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Für Julia und Marco
und die inspirierende Musik,
die ihr zusammen macht
Übersetzung aus dem Englischen von Marieke Heimburger
ISBN 978-3-492-98307-5
September 2016
© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2016
© Sarah Harvey 2012
Titel der englischen Originalausgabe: »Fruits«
© der deutschsprachigen Ausgabe
Piper Verlag GmbH, München 2012
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
Covermotiv: Javier Brosch / shutterstock.com
Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell
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– 1 –
Pip schnappte nach Luft. Sie erlebte das, was sie einen echten Schocker nannte, ausgelöst vom Aufkreuzen eines Prachtexemplars von einem Mann. In einem solchen Moment bekam das Wort atemberaubend eine ganz neue Dimension, denn der bloße Anblick des anbetungswürdigen Adonis kann schon zum Aussetzen der Lungenfunktion führen.
Plötzlich nimmst du alles um dich herum nