprochen.

Ganze zwei volle Taschen waren die heutige Ausbeute, die er sich zu Hause bei seiner künstlichen Lichtquelle näher ansehen wollte. Immerhin fand sich dann doch unter all dem Müll ein Schatz, der ihm das Gefühl gab, wieder alles richtig gemacht zu haben.

 

Das Erwachen

 

Langsam und sehr vorsichtig zog Paul seine eingehängten Rollladen der Kellerfenster an beiden Seilen gleichzeitig nach unten, bis sie in der vorgeschriebenen Sicherungseinrichtung verankerten, um sich blickdicht zu verschließen. Erst jetzt, als die elektronische Überprüfung seiner Zwei-Zimmer-Wohnung dies mit der grünen Lampe signalisierte, begann für ihn der Tageseinschluss. Nun war Paul auch endlich in der Lage, den Stromkreis zu schließen, um seine Zimmerbeleuchtung zu aktivieren. Manchmal brauchte es mehr als eine halbe Stunde, bis grünes Licht erschien, was Paul dazu zwang, regungslos auf seinem Bett zu verharren, um fieberhaft die Lampe zu fixieren. Um seine abgelegten Taschen auf dem Küchentisch zu begutachten, gab er sich selbst etwa 2 Stunden, um all die gesammelten Fundstücke der Nacht in Augenschein zu nehmen. Erst dann, wenn er sich selbst sicher war, etwas Besonderes zu haben, das er nun seins nennen durfte, dachte er daran, seiner Müdigkeit der arbeitsreichen Nacht nachzugeben. Mit seinem Kennerblick, den er sich mittlerweile über all die Jahre angeeignet hatte, schweifte sein Blick, als würde er jedes einzelne Stück scannen, über die gesammelten Gegenstände. Aber nach wenigen Momenten wurde ihm schon bewusst, dass sich die Arbeit der letzten Nacht nicht gelohnt hatte. Viele seiner Gegenstände waren unter all den Sammlern, wie ihm, schon zuhauf vertreten, um sich irgendwelche Chancen ausrechnen zu können, einen Platz ganz vorne zu bekommen. Leicht enttäuscht, die Früchte seiner Arbeit nicht eingefahren zu haben, wischte er den ganzen Tisch mit einem Schwinger leer und beförderte alles mit einem schlechtlaunigen Gesichtsausdruck in die Brennkammer seines Ofens, der durch diese erhaltenen Extrawerte rasch nach oben anstieg und somit die Anzeige auf über 70 % Leistung hochfuhr. So produzierte er zumindest genügend Wärme, um die nächsten zwei Schlafperioden nicht im Kalten verbringen zu müssen.

Genervt und enttäuscht darüber, dass es wieder einmal nicht geklappt hatte, mummelte er sich tief in die Decke ein, um nun zumindest einen ruhigen Schlaf zu finden, den er heute mehr brauchte als sonst. Gerade einmal eine volle Umdrehung des Sekundenzeigers benötigte er, um weit weg von seinem jetzigen Schicksal zu sein. Pauls sich stets wiederholender Traum, den er in der letzten Zeit hatte, zog ihn bis in die Haarspitzen immer wieder in den gleichen Bann. Zeitweise brauchte er nach dem Erwachen mehr als zwei Stunden, um all die Bilder, die sich in seinem Gedächtnis einbrannten, vergessen zu können. Er musste sich regelrecht dazu zwingen, sie zu verbannen. Denn dieser Traum war keiner der Träume, den er haben dürfte oder sollte. Doch diese vorgegebenen Bilder waren dermaßen intensiv und zeigten ihm eine Realität, aus der es für ihn kein Entrinnen gab.

 

Koloss Winterzeit

 

