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Rich Diviney

DIE ATTRIBUTE DES ERFOLGS

Übersetzung aus dem Englischen von Jordan Wegberg

RICH DIVINEY

Ehemaliger Navy SEAL Commander und Gründer des SEAL »Mind Gym«

DIE ATTRIBUTE DES ERFOLGS

25 geheime Faktoren für herausragende Leistung

»Das Nachschlagewerk für jeden, der die Qualität des Vertrauens und die Leistung seines Teams verbessern möchte.« Simon Sinek, New York Times-Bestsellerautor von Frag immer erst: warum und Das unendliche Spiel

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

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1. Auflage 2021

© 2021 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Türkenstraße 89

D-80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

© der Originalausgabe by Richard Diviney

Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Random House, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York unter dem Titel The Attributes.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Jordan Wegberg

Redaktion: Bärbel Knill

Umschlaggestaltung: Marc Fischer

Satz: ZeroSoft, Timisoara

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-86881-857-4

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-353-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-354-3

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Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

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Für Kristen, Connor & Josh.

Ihr habt mich immer ermuntert, über meinen Horizont hinauszublicken – und dabei stets für meine Sicherheit zu sorgen.

Dieses Buch und alles, wonach ich im Leben strebe, sind euch gewidmet.

INHALT

1) Verborgene Antriebskräfte

2) Wie man eine Fallschirmpanne überlebt

3) Das Dreamteam-Paradox

Attribute der Charakterstärke

4) Mut – hüten Sie sich vor dem furchtlosen Anführer

5) Ausdauer – sieben Mal hinfallen und acht Mal aufstehen

6) Anpassungsfähigkeit – mach es wie der Frosch

7) Resilienz – die Vorzüge kleiner Tragödien

Zusammenfassung Charakterstärke

Attribute des Denkvermögens

8) Situationswahrnehmung – die Kunst der Wachsamkeit

9) Aufspaltung – auf Effizienz gepolt

10) Aufgabenwechsel – der Mythos des Multitasking

11) Lernfähigkeit – das ständige Update

Zusammenfassung Denkvermögen

Attribute der Motivation

12) Selbstwirksamkeit – die Kehrtwende meistern

13) Disziplin – der Blick aufs große Ziel

14) Aufgeschlossenheit – der Fisch ist der Letzte, der das Wasser entdeckt

15) Cleverness – die Prinzessin und der Drache

16) Narzissmus – hier geht es ja wohl nur um mich

Zusammenfassung Motivation

Attribute der Führungsfähigkeit

17) Empathie – es kümmert keinen, wie es Ihnen geht

18) Selbstlosigkeit – wenn es nicht weh tut, machen Sie etwas falsch

19) Authentizität – Sie können Ihr wahres Wesen nicht verstecken

20) Entschlossenheit – nichts tun ist auch eine Entscheidung

21) Verantwortungsbewusstsein – seien Sie kein Mittelsmann

Zusammenfassung Führungsfähigkeit

Attribute der Teamfähigkeit

22) Integrität – richtig oder falsch ist subjektiv

23) Gewissenhaftigkeit – es gibt immer etwas zu tun

24) Bescheidenheit – setz auf Schwarz, nicht auf Rot

25) Humor – ein Hoch auf den Klassenclown

26) Dynamische Unterordnung

27) Die anderen

28) Finden Sie Ihre Attribute heraus

29) Jetzt beginnt Ihre optimale Leistung

Über den Autor

Danksagung

Der Lebensplan

Liste der Werte

KAPITEL 1

VERBORGENE ANTRIEBSKRÄFTE

Sie haben jahrelang auf eine China-Reise gespart und ein paar Tage für eine Bustour über Land eingeplant. Die Landschaft ist spektakulär, aber es gibt nur kurze Pausen in abgelegenen Dörfern, meilenweit entfernt von den meisten Touristenorten. In einem besonders winzigen Weiler sagt Ihnen der Reiseleiter, Sie hätten zwanzig Minuten Zeit, um die Aussicht über ein breites, von nachmittäglichen Schatten gesäumtes Tal zu genießen. Sie entfernen sich unbemerkt von der Gruppe und folgen einem schmalen Pfad, der sich eine kleine Anhöhe hinaufwindet, um in Einsamkeit eine noch bessere Aussicht zu bekommen. Und sie ist fantastisch. Sie verlieren sich ganz in diesem und ein paar weiteren Augenblicken. Sie schauen auf die Uhr: Eine halbe Stunde lang haben Sie die Aussicht genossen.

Sie rennen den Abhang hinunter, aber zu spät. Der Bus ist weg, schon ein ganzes Stück entfernt über eine so tückische Buckelpiste, dass der Fahrer nicht mal wenden könnte, wenn er merken würde, dass Sie fehlen. Ihre Taschen sind leer: Sie haben Ihr Handy, Ihr Portemonnaie und Ihren Pass im Bus gelassen, weil Sie die anderen ja nicht verlieren wollten. Sie sehen sich um. Es gibt ein halbes Dutzend winzige Häuschen, keine Fahrzeuge, keine Stromleitungen. Eine alte Frau mustert Sie neugierig. Sie fragen sie, ob sie Ihnen helfen kann, aber sie versteht Sie nicht einmal: Sie sprechen kein Chinesisch, und niemand im Dorf spricht Englisch. Wenn Sie den Zeitplan richtig im Kopf haben, ist die nächste Rast drei Stunden entfernt. In zwei Stunden wird es dunkel.

Was machen Sie jetzt?

Oder wie wär’s mit folgendem Szenario: Sie fahren mit Ihrer Familie nach New York City, um sich die Sehenswürdigkeiten anzuschauen. Die Kinder sind zum ersten Mal dort und finden es super. Sie fahren zur Freiheitsstatue und zum Times Square und dann wollen Sie mit der U-Bahn zum Museum of Natural History. Nur dass Sie leider auf dem falschen Bahnsteig gelandet sind – dieser Zug fährt Richtung Downtown. Zwei der Kinder können Sie noch zurückhalten, aber der Fünfjährige, der zu aufgeregt ist, um auf Sie zu hören, drängelt sich durch die Menschenmenge und in den Waggon. Die Türen schließen sich, der Zug fährt ab, dann verschwindet er mitsamt Ihrem Kind im Tunnel.

Was jetzt?

