Für zusätzliche Eindrücke von den Weisheiten der Stoiker darf ich folgende Literaturhinweise geben, welche als Quellen für dieses Buch dienen konnten. Viel Freude beim Lesen.
Covey, Stephen R.: Die 7 Wege zur Effektivität. Offenbach a. M.: GABAL, 2005.
Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. 2. Auflage, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 1967.
Epiktet: Discourses. http://classics.mit.edu/Epiktet/discourses.html.
Epiktet: Anleitung zum glücklichen Leben. Encheiridion (Handbuch der Moral). Übers. und hrsg. von Rainer Nickel, Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2006.
Evans, Jules: Seneca and the Art of Managing Expectations. https://www.cbu.ca/wp-content/uploads/2017/01/8-Why-is-it-important-to-Manage-our-Expectations.pdf.
Hadot, Pierre: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels. Übers. von Makoto Ozaki und Beate von der Osten. Frankfurt a. M.: Eichborn, 1997.
Holiday, Ryan: Dein Hindernis ist dein Weg. Mit der Weisheit der alten Stoiker Schwierigkeiten in Chancen verwandeln. München: FinanzBuch Verlag, 2018.
Holiday, Ryan und Stephen Hanselman: Der tägliche Stoiker. 366 nachdenkliche Betrachtungen über Weisheit, Beharrlichkeit und Lebensstil. München: FinanzBuch Verlag, 2017.
Irvine, William B.: Eine Anleitung zum guten Leben. München: FinanzBuch Verlag, 2021.
Long, A. A. Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life. Oxford: Clarendon Press, 2002.
Manson, Mark: Die subtile Kunst des Daraufscheißens, München: mvg Verlag, 2017.
Mark Aurel: Selbstbetrachtungen. München: FinanzBuch Verlag, 2020.
Musonius Rufus: The Lectures and Sayings of Musonius Rufus. Übers. von Cynthia King. CreateSpace, 2011.
Pigliucci, Massimo: Die Weisheit der Stoiker. Ein philosophischer Leitfaden für stürmische Zeiten. München: Piper Verlag, 2019.
Robertson, Donald: Stoicism and the Art of Happiness. Ancient Tips for Modern Challenges. London: Hodder & Stoughton, 2013.
Robertson, Donald: The Philosophy of Cognitive Behavioural Therapy (CBT). London: Karnac, 2010.
Seneca: Dialogues and Letters. Übers. und hrsg. von C. D. N. Costa. London: Penguin, 2005.
Seneca: Letters from a Stoic. London: Penguin, 2004.
Seneca: Moral Essays. Vol. 1. Übers. von John W. Basore. Cambridge, MA: Harvard University Press, 1928.
»Im Unglück richte dich auf, im Glück beuge dich nieder.«
Seneca
Der Hedonismus hat gesiegt. Unsere Gesellschaft hat den Kampf gegen den Hedonismus verloren. Wir haben uns als Gesellschaft und als Menschen weiterentwickelt und dennoch für den Fortschritt den Preis bezahlt. Durch Technik, Forschung und Wirtschaft haben wir Fortschritte erlangt und sind gesünder, reicher, mobiler und fortschrittlicher denn je geworden. Doch allen Errungenschaften zum Trotz haben wir den philosophischen Kampf zwischen den dualistischen und recht unterschiedlichen Philosophien gegen den Hedonismus verloren. Wir haben den Krieg verloren. Zurückgeblieben sind die lebenden Toten, die mit Genickstarre auf das Handy schauen, während sie mit voller Schrittgeschwindigkeit gegen den nächsten Pfeiler rennen.
In unserer heutigen Gesellschaft kommt es den Menschen darauf an, dass es ihnen gut geht, sie glücklich sind und so viele einfache und leichte Momente wie nur möglich sammeln. Wer kein einfaches Leben führt, kann es sich zumindest »schönkaufen«. Noch nie hat der Mensch in seiner Geschichte so viel Besitz angehäuft, wie es heute der Fall ist. Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten, uns auf verschiedene und mannigfaltige Weisen zu ernähren. Noch nie konnten wir so weit reisen, so schnell Menschen erreichen und Ideen zur Vollendung führen. Niemals zuvor war das Leben so leicht wie heute. Das mag eine Errungenschaft hedonistischer Triebe sein. Daran mag vielleicht kein Zweifel bestehen. Doch ist der Drang nach mehr Glück, mehr Freude, mehr Party, mehr Sex und mehr Geld das Wundermittel gegen all unsere Sorgen?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir konsumieren, um zu zeigen, nicht aber, um zu überleben. Wir achten mehr auf die Meinungen anderer Menschen als auf unsere eigene Entwicklung. Wir suchen mehr nach der Anerkennung der Herde als nach der Individualität in der Einsamkeit. Wir suchen nach dem leichten Weg und verabscheuen alles Schwere. Wir wollen Leidenschaft, ohne zu leiden. Wir wollen Intimität ohne Verantwortung. Wir wollen Sex ohne Konsequenzen. Wir wollen das Happy End ohne die Schwierigkeiten und wir wollen mehr Geld, ohne etwas dabei aufgeben zu müssen. Wir sind die Gesellschaft, in der 60 Prozent aller Ehen geschieden werden und 50 Prozent aller Menschen – abhängig davon, wo sie leben – an Krebs erkranken. Wir sind die Gesellschaft, die Tiere foltert, um an der Kühltheke das beste Stück ohne Fett auswählen zu können, die Bananen normiert und 50 Prozent aller Lebensmittel wegwirft, weil sie nicht wie aus einem Katalog aussehen. Wir sind die heutige Generation, die keine ernsthafte Beziehung mehr will. Wir wollen Händchen halten auf Instagram, zwei Paar Schuhe in der Story-Timeline und den Hashtag #Couple-Goals. Wir »swipen« uns durch die Apps, weil sich dort alle elf Minuten jemand verliebt. Ist da nicht nach einigen Minuten auch unser Los dabei? Wir sind die Gesellschaft, die andere Meinungen diskreditiert und vorschnell beurteilt. Wir sind die Gesellschaft, die Die 7 Wege zur Effektivität und Der Weg zur finanziellen Freiheit: Ihre erste Million in 7 Jahren liest. Wir sind die Generation, die mehr Zeit in ihr digitales Leben investiert als in ihre Persönlichkeit. In dieser twitternden, tweetenden und twerkenden Welt sind wir die Gesellschaft, die eine Fassade will, wo Illusionen zur Norm geworden sind. Wir wollen Ehrlichkeit und belügen uns selbst. Wir wollen Frieden und bauen Bomben. Wir wollen Liebe und verurteilen uns gegenseitig im blanken Hass. Wir sehnen uns nach Gleichberechtigung und bauen Hierarchien. Wir suchen nach Freiheit und knechten uns selbst, indem wir Hamsterräder bauen und täglich darin versauern. Wir sind die Gesellschaft, die den Kampf gegen den Hedonismus verloren hat.
Als ich Sergeant First Class P. Gilmore traf, war ich verloren, ohne es zu wissen. Ich wusste nicht viel über den Stoizismus und schon gar nicht, dass ich in einer hedonistischen Welt gefangen war. Über den Hedonismus wusste ich ebenfalls nicht viel. Im Grunde genommen dachte ich, dass ich mehr wüsste, als es eigentlich der Fall war. Um ehrlich zu sein: Ich hatte absolut keinen Schimmer! Ich hatte von der Philosophie der Stoa zu Schulzeiten etwas gehört. Das war es aber auch schon. Mit einer Philosophie für meine Lebensführung hatte ich mich nicht wirklich beschäftigt. Wie auch? Ich war viel zu beschäftigt, mein eigenes Leben auf die Reihe zu kriegen.
Ich arbeitete rund um die Uhr und schlidderte dabei von einer Katastrophe in die nächste. Siebzig bis achtzig Stunden waren mein Wochenpensum. Mein Körper litt unter dem Stress, dem Druck, dem wenigen Schlaf und der mangelnden Bewegung. Ich fühlte mich ausgelaugt. Die Tage, in denen ich Wettkampfschwimmer war und gute 100 Meter ohne Probleme mit einem Atemzug tauchen konnte, waren längst vergangen. Nach der Arbeit schob ich mir ungesundes Tiefkühlessen in den Ofen, schlang es in mich hinein, bevor ich später in die Nachtschicht fuhr, von der ich nachts um 1.30 Uhr heimkehrte. Am nächsten Morgen klingelte wieder der Wecker, um mich aus meinem Schlaf zu reißen. Um 8 Uhr stand ich wieder auf der Matte und arbeitete im Büro. Drei Jahre gingen so ins Land, bis ich den Sergeant kennenlernte.
Mit Mitte zwanzig hatte ich zwei Bücher geschrieben, die auf der Bestsellerliste des Focus Money waren und in der Presse besprochen worden sind. Ich hatte ein Unternehmen gegründet, meine Erfahrungen gemacht und geschäftliche Erfolge gefeiert, um am Wochenende darauf zusammenzubrechen. Ich wurde wütend, ungeduldig und forderte mehr von mir, als ich leisten konnte. Ich trieb mich jeden Tag an meine Grenzen. Nur waren es die falschen Grenzen. Ich nahm 10 Kilo zu und wurde langsamer. Es war, als liefe mir die Zeit durch die Finger. Von außen betrachtet hatte ich alles, was man laut anerkannter Normen braucht.
Mit Anfang zwanzig und ohne Geld in der Tasche hatte ich zunächst ausschließlich das große Ziel gehabt, die Leere in meiner Brieftasche zu füllen. Ich dachte, dass finanzieller Erfolg mein Leben dramatisch verbessern würde. Mit genügend Anstrengungen, Geduld und Zeit erreichen wir solche Ziele auch. Das Ergebnis war geschäftlicher und monetärer Erfolg, den ich prompt dafür einsetzte, unsinnigen materiellen Wohlstand zu erlangen. Teure Luxusuhren, Markenkleidung, eine moderne und exquisite Bleibe – das Beste von allem musste her. Ich füllte mein Leben mit materiellem Wohlstand, während ich innerlich zerbrach. Ich füllte mein Leben mit Zeug bis unter die Decke. Und als die Decke nicht mehr reichte, suchte ich nach der Vergrößerung von allem. Mehr Luxusuhren, mehr Kleidung und ein noch teureres Auto mussten her. Ich schnürte all diesen materiellen Ballast um mein Glücksempfinden herum, bis ich es erdrosselte. Eines Tages stand ich gut genährt und mit all den Dingen da und bemerkte, dass ich verloren war. Ich war unglücklich und all die Dinge, für die ich so hart gearbeitet hatte, erdrückten mich und meine Freiheit. Ich war gefangen in der hedonistischen Tretmühle, in der ich Dinge kaufte, weil ich gefallen wollte und mir Anerkennung wünschte. Wird es uns denn nicht so beigebracht? Wenn wir Erfolg haben, müssen wir ihn doch auch zeigen, nicht wahr?
Ich kaufte immer mehr Dinge und knotete sie an meine Identität. Meine Mitmenschen sagten mir: »Mensch, Niclas, sei glücklich, du hast es geschafft. Schau nur, was du alles besitzt und was für ein tolles Leben du hast. Ich wünschte, ich hätte das auch.« Wenn ich aber versuchte, meine Lage zu erklären, und um Rat bat, so hieß es nur: »Ist doch alles richtig so! Man muss sich doch auch mal was gönnen, wenn man Erfolg hat.« Was aber hatte ich mir gegönnt? Ich hatte Dinge gekauft, um etwas darzustellen, um zu gefallen und Anerkennung zu bekommen, hatte meine Lebenszeit in der Arbeit für Geld eingetauscht und das Unglück als Ergebnis erhalten. Ich hatte meine Gesundheit auf dem Weg geopfert. Alle paar Monate streikte mein Körper, blockierte und schickte mich auf die Bretter. Mann über Bord! K. o. in der ersten Runde! Mayday, wir stürzen ab! Houston, wir haben ein Problem!
Der Erfolg stieg mir zu Kopf und streichelte mein Ego. Ich habe zwar in meinem ganzen Leben niemals eine Zigarette oder Drogen angefasst, doch hätte ich die gute Kinderstube meiner Eltern nicht genossen, wäre ich wahrscheinlich ein Börsianer auf Meth und Amphetaminen geworden. Ich lebte wie ein Süchtiger. Ich war abhängig von dem Erfolg, durch den ich mir Anerkennung versprach. Ich war mit Mitte zwanzig allein, fett und langsam. Die Tage, in denen ich fit wie ein Turnschuh war, waren lange vorbei. Ich war voller Zorn, Wut und Angst und weit davon entfernt, der Mann zu sein, der ich gerne gewesen wäre. Meine Familie lebte weit weg von mir. Die meiste Zeit war ich allein oder unterwegs. Ich hatte nichts außer Geld. Meine zahlreichen flüchtigen Beziehungen zu Frauen hielten nicht lange und in der Eile verpasste ich es zu verstehen, was wirklich zählt. Ich rutschte von einer toxischen und destruktiven Beziehung in die nächste. Fast magnetisch zog ich Frauen mit ähnlichen Problemen wie den meinen an. Als ich diese verließ, blieb ich mit Panikattacken und körperlichen Schmerzen zurück. In Kurzform: Ich war ein ziemliches Stück Scheiße!