Die Hände muschelartig unter das laufende Wasser haltend und Sekunden später diese kalte Nässe sich ins Gesicht drückend, starrte Paul in den alten und heruntergekommenen Wandspiegel. Was er dort sah, konnte ihm nicht gefallen. Denn aus seiner Nase quoll ein dickflüssiger, rotschwarzer Film, der ihn nichts Gutes vermuten ließ. Stimmten doch diese Gerüchte? Würde er jetzt sterben müssen und vor allem wie lange wird es noch dauern? Diese Gedanken trieben ihn bei seinem Anblick fast schon zur Verzweiflung. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte sich Paul so richtig allein. Und er hätte am liebsten nun einen anderen Retortenmenschen an seiner Seite gehabt, mit dem er über all seine Ängste hätte sprechen können. Doch woher sollte dieser kommen? Paul selbst hatte bestimmt mit keinem anderen Menschen, als diejenigen Frauen, die ihm samstäglich zugewiesen wurden, schon seit mehr als 4 Jahren gesprochen. Bisher brauchte er es auch nicht. All seine gefundenen Gegenstände und seine mit sich selbst geführten Gespräche, ersetzten dies in einer Perfektion. Sein aufgesetzter Kaffeeersatz duftete schon über die Meter ihres Standortes hinweg bis zu ihm ins Badezimmer, was seine Laune stark verbesserte und wieder neuen Lebensmut in ihm weckte. Denn dieser Kaffeeersatz, das war Pauls allerliebster von den ganzen Flüssigkeiten, die die Regierung ihnen kostenfrei und in sehr geringen Mengen zu Verfügung stellte. Für eine kleine Tasse dieses schwarzen Aufgusses würde er sogar töten, wenn es dafür sein müsste. Das behauptete er zumindest im eigenen Zwiegespräch, wenn er eine Tasse davon in seinen Händen hielt. Glücklicherweise waren die Zuweisungen im Monat hierfür mehr als ausreichend für eine Person pro Haushalt, um all die Nachtmenschen damit versorgen zu können. Sodass zumindest sich die Menschen nicht deswegen einem ständigen Streit aussetzen mussten, um auch einmal in das Gefühl zu kommen, einen Vorteil über einen anderen zu besitzen. Was aber dennoch manche angesiedelten Banden nicht aufhielt, Handel mit diesen für einige kostbaren Gütern zu betreiben. Denn sie wussten nur zu gut, dass den Abhängigen diese eine Tasse in der Nacht nicht reichen würde, um glückselig zu sein.

Genüsslich zog er sich den Duft seiner frisch gepressten Tasse Kaffee in seine Nase und verglich sie sofort mit derjenigen, die er sich in der vorangegangenen Nacht zubereitet hatte. „Du wirst mir bestimmt gut schmecken“, sprach er zu sich selbst, als er mit beiden Händen die alte und schon ganz vom Kaffeesatz gebräunte Tasse fest umfasste, um sie behutsam, ja schon fast zärtlich zu seinem Mund zu führen. Genussvoll wie ein Weinkenner nippte er daran und ließ ein wenig davon in seinen Mund zerlaufen. Von wo aus er das wenige in seinen Wangen, von der einen in die andere beförderte. Jeder Tropfen sollte ihm dieses Gefühl schenken, das er sich so sehr von dieser Tasse Kaffee erhoffte. Paul verlangte nicht viel und war selbst mit dem dann doch karg gedeckten Frühstückstisch mehr als zufrieden. Für ihn war es ausreichend. Er hatte etwas Sättigendes im Magen, was ihn über die kommende Nacht bringen würde. Aber genau dieser eine Moment war ihm heilig geworden und nichts anderes durfte ihn dabei ablenken oder stören. Es war die Zeit, in der er in Welten versinken konnte, die er nie hätte sehen oder am eigenen Leib verspüren dürfen. Hier konnte ihm keiner Vorschriften machen oder bestimmen, was und wie er es gefälligst auszuführen hatte. Er genoss diesen Augenblick der Fantasie und verspürte nur noch Glücksgefühle dabei.

Paul vergaß auch in diesem Moment das schlechte Ergebnis der letzten Sammlung. Er war sich bewusst, auch in dieser Nacht vielleicht wiederum nicht das zu finden, was ihm einen entscheidenden Vorteil gegenüber den anderen hätte bringen können. Weshalb er kurz entschlossen seinen Naturfasersack wieder in die Ecke neben das Bett stellte. Heute, so sagte er sich, würde er sich die Stadt einmal, ohne einen Anspruch auf irgendwelche Privilegien zu stellen, ansehen. Nur einmal diese eine Nacht so zu verbringen, wie es ihm gerade gefallen würde. Vielleicht einen Film im Kino ansehen oder nur auf einer Bank sitzend sich den Mond ins Gesicht scheinen zu lassen. Einfach mal nur so unter das Volk mischen. Doch selbst dieser positive Gedanke, den er fasste, trat so schnell wieder in den Hintergrund, als er ihn ausgesprochen hatte. „Nein, Paul, das geht nicht“, sagte er zu sich selbst, fest glaubend, einen schlechten Gedanken ausgelebt zu haben. Es sollte doch lieber auf das Gewohnte hinauslaufen, bremste er sich sofort selbst wieder aus. Paul Mirror war und wollte ein Einzelgänger bleiben, auch wenn er es für sich selbst gerne anders gesehen hätte. Dessen einzige Liebe darin bestand, eine duftende Tasse Kaffee in seinen Händen fest umschlungen zu halten.