Und hier noch ein Szenario: Das neue Jahr ist gerade mal drei Monate alt. Alles läuft bestens. Sie haben sich an Ihre Vorsätze gehalten und Fortschritte bei einigen langfristigen Zielen gemacht. Der Winter weicht, der Frühling bricht an. Dann bricht eine weltweite Pandemie aus. Scheinbar über Nacht macht das ganze Land dicht und die Regierung weist alle Menschen an, zu Hause zu bleiben. Die Kinder dürfen nicht zur Schule, Sie wissen nicht, ob Sie überhaupt noch eine Arbeit haben, die Geschäfte machen zu und es gibt weder Klopapier noch Desinfektionsmittel. Sie sind nicht sicher, ob Sie Angst haben sollten, weil so vieles über das Virus noch unbekannt ist: Sie würden sich wahrscheinlich davon erholen, aber was ist mit Ihren alten Eltern? Schlimmer noch, Sie haben keine Ahnung, wie lange das dauern wird. Ein paar Wochen? Ein paar Monate? Oder ist alles für immer anders?

Hatten Sie einen Plan dafür?

Nein, natürlich nicht. Diese drei Szenarios haben eins gemeinsam: Jedes davon hat Sie in äußerste Ungewissheit versetzt, an einen dunklen und unbekannten Ort, wo mit jedem Herzschlag Panik aufsteigt und aus der Verwirrung Angst wird. Sie können solche Situationen nicht üben, Sie können keine Fertigkeiten erlernen, um sich durch diese ersten bebenden Augenblicke zu manövrieren. Sie lernen leicht Sprachen? Aber nicht Chinesisch vor Einbruch der Dunkelheit. Sie finden sich gut in Großstädten zurecht? Aber nicht Ihr Fünfjähriger. Waren Sie darauf gefasst, dass die Wirtschaft zum Erliegen kommen würde, darauf, dass physische Isolation zur Normalität wird? War überhaupt irgendwer auf so etwas gefasst?

Aber Sie müssen trotzdem handeln. In solchen extremen Situationen geht es viel weniger darum, was Sie wissen, sondern darum, wer Sie sind.

Ihre Fähigkeiten sind nicht unbedingt wichtig.

Entscheidender sind Ihre charakteristischen Eigenschaften – Ihre Attribute.

Unsere Attribute sind Bestandteil unseres inneren Schaltkreises. Sie laufen immer im Hintergrund mit und bestimmen, wie wir uns verhalten, wie wir reagieren und handeln. Wir können sie uns vorstellen wie den Programmiercode hinter einer Smartphone-App. Man tippt auf ein Icon und es öffnet sich ein Programm, vielleicht die E-Mail-Anwendung, ein Spiel oder die Wettervorhersage. Das ist ein sichtbares Verhalten, eine offensichtliche und vorhersagbare Ursache und Wirkung. Antippen, öffnen. Den meisten Menschen reicht diese Information die meiste Zeit aus, um zurechtzukommen: Wenn ich dieses Icon berühre, passiert etwas Bestimmtes, und wenn ich jenes berühre, passiert etwas anderes, aber jedes Mal weiß ich genau, was kommt. Ich wende eine Fähigkeit an und erhalte ein Ergebnis.

Die meisten Menschen denken allerdings nie über die Tausenden Zeilen Programmiercode nach – eine durchschnittliche Smartphone-App hat 50 000 –, die festlegen, wie eine App funktioniert. Sie können sich diesen Code wie eine Zusammenstellung von Attributen vorstellen. Jede App hat ihre eigene Kombination, aber für gewöhnlich ist es nicht notwendig, sich darum zu kümmern, welche das sein könnte. Wenn Sie wissen wollen, wo es zum Strand geht, müssen Sie wissen, welches Icon Sie zum Aktivieren des GPS berühren müssen, nicht, wie man das Programm dafür schreibt. Ihr Startbildschirm ist ordentlich aufgeräumt, die Apps sind klar identifiziert, und Sie wissen, was Sie zu erwarten haben, wenn Sie eine davon antippen.

Aber diese kleinen Bildchen tun eigentlich nichts. Was Sie da sehen – das Icon, das die App öffnet –, löst keine Handlung aus. Es ist der Code, die unerkannte Programmierung, die das tut.

Dieser Code ist äußerst wichtig.

Auf diese Attribute kommt es an.

Menschen sind natürlich komplizierter als Apps. Niemand von uns ist auf eine einzige Funktion reduziert und kann nur SMS verschicken oder Instagram-Storys posten. Aber das Prinzip ist dasselbe: Wir alle haben eine interne Programmierung, eine besondere Kombination von Attributen, die unser Handeln steuern. Sind Sie äußerst anpassungsfähig und sehr bescheiden, haben aber kein starkes Verantwortungsgefühl? Dann werden Sie sich anders verhalten als jemand, der gerissen und diszipliniert ist und sich vor Zurückweisungen fürchtet. Nichts ist besser oder schlechter – betrachten Sie Attribute für unseren Zweck als neutrale Merkmale, die uns sowohl angeboren als auch anerzogen sind; sie sind moralisch weder gut noch schlecht.

Keinesfalls sollten Attribute mit Persönlichkeitsmerkmalen verwechselt werden. Eine Persönlichkeit besteht aus Verhaltensmustern, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg entwickeln. Es handelt sich um einen äußeren Ausdruck all dessen, was Sie ausmacht – Ihre Fähigkeiten, Gewohnheiten, Gefühle, Perspektiven und, ja, auch Attribute, alles zusammengenommen. Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst Ihre Persönlichkeit, von Genetik über Erziehung bis Umwelt. Die Eigenschaften sind nur ein Teil dieser Elemente.

Doch es ist wichtig zu bedenken, dass unsere Attribute immer im Hintergrund laufen. In Extremsituationen voller Unsicherheit, in denen man instinktiv handeln muss, kommen sie zum Vorschein. Es hat aber auch Einfluss auf Ihr Verhalten im Alltag, wie resilient Sie sind und wie groß Ihre Selbstwirksamkeit ist; Ihre Authentizität und Empathie wirken sich darauf aus, wie Sie andere behandeln und umgekehrt von ihnen wahrgenommen werden. Zudem wirken Attribute sich darauf aus, wie Menschen – Teams, Vorgesetzte und Mitarbeiter, Ehepartner, Kinder und Freunde – miteinander umgehen; ein Dutzend kompetente, versierte Kollegen können in der Zusammenarbeit eine Katastrophe sein, während eine Gruppe scheinbar durchschnittlicher Individuen als Kollektiv brilliert. Attribute können beeinflussen, wer ein guter Anführer und wer ein loyaler Folgender ist.

Auch wenn jeder Mensch Attribute in seinem Schaltkreis hat, sind sie dennoch nicht unveränderlich. Sie können optimiert und angepasst werden. Stellen Sie sich vor, dass jedes Attribut seinen eigenen Dimmschalter hat. Wenn Sie ein sehr geringes Maß an, sagen wir: Anpassungsfähigkeit haben, ist der Schieberegler ganz unten; haben Sie ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit, ist der Regler weit oben. Diese Regler lassen sich nur sehr schwer verschieben, denn Attribute haben bei jedem von uns tendenziell von Natur aus eine Voreinstellung. Aber sie lassen sich bewegen. Mit Anstrengung und Übung können Sie sie nach oben oder unten schieben, können dieses Merkmal verstärken oder verringern, wie Sie es für nötig halten.