Womöglich finden wir den Wendepunkt im Leben erst dann, wenn es absolut nicht mehr weitergeht. Solange wir aber das Übergewicht, die schlechte Gesundheit und all das Chaos tolerieren, werden wir auch immer genau das weiterhin erhalten. Einen Wendepunkt finden wir erst am Zenit. Dieser Wendepunkt war meine erste Begegnung mit Sergeant First Class P. Gilmore und dem Stoizismus. Ich lernte den Sergeant flüchtig bei einem Kundentermin kennen. Schon einige Male hatte ich ihn dort am Fließband arbeiten sehen, wusste aber nicht, wer er war. Er war mir dennoch aufgefallen, da er der einzige Mitarbeiter am Fließband war, der lächelte und permanent glücklich aussah. Es war, als sei er gerne dort am Fließband. Für mich war das unvorstellbar. »War Fließbandarbeit denn nicht die monotone Hölle des Taylorismus?«, fragte ich mich. Neugierig, wie ich war, sprach ich den Sergeant an diesem Abend an, woraufhin er mich mit der eingangs erzählten Geschichte beeindruckte.
»Aber hör mal, du verdienst doch bestimmt gar nicht so viel hier am Fließband, oder?«, fragte ich ihn. »Wie kannst du da so verdammt glücklich sein?«, ergänzte ich. Der Sergeant nickte und erklärte mir, dass er durch seine Rente aus Armeezeiten und seinen sparsamen Lebensstil hervorragend über die Runden käme. Den Job am Fließband brauche er finanziell nicht, erklärte er mir. »Jeder braucht eine Aufgabe, bei der man andere Menschen unterstützen kann. Hier suchte man Mitarbeiter für das Fließband. Also helfe ich hier«, sagte er. Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum opferte er seine Zeit für eine solch einfache Arbeit, wenn er doch bei der Armee eine ganze Truppe angeleitet hatte und so hervorragend ausgebildet war? Er lächelte mich an und sagte: »Es ist eine gute Arbeit. Hier schießt niemand auf dich und niemand verliert sein Leben.« Ich war von der ersten Sekunde an von ihm begeistert. Er war der erste Mensch, der mich wirklich zutiefst beeindruckt hat. Obwohl ich bereits Vorbilder in jüngeren Jahren hatte, die durch ihren Erfolg und ihren Reichtum bekannt geworden waren, so war der Sergeant doch der erste Mensch, den ich für seine Persönlichkeit bewunderte statt für seine Errungenschaften.
Alle meine einstigen Idole und Helden sahen neben dem Sergeant wie eine Horde Schimpansen aus. Es mag Sie daher vielleicht verwundern, dass ich Ihnen nicht von dem reichen, gut aussehenden und allwissenden Mentor erzähle, der mein Leben, schnipp, schnapp und zack, verändert hat. Der Sergeant war anders. Er war weder reich noch berühmt oder besonders schön. Letzterem würde er wahrscheinlich heute mit einem süffisanten Lächeln widersprechen. Der Sergeant war ein glatzköpfiger, muskulöser, 178 Zentimeter großer Mann, der mit seinem Äußeren nicht auffallen würde. Doch mit seiner besonderen Art brachte er den Raum zum Strahlen, den er betrat. Er war stets freundlich, höflich, zurückhaltend und unglaublich fokussiert. Er war so präsent, dass es schon fast beängstigend war. Seine Person nahm den ganzen Raum ein, ohne dabei aber auffallen zu wollen. Irgendetwas ließ mich an ihm einfach nicht los.
Als ich in dieser Nacht zu Hause ankam, konnte ich nicht schlafen. Ich hatte auf der ganzen Heimfahrt über seine Worte nachgedacht. Um 1.30 Uhr nachts war ich wie auf sechs Dosen Red Bull. »So ein Mann will ich auch sein«, sagte ich mir. Die Motivation stieß mir bis in die Haarspitzen. Ich glühte vor Vorfreude und Elan. Es war das erste Mal, dass ich mich wieder für etwas begeistern konnte, ohne dahinter ein Ziel zu erkennen. Kurz darauf konnte ich wieder das Gespräch mit dem Sergeant suchen. Bei einem Glas Wasser löcherte ich ihn einige Tage später dann mit meinen Fragen. Ab diesem Zeitpunkt war es um mich geschehen. Von da an begannen meine Gespräche mit Seneca.
»Du fühlst dich so mies, weil du keinen Prinzipien folgst. Du lebst so wie fast alle Menschen in unserer Gesellschaft. Du suchst den nächsten Kick, sei es durch Geld, Anerkennung, Status, Luxus, Frauen, Party oder Ruhm. Du bist wie ein Junkie. Da wunderst du dich noch, dass du keinen Frieden findest?« Die Worte des Sergeants waren so brutal ehrlich, dass sie mein Ego trafen. Obwohl sich seine Worte nicht besonders gut anfühlten, hatte er doch recht. Ich hatte die letzten Jahre krampfhaft versucht, alles zusammenzuhalten und gleichzeitig vorwärtszukommen. Dabei hatte ich mich selbst aufgerieben und alles zerstört, was wertvoll war.
»Das, was du beschreibst, ist dein persönlicher Kampf. Jeder führt seinen eigenen Kampf. Du verlierst, weil du keinen Schlachtplan hast. Im Krieg bist du ohne einen Plan verloren. Für dein Leben kann es solch einen Plan auch geben«, erklärte er mir.