 

Draußen in der Stadt um ein Uhr nachts, bei klirrender Kälte

 

Den Kragen weit nach oben geschlagen, versuchte sich Paul gegen den starken Wind, der zudem noch eiskalt aus östlicher Richtung daherkam, zu schützen. Die alten Handschuhe boten schon seit Nächten keinen Schutz mehr gegen diese klirrende Kälte, sodass seine sowieso schon sehr blasse Haut an einigen Stellen wie alter Knochenleim wirkte. Paul vermutete auch, darin die zuletzt schlechte Sammelbeute zu erklären. Denn vielleicht war es ja auch am Tage so kalt, wie in diesen letzten Nächten. Seine Arme vor sich über Kreuz verschränkt, lief Paul an all den schön dekorierten und bunt daherkommenden Schaufenstern vorbei. All diese schönen Kleidungsstücke und Schuhe mit dem dazugehörigen Beischmuck würde er aber nie berühren oder gar tragen dürfen. Was seinem frostigen Zustand nicht gerade viel weiterhalf. Denn nur ein Drittel von dem, was die Tagmenschen benutzten, stand auch ihnen zur Verfügung. Aber weiß Gott nicht in solch einer Qualität wie dieses Schaubild direkt vor ihm. Trotz des Zaubers, den all die schönen Sachen versprachen, gab es unter vielen Nachtmenschen absolut keinen Neid auf diejenigen, die sich diesen Luxus ihn ihren Augen gönnten. Paul selbst stand aber immer schon sehr gerne vor diesem Schaufenster und träumte nur zu gerne einen Moment davon, einen dieser Stoffe auf seiner Haut zu spüren. Seine Genügsamkeit reichte zumeist aber aus, um sich davon abzulenken zu lassen, sein eigenes Leben mit diesen Dingen einzuschätzen. Er liebte es einfach nur, mit dem Kopf leicht nach links und rechts hin und her zu wippen, um all die schönen Gegenstände von allem dargebotenen Seiten betrachten zu können. Wobei ihm sein fotografisches Gedächtnis half, alle Bilder vor seinem inneren Auge zu sammeln, um zuletzt den Glauben daran zu haben, dieses Gefühl eines weichen wohlriechenden Stoffes an sich zu fühlen. In den Sommermonaten stand er stundenlang davor und ging froh und glücklich nach dem Erklingen der Sirene wieder nach Hause. Doch nun in den Monaten des Winters war es selbst für ihn viel zu kalt, um dies zu wiederholen. Deshalb beschränkte er sich auf diese wenigen Minuten, in seine Fantasie einzutauchen, die ihm auch damit mehr als guttaten.

 

Die Begegnung

 

Im Augenwinkel bemerkte Paul, dass am Rande des Parkausgangstors ein helles, grelles Licht auf sich aufmerksam machte, das er in der letzten Nacht beim Sammeln noch nicht bemerkte. Neugierig darauf geworden, löste sich sein Blick vom Schaufenster. Langsam und sich dabei ständig umsehend, ob auch noch andere darauf aufmerksam geworden sind, ging er Schritt für Schritt darauf zu und staunte nicht schlecht, als er nur etwa eineinhalb Meter von diesem Licht entfernt war. Mediworld musste am Tage ein komplett neu gestaltetes Schaufenster eingerichtet haben, das er so noch nie gesehen hatte. Überall blinkte und funkelte es und es präsentierten sich die schön braun wirkenden Schaufensterpuppen wie auf einem freudigen und lustigen Fest, das einer fröhlichen Geburtstagsfeier glich. Bei dem Anblick der feiernden Puppen musste Paul für sich selbst feststellen, dass dies doch ein mehr als schöner Zufall war. Denn auch er hatte heute Geburtstag. Als er sich auch noch im Schaufenster gespiegelt sah, wie er zwischen den tanzenden Puppen stand, als gehöre er einfach dazu, so wünschte er sich heimlich, vielleicht nur eine Stunde dort verbringen zu dürfen, bei all diesen Menschen, die durch diese Schaufenster ihre ganze Lebensfreude ausstrahlten. Eine einzige Stunde Musik zu hören oder einfach einmal in den Sommermonaten auf einer saftigen, grünen Wiese zu liegen, um das Spiel der Wolken zu betrachten. Dies würde er nur zu gerne einmal gegen zehn Jahre seines Lebens tauschen. Ein kräftiger Stoß oberhalb seiner Hüfte riss ihn mit sofortiger Wirkung aus diesem Traum. Zwei heranwachsende Jugendliche, die er gerade noch im Augenwinkel erspähte, rammten, ihn, als sie wie wild geworden aus dem Parkausgang quer über die Straße um die Wette liefen.

„Hey passt doch auf, ihr Idiotien!“, rief er ihnen sofort lautstark hinterher und erntete postwendend von dem kleineren der beiden Jugendlichen, nur ein „Pass doch selbst auf, alter Mann.“ Seinen fast schon tiefgefrorenen Mantel wieder zurechtrückend, um die Kälte nicht ins Innere gelangen zu lassen, erboste er sich über das freche Verhalten dieser beiden Rotzlöffel. „Ach schade, nun ist es aus“, war seine Enttäuschung naturgemäß sofort von null auf hundert aus ihm herausgebrochen. Mit gesenktem Kopf starrte er in das nun vollkommen schwarze Fenster und bemerkte wegen seiner Enttäuschung fast nicht, dass von dem ganzen Funkeln und Blinken ein einziger Lichtpunkt erhalten blieb. „Da ist ja noch einer“, freute sich Paul und versuchte, mit seinem Finger den leicht hin und her schwebenden Lichtpunkt an der großen Glasfront zu erfassen. Doch er schien zu schnell zu sein für seine Methodik und entwischte ihm immer wieder, bis Paul erstaunt feststellte, dass dieser blinkende Lichtpunkt ja gar nicht im Inneren dieses Schaufensters lag, sondern ganz eindeutig eine Spieglung von der gegenüberliegenden Straßenseite war. Und so tat er weiter so, als würde er im Sommer eine Mücke fangen wollen. Blitzschnell schoben sich seine Handflächen an der Glasscheibe zusammen, als sie den Lichtpunkt erreicht hatte. „So jetzt habe ich dich und werde dich auch nicht mehr hergeben. Mit dir habe ich ein Supertauschmittel bekommen“, lachte er laut in dem Augenblick, in dem er glaubte, den Lichtpunkt gefangen zu haben, um denjenigen der sich anscheinend auf seine Kosten lustig machte eine gehörige Lektion zu erteilen. Fest die Faust zudrückend und hoch vor sich haltend, ging er schnurstracks zu der Parkbank auf der gegenüberliegenden Straßenseite und ließ sich wie ein Sack Kartoffel darauf provokativ niederfallen. Die Faust dicht vors Gesicht haltend, blickte Paul fast mit seinem rechten Auge schielend auf das, was sich gerade neben ihm abspielte. Der Lichtpunkt, den er glaubte, fest in seiner Faust verschlossen zu halten, wanderte nun ganz dicht neben seinem rechten Bein entlang, immer mehr dem Ende der Bank zu. Das nicht zu überhörende Blätterrauschen der angrenzenden Büsche verdeutlichte, dass sich dieser Kerl langsam auf allen vieren davonschleichen wollte. Paul war sich jetzt ganz sicher, dass dies bestimmt die zwei Lausebengel waren, die ihm nun auch noch nach dem Rempler einen Streich spielen wollten. Blitzschnell drehte er sich mit gestrecktem Arm nach hinten und packte kraftvoll zu. Tatsächlich, er hatte nun ein Stück Jacke fest umschlossen in seiner Hand. Er musste aber jetzt gehörig Kraft aufwenden, da die von ihm gefangene Person immer wieder versuchte, sich von seinem Griff loszureißen. „Einen alten Mann so verarschen zu wollen. Na wartet, ihr kleinen Halunken, euch werde ich es zeigen“, schrie er grimmig und anscheinend laut genug, sodass das Zerren an seiner Hand langsam, aber sicher nachließ und er nicht mehr so viel Kraft aufwenden musste, um die Gestalt, von der er glaubte, bereits Gesellschaft mit ihr gehabt zu haben, hinter den Busch hervorzuziehen. „Bitte, bitte, tun sie mir nichts an. Ich wollte mich hier doch nur verstecken. Bitte lassen sie mich am Leben“, wimmerte und bettelte eine junge Frau, die Paul mit sehr überraschten Augen ansah. Ohne dabei aber seinen Griff zu lösen und bewegungslos, als wäre er zur Säule erstarrt, war es Paul nicht möglich zu kapieren, was er da gerade aus dem Busch gezogen hatte.

„Bitte, Sir, lassen sie mich los und ich verspreche ihnen, dass mir dies nie wieder passieren wird. Glauben Sie mir, es war alles nur ein Versehen“, drang weiter diese ängstliche Stimme zu ihm heran.