Die Merkmale anderer Menschen können Sie nicht manipulieren. Aber Sie können lernen, sie zu erkennen, was äußerst nützlich ist. Wenn Sie das menschliche Verhalten verstehen wollen – Ihr eigenes und das anderer –, besteht der erste Schritt darin, die Merkmale zu verstehen.

Was Merkmale sind, habe ich auf die harte Art gelernt, bei der Arbeit und mit Druck von oben.

Im Jahr 2010 sollte ich die Ausbildung für eine der besten Spezialeinheiten der Welt durchführen. Unser Kommando wählte Kandidaten aus anderen Spezialeinheiten aus, Männer, die sich bereits als außergewöhnlich kompetent und engagiert erwiesen hatten. An einem Freitagnachmittag saß ich einem dieser Männer an einem kleinen Tisch gegenüber, der von einem langen Ausbildungstag noch ganz verschwitzt war. Er war ein Navy-SEAL mit acht Jahren Erfahrung, ein versierter Soldat, der Dutzende von Missionen erfüllt hatte. Sein Lebenslauf setzte sich aus begeisterten Beurteilungen und Empfehlungen seiner Vorgesetzten zusammen. Zudem war er ein anerkannter Mentor jüngerer, weniger erfahrener Männer und war, häufig vorzeitig, bei jeder sich bietenden Gelegenheit befördert worden.

Auf dem Papier war er perfekt. Aber nach drei Wochen eines neunmonatigen Programms wussten wir bereits, dass er es nicht schaffen würde.

Der Auswahl- und Übungskurs hatte gerade eine Woche städtischen Nahkampf oder SNK absolviert. Sie kennen das sicher aus Filmen und Fernsehsendungen: ein SWAT-Team oder ein Soldatentrupp platzt in ein Gebäude hinein, die angelegten Gewehre werden in alle Richtungen geschwenkt, und alle paar Sekunden ruft einer von ihnen: Sicher! Allerdings ist die Hollywood-Version viel geräuschvoller und schludriger als die Realität. In Wirklichkeit ist SNK ein komplexer Ablauf von Bewegungen, deren genaue Reihenfolge und Zeitwahl in einem fließenden, stressintensiven Umfeld improvisiert werden muss, in dem Fehler tödlich sein können. Der vorderste Mann konzentriert sich nur auf die Tür und wartet auf das Signal – ein Geräusch oder ein Wort – des zweiten Mannes. Dann geht er durch die Tür und wendet sich nach links oder rechts, lässt den Blick an der Wand herabgleiten und um neunzig Grad zur Mitte des Raums. Der zweite Mann wählt die entgegengesetzte Richtung – links von der Rechten des ersten oder umgekehrt – und nimmt dieselbe Sichtkontrolle vor. Auch der Dritte und der Vierte wechseln sich in der Richtung ab und jeder von ihnen sucht den Raum nach irgendwelchen feindlichen Elementen ab, die neutralisiert werden müssen, oder nach Unbeteiligten, bei denen das nicht nötig ist. Das alles geschieht in wenigen Augenblicken.

Der Bursche mir gegenüber hatte in seiner Laufbahn sicher so viele Räume gesichert, dass er sich gar nicht an alle erinnern konnte. Aber jede Spezialeinheit hat ihre eigenen Gewohnheiten und Techniken und er musste die unseren lernen. Wir hatten exakte Vorgaben bezüglich der Waffenkontrolle, wann sie gesichert waren und wann nicht, wann der Finger auf dem Abzug lag, sogar wie weit jeder von der Wand entfernt sein sollte. Gewohnheiten abzulegen ist gar nicht so leicht, aber es war entscheidend für unsere Fähigkeit, Männer darin zu schulen, genau dieselben Dinge auf genau dieselbe Art zu tun. Die Übereinstimmung von Denken und Handeln ist bei Spitzenteams unverzichtbar, besonders wenn das Umfeld so dynamisch ist und so viel auf dem Spiel steht. Zu Beginn des SNK-Trainings ist es relativ einfach: Wir fangen mit zweiköpfigen Teams an, die mit Übungswaffen (ohne Munition) ein paar Räume sichern. Danach wird der Lehrgang rasch anspruchsvoller. Aus zwei Männern werden vier, aus drei Räumen acht, dann zehn, es kommen L-förmige und T-förmige Flure hinzu. Die Komplexität steigt tagtäglich, und die Kandidaten müssen in immer höherem Tempo immer mehr Informationen aufnehmen und verarbeiten.

Der Kandidat an diesem Tisch hatte stark angefangen, aber ungefähr nach der ersten Woche bekam die Sache Risse. Kleine Fehler verwandelten sich in größere und sein Selbstvertrauen war angeknackst. Er wusste, dass er zurückfiel, und bemühte sich verbissen, den Anschluss zu bekommen. Er blieb länger, ging Szenarien durch, übte Techniken, bat die Ausbilder um Feedback. Nichts davon funktionierte. Einer der bestausgebildeten Soldaten der Welt, ein Mann, der eigens für diese Spezialeinheit rekrutiert worden war, kam einfach nicht mehr mit.

Ich war nicht glücklich, an diesem Freitagnachmittag mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Sein Wehrpass mit allen Belobigungen und Empfehlungen lag vor mir und ich blätterte ihn erneut durch. Alles in seiner Akte besagte, dass er perfekt in diese Einheit passte; alles, was wir im SNK gesehen hatten, besagte, dass er es nicht tat.

Was sollte ich ihm sagen? Dass er wenigstens nicht der Einzige war? Dass mehr als die Hälfte – die Hälfte! – aller Kandidaten ebenfalls ausschieden? Das würde nicht genügen: Egal wie zartfühlend man es sagt, Sie sind nicht gut genug ist ein harter Schlag für jedes Ego, ganz zu schweigen von einem Mann seines Kalibers.

Und da waren auch noch meine Vorgesetzten. Es gibt einen hohen Schwund bei Kandidaten, die in eine Spezialeinheit kommen wollen, und das mit Absicht; ungefähr 85 Prozent der potenziellen Bewerber beenden beispielsweise die SEAL-Ausbildung nicht. Aber wir rekrutierten Männer, die nachweislich bereits zu den Allerbesten in den Spezialeinheiten gehörten. Wenn nur etwa 50 Prozent dieser Männer unsere Ausbildung schafften, wollten die Vorgesetzten wissen, warum. Konnten wir ihnen keine bessere Antwort liefern als »Sie haben es einfach nicht geschafft«, würden sie früher oder später den Kurs selbst hinterfragen – einen Kurs, von dem wir in der Einheit wussten, dass er fundiert war und sich seit Jahrzehnten als erfolgreich erwies. Man hatte aber schon angefangen, den Kurs zu hinterfragen: Ehe ich die Ausbildung übernommen hatte, hatte mein leitender Offizier mich damit beauftragt, mal zu untersuchen, ob wir unseren Prozess besser formulieren könnten, damit wir das Scheitern – und den Erfolg – der Kandidaten genauer erklären konnten.