»Bei der Army sagt dir dein Vorgesetzter, was du zu tun hast. Es gibt klare Vorgaben und Pläne. Für uns Soldaten war unser Leben von morgens bis abends durchstrukturiert und folgte klaren Maßstäben und Anforderungen. Doch ich wollte damals mehr, als nur ein guter Soldat zu sein. Ich wollte auch ein guter Mann sein. Ich wollte ein guter Ehemann sein und ein guter Vater werden. Die Prinzipien dafür habe ich durch sehr alte Schriften gewonnen, die ich während meiner Zeit bei der Armee las. Ich habe sie durch meinen Ausbilder erhalten«, erklärte er mir. Er führte seine Gedanken fort und stellte mir die Philosophie der Stoiker vor: »Viele der Lektionen, die ich von Seneca und anderen Stoikern lernte, schienen mit den Übungen und dem Training bei der Army konform zu gehen. Das hat mir damals sehr geholfen. Ich gebe dir diese Schriften. Doch sie nur zu lesen, wird nicht genug sein. Lies die Woche über und wir sprechen an den Wochenenden, wie du das anwenden kannst, was du gelernt hast.«
Ich las. Ich las alles, was ich in die Finger bekam, über Seneca, Marcus Aurelius, Epiktet, Cato, Zenon und alle anderen Menschen, die sich den Prinzipien der Stoa verschrieben hatten. Alles, was ich las und lernte, wollte ich sofort umsetzen. Wie ein ungeduldiges Kind recherchierte und verfolgte ich die Lehren des Stoizismus. An den Wochenenden besprach ich mich mit dem Sergeant, um daraufhin das Gelernte anzuwenden. Von nun an führte ich einen Kampf mit einem Handbuch voll von Prinzipien und Übungen gegen mich selbst. Ich führte Krieg gegen die Kilos, die Angst, die Unruhe, den Stress, die Unglückseligkeit und die Disziplinlosigkeit. Ich führte Krieg gegen mein Ego und den Mann, der ich nicht sein wollte – oder wie es der Sergeant ausdrückte: Ich übte mich darin, ein gutes Leben zu führen.
Die Prinzipien und Lehren Senecas, die mir der Sergeant eröffnet hat, möchte ich in diesem Buch an Sie weitergeben. Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen ähnliche oder schwierigere Zeiten durchmachen müssen, als ich es einst tat. Weiterhin bin ich davon überzeugt, dass die Lehren der Stoiker, die konträr zum heutigen gelebten Hedonismus stehen, uns Menschen dazu verhelfen können, ein besseres, bewussteres, glücklicheres und stärkeres Leben zu führen, als wir es vielleicht derzeit für möglich halten. Auch wenn unsere heutige Gesellschaft den Weg der Stoiker ablehnt, so sind die Ergebnisse des gelebten Stoizismus ein Beweis dafür, dass die Prinzipien der Stoa ihre Bedeutung nicht verfehlen.
Es würde an dieser Stelle bestimmt sexy klingen, wenn ich Ihnen von der From-zero-to-hero-Geschichte berichten würde. Doch das würde die Wahrheit nicht widerspiegeln. Im Gegenteil. Diese Geschichte hat kein großes Finale und endet nicht mit dem großen Kuss, der Hochzeit oder dem Lottogewinn. Es tönen keine Fanfaren und keine Fete wird zum abschließenden Sieg gefeiert. Es ist eine Geschichte mit einem Anfang und ohne Ende. Der gelebte Stoizismus ist eine Reise, die erst mit Ihrem Tod endet. Vielleicht finden Sie in meinen Zeilen auch einen Teil Ihrer Geschichte wieder und können sich damit identifizieren.
Ich war schon immer ein ziemlicher Rebell und habe mich oft gegen Systeme, Vorgaben und Normen aufgelehnt. Querdenken nannte man das, bevor das Wort während der weltweiten Corona-Pandemie geschändet wurde. Vielleicht ist es mir vergönnt, Sie zu einer positiven Art des Querdenkens anzuregen, Ihr Leben in unserer hedonistischen Welt zu hinterfragen und Wege aufzuzeigen, die andere, hier nicht genannte Menschen und ich heute gehen. Womöglich können die Lehren der Stoiker Ihnen die gleichen wertvollen Lektionen mit auf den Weg geben und Ihr Leben positiv verändern und eine Alternative zum Hedonismus aufzeigen. Vielleicht können Sie im Stoizismus die Ihnen vorenthaltenen Lehren für ein gutes und glückliches Leben entdecken.
»Welche Sportart hasst du am meisten?«, fragte mich der Sergeant zu Beginn unserer Wochenendgespräche. Die Frage war leicht zu beantworten. »Laufen! Ganz klar!«, erwiderte ich prompt. Ich erinnere mich noch sehr gut an die drei Runden, die ich als kleiner Junge um den Sportplatz laufen musste, bei denen ich mich nach zwei Runden auf den Rasen setzte und eine Verletzung vortäuschte. Ich bin das Rennen nie zu Ende gelaufen und habe seither immer Langläufe verabscheut. Nach fünf Minuten Joggen hatte ich jahrelang die härtesten Schmerzen in den Füßen und Waden. Ich mied das Laufen wie ein Fisch das Trockene.
»Dann solltest du anfangen, regelmäßig zu laufen. Du musst wieder in Form kommen und dich den Schmerzen stellen«, war seine Lehre. Dieser Gedanke stank mir bis zum Himmel. Ich und laufen? Regelmäßig? Ich glaubte, dass ich mich verhört hatte. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, sah ich es ein und gab dem Irrsinn eine Chance. Ich war ein Weichei geworden! Noch vor Jahren war ich Wettkampfschwimmer und Kampfsportler und heute stand ich für all das, was ich einst verabscheut hatte.