Doch mehr als ein „Deine Lippen sind ganz blau. Ist dir kalt, Mädchen?“, konnte er ihr in seiner Schockstarre nicht entgegenbringen. Ohne auf ihre Antwort zu warten, zog Paul seinen alten, aber wärmenden Mantel aus und legte ihn ohne Eigennutz dem frierenden Mädchen über die Schultern. „Danke, Sir, das ist äußerst nett von ihnen.“ Da war es wieder. „Sir“, so wurde Paul noch nie genannt und es machte ihn gleichzeitig auch ein wenig verlegen. Dieses Wort des Respektes zu hören, erzeugte eine Art von Klang in seinen Ohren, den er am liebsten immer wieder hören wollte. „Wie lange hältst du dich schon hier versteckt, Mädchen?“, fragte er nach, als er feststellen musste, dass dieses leichte Knurren, das er hörte, nicht aus seinem Magen kam, sondern aus dem des Mädchens. „Sir, ich hatte die letzte Warnung verpasst und als ich dann endlich vor der Ausgangsschleuse stand, waren die Ausgangstore schon heruntergelassen und der Einlass für die Rückreise versperrt. So lief ich aus Angst, bis jetzt immer im Schutze der Bäume, durch diesen Park und hoffte, dass mich kein Mitglied der Behördenpolizei aufgreifen würde.“ Paul musste schmunzeln, als er das Wort Behördenpolizei vernahm. „Behördenpolizei, die gibt es nicht bei uns in der Nacht. Wir regeln alles mit unseren selbsternannten Anführern.

Ja, Mädchen, da hättest du mehr Angst haben müssen, von einer unseren Banden aufgegriffen zu werden, als vor einem, wie du ihn nanntest, Behördenpolizisten. Denn du bringst bestimmt eine Menge an Kohle auf dem Markt. Doch keine Angst, ich bin kein Bandenmitglied und habe auch keinerlei Interesse, dich an irgendjemanden zu verkaufen. Aber nun müssen wir schnellstmöglich überlegen, wie wir dich unbemerkt wieder zurückbringen können. Was aber nicht einfach werden wird, denn du müsstest es ja eigentlich selbst wissen, dass, wer einmal die Grenze überschritten hat, es ihm nicht mehr erlaubt ist, dorthin zurückzukehren. Doch du bist noch zu jung, um hier dein Leben zu beenden“, schüttelte Paul den Kopf. Mit der Gewissheit verbunden, dass sich dieses junge Mädchen durch ihre Unachtsamkeit in eine Lage gebracht hatte, die nur unter sehr glücklichen Umständen wieder zu korrigieren war.

„Hör auf zu weinen, Mädchen, das hilft uns jetzt auch nicht weiter“, versuchte Paul, seinem kleinen Schützling etwas die Angst zu nehmen und hob ihren Kopf leicht an, um ihr die Tränen aus den Augen zu wischen. Vorsichtig und sehr behutsam näherte sich seine Hand den weinenden Augen und strich darüber, bis sich die gesammelte Flüssigkeit auf seinem Handrücken abbildete. Selbst in dieser Dunkelheit kam Paul nicht umhin zu sehen, wie schön dieses junge Mädchen unter der Kapuze seines Mantels in Wirklichkeit war. Sie ähnelte den Schaufensterpuppen fast bis aufs Haar genau, nur die Größe und ihr Körper waren gedrungener als diejenigen in der Welt, in der er erst vor Kurzem versunken war. Seine blassweiße Haut setzte sich von der sonnengebräunten Haut des Mädchens dermaßen ab, dass er nun mehr als je zuvor verstand, unter welchen Bedingungen er hier in der Nacht leben musste. Seine Haut blass und rau und die ihre ganz zart und weich, mit einer Farbgebung, die er nie erreichen würde. So dachte er in diesem Moment, als sein Handrücken die Wangen des Mädchens verließ. Er konnte ihr Alter nur sehr schwer einschätzen, da alles in ihrem Gesicht glatt und vollkommen makellos erschien. Eine gewisse Unruhe, die Paul verspürte, mit wem er es hier überhaupt zu tun hatte, spiegelte sein nervöses Auftreten deutlich wider. Was er aber im Grunde genommen gar nicht nötig hatte, da sein Gegenüber mehr mit sich selbst und seinem eigenen Mitleid beschäftigt war als mit ihm. Eines war ihm aber ganz klar. Sollten zwischen Mitternacht und 2 Uhr morgens die Banden in die Viertel kommen, hatte keiner der Menschen hier etwas zu lachen.

„Vertraust du mir?“, fragte er, indem er sie mit festem Blick fixierte.

„Ich verstehe nicht, was sie meinen, Sir!“

„Ich fragte dich, ob du mir vertraust. Was ist daran nicht zu verstehen. Du kannst hierbleiben und hoffen, die Nacht zu überleben oder du kommst mit mir und ich werde versuchen, dich irgendwie wieder zurück in deine Welt zu bekommen.

Aber entscheide dich jetzt bitte schnell, denn uns läuft die Zeit weg, und dann könnte selbst ich nichts mehr für dich tun“, forderte Paul, als er die aufheulenden und dumpf grölenden Motoren der Kreco-Bande schon von Weitem vernahm.