An diesem Tag im Jahr 2010 hatte ich allerdings keine zufriedenstellenden Antworten. Ich sagte diesem äußerst erfahrenen, hochdekorierten und hochkompetenten SEAL das Einzige, was ich ihm sagen konnte. »Es tut mir leid, Sie haben es einfach nicht geschafft.«

Er war auch nicht glücklich darüber.

Um eine bessere Erklärung dafür zu finden, warum so viele anscheinend gut qualifizierte Kandidaten es nicht schafften, beschloss ich, unsere Geschichte zu erforschen. Also kehrte ich zu den Anfängen zurück, ins Jahr 1943.

Obwohl der Zweite Weltkrieg noch fast zwei Jahre wüten sollte, war von vornherein klar, dass ein Sieg an der europäischen Front alliierte Truppen vor Ort erfordern würde. Es konnte eine begrenzte Anzahl an Fallschirmspringern über feindlichem Territorium abgesetzt werden – was auch bereits geschah –, aber die Niederschlagung der Achsenmächte musste von vielen Tausend Soldaten vorgenommen werden, einer überwältigenden Übermacht aus Menschen und Material. Den Krieg zu gewinnen würde unweigerlich eine gewaltige amphibische Invasion erfordern.

Dasselbe hatten die Alliierten schon während des vorangegangenen Weltkriegs erkannt. Die Gallipoli-Aktion von 1915 war als amphibische Landung geplant gewesen, gefolgt von einem Bodenangriff, um die Kontrolle über einen wichtigen Versorgungsweg zu erlangen. Sie sollte das Ende des Ersten Weltkriegs einläuten. Stattdessen wurde sie zu einem Desaster. Die ottomanischen Truppen hatten die Meerenge mit Minen und Unterwasserhindernissen versehen und zahlreiche Schiffe, darunter zwei U-Boote, wurden schon beim ersten Ansturm versenkt oder zerstört. Die Aktion schleppte sich noch über acht Monate hin und forderte eine halbe Million Menschenleben, ehe die Alliierten den Rückzug antraten.

Fast dreißig Jahre danach hatten die alliierten Planungskräfte die Lektion von Gallipoli noch parat. Nach einer Reihe von gescheiterten Landungsversuchen erkannten die Kommandanten in der US Navy, dass einer groß angelegten Invasion eine kleine Gruppe Eindringlinge vorausgehen musste. Ihre Aufgabe war es, Strände auszukundschaften, Hindernisse aufzuspüren und auszuschalten und die Landetruppen zu dirigieren. Im Wesentlichen beruhte der Erfolg des D-Day, der größten Seeinvasion in der Menschheitsgeschichte, auf einer Handvoll Freiwilliger, die ihr Leben riskierten, um Informationen zusammenzutragen und den Weg freizumachen.

Navy Lieutenant Commander Draper Kauffman sollte die neue Einheit aufbauen. Mehr als ein Jahr zuvor hatte er die US Naval Bomb Disposal School aufgebaut und viele der ursprünglich rekrutierten Männer – Seabees, Marines, Army-Kampfingenieure – hatten bereits Erfahrungen im Bereich Sprengungen. Die Männer in Kauffmans Naval Combat Demolition Units (NCDU) schwammen allerdings an bestens gesicherte Strände, mit nichts als Badehose, Schwimmflossen und Tauchermaske bekleidet und lediglich mit einem Tauchermesser bewaffnet sowie so viel Sprengstoff, wie sie tragen konnten. Mit angehaltenem Atem mussten diese Männer bis zu fünfzig Fuß tief tauchen, Sprengstoff an Hindernissen befestigen, Minen ausfindig machen und verzeichnen und Notizen machen, die sie in eine Landkarte für die alliierten Invasionstruppen eintrugen. In manchen Fällen mussten die NCDU-Teams sich an Land schleichen, um feindliche Positionen zu erkunden und zu sabotieren. Da sie nichts als ein Messer zur Selbstverteidigung bei sich hatten, würden diese Männer mit Sicherheit getötet oder gefangen genommen werden, wenn man sie entdeckte.

Kauffman begriff jedoch, dass es für seine Leute nicht ausreichte, ein starker Schwimmer zu sein, der sich an einen Strand schleichen kann. Er brauchte Männer, die selbstständig denken konnten. Männer, die sich anpassen und flexibel auf eine sich schnell wandelnde Situation reagieren konnten. Männer, die auf zahlreiche Aspekte des Umfelds achten, als Team zusammenarbeiten und schnell Neues lernen konnten – und das alles unter unermesslicher Belastung.

Mit anderen Worten, Kauffman erkannte, dass er nicht nach Leuten suchte, die wussten, wie es geht, sondern nach Leuten, die es konnten.

Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen wissen und können ist enorm. Die erforderlichen Fertigkeiten – Tauchen, Kartografie, Sprengen und so weiter – kann man Leuten jederzeit beibringen. Was Kauffman brauchte, waren Männer mit bestimmten angeborenen Attributen, mit Merkmalen, die in ihrer Persönlichkeit verankert waren.

Die Squads wurden schnellstmöglich gebraucht, daher hatte Kauffman nicht allzu viel Zeit, sich mit der Auswahl und Ausbildung seiner Männer aufzuhalten. Statt Merkmale wie Anpassungsfähigkeit, Aufspaltung und Resilienz durch monatelange Drill- und Übungsdurchläufe herauszuarbeiten, hatte Kauffman eine geniale Idee: Er begann die Ausbildung mit der mörderischsten Woche, die man sich nur vorstellen kann. Die Kandidaten wurden intensivem körperlichem Training, Teamherausforderungen, Kampfsimulationen und Problemlösungen ausgesetzt. Das ging nonstop über fünf Tage, in der ganzen Woche bekamen sie nur drei bis vier Stunden Schlaf – nicht pro Nacht, sondern während des gesamten Zeitraums. In dieser ersten Woche nahm Kauffman keine Prüfungen oder Bewertungen vor; in der Annahme, dass eine Verletzung einen Mann nicht am Fortfahren hindern würde, wurde niemand aus dem Programm ausgeschlossen. Die Fähigkeit eines Kandidaten, die Sache durchzuziehen, lag allein bei ihm selbst. Bleiben oder Aufgeben?

