falter 52

Wege der Seele – Bilder des Lebens

Brigitte Werner

Herzräume

Geborgen im eigenen Leben

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

Unbedingt!

Verstand verloren

Besondere Herren

Kleine Gespräche

Imagine all the people

Erbse mit Speck

Rose

Freuwort

Woodstock

Paradiese

Bethlehem ist überall

Kurz woanders

Wolkengeflüster

Lichtgeschehnisse

Lady in Red

Good bye

Verhext

Birne à la Brigitte

Die kleine Elli

Glücksspur

Rotkäppchen

Glanzbild

Sister

Drei kleine Königinnen

Voll das Leben

Geschichten

Mächtigkeiten

Nachwort: Was mich antreibt

Danke

Impressum

Leseprobe: Brigitte Werner – Seitenblicke. Die Liebe zum Leben

Pippi Langstrumpf:
«Ach was – wenn das Herz
nur warm ist und schlägt,
wie es schlagen soll,
dann friert man nicht!»

ASTRID LINDGREN

Auf eine Mauer in einem
Hinterhof hatte mal jemand
geschrieben:
Bildet Banden!
Das hatte mich tagelang
beschäftigt.

In den wenigen geschenkten
Stunden, in denen ich allein
zu Hause war, holte ich diese
Wunderplatte aus ihrer Hülle,
ich wusste genau, wie ich sie
auflegen musste, niemals würde
ich ihr einen Kratzer zufügen.

Ich konnte es nicht glauben.
Das Paradies war nicht irgendwo,
sondern genau hier in einem
schwarzen Mercedes mit einem
Taxischild obendrauf. «There is
a crack in everything», sang
Leonard Cohen, «that’s how
the light gets in …», sang der
Taxifahrer.

Sein Fell ist stark verstruppt,
senffarben wie seine Augen.
He, sage ich, wer bist DU denn?
Er denkt nach. Na, ein Hund
eben, welche Frage. Jaja, ich
gebe ihm recht.
Und ja, ich bin
ein Mensch, ein Mensch eben.
Und gerade sehr froh über
deine Gesellschaft.

Ich höre mir auf Youtube
mögliche, passende Songs an,
ich vergesse die Zeit, möchte
unbedingt ein Schlusslied haben,
das gute Laune macht, das vielleicht
zum Tanzen einlädt, das
uns alle mit einem Lächeln auf
dem Gesicht wieder in unsere
Wohnungen schickt.

Ich erfand die Geschichte eines
kleinen Mädchens mit Namen
«Erbse» wegen ihrer mangelnden
Größe, das statt eines Fahrrads
ein kleines Schweinchen zum
Geburtstag bekam. Und damit
begann ein Abenteuer für mich
und für die Zuschauer.

Da leuchtet ein Stück Mauerwerk
kurz auf, etwa so quadratisch
und weiß wie ein Zettel aus
meiner Zettelbox, und jemand
hat groß und deutlich in zittriger
schwarzer Schreibschrift ROSE
darauf geschrieben. ROSE,
nichts weiter.

Plötzlich verweilt ihr Blick
länger auf einer Seite. Eine
dicke Nashornmama kocht
einen Nashornpudding in einem
nashorngroßen, blubbernden
Topf.

In ihren dunklen Augen glitzert
das Puddingleuchten. Das kenne
ich. Das kennen alle Puddingliebhaber
auf der ganzen Welt.

Als der blutjunge Joe Cocker
singt, mit unbeholfenen
Bewegungen und dieser
magischen Stimme, ist es um
mich geschehen. Ich verliebe
mich auf der Stelle in ihn und in
dieses Lied: «With a little help
from my friends.»

Ich war beim Auftauchen wie
benommen, bestaunte unsere
Küche, als hätte ich sie noch
nie gesehen, und spürte den
deutlichen Schmerz eines
Verlustes, als ich die Buchseiten
verlassen musste.