„Komm jetzt, oder bleib hier. Wir haben höchstens noch 5 Minuten, um von hier zu verschwinden. Komm, Mädchen! Entscheide dich. Lebe oder stirb?“, baute Paul den Druck noch mehr auf, sodass diese nun vollkommen überfordert schien und mit zittriger Stimme antwortete: „Ja, Sir, ich gehe mit Ihnen.“ Ohne eine weitere Antwort abzuwarten, packte Paul die Hand des Mädchens und lief mit dem ihr angepassten Schritt so schnell es ging zurück zum Eingangstor des Parks. Seine langen Beine verlangten nach mehr Geschwindigkeit. „Wir müssen uns beeilen, komm, lauf doch bitte etwas schneller“, rief er dem Mädchen zu, die nun doch schon nach dieser kurzen Strecke erhebliche Mühe hatte, der Schrittlänge Pauls zu folgen. Kaum waren sie etwa 100 Meter im Dickicht des Inneren des Parks verschwunden, da bogen auch schon die ersten Motorräder der Kreco-Bande in die Parkstraße ein. Angeführt von ihrem Boss Robert Lopes, einem der brutalsten Menschenhändler und Zuhälter von Koloss. Die Maschinen donnerten über den nun durch die Kälte überfrorenen Asphalt. Mehr und mehr bogen in die Straße ein und erleuchteten mit ihren Motorradlampen das Viertel so hell, dass die von der Regierung angebrachten Bogenlampen wie kleine Teelichter wirkten. Neugierig geworden versuchte das Mädchen, ihren Kopf nach oben zu strecken, um zu sehen, was sich gerade abspielte, was Paul aber postwendend mit einem Druck seiner Handfläche auf ihrem Haupt beantwortete. „Kopf runter und verhalte dich jetzt bitte ganz still. Wenn sie uns entdecken, dann ist es für uns aus und vorbei. Ich werde tot sein und dich werden sie auf die brutalste Art und Weise vergewaltigen und dann meistbietend an irgendeinen Schlächter versteigern“, fauchte Paul im Flüsterton.

 „Entschuldigung, Sir, es war bestimmt nicht meine Absicht, uns in Gefahr zu bringen. Was sind das für Männer?“

„Die Krecos mit ihrem Anführer Robert Lopes. Mit denen ist nicht zu spaßen, das sind Menschen der übelsten Sorte. Aber jetzt sei bitte still.“ Regungslos verharrten sie bäuchlings liegend inmitten dieser kleinen, aber dennoch durch das karge Gehölz gut bedeckten Hecke, die genügend Schutz versprach, nicht entdeckt zu werden. In Gedanken zählte Paul die vorbeifahrenden Maschinen mit, die teilweise sogar zu seiner eigenen Überraschung mit zwei Mann besetzt waren. An die zweihundert Mann zählte er so, als die Letzten von den Vorangegangenen um die Straßenecke bogen. So nah wie in diesem Moment, war er diesen Lopes und seiner Bande noch nie gekommen. Achtsame Nachtmenschen wussten von klein auf, dass man sich mit diesen Halunken nicht einlassen sollte und wenn möglich einen großen Bogen um sie machen sollte. Dennoch gab es immer wieder welche, die trotz Warnung es nicht einsahen, ihr schwer erarbeitetes Hab und Gut mit denjenigen zuteilen, denen es nie reichte, was die Regierung ihnen zur Verfügung stellte. Bei Lopes bekam man alles und es wurde einem zu leichtgläubig Rückerstattungskosten angeboten. So schien es zumindest beim Anlocken der schwach gewordenen Nachtmenschen. Probleme fingen erst an, wenn Lopes Schergen auf die Rückzahlungen warteten, die oft nie beglichen werden konnten. Denn da wurde aus diesem selbsternannten Samariter der gefährlichste Wolf, dem man hätte herausfordern wollen. Er forderte die Kinder als seinen Anteil aus dem gemachten Geschäft, um sie für seine Zwecke über die Jahre hinweg zur Prostitution zu zwingen oder tötete einfach nur so zum Spaß den einzigen Ernährer der schuldenden Familie.