Viele gaben auf. Die meisten davon an Tag zwei; die Abwanderungsquote lag bei rund 90 Prozent. Für Kauffman spielte das aber keine Rolle. Im Grunde ging es darum, die meisten seiner Bewerber zu verlieren. Die wenigen, die blieben, waren genau jene, die Kauffman – und die Alliierten – brauchten. Er wusste, die Handvoll Männer, die durchhielten, konnten Leistung bringen, wenn sie vor der wirklichen Aufgabe standen, wenn die Dinge garantiert aus dem Ruder liefen, wenn wohldurchdachte Pläne sich plötzlich in grenzenloser Komplexität zerfransten. Ob das Kauffman bewusst war oder nicht, das Geniale an dieser ersten Woche war, dass dabei die Qualifikationen weitgehend vernachlässigt und stattdessen die verborgenen Attribute eines jeden Mannes enthüllt wurden. Wer übrig blieb, hatte die erforderlichen Merkmale, um sich durchzukämpfen und erfolgreich zu sein, egal wie schlimm die Umstände sich entwickelten.

Kauffmans erste Woche des Grauens erhielt den passenden Spitznamen Höllenwoche. Während die NCDUs sich im Laufe der Zeit zu den Underwater Demolition Teams (UDT) und schließlich zu Naval Special Warfare Sea, Air, and Land (SEALs) entwickelte, wurden die notwendigen Fähigkeiten weiterentwickelt und der Übungs- und Auswahlablauf wurde länger und komplizierter. Was sich jedoch niemals änderte, war die Zielsetzung. Die moderne SEAL-Ausbildung – das Programm Basic Underwater Demolition/SEAL (BUD/S) – ist im Wesentlichen ein Auswahlverfahren. Es umfasst sechs Monate und die Höllenwoche ist jetzt die fünfte statt der ersten, aber das grundlegende Ziel ist immer noch dasselbe: Hat ein Kandidat die Attribute, nach denen die Navy sucht?

Das ist genau die Frage, zu der ich 2010 zurückkehrte. Im Bemühen zu erklären, warum erfahrene Spezialeinsatzkräfte scheiterten, konzentrierten meine Kollegen und ich uns lediglich auf kompetenzorientierte Evaluationen. Das war der falsche Messwert. Ja, oberflächlich betrachtet mochte ein Kandidat scheitern, weil er die eine oder andere Fertigkeit nicht korrekt oder effektiv beherrschte. Aber wir wussten, genau wie Kauffman es intuitiv erfasst hatte, dass man Fertigkeiten lernen kann. Entscheidend war, warum diese Kandidaten scheiterten. Ganz ähnlich, wie die Höllenwoche die Bewerber auf ihre Kern-Attribute reduzierte, tat dies auch unser Schulungsprogramm. Und dieses Umfeld hob hervor, wie wir die Kandidaten tatsächlich beurteilten, nämlich aufgrund ihrer angeborenen Attribute.

Nachdem wir das erst mal verstanden hatten, stellten wir uns die schwierigere Frage: Nach welchen Attributen suchten wir denn genau? Wir bildeten in der Einheit kleine Gruppen, um verschiedene Listen mit Attributen zu erstellen, die eine gute Spezialeinheitskraft ausmachten. Wir achteten darauf, Fertigkeiten nicht durch Attribute aufzublähen, ein häufig gemachter Fehler. So was wie »guter Schütze« oder »hervorragender Zugangstechniker« wurde verworfen. Dann verglichen wir all diese Listen, um sie zu einer einzigen zusammenzuführen.

Am Ende hatten wir eine Liste von sechsunddreißig Attributen und das war bahnbrechend für uns im Hinblick auf das Verständnis unseres Prozesses und die Erklärung der Ergebnisse. Wir konnten uns selbst und unseren Kandidaten nun darlegen, wonach wir suchten und warum. Während der Übungseinheiten konnten wir in Echtzeit erkennen, welche Attribute ein Kandidat hatte und welche nicht. Wenn ein Mann fortwährend unfähig war zu erkennen, in welche Richtung er sich wenden und in welchem Winkel er einen Raum betreten musste, zeigte uns das, dass er ein Defizit in Situationswahrnehmung und Anpassungsfähigkeit hatte. Wenn ein Kandidat rasch neue Regeln und Techniken verinnerlichte, die ihm auferlegt wurden, sprach das für seine Lernfähigkeit. Und wenn ein Kandidat fortwährend Fehler machte und sich, statt in die Ausgangsposition zurückzukehren, davon herunterziehen ließ, konnten wir daran seine mangelnde Resilienz ablesen. Wir konnten den Kandidaten, der Führung und uns selbst dadurch effektiver und konstruktiver Entlassungen erklären. Jetzt konnten wir den Kandidaten anhand der Masterliste zeigen, von welchen Attributen sie mehr und von welchen sie weniger besaßen und, was am wichtigsten war, wie sich das auf ihre Leistungen auswirkte.

Es gab auch einen positiven Kollateraleffekt. Nachdem wir die Fertigkeiten von den Attributen getrennt hatten, konnten wir frühzeitig die stillen Wasser ausmachen, jene Männer, die vielleicht technisch nicht herausragten, die jedoch alle Attribute aufwiesen, nach denen wir suchten. Das waren allzu häufig diejenigen gewesen, die wir weggeschickt hatten, weil wir ihr Potenzial nicht erkannt hatten, obwohl wir es direkt vor Augen gehabt hatten. Und wir hatten es nicht erkannt, weil wir sie nicht mit dem richtigen Blick betrachtet hatten.

Nachdem wir den Fokus auch auf die Attribute gelenkt hatten, wurde alles anders. Ja, die Kompetenzen werden immer bedeutsam sein. Aber als wir erst mal herausgefunden hatten, was diesen Kompetenzen zugrunde lag – das heißt, welche Attribute den Blicken verborgen blieben –, konnten wir unsere Auswahlkriterien besser formulieren. Wir konnten konkret und konstruktiv erklären, warum einige Kandidaten durchkamen und andere nicht, und, was das Wichtigste war, wir konnten das bestmögliche Team von Spezialeinsatzkräften zusammenstellen.

Die militärische Ausbildung, besonders von Elitekampftruppen, ist die perfekte Voraussetzung, um Attribute von Fertigkeiten zu trennen, und die Arbeit mit Spezialeinheiten hat mir die seltene und wertvolle Gelegenheit verschafft, diesen Unterschied zu beobachten und zu verstehen. Doch diese Prinzipien lassen sich auf die zivile Welt ebenso gut anwenden wie auf das Militär. Wollen Sie verstehen, warum Sie anscheinend keine Prioritäten und Schwerpunkte setzen können? Warum Sie immer angespannt sind, wenn die Umstände sich ändern? Warum Sie einfach nicht den ersten Schritt machen können, um Ihr Ziel zu erreichen, oder dann nicht die letzten Meter schaffen? Attribute sind der Ausgangspunkt. Wo immer und wann immer Menschen geschlossen und wirkungsvoll zusammenarbeiten müssen, ist es entscheidend, Attribute zu erkennen und zu verstehen – sowohl an sich selbst als auch an anderen –, um die optimalen Leistungen zu erzielen.