Unsere hedonistische Gesellschaft fördert Weicheier und leichte Wege. Unser Körper schreit uns innerlich an, wenn wir uns den Schmerzen und der Anstrengung stellen müssen. Unsere Gesellschaft schreit zurück und sagt: »Mach eine Pause. Alles wird gut«, während sie uns über den Kopf streichelt. In den letzten Jahren ist mir aufgefallen, dass dies vor allem bei übergewichtigen Menschen gut zu erkennen ist. Die Zahl der Übergewichtigen stieg in den letzten Jahrzehnten weltweit rasant an. Übergewicht macht zwar einen Menschen nicht schlecht, aber auch nicht gesund und fähiger. Die steigenden Zahlen mögen auf der einen Seite der wenigen Bewegung geschuldet sein und auf der anderen Seite der Möglichkeit, schnelles und ungesundes Essen zu finden. Zahlreiche Unternehmen machen mit dem Drang nach schnellen Ergebnissen und schneller Befriedigung mächtig Kasse. Schlimmer noch, wer heute fettleibig ist, wird sogar noch durch seine Freunde und Verwandten bestätigt und gestreichelt. Da heißt es: »Mach dir keine Gedanken. Du bist nicht fett. Du bist kurvig!« Mit der Aussage legen sich einige Menschen heute echt in die Kurve. Statt der Wahrheit ins Auge zu blicken und einmal radikal ehrlich zu sich zu sein, reden wir uns die bittere Wahrheit schön. Da war aber nichts schönzureden. So hart es auch für mich war, es mir einzugestehen: Ich war fett geworden. Punkt. Ich aß schlecht und mein Training war obendrein der Superlativ einer Katastrophe. Seneca lehrte: »Denke schlecht von dir. So wirst du dich gewöhnen, die Wahrheit zu sagen und zu hören.«
Praktizieren Sie radikale Ehrlichkeit mit sich selbst. Halten Sie sich Ihre Fehler vor Augen. Die Betonung liegt auf: Ihre Fehler und nicht die Fehler anderer. Die Fehler anderer können Sie nicht verändern, da es außerhalb Ihrer Macht liegt. Im Stoizismus geht es um Ihre Entwicklung und nicht darum, dass Sie so gut werden, dass Sie Ihr Ego in die Höhe heben und andere Menschen niedermachen müssen. Das wäre das Werk eines Narzissten und nicht das Ergebnis eines guten Lebens. Machen Sie sich ans Werk und suchen Sie die Wahrheit. Praktizieren Sie radikale Ehrlichkeit mit sich selbst. Springen Sie bewusst ins kalte Wasser und begegnen Sie dem Unangenehmen. Hier finden Sie den größten Fortschritt für sich und Ihre Zukunft. Damit sind sowohl Ihr körperliches Befinden als auch Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen oder Ihre Arbeit gemeint. Was ist der Sport, der Sie am meisten quält? Was ist Ihr persönlicher Horror? Gewöhnen Sie sich an den Gedanken, dass Fortschritt nur in dem liegen kann, was wir ungern oder unfreiwillig tun.
Wer immer nur auf der Couch die Schokolade in sich reinstopft, muss sich über nichts wundern. Wer den Schmerzen entsagt, wird niemals hochkommen. Machen Sie sich an die Arbeit und verändern Sie, was Sie nicht länger tolerieren wollen. Die Singles, die einen Partner finden wollen, müssen endlich den Arsch hochkriegen und in der Bar den Menschen ansprechen, den Sie kennenlernen möchten. Wir müssen den Mut entwickeln, uns radikal unsere Ängste einzugestehen. Die Unglücklichen müssen sich radikal ehrlich ihren Ängsten stellen und diese laut aussprechen. Die ungewollt Übergewichtigen müssen aufhören, sich kurvig zu nennen. Sprechen Sie die Wahrheit aus! Auch wenn es wehtut. Fangen Sie an, das Unbequeme zu tun, auch wenn das bedeutet, mit sich selbst hart ins Gericht zu gehen. Seien Sie ehrlich zu sich selbst. Sie haben es verdient.
Die Stoiker lehrten, dass die Wahrheit maßgeblich ist. Statt nach Lügen, Schönrederei und dem sanften Geplänkel strebten die Stoiker nach der absoluten und brutalen Wahrheit. Ermahnen Sie sich, nach der Wahrheit zu suchen. Seneca schrieb an Lucilius: »Zwei Dinge sind es, denen die Seele vor allem ihre Kraft verdankt: der Glaube an die Wahrheit und das Selbstvertrauen; beides bewirkt die Ermahnung.« Die Suche nach dieser Wahrheit wird uns im Folgenden noch weiter beschäftigen.
»Ich bin nicht dein großer Meister und ich muss dir auch nicht sagen, was du zu tun hast. Wenn du gemäß dem Stoizismus leben möchtest, musst du kein Besserwisser oder Guru sein. Du brauchst auch keinen Coach oder so einen Unfug. Warum sollte ich dich ermahnen, wenn du es selbst nicht schaffst?«, fragte mich der Sergeant. Ich hatte ihn verstanden. Ich suchte nach Ausreden, nicht laufen zu müssen. Statt der Wahrheit hatte ich den leichten Weg gesucht. Wer den leichten Weg sucht, darf niemals wahre Ergebnisse erwarten. Da bin auch ich keine Ausnahme.
Ich hatte mir jahrelang eingeredet, dass Laufen etwas Qualvolles war. Also stellte ich mich der Qual und begann, langsam zu joggen. Nach zwei Kilometern streikten meine Muskeln und meine Füße schmerzten wie Feuer. Zwei Tage später lief ich wieder. Wieder setzten die Schmerzen ein. Ich kaufte mir bessere Laufschuhe, Einlagen und die passenden Strümpfe. Doch der Schmerz ließ mich nicht los. Alle zwei Tage ging ich laufen und laugte meinen Körper bis zur Erschöpfung aus. Nach 15 Minuten Laufen war ich so fertig wie nie zuvor. Als ich nach vier Wochen aufgeben wollte, dachte ich an den Schmerz, den ich vorher in meiner Seele empfand. Ich dachte an die hedonistische Gesellschaft und den gepriesenen Durchschnitt. Das wollte ich nicht! Ich lief weiter und habe seither nicht mehr damit aufgehört. Seit meinem ersten richtigen Langstreckenlauf kann ich nicht mehr aufhören. Die Schmerzen wurden mit der Zeit weniger oder setzten später ein. Aufgehört haben sie aber nie.
Für alle Dinge, die wir als lohnenswert erachten, müssen wir leiden und das Leiden akzeptieren. Wir müssen der Wahrheit ins Auge blicken. Wir müssen erkennen, dass wir faul, träge, fett und langsam sind. Wir müssen erkennen, dass wir zornig, übereifrig, ängstlich und schwach sind. Nehmen Sie Ihre Schwächen an. Attackieren Sie Ihre Schwächen durch die passenden Handlungen. Seneca lehrt uns: »Man glaube ja nicht, es sei mehr fremde Schmeichelei als unsere eigene, die uns zugrunde richtet. Wer wagt es, sich selbst die Wahrheit zu sagen?«
In unserer hedonistischen Welt wird Ihnen gesagt, dass es okay sei, auf der Couch Chips und Gummibärchen in sich hineinzustopfen. Tiefkühlabteilungen sind in vielen Läden sogar größer als alle anderen. Die Auswahl an Tiefkühlpizzen und Fertiggerichten ist gigantisch. Unsere Gesellschaft erlaubt den leichten und einfachen Weg und nennt ihn obendrein auch noch Fortschritt. Was für ein Wahnsinn!