Als Paul seinen Kopf leicht aus der Hecke hervorschob, war nur noch eine durch die Abgase und Kälte vernebelte Straße zu erkennen. „Komm jetzt, Kleine, es wird Zeit, wir müssen los. Es dauerte bestimmt noch eine ganze Stunde, bis sie wieder zurück sind und da müssen wir längst bei mir zu Hause sein.“ Fürsorglich half er seinen sich selbst auferlegten Schutzbefohlenen wieder auf die Beine und zerrte sie danach aber fast schon wieder hinter sich her, um Strecke zu machen. Fast zwanzig Minuten liefen sie über mehrere Umwege zu seiner Wohnung und begegneten dadurch nur vereinzelten Sammlern, die noch versuchten, den Rest der Nacht zu ihren Gunsten zu nutzen. Geschickt versteckte das kleine Mädchen ihren Kopf in der großen Kapuze von Paul Mantels, wenn immer ein Lichtschein einer Laterne sie verraten wollte. Paul führte eine kostbare Fracht bei sich und wusste nur zu gut, dass er in diesem Moment keinem hätte trauen können, ohne dass er sie oder sich selbst in Gefahr brachte. Weshalb er sehr darauf achtete, dass ihr eingeschlagenes Tempo sich auch in Teufelsnamen nicht verlangsamte. „Da vorne, siehst du die rote Tür, das ist meine. Gleich kannst du dich ausruhen, das verspreche ich dir“, trieb Paul seine Begleiterin weiter an. Obwohl er nicht umhin kam, festzustellen, dass sie kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Rasch kramte er in seinen Hosentaschen, um den richtigen Schlüssel zu finden. Was aber bei diesem hohen Schritttempo nicht leicht war und eine kleine Herausforderung darstellte. Besonders da er nur diese eine Hand zur Verfügung hatte.

Die Gittertür zu seinem kleinen Vorgarten stieß er mit seinem rechten Bein ruckartig auf und schob sogleich das kleine Mädchen mit einem leichten Schubser voraus. Tief die Arme vor ihren Bauch verschränkt haltend, atmete das Mädchen zum ersten Mal tief durch und sog mit kräftigen Zügen nach frischer Luft, die ihr aber wegen der kristallklaren Nacht nicht so gut bekam, wie sie es sich erhoffte. Zwei-, dreimal musste sie aushusten, was Paul dazu bewegte, ihr mit der Innenhandfläche seiner Hand direkt auf den Rücken zu schlagen. „Langsam Mädchen, atme erst einmal ganz langsam. Die Luft ist zu kalt, du musst sie erst leicht aufwärmen, um sie verarbeiten zu können.“ „Leichter gesagt als getan, Sir. Ich bin es nicht gewöhnt, solch eine Strecke mit diesem Höllentempo zu laufen“, schnaufte das kleine Mädchen, was die Lungenflügel hergaben.

„Na dafür hast du deine Sache aber prima gemacht. Komm, lass mich kurz vorbei, dass ich aufschließen kann und wir endlich wieder ins Warme kommen.“ Das zusätzliche Einspeichern in den Energiekreislauf von letzter Nacht sorgte nicht nur gleich für eine wohlige Wärme, sondern ermöglichte es Paul, ohne kalte Finger seinen selbstgebastelten Kronleuchter über seinen Küchentisch in hellem Glanz erleuchten zu lassen. Stolz wie Oskar stand er am Tisch und schaute gespannt eine Reaktion erwartend zu seinem Gast, der aber nicht, wie von ihm erwartet, sein Werk so schätzte, wie er es selbst gerade tat. „Das ist also ihre Wohnung, Sir?“, fragte das Mädchen weiterhin leicht eingeschüchtert, als sie sich in der mehr als karg ausgestatteten Bleibe von Paul umschaute. „Ja das ist sie und hat alles zu bieten, was ich brauche“, reagierte er schon ein wenig beleidigt auf ihren Augenaufschlag. „Nein, nein, so meinte ich es nicht, Sir. Sie ist schön, aber auch gleichzeitig nicht das, was ich von zu Hause gewohnt bin. Es tut mir leid, sollte ich Sie durch meinen enttäuschten Blick beleidigt haben.“

„Schon gut, Mädchen, komm zieh jetzt den Mantel aus. Du hast doch bestimmt auch Hunger und Durst?“ Das Nicken des Kopfes bestätigte Pauls Annahme. Langsam einen Knopf nach dem anderen am Mantel lösend, öffnete sie ihn sorgsam und hängte ihn an den Haken der Eingangstür. Paul selbst hatte diesen erst vor ein paar Tagen gefunden und sofort befestigt, um nun das erste Mal mit anzusehen, welch schöne Eigenart dieses Teil mit sich brachte. Die Idee, seinen Mantel daran aufzuhängen, hatte er nicht und es faszinierte ihn förmlich, wie elegant sein schon arg in die Jahre gekommener Mantel an diesem kleinen Haken aussah. Im Augenwinkel bemerkte er, wie das kleine Mädchen im selben Moment die Druckknopfverbindung ihres eigenen Kälteschutzanzuges löste und er dadurch fast wie von selbst zu Boden glitt. Paul fiel vor Schreck fast der Kaffeelöffel aus der Hand, als er sah, was er nicht für möglich gehalten hat. Vor seiner Eingangstür stand nun nicht mehr das kleine Mädchen, das er unter all den Kleidungsstücken die ganze Zeit vermutete, sondern eine junge Frau, deren schulterlanges, gewelltes Haar perfekt zu ihrer braunen Haut passte. Zwar nur etwa 1,60 Meter groß, aber mit einem Körper ausgestattet, den er noch nie zuvor so gesehen hatte. Alles passte bis in kleinstes Detail und sorgte bei ihm für helle Aufregung im positiven Sinne. Noch während er mit zittriger Hand den Kaffee herrichtete und die noch spärlich aufzufindenden Habseligkeiten seines Kühlschrankes schön auf einer Platte anrichtete, setzte sich die junge Frau, von ihm nun ständig im Augenwinkel beobachtet, zu Tisch und faltete vor ihrem Kopf die Hände zusammen. „Was machst du da?“, fragte Paul, der so etwas noch nie zuvor gesehen zu hatte.