KAPITEL 2

WIE MAN EINE FALLSCHIRMPANNE ÜBERLEBT

Ich habe Höhenangst.

Fliegen macht mir nichts aus. Eigentlich finde ich es sogar toll. Mein Vater hatte einen Pilotenschein, als ich noch klein war, und am Wochenende nahm er meine Brüder, meine Schwester und mich in seinem einmotorigen Flugzeug mit. Abwechselnd durften wir auf dem begehrten Platz vorne neben ihm sitzen und ab und zu gab er uns den Steuerhebel in die Hand, damit wir das Steuern in drei Dimensionen selbst erleben konnten. Mein Zwillingsbruder und ich waren sofort hingerissen: Vom zehnten Lebensjahr an waren wir fest entschlossen, Kampfpiloten bei der Navy zu werden. Wir lebten und atmeten die Luftfahrt. Die Wände unseres Kinderzimmers waren mit Postern von Militärflugzeugen tapeziert und wir kannten die Merkmale jedes einzelnen davon auswendig – maximale Flughöhe, Höchstgeschwindigkeit, Mission. Wir gingen nach der Highschool beide ein Jahr lang auf ein Luftfahrt-College, ehe wir an der Purdue University landeten, in der Hoffnung, ein Navy-ROTC-Stipendium zu erhalten. Zum größten Teil waren wir erfolgreich. Mein Bruder blieb nicht beim ROTC, aber er schaffte es zur Marine und flog zwanzig Jahre lang die AV-8B Harrier – jenen Senkrechtstarter, der vertikal starten und landen kann. Ich konnte ein Stipendium ergattern, und nachdem ich 1996 meinen Abschluss gemacht hatte, wurde ich Fähnrich bei der Navy. Inzwischen hatten sich meine Ziele allerdings geändert.

Kurz nach dem ersten Golfkrieg 1991 stieß ich zufällig auf eine Ausgabe der Newsweek, auf deren Cover ein Soldat mit professioneller Tarnbemalung abgebildet war. Die Schlagzeile der Titelstory lautete »Geheimkrieger« und sie handelte von den Spezialeinheiten in jeder Sparte der bewaffneten Truppen – den Green Berets, den Rangers und den Helikopterpiloten bei der Army, den Combat Controllers und den Rettungsspringern bei der Air Force, der Gefechtsaufklärung bei der Marine und natürlich von den Navy-SEALs. Der Artikel war illustriert mit Bildern von Soldaten in verschiedenen Situationen – im Schnee und im Dschungel, unter Wasser und am Himmel. Es war cool, die verschiedenen Ausrüstungen und Uniformen zu sehen, die die Männer brauchten, um unter diesen Umständen eingesetzt zu werden, aber wirklich fasziniert war ich von zwei anderen Dingen. Das eine war, dass ungefähr fünfundzwanzig der rund dreißig Fotos SEALs zeigten. Die Einsatzkräfte der Navy arbeiteten in all diesen Situationen. Dass es solche Männer gab, die ihre Arbeit überall ausüben konnten, war inspirierend; meine Kindheitsfantasie, James Bond zu sein, schien in Reichweite zu gelangen.

Das Zweite, was mich faszinierte, war ihre Spezialisierung auf alles auf, am und unter Wasser. Ich war in New England am Meer aufgewachsen und seit meiner Geburt eine Wasserratte. Doch auch wenn es sicher Spaß macht, am Strand zu sitzen und im Wasser zu planschen, ist das Meer zugleich unglaublich menschenfeindlich. Das Fehlen von Sauerstoff, die extremen Temperaturen und der knochenbrechende Druck erklären, warum der Mensch ein Landlebewesen ist. SEALs dagegen machen diese Umgebung zu ihrem sicheren Ort. Eins ihrer Mantras lautet, dass der Feind niemals tapfer oder dumm genug ist, dir ins Wasser zu folgen. Im Zweifel zieh dich dorthin zurück. Mich begeisterte diese Idee, die Kühnheit, sich einen feindlichen Ort zur Zuflucht zu machen.

Und dann war da noch die Exklusivität. Das Auswahl- und Ausbildungsverfahren gilt allgemein als eine der härtesten militärischen Ausbildungen der Welt, die nur 15 Prozent der Bewerber bestehen. Ich war mir sicher, dass ich Kampfpilot werden konnte, aber konnte ich auch ein SEAL werden? War ich stark genug, klug genug, zäh genug? Ich stellte mir vor, wie ich eines Tages in einem Kampfjet saß, mir Männer aus einem SEAL-Team ansah und mich fragte, ob ich das auch geschafft hätte. Ich wusste, ich würde mich das immer fragen. Deshalb traf ich meine Entscheidung.

Und so rumpelte ich zehn Jahre später an einem Spätfrühlingsabend in 20 000 Fuß Höhe mit einer C-130 durch die Luft. Wenn man sich in einem Flugzeug oder Helikopter befindet, ist das Höhengefühl ausgeblendet: Was die physischen Sinne angeht, könnte man ebenso gut in einem kleinen, wackligen Zimmer stehen oder in einem unbequemen Sessel sitzen. Doch nachdem wir die richtige Höhe erreicht hatten, war ich im hinteren Flugzeugbereich, stand auf einer offenen Rampe, starrte in einen pechschwarzen Abgrund und machte mich bereit, mich hineinzustürzen.

Habe ich schon erwähnt, dass ich Höhenangst habe?

Die Angstreaktion ist eine interessante Sache. Es gibt ein paar grundlegende physiologische Reaktionen, die den meisten Menschen gemein sind – Beschleunigung von Puls und Atmung, Erweiterung der Pupillen –, andere dagegen sind ganz individuell. Meine? Ich gähne. Ich weiß, das klingt seltsam, und das dachte ich auch immer. Aber jetzt weiß ich, dass das Gähnen einfach der Versuch meines Körpers ist, meine Atmung zu regulieren, mehr Sauerstoff aufzunehmen und sich durch den Trigeminusnerv Zugang zu meinem parasympathischen Nervensystem zu verschaffen (keine Sorge, ich erkläre das alles später noch). Natürlich suggeriert das äußere Erscheinungsbild das komplette Gegenteil von Angst, was praktisch ist, wenn man nicht will, dass andere die eigene Nervosität bemerken.

Aber sie war da. Ich war jedes Mal nervös, wenn ich mich zum Absprung bereit machte.