«Wo ist seine Mutter?», fragt sie.
«Zur Drogerie», sage ich. Und
erst jetzt bekomme ich einen
leisen Anflug von Angst, dass
Maria nicht wiederkommt. Ich
erschrecke über mich selber.
Niemals lässt Maria das Jesuskind
im Stich. Niemals.

Der vertraute Geruch nach
Kirchenbänken, Weihrauch, alten
Gesangbüchern und noch was,
was man wohl in allen Kirchen
der Welt wiederfindet, keine
Ahnung was, umfängt mich. Ja,
Wärme auch, aber auch Stille,
Frieden.

«Die Dicke dahinten», kichert
Victoria und zeigt in den Himmel,
«die hat auch Schuhe an.»
Ich suche die Dicke, die ist wahrhaftig
dick und, ja, sie hat so
etwas wie kleine Füße oder
Schuhe oder Flossen untendran.

Ich war sofort in dem
schimmernden geheimnisvollen
Frieden dieser Straße, ich fühlte
es, ich sah es deutlich vor mir,
aber ich konnte bis auf kleine,
nasse gelbe Vierecke in einem
großen grauen Viereck nichts
Stimmungsvolles aufs Papier
bringen.

Als ich mich zum Bad durchgefragt
hatte und erleichtert die
Tür hinter mir schließen wollte,
hörte ich ein «Hallo» aus der
Badewanne.

Dort hockte eine junge Frau, in
eine rote Wolldecke gewickelt,
auf ihren Knien ein Brett mit
einem Berg Papier.

Als der Tag meines Auszugs kam,
schien eine großzügige Oktobersonne,
die Terrassentür war weit
geöffnet. Als ich mich nach dem
letzten Karton bückte, hörte ich
ein Flattern. Und: Da war es. Es
flog ein, zwei Runden durch den
leeren Raum, setzte sich auf die
Fensterbank, und wir nahmen
Abschied.

Ideen flogen hin und her, bunte Ideen, frivole Ideen, unmögliche Ideen, es war ein rasantes Pingpongspiel, ich stand an meiner Arbeitsplatte und erzählte von einem sehr intensiven Traum. Er barg eine großartige Idee für ein großartiges Theaterstück.

Sie nickt und lächelt und nickt,
sie nippt an ihrem Kaffee und
an ihrem Kuchen, er gießt nach
und sie lächelt. Ihr schneeweißes
Haar leuchtet und ihre Augen
leuchten und ihr rosa Kostüm
leuchtet. Ihr Gesicht ist sanft und
kindlich froh.

Ich habe noch niemals mit
meinem ganzen Körper auf diese
Art die Trompete von Maurice
André gehört, es ist, als ob alle
diese Haydn-Töne direkt unter
meiner Haut gelebt hätten und
nun aufsteigen und über mir
schweben.

Wir toben. Die Kinder rennen
zum Schrank, schreien Bravo,
klatschen, und Timo trägt Mona
drei Runden um den Tisch und
setzt sie dann vorsichtig wieder
ab.

«Wir sind Königinnen», piepst
die Kleinste. «Wir sind die drei
Königinnen», verbessert die
Mittlere flüsternd. «Sach ich
doch», empört sich die kleine
Königin. Die Krone wackelt
heftig.

Es können auch sanfte Wolkengebilde
sein oder eine blaue
Kindersocke, die ich am
Mülleimer fand, so elternlos, so
ganz ohne das passende kleine
Kinderbeinchen, und schon
schießen mir die Tränen in die
Augen.

Ich holte Stifte, Papier und
Stuhl aus meinem Pippi-Lotta-Häuschen,
rückte ihm alles
zurecht und beobachtete, wie er
sehr sorgfältig die Stifte prüfte,
keinen der bunten Filzstifte
nahm, sondern den schwarzen.
Er äugelte auf mein Blatt und
fing an.

Ich wollte das unbedingt auch
tun, irgendetwas erschaffen,
was die Realität über sich selbst
hinauswachsen ließ, ich erfand
damals schon Geschichten für
andere Kinder und konnte in
ihnen leben, aufatmen, groß und
stark und freudvoll werden.