Bei Wettkämpfen treffe ich immer auf Athleten, die etwas Stoisches an sich haben. Sie trotzen dem Hedonismus, zumindest wenn es um ihren Sport geht. Das ist auch gut so. Der Stoizismus ist kein Fitnessprogramm, sondern eine Lebensphilosophie. Der gelebte Stoizismus soll Ihnen zu viel mehr verhelfen, als die Couch gegen Ihre Laufschuhe zu tauschen.
Im Stoizismus geht es darum, alle drei Elemente Ihres Ich miteinander zu verbinden – Körper, Geist und Seele. Diese gilt es in ein harmonisches Sein zu bringen, um so zu wachsen und einen Fortschritt zu erlangen. Wie dieser Fortschritt für Sie persönlich aussehen soll, hängt nur von Ihnen und Ihren Zielen ab. Doch dafür bedarf es mehr als nur durchschnittlicher Arbeit.
Ich bin immer wieder fassungslos, wenn Menschen behaupten, dass Sie sich etwas gönnen wollen, nur weil Sie durchschnittliche Arbeit geleistet haben. Nach dem Motto: »Immerhin habe ich es geschafft, heute aufzustehen.« Ja, das ist ganz wundervoll. Soll ich jetzt einen bunten Lollipop verschenken und das Köpfchen streicheln? Nein, zurück ans Werk. Wir sind noch lange nicht fertig!
Ich habe den Stoizismus vor allem als eine Art Übungsprogramm für schlechte Zeiten kennengelernt. Während in unserer hedonistischen Gesellschaft schlechte und schlimme Ereignisse kategorisch verneint und ignoriert werden, läuft der Stoiker schnurstracks und gerade in das offene Messer hinein. Ist Ihnen nicht auch schon aufgefallen, dass unsere Gesellschaft nur ungern über Fehlschläge, missglückte Ehen, gescheiterte Beziehungen oder Insolvenzen spricht? Niemand will über das Blut, den Schweiß, die Tränen und die gebrochenen Herzen sprechen. Immer muss es heißen: »We are the champions« und unser Leben ist der totale Wahnsinn. »Hier, schau nur, wie toll mein Instagram-Profil ist!« Die Stoiker hingegen halten nichts von dieser Scheinwelt und gespielter Glückseligkeit. Für sie ist es ein Schauspiel voller falscher Statisten. Die Stoiker suchen stattdessen bewusst das Problem und die Herausforderung. Sie suchen den Schmerz in der Wahrheit. Doch warum ist das so?
Die Stoiker waren keine Masochisten, sondern daran interessiert, besser zu werden. Im Stoizismus spricht man von einem Leben gemäß Arete. Das Prinzip Arete hat für uns eine maßgebliche Bedeutung. Gemäß dem Stoizismus leben wir Menschen erst dann in völliger Harmonie mit uns selbst, der Welt und dem Kosmos, wenn wir die beste Version sind, die wir sein können. Ich tue mich mit diesem Begriff immer sehr schwer.
Wenn wir die beste Version unserer selbst werden sollen, um in Harmonie mit uns und der Welt zu leben, bedeutet das, dass es mehrere Versionen von uns gibt. Das wiederum klingt für mich nach Schizophrenie. Ich bevorzuge es daher, von der besten Person zu sprechen, welche wir sein können. Dass es eine Version 3.1.2 von Ihnen geben soll, lehne ich daher in diesem Rahmen ab. Sind wir denn etwa updatepflichtig?
Die beste Person zu sein, zu werden oder gar unser vollständiges Potenzial zu entfalten, ist unsere Aufgabe als frischgebackene Stoiker. Dies ist nicht immer einfach. Selbst wenn wir es schaffen, uns regelmäßig zu verbessern, kann dies zu einem Anstieg unseres Egos führen und weil gerade alles so extrem gut läuft und wir uns wie Popeye fühlen, denken wir, dass das immer so bleiben wird. Es ist ein Kampf zwischen Arete, unserem besten Ich, dem Ego und dem Maßlosen.
Das Schöne an Arete aber ist auch, dass Sie für diese beste Person keine externen Beeinflussungen benötigen. Der Sportler braucht kein Doping, die Diva keine Modetrends, der Marathonläufer nicht die besten Schuhe, das Kind nicht den besten Rucksack und der Single nicht den perfekten Partner. Ob Sie als die beste Person leben können, welche Sie potenziell sein können, liegt nur an Ihnen. Ob Sie ein harmonisches, ein glückliches und vollkommenes Leben führen, hängt nur von Ihnen ab. Ob Sie in Harmonie mit der Welt leben, hängt nur von Ihnen und nie von anderen Menschen, Tieren oder der Welt ab. Seneca schrieb: »Ein Teil unserer Zeit wird uns entrissen, ein anderer unbemerkt entzogen, ein dritter wieder zerrinnt uns. Am schimpflichsten aber ist wohl der Verlust durch Nachlässigkeit.« Er erinnert uns daran, dass alle Verantwortung bei uns verweilt. Die gesamte Verantwortung unseres Lebens liegt bei uns – sowohl für die guten als auch für die schlechten Taten, Momente und Begegnungen.
Wenn wir nachlässig werden, werden wir träge, schwach, fett, langsam und unkonzentriert. Wir entfernen uns immer weiter von der besten Person, die wir sein können. Wir entfernen uns von unserem Potenzial und führen alles andere als ein gutes Leben. Das Resultat ist, dass die Harmonie zwischen unserem Körper, unserem Geist und unserer Seele leidet. Wer ein tugendhaftes Leben gemäß Arete leben will, muss sich der Verbesserung verschreiben. Schließen Sie einen Vertrag mit sich selbst. Schließen Sie diesen Vertrag noch heute, um sofort damit zu beginnen, Ihre Schwächen, Ihre Trägheit, Disziplinlosigkeit und Ungenauigkeit zu attackieren. Gehen Sie in den Angriff über!
