Prolog
Die Menschen verehrten sie wie einen zweiten Christus. Die Unbefangenheit, mit der sie Sterbende in die Arme schloss, schien die stürmische Liebe Gottes zu seinen ärmsten Kindern widerzuspiegeln.
UN-Generalsekretär Perez de Cuellar schmeichelte ihr 1985, sie sei ohne Frage »die mächtigste Frau der Welt«. Der Tag ihrer Seligsprechung wird in ihrem Heimatland Albanien heute als Nationalfeiertag begangen, der Flughafen von Tirana trägt ihren Namen, und 1998 benannte man sogar einen Asteroiden nach ihr: »4390 Madreteresa«. Papst Benedikt XVI. erwähnte sie in seiner Enzyklika Deus caritas est mehrfach als Beispiel, dass Spiritualität den Kampf gegen das Elend mächtig zu inspirieren vermöge.
Doch im Jahr 2007, zehn Jahre nach ihrem Tod, drohte die »Heilige von Kalkutta« jäh von ihrem Sockel zu stürzen. Schuld daran sind die Aufzeichnungen der Ordensgründerin über ihr intimes Leben mit Gott gewesen, die bis dahin nur wenigen bekannt waren und damals veröffentlicht worden sind. Den Inhalt fanden manche ihrer begeisterten Verehrer unerhört: »Der Himmel bedeutet nichts mehr, für mich schaut er wie ein leerer Platz aus«, stellt Mutter Teresa fest. »Wofür arbeite ich? Wenn es keinen Gott gibt – kann es auch keine Seele geben. – Wenn es keine Seele gibt, dann Jesus – bist auch Du nicht wahr. – Der Himmel, welch Leere – kein einziger Gedanke an den Himmel dringt in meinen Geist ein – denn dort ist keine Hoffnung.«
Verzweifelt fragt sie sich: »Die Leute sagen, dass sie sich näher zu Gott gezogen fühlen – wenn sie meinen festen Glauben sehen. – Ist das nicht ein Betrug an den Leuten?«
Heilige wie die charmante Thérèse von Lisieux oder der dunkle spanische Mystiker Juan de la Cruz haben ähnliche Erfahrungen gemacht. Dahinter steckt das Wissen, dass Glaube immer ein Risiko ist und nie ein Besitz. Und die Zerrissenheit eines Menschen, der die Welt der Armen in ihrer ganzen scheußlichen Realität wahrnimmt und gleichzeitig mit allen Fasern seines Herzens daran glaubt, dass ein guter Gott diese von Grausamkeit und Gewalt, Egoismus und Gemeinheit erschütterte Erde geschaffen hat.
Menschen wie Mutter Teresa gelingt es – unter Tränen! –, solche bitteren Erfahrungen zu verwandeln: Das Gefühl, von Gott nicht geliebt zu sein, bringe sie den Armen noch näher und bedeute die Teilnahme an der Passion Jesu, erklärt sie und entschließt sich, dann eben »die Dunkelheit zu lieben«.
Mit der Heiligsprechung der großen kleinen Nonne aus Kalkutta durch Papst Franziskus 2016 gewinnt der Himmel vielleicht keinen neuen Erzengel in Glanz und Glorie dazu – aber die Menschen bekommen eine Weggefährtin an die Seite.
Das Gebet bringt Glauben hervor,
der Glaube Liebe und
die Liebe Dienst an den Armen.
Mutter Teresa