Was mich antreiben kann, ist
das Frühlingsgrün, der Duft von
einem gewaltigen Leben, das
immer wiederkehrt und prallvoll
mit guten Geschichten ist. Und
auf die bin ich stets neugierig.
Und ich bin ihnen immer auf der
Spur.

Nachwort: Was mich antreibt

Ich weiß nicht, ob ich im nächsten Leben noch einmal ein Stier sein möchte. Der Stier kann doch recht schwerfällig sein, auch träge, stur und traditionsverhaftet, aber auch sehr sinnenhaft, dem Leben zugewandt, ein Kind der schönen Genüsse, der schönen Dinge überhaupt. Und kreativ, erschaffend. Ich kann nur ehrlich sagen, dass das alles auf mich zutrifft. Aber Gott sei Dank bin ich auch Krebs, und immer spüre ich sehr genau, in welchem meiner beiden Sternzeichen ich mich gerade bewege. Erde und Wasser, sie prägen mich. Und dann muss ich achtsam darauf aufpassen, welchen Anteil ich gerade ausleben möchte, welcher mich unterstützt und welcher mich bremst.

Das habe ich gelernt. Und meinen ständig plappernden Kritiker, der mich immerzu runtermachen will, den kann ich mittlerweile auch ganz gut kleinhalten. Als vor Kurzem irgendein Künstler im Fernsehen behauptete, nur die ständigen, heftigen Selbstzweifel würden einen Künstler vorwärtstreiben und Kreativität erzeugen, war ich erschüttert. Das trifft auf mich überhaupt nicht zu. In keinster Weise. Natürlich habe ich Selbstzweifel und überprüfe sehr gründlich, ob ich meine Texte weiterreichen möchte, da habe ich einen großen Anspruch an mich selbst.

Aber was mich antreibt, sind nicht die Zweifel, sondern es ist die Freude. Die Freude an den Worten, an guten Erzählungen, ich kann sie auch neidlos von anderen Autorinnen und Autoren genießen und bewundern. Alles, was für mich schön ist, das ist wie ein Auffüllen meiner Lebensenergie und meiner Kreativität. In Phasen, in denen es mir nicht gut ging oder, noch schlimmer, richtig schlecht ging, war es mein unverbrüchliches Vertrauen in eine gute Kraft, die Schönheit ist und Frieden und Kreativität und Liebe. Und das wollte ich unbedingt jedes Mal wiederfinden. Ich wusste ja, dass ich diese Kräfte besaß. Das Erinnern und die Sehnsucht danach haben mir dabei immer geholfen.

Noch nie habe ich aus einem großen Kummer heraus geschrieben, der Kummer, die Verzweiflung, der Schmerz sind eher lähmend für meine Kreativität. Ich schreibe aus einer großen Freude heraus, dann kann ich sogar heilend über die schwarzen Momente schreiben. Ich liebe es, dann dafür die genau passenden Worte zu finden. Ich schreibe durchaus nicht nur freudvolle Texte, meine Bücher haben jede Menge Konflikte, aber immer biete ich Lösungen an, besonders in meinen Kinderbüchern. Meine Bücher müssen gut ausgehen. Denn wenn ich schon die Magie der Kreativität entfalten kann, dann muss ich doch nicht noch eine weitere «miese» Welt erschaffen.

Nein, im Gegenteil, da in meinem Kopf alles möglich ist, erschaffe ich mir etwas Freudvolles. Das erkläre ich auch immer den Kindern in meinen Lesungen, und sie nicken dann, weil es ihnen einleuchtet. Ich kann mich freudvoll schriftlich mit Krisen auseinandersetzen. Ich liebe das Schreiben. Auch wenn es manchmal höllisch schwere Arbeit ist. Und das ist es.