Wenn Kleinkinder hinfallen, fangen sie anfangs nicht sofort an zu weinen. Sie schauen erst hoch und suchen nach den Blicken der Eltern. Wenn diese ganz traurig aussehen und dem Kind entgegenrennen und es aufheben wollen, beginnt das Kind sofort zu weinen. Ich habe schon Kinder gesehen, die laut auflachten, als sie hinfielen, während Papa und Mama danebenstanden und breit grinsten. Sie glauben, dass sich das ändert, wenn wir erwachsen werden? Wie viele Menschen fallen heute hin und schauen sich erst einmal um, ob es jemand gesehen hat. Wir sind plötzlich peinlich berührt, denn wir sind nicht mehr so toll, wie wir glaubten, oder wir suchen nach den Blicken anderer. Dann fangen wir an zu jammern: »Oh Gott, die Firma schmeißt so viele Leute raus. Bald bin ich auch dran« oder: »Oh nein, der Sebastian hat mich verlassen. Mein Leben ist zu Ende!« Mein Liebling und der Klassiker ist: »Das Wetter ist heute so mies. Da kann der Tag nur schlecht werden.« Das ist wie bei der griechischen antiken Vogelschau. Wenn der Vogel eine Schlange in den Klauen hält und linksherum fliegt, sind die Götter erzürnt. Ja klar, die Götter sind schuld. Wenn wir schon dabei sind: Warum sind denn nicht gleich auch die Eltern, die Politiker, der Arbeitgeber, der Kunde oder der Maulwurf im Garten schuld?
Hören Sie auf zu jammern. Übernehmen Sie radikal und gnadenlos die Verantwortung für Ihre Fehler und alle Missstände, an denen Sie direkt oder indirekt beteiligt sind. Die Frage sollte niemals lauten: »Warum ist das nur schiefgelaufen?« Die Frage muss lauten: »Was kann ich tun, damit es wieder gut wird?« Verantwortung zu übernehmen, ist schwer und tut weh. Es ist harte Arbeit, sich der Wahrheit zu stellen und ihr ins Auge zu blicken. Doch wenn Sie es hätten besser tun können, dann übernehmen Sie auch Verantwortung!
In unserer heutigen hedonistischen Gesellschaft will niemand mehr wirklich Verantwortung übernehmen. So scheint es zumindest. Wir wollen lieber im Ruhm baden, den Erfolg auskosten oder einfach so tun als ob. Letzteres steckt in dem gebräuchlichen Ratschlag: »Fake it till you make it.« Frei nach dem Motto: »Ja, du bist ein kleiner Versager. Egal, tue einfach so, als ob du der große Hecht wärst. Irgendwann bist du das. Hier, iss noch ein Stück Sahnetorte!« Das meinte Seneca auch damit, als er von der Nachlässigkeit sprach. Seneca lehrte weiterhin: »Es kann niemand ethisch verantwortungsvoll leben, der nur an sich denkt und alles seinem persönlichen Vorteil unterstellt. Du musst für den anderen leben, wenn du für dich selbst leben willst.« Auch das bedeutet es, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung für uns, Verantwortung für andere, Verantwortung für die Gesellschaft und Verantwortung für die Welt. Wer seine Verantwortung leugnet, dem fällt es leicht zu glauben, dass er von seinen Taten unberührt bleibt. Aus diesem Grund fällt es Politikern leicht, Wahlversprechungen zu geben und sich an diese in ihrer Amtszeit nicht zu halten. Der Nachfolger kann die Suppe ja auslöffeln, während man längst weg ist. Sollen doch die nächsten in der Reihe die Verantwortung übernehmen.
Wer seine Verantwortung negiert, leugnet die Schmerzen, die er damit anderen zufügt. Übernehmen Sie Verantwortung für Ihr Leben. Wenn Sie es nicht tun, tut es keiner!
»Wie viele Klimmzüge schaffst du?«, fragte mich der Sergeant. Ich hatte keine Ahnung und fragte neckisch zurück: »Wie viele schaffst du denn?« Er lachte: »Alle«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Mit der Wampe vor dir wird es schwer für dich. Was isst du die ganze Zeit?« Der Sergeant traf einen wunden Punkt. Ich hatte ihm noch nicht gebeichtet, dass meine Ernährung aus Tiefkühlmahlzeiten bestand. Als ich ihm erklärte, wie meine Ernährung aussah, sagte er: »Ich verstehe. Du stehst also auf Gift.« Ziemlich hart formuliert, aber ja, im Grunde genommen hatte er recht. Ich aß zu viel weißen Zucker, zu viele Kohlenhydrate und ungesunde Fette. »Immerhin rauchst du nicht«, lachte er. »Dein Problem ist aber nicht nur die Ernährung. Du hast bisher dein schlechtes Essverhalten akzeptiert und es toleriert, dass du deinem Körper das antust. Du kämpfst nicht. Du hast dich dem hedonistischen, schnellen und einfachen Weg hingegeben.« Treffend! Der junge Jedi war der dunklen Seite verfallen.
Toleranz ist eine Lüge. Ich meine damit nicht, dass wir etwa andere Religionen oder Hautfarben, Meinungen oder sexuelle Neigungen nicht tolerieren sollten. Die Stoiker waren offen für andere Meinungen und Ansichten. Sie begrüßten sie sogar und versuchten, den Menschen durch Weisheit und Rat zu helfen. Die Toleranz gegenüber anderen Menschen oder Religionen muss für uns als angehende Stoiker also eine Tugend sein. Doch die Toleranz, von der ich spreche, die eine Lüge ist, ist die hedonistisch erlernte Toleranz.
Wir haben gelernt, dass wir den leichten und einfachen Weg tolerieren sollten. So, wie es damals meine Sportlehrerin tat, als ich die Runden nicht zu Ende lief. »Ja, der kleine Niclas hat sich verletzt. Der arme Junge, er kann ruhig aufhören.« Hätte sie die Schwäche und das vorgetäuschte Leid nicht toleriert, hätte sie mir in den Arsch treten müssen. Wahrscheinlich wäre ich weitergelaufen. Ich wusste es nicht besser und habe es stattdessen jahrelang toleriert. Am Ende war es meine Schuld.
Unsere Pädagogen haben längst den leichten und entspannten Weg als den goldenen Pfad deklariert und ihn gewählt. Die 1968er-Bewegung hat ihr Bestes dazugegeben und einen Laissez-faire-Erziehungsstil geduldet. Plötzlich begannen wir, es zu tolerieren, wenn Kindern keine Grenzen aufgezeigt wurden. Tischmanieren, Anstand und Respekt wurden über Bord geworfen. Selbstverständlich soll das keine Verallgemeinerung und Beschuldigung aller Pädagogen sein. Leider aber nehme ich immer mehr ein solches Verhalten bei heutigen Lehrkräften wahr. Das heute beklagte Fehlverhalten jüngerer Menschen ist das Ergebnis vergangener Pädagogik. Die heutigen hervorragenden Lehrkräfte gehen in der Masse der schwarzen Schafe unter.