Die Navy ließ uns schon ziemlich früh aus Flugzeugen springen. Damals war die erste Station nach dem Abschluss des BUD/S der Static-Line-Fallschirmkurs der Army. Eine Static Line ist ein Seil, dessen eines Ende am Fallschirm befestigt ist, während das andere im Flugzeug verankert ist. Wenn der Springer auf ungefähr 1200 Fuß (ca. 365 Meter) Höhe aus dem Flugzeug springt, öffnet die Static Line den Fallschirm und der Springer gleitet nach unten. Es gibt keinen freien Fall bei diesen Sprüngen und die großen, runden Schirme haben praktisch keinerlei Vorwärtsbewegung, was heißt, dass kein »Fliegen« des Fallschirms erforderlich ist. Man hofft einfach, dass der Spotter einen über einem guten Ziel herausgelassen hat, denn man hat praktisch keine Kontrolle darüber, wo man landet. Beim Fliegerkurs verbrachten wir drei Wochen damit zu lernen, wie wir uns aus einem Flugzeug werfen und zu Boden gleiten mussten, was wir insgesamt fünf Mal taten. (Jawohl, drei komplette Wochen für fünf Sprünge. Nach der Intensität der SEAL-Ausbildung hatten viele von uns echt Probleme mit dieser Geschwindigkeit.)

Nach den Static-Line-Sprüngen kam die Freifall-Qualifikation. Das war ein weiterer vierwöchiger Kurs, um zu lernen, wie man aus 12 000 Fuß (ca. 3650 Meter) Höhe sprang, also dem Zehnfachen der Höhe bei den Static-Line-Sprüngen: einige Sekunden freier Fall, Reißleine ziehen und den Fallschirm zu Boden lenken, diesmal einen rechteckigen Schirm, der eine Vorwärtsbewegung von rund 25 Meilen pro Stunde hat. Das Sprungtraining wurde schrittweise immer komplexer, bis ich, zehn Jahre und zahllose Sprünge später, den schwierigsten Grad des Fallschirmspringens übte – aus großer Höhe und bei frühzeitigem Öffnen. Man springt aus ungefähr 20 000 Fuß (ca. 6100 Meter), zählt bis vier und zieht die Reißleine. Der Schirm öffnet sich auf ungefähr 19 000 Fuß (5800 Meter), das heißt, es ist ein langer Flug zu einer weit entfernten Landezone. Dieses Training wird tagsüber und nachts vorgenommen, Zielsetzung ist es, auch nachts sicher zu sein, und deshalb stand ich im Heck dieser C-130 und gähnte in den schwarzen Himmel.

Einige Faktoren machen das Springen aus solchen Höhen schwierig. Einer davon ist, wie kalt es da oben ist. Die durchschnittlichen Lufttemperaturunterschiede liegen bei ungefähr 3 Grad Fahrenheit je 1000 Fuß (ca. 6 Grad Celsius pro 1000 Höhenmeter). Wenn es also beim Besteigen des Flugzeugs angenehme 60 Grad (15 Grad Celsius) hat, muss man beim Absprung mit durchdringender Kälte unter null (-17 Grad Celsius) rechnen. Es gibt auch nur sehr wenig Sauerstoff in dieser Höhe. An der Meeresoberfläche beträgt der Sauerstoffgehalt der Luft fast 21 Prozent, in 20 000 Fuß (ca. 6100 Meter) Höhe sinkt er auf weniger als 10 Prozent. Bei so dünner Luft besteht die Gefahr der Höhenkrankheit, zu der eine Vielzahl von Symptomen gehört, von Schwindel, Müdigkeit und Kopfschmerzen über Verwirrtheit und Atemnot bis hin zur völligen Bewusstlosigkeit. Das heißt, man muss mit einem Sauerstofftank und einer Maske springen – und das noch zusätzlich zur vollen Kampfausrüstung, einem ballistischen Schutzhelm und, da es ja stockdunkel ist, einem Nachtsichtgerät.

Das ist eine Menge Ausrüstung, was nur zu der Liste von Fertigkeiten beiträgt, die für das Überleben eines solchen Sprungs erforderlich sind. Ein Springer verlässt das Flugzeug, wenn es mit über 100 Meilen pro Stunde fliegt. Bei dieser Geschwindigkeit kann ein nicht ordentlich platzierter Rucksack Luftwiderstand bieten und wirkt sich drastisch auf die Fähigkeit aus, eine stabile Fallposition zu erzielen. Lockere, ungesicherte Ausrüstungsgegenstände können sich lösen und herabstürzen und dann sind Sie bei der Landung schlecht ausgestattet. Oder sie können sich in den Fallschirmleinen verhaken und eine nicht behebbare Fehlfunktion auslösen. Die erste Fertigkeit besteht also darin, dafür zu sorgen, dass alles dort ist, wo es hingehört.

Die zweitwichtigste Fertigkeit ist es, aus dem Flugzeug und in die korrekte Position zu kommen. Ob kopfüber (Hände und Kopf zuerst) oder liegend (rückwärts abspringen), Ziel ist es, Ihren Körper baldmöglichst in einen stabilen, senkrechten freien Fall zu bringen. Fallschirme funktionieren optimal, wenn ein Springer flach liegt – Brust und Torso horizontal auf einer Ebene, was einen sauberen und unbeeinträchtigten Luftstrom zum Fallschirm auf seinem Rücken ermöglicht. Die Körperhaltung ist entscheidend – gerade, aber nicht steif, zurückgebogen, Kopf nach oben, Arme und Beine gleichmäßig ausgestreckt. Sind die Beine zu gerade, verursacht das eine zu schnelle horizontale Vorwärtsbewegung, sind sie zu stark gebeugt, was bei Anfängern das häufigere Problem ist, bewegt man sich rasch rückwärts, was Backslide genannt wird. Seitwärtsbewegungen sind extrem schwer zu erkennen, weil man so hoch oben ist, sie können sich jedoch drastisch auf die korrekte Nutzung des Fallschirms auswirken und ihn hinter oder vor den Körper schleudern, wo es Gegenstände gibt, in denen er sich verhaken kann. All das ist bei Tag schon schwierig genug, aber bei Nacht sind praktisch keine Bezugspunkte vorhanden.

Ich habe mir all diese Fähigkeiten angeeignet. Ich habe Dutzende von Sprüngen aus großer Höhe absolviert. Doch meine Nerven flatterten jedes Mal, wenn ich an dieser offenen Luke stand. Und keine von all den Fähigkeiten wäre von Bedeutung gewesen, wenn ich mich nicht aus dieser verdammten Luke hätte zwingen können. In Augenblicken hoher Belastung und großen Unbehagens sind Fähigkeiten nicht genug.

Dann kommen die Attribute ins Spiel.

Fähigkeiten und Attribute werden ständig gleichgesetzt, dabei sind das zwei völlig unterschiedliche Dinge.