„Ich danke gerade unserem Gott, dass ich gerettet wurde.“

„Gerettet, na da bin ich mir aber nicht so sicher. Hier bist du erst einmal sicher. Aber ob du je wieder zurück in deine Welt kommst, das hängt von vielen Dingen ab und vor allem, ob wir das Glück haben werden, dass wir eindeutig dazu brauchen. Also danke besser erst, wenn es auch so weit ist.“ Tasse, Besteck und Teller servierte er der jungen Frau. Für sich selbst musste das alte Holzbrett reichen, das er eines Nachts von seiner Sammlung mit nach Hause brachte. „Danke, Sir, es sieht sehr lecker aus“, versuchte sie die angespannte Lage ein wenig mit einem einfallslosen Gesprächsanfang zu lockern. „Mehr habe ich nicht“, knurrte Paul.

„Es ist doch mehr als genug für uns beide da, und es schmeckt wirklich sehr gut.“

„Ihr habt in eurer Welt bestimmt viel bessere Nahrungsmittel als wir hier in der Nacht? Also mach mir nichts vor, Kleines. Es ist, wie es ist und besser als gar nichts“, erwiderte Paul recht harsch. Nach einigen Minuten der Stille, wo jeder darauf versessen war, nur seinen Blick auf das Essen zu werfen, bemerkte Paul wieder dieses Blinken, das sich auf der Messerfläche der jungen Frau widerspiegelte. Instinktiv von der Neugier getrieben, erhob er trotz seiner Zurückhaltung gegenüber seinem Gast den Kopf und schaute sie direkt an. „Was ist das? Es ist sehr schön!“

„Was meinen Sie, Sir?“, fragte sie zurück. Pauls Zeigefinger zeigte auf das kleine blinkende Feld knapp über ihrem Brustanfang. „Ach Sie meinen Souls. Ja, es blinkt wieder“, stöhnte sie und versuchte, die Hand davorzuhalten, bevor sie sagte: „Der Grund dafür ist, dass ich mich gerade in dieser Situation, in der ich mich hier befinde, nicht wohlfühle. Und ich zugeben muss, dass ich sehr nervös und angespannt bin. Es ist nichts gegen Sie, Sir. Denn Sie haben mir das Leben gerettet. Aber ich komme einfach nicht damit klar, jetzt in solch einer Lage zu sein. Ich fühle mich so hilflos und allein“, zeigte die junge Frau zum ersten Mal ein Gefühl, das Paul auch von sich selbst kannte. „Vielleicht hilft es uns ja, wenn wir uns erst einmal gegenseitig vorstellen, denn auch ich bin sehr nervös und bestimmt nicht so kalt, wie es gerade bei dir ankommt. Doch meine Kontakte mit Frauen waren bisher rein körperlich, wenn du das verstehst. Also wenn du möchtest?“, sprach Paul und richtete sich auf, um ihr die Hand entgegenzustrecken. „Liebend gerne, Sir, denn ich möchte schon gerne wissen, mit wenn ich es hier eigentlich zu tun habe“, lächelte sie erleichtert zurück. Die sehr angespannte Atmosphäre war nun etwas gelockert. Fest seinen Stuhl bei den Lehnen packend, ging Paul mit diesem bis ans andere Ende des Tisches, um sich leicht schräg versetzt neben seinem Gast wieder niederzulassen. „Also ich bin Paul Mirror, mein Alter schätze ich auf 39 Jahre, das zumindest zeigt mein implantierter Chip an. Ich lebe nicht schlecht, wie du siehst, und bin von Geburt an ein Retortenmensch, der sich auch Nachtmensch schimpfen lassen darf“, quälte er mit zittriger Stimme Wort für Wort über die Lippen. „Gut, Sir, dann glaube ich, dass ich jetzt dran bin, mich vorzustellen“, wollte sie gerade loslegen, als sie von Paul plumperweise gleich wieder unterbrochen wurde. „Ach lass doch diesen Sir weg. Da komm ich mir ja noch älter vor, als ich es vielleicht schon bin.“

„Also, wenn Sie es möchten, Sir, dann …“, versuchte sie nochmals ihr Glück.