Doch die Eltern sind nicht besser. Die Kinder bekommen mittags das Essen vorgesetzt, das aus Pommes, fettigen Hähnchenteilen und Tomatenketchup besteht. Manchmal gibt es Döner oder eine Tiefkühlpizza. Es werden ein paar Chickenwings aus der Tiefkühltruhe aufgetaut und fertig ist die Ernährung für die Kinder nach der Schule. Ich habe als Kind immer eine sehr gesunde und nahrhafte Küche genießen dürfen. Als ich aber mein Studium begann und auf mich selbst gestellt war, ging es mit der Ernährung bergab. Ich habe die steile Fahrt abwärts toleriert. Seneca lehrte: »Für unsere innere Freiheit kommt sehr viel darauf an, ob wir unseren Magen in guter Zucht haben und ob er widerstandsfähig ist auch gegen starke Zumutungen.«
Wir werden langsam und fett, wenn wir eine schlechte Ernährungsweise tolerieren. Eine saubere und gute Ernährung ist der Antrieb für unseren Körper. Wie wollen wir die beste Person sein, die wir sein können, wenn wir uns nicht hervorragend ernähren und unserem Körper nur das Beste geben? Niemand braucht Kaviar und Wachteleier. Eine gesunde Küche kann so einfach sein. Tolerieren Sie keine minderwertige Nahrung oder Fast Food. Vergiften Sie nicht Ihren Körper und damit Ihr Leben. Seneca selbst war sogar Vegetarier. Er schrieb an Lucilius: »Durch solche Reden angetrieben, fing ich an, mich der tierischen Nahrung zu enthalten, und nach Ablauf eines Jahres war mir diese Gewohnheit nicht nur leicht, sondern auch angenehm.« Das heißt nicht, dass Sie nun kein Fleisch mehr essen sollten. Nein, machen Sie sich stattdessen Gedanken über Ihre Ernährung und darüber, was Sie zu sich nehmen. Mit ein bis zwei guten Büchern können Sie sich an einem Wochenende alles anlesen, was Sie wissen müssen, um eine einfache, kostengünstige und gesündere Ernährung zu gewährleisten. Oft reicht es aus, weißen Zucker und ungesunde Fette zu streichen. Kuchen, Süßigkeiten und Konsorten dürfen beim Supermarkt im Regal liegen bleiben. Tolerieren Sie den leichten Weg nicht, nur weil ihn unsere heutige Gesellschaft gutheißt. Auch wenn alle von der Brücke springen, macht es den Fall nicht besser. Am Ende klatschen alle unten auf. Jeder für sich allein.
Nach einer Weile hatte ich den Dreh raus. Ich aß wieder vernünftig, hatte mir einen Ernährungsplan zugelegt, ging abends laufen und machte morgens und abends Yoga. Zusätzlich trainierte ich allein mit meinem Körpergewicht, wo ich gerade war. »Du brauchst kein Fitnessstudio. Fünf einfache Übungen, Junge! Liegestütze, Klimmzüge, Burpees, Squads und Sit-ups. Mehr brauchst du nicht«, lehrte mich der Sergeant seine Fitnessregeln aus der Armeezeit. Es ging aufwärts – gefühlt zumindest. Ich berichtete dem Sergeant von der Entwicklung und er entgegnete streng: »Seneca war kein Fitnesscoach! Du trainierst nicht für ein Sixpack oder den Marathon. Du trainierst, um deinen Körper, deinen Geist und deine Seele zu stählen. Du bereitest dich mit dem Training auf die Widrigkeiten des Lebens vor. Du trainierst deine Disziplin. Durch die richtige Ernährung unterstützt du deinen Körper dahingehend, dass du diese Leistung überhaupt erst bringen kannst. Wenn du für ein gutes Aussehen trainierst, schenkst du deinem Ego voll ein. Das ist nicht das, was Seneca lehrte.«
Obwohl der Hedonismus lebt und unsere Gesellschaft sich ihm hingegeben hat, gibt es dennoch genügend Menschen, die körperlich an sich arbeiten. Die Fitnessstudios sind, besonders abends, rappelvoll. Die Laufstrecken sind mit Joggern und Trainierenden gut besucht. Bei einem Halbmarathon hat man das Gefühl, man läuft mit einer Herde Rinder durch die Savanne. Glücklicherweise trainieren und arbeiten viele an ihrer Entwicklung. Leider ist es häufig nur die körperliche und sportliche Entwicklung. Sie ist meist zielgerichtet. Die Jungs wollen ein Sixpack, größere Muskeln und einen tollen Bizeps. Die Frauen wollen eine Strandfigur und ein rundes Gesäß. Ihr Training streichelt ihr Ego. Sie tun es aus egoistischen Gründen und dem Wunsch nach Anerkennung, mehr Sex, Spaß und Freude. Obwohl die Handlung die richtige ist, ist es die falsche Absicht. So wird das Training und die Ernährung zum Zweck, sich dem Hedonismus hinzugeben. Was haben wir damit erreicht?
Sobald wir den Sex, die Anerkennung und den Spaß erlangt haben, flaut unsere Motivation fürs Training ab, wir werden langsamer und wieder träge. Wir haben ja schließlich erreicht, was wir wollten. Das ist unter anderem ein Grund dafür, warum die meisten Fitnessstudios eher voller Singles auf Partnersuche sind und im Januar die meisten Anmeldungen stattfinden, während im Februar die Fitnessräume leerer werden. Im Prinzip ist dies auch der Grund für die Faulheit vieler Eheleute. Nach der Hochzeit wird der Körper oft vernachlässigt. Zunächst dachte man, dass man für einen neuen Partner gut in Form sein sollte. Dann fand man die große Liebe und begann langsam, träge zu werden. Irgendwann war der Trott da und hatte sich wie ein Parasit festgebissen. Mit den Jahren wurde man dicker, langsamer, schwächer und steifer. Spätestens dann hören wir wieder einmal die Experten sagen: »Deutschland hat Rücken!« Als sei die Arbeit getan und man könne sich jetzt ausruhen. Ihr Ego spielt Ihnen hier in die Karten und macht Ihnen klar, dass Sie es sich verdient haben. Deshalb ruhen Sie sich auf einstigen Erfolgen aus. Dass diese 30 Jahre zurückliegen, interessiert dabei keinen.