Denken Sie mal an einen Profisportler. Wenn zum Beispiel Drew Brees, der Quarterback der New Orleans Saints, einen zeitlich perfekt berechneten Pass entlang der Seitenlinie und über die Schulter eines rennenden Receivers hinweg spielt, wird offensichtlich, dass er enorm kompetent ist. Man könnte leicht annehmen, dass Brees’ Erfolg – Super-Bowl-Gewinner, künftiges Mitglied der Hall of Fame, Halter fast jedes einzelnen Passrekords der National Football League – ausschließlich auf diesen Fähigkeiten beruht.

Tut er aber nicht.

Schließlich können viele Menschen einen Football präzise auf ein bewegliches Ziel werfen und manche beherrschen diese spezielle, einzelne Aufgabe vielleicht ebenso gut wie Brees. Aber einen Football zu werfen ist eine Fähigkeit und Fähigkeiten allein reichen für eine optimale Leistung nicht aus. Um zu können, was er kann, braucht Brees auch ein hohes Maß an Situationswahrnehmung, Anpassungsfähigkeit, Entschlossenheit und eine Menge anderer Dinge als bloß Fähigkeiten.

Was meine ich mit Fähigkeiten?

Erstens sind Fähigkeiten erlernt. Sie sind nicht Bestandteil unseres Wesens. Niemand wird mit der Fähigkeit geboren zu werfen oder zu tippen oder auch nur zu laufen. Wir lernen diese Dinge, entweder indem wir sie beigebracht bekommen oder indem wir andere beobachten. (Es gibt zahlreiche Berichte über Kinder, die in der Wildnis aufgewachsen sind und nicht aufrecht gehen konnten, weil sie es niemals an jemand anderem gesehen haben.) Außerdem kann jeder eine Fähigkeit erlernen, vorausgesetzt, dass er die körperliche und geistige Kapazität dafür besitzt. Kompetenz und Grad der Beherrschung unterscheiden sich erheblich – die meisten Menschen werden niemals Konzertpianisten, egal wie viel sie üben –, aber fast jeder kann die Grundlagen erlernen und sich durch Übung verbessern. Das menschliche Gehirn ist darauf ausgelegt, Fähigkeiten zu erlernen.

Zweitens steuern die Fähigkeiten das Verhalten. Das heißt, Fähigkeiten sagen uns, was in bestimmten Situationen und Umgebungen zu tun ist. Einen Hammer schmieden, ein Fahrrad fahren, einen Brief schreiben – das alles erfordert Fähigkeiten, die auf diese Aufgaben zugeschnitten sind. Die Fähigkeiten, die beispielsweise zum Fahrradfahren nötig sind, können nicht auf das Verfassen eines Dankschreibens übertragen werden. Mit anderen Worten, eine Fähigkeit sagt uns, wie wir uns verhalten müssen, um bestimmte Dinge tun zu können.

Drittens lassen sich Fähigkeiten leicht beurteilen, messen und testen. Wir können sehen, wie Brees einen Football wirft, wir hören die Klänge eines Klaviers, wir schmecken, was der Koch zubereitet hat. Fähigkeiten können in ihre Bestandteile heruntergebrochen und untersucht werden – die Kraft des Rückschwungs, die Position der Hand oder die Gleichmäßigkeit des Bogens –, und es ist typischerweise leicht zu sehen, wie gut oder wie schlecht eine Fähigkeit ausgeführt wird. Die meisten Fähigkeiten werden niemals auf Wettbewerbsebene bewertet, aber trotzdem lassen sie sich beobachten. Es gibt keine Trophäe dafür, sicher zum Supermarkt zu fahren, aber wir alle erkennen den miesen Autofahrer auf dem Parkplatz.

Um dieses Konzept einer Fähigkeit auf seine einfachste Form zu reduzieren, können wir die Frühzeit der Weltraumforschung als Beispiel heranziehen. Die Techniker wollten wissen, ob Menschen unter der Belastung des Starts funktionieren würden, deshalb trainierten sie Schimpansen darauf, als Reaktion auf Lichter und Geräusche einen Hebel zu ziehen. Im Januar 1961 bediente ein Schimpanse namens Ham erfolgreich einen Hebel in einer Kapsel während eines sechzehnminütigen suborbitalen Flugs und bewies damit, dass es möglich war. Vier Monate später wurde Alan Shepard der erste Amerikaner im Weltraum.

Ham erlernte eine Fähigkeit, die sein Verhalten steuerte – als Reaktion auf eine Lampe nach einem Hebel zu greifen und ihn zu ziehen. Und diese Fähigkeit war leicht messbar – entweder zog er an dem Hebel oder nicht. Doch selbst wenn er darauf trainiert worden wäre, alle richtigen Knöpfe in der korrekten Reihenfolge zu drücken und alle richtigen Hebel zu ziehen, hätte niemand Ham als qualifiziert betrachtet, um ein Raumschiff zum Mond zu steuern. Selbst ein Mensch, der diese spezifischen Fähigkeiten auf der Erde beherrschte, wäre nicht notwendigerweise die beste Wahl gewesen. Etwas kann und wird immer schiefgehen. Solche Missionen erfordern etwas Zusätzliches, was Tom Wolfe in seinem gleichnamigen Buch als »The Right Stuff« bezeichnete.

Mit »The Right Stuff« meinte Wolfe im Prinzip die Dinge, die kompetenten Piloten zu eigen sind und es ihnen ermöglichen, auf höchster Ebene zu funktionieren, egal wie schlimm die Umstände aus dem Ruder laufen.

Er meinte mit diesen drei Wörtern Attribute.

Wir alle haben Attribute. Das sind keine magischen Kräfte, die Astronauten, Profisportlern und anderen höchst leistungsfähigen Menschen vorbehalten sind. Attribute sind einfach die angeborenen Merkmale, die bestimmen, wie ein Individuum seine Umwelt aufnimmt, verarbeitet und darauf reagiert. Je nach Situation kann ein Attribut dem Betreffenden einen Vorteil oder einen Nachteil verschaffen, doch die Attribute selbst sind neutral, weder positiv noch negativ. Geduld ist weder besser noch schlechter als Resilienz oder Lernfähigkeit. Und weil jeder sie besitzt, sind Attribute auf allen Ebenen mit dem Leben verflochten, von der Berufswelt bis zu persönlichen Beziehungen, von den alltäglichsten Pflichten bis zu den höchsten Gipfeln menschlicher Errungenschaften. Attribute sind überall, in jedem vorhanden, und dennoch weitgehend unerforscht. Ihre Attribute steuern Ihr Verhalten zu jeder Zeit, selbst jetzt, da Sie diesen Satz lesen.

Beginnen wir damit, die Attribute von den Fähigkeiten zu unterscheiden.