Und wenn mich das erschöpft, muss ich auftanken. Am besten mit schönen Dingen: mit Musik zum Beispiel, mit meinen Lieblingsbüchern, mit Bildern von Wäldern und schönen Orten. Ich kann mich unter einen Baum setzen, die Vögel beobachten, leckeres Essen kochen. Eine Katze streicheln. Ausruhen. Hemmungslos ausruhen ohne den Nörgler im Kopf, der das tadelt und bewertet als üble Faulheit. Was mich antreiben kann, ist das Frühlingsgrün, der Duft von einem gewaltigen Leben, das immer wiederkehrt und prallvoll mit guten Geschichten ist. Und auf die bin ich stets neugierig. Und ich bin ihnen immer auf der Spur.

Ja, Neugier und Freude treiben meine Kreativität an. Negativität, Zweifel oder Wut niemals. Sie können zwar Gedanken der Rache aufputschen oder schrille Auseinandersetzungen befeuern, aber sie verbrennen stets alle meine Kabel, mein Motor streikt, ich muss mich reparieren, manchmal mit einer großen Generalüberholung. Gott sei Dank kenne ich mein Getriebe, weiß, welche Ersatzteile ich wie und wo bekomme, weiß, welche Schraube locker ist und was ich einmal säubern sollte.

Und dann, ja dann mit Volldampf in die Freude zurück. In das wunderbare Getümmel, das man Leben nennt. Auf das man einfach neugierig sein muss. Es gibt so unendlich viel zu entdecken. Und das ist großartig für eine Geschichtenerzählerin. Ja, das Suchen und Finden und Erfinden von Geschichten, und das mit Neugier und Freude, das treibt mich an.

Danke

Ich möchte an dieser Stelle meinem Verleger, Jean-Claude Lin, danken, der mir das Vertrauen geschenkt hat, diese Kolumnenreihen mit Leben zu füllen. Ich danke all den vielen kleinen und großen Menschen, die mein Leben bereichert und mich eine Weile oder noch immer auf meinen manchmal krummen und schiefen Wegen begleiten oder begleitet haben.

Und natürlich möchte ich all meinen Leserinnen und Lesern danken, die so voller Freude mutig und fleißig waren, mir Rückmeldungen zu meinen Texten zu geben. Alle diese Mails und Briefe flimmern nun in einem besonders großen und hellen Herzraum.

1. Auflage 2021

Verlag Freies Geistesleben

Landhausstraße 82, 70190 Stuttgart

www.geistesleben.com

ISBN 978-3-7725-4652-5 (epub)

© 2021 Verlag Freies Geistesleben

& Urachhaus GmbH, Stuttgart

Umschlagfoto: Fotoline / Photocase

Fotos: akg-images / Manuel Cohen (S. 162)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

 Leseprobe: Brigitte Werner– Seitenblicke. Die Liebe zum Leben

190 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag

ISBN 978-3-7725-2549-0 (print)

ISBN 978-3-7725-4349-4 (epub)

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

voller Freude habe ich diese Kolumnenreihe geschrieben. Das hätte ich vor einiger Zeit noch nicht gedacht. Den Horror des Zeitdrucks und des Ideenmangels hatte ich als riesige Angstblase im Kopf und auch im Bauch.

Alles falscher Alarm. Bei meinem ersten Kolumnenbuch, Zufälle, hatte sich bereits herausgestellt, dass das Leben ein gewaltiges Füllhorn ist mit einem überquellenden Schatz an funkelnden Geschichten, die man erleben kann, wenn man sie wahrnimmt. Ich bin sicher, dass ich leider aber auch bereits an einer großen Menge wunderbarer Erlebnisse und Begegnungen vorbeigerannt oder geschlurft oder gestolpert bin, weil ich unaufmerksam, träge, befangen, blind oder mein Blick eingetrübt war. Aber nun, als mein Verleger mit dem Wunsch an mich herantrat, ich möge für das Jahr 2017 jeden Monat eine Kolumne zu dem Thema «Seitenblicke» schreiben, hüpfte mein Herz voller Vorfreude. Ich wusste mit großer Sicherheit, dass ich genügend Seitenblicke, die erzählenswert waren, erleben würde oder aber aus der Erinnerung würde schöpfen können.

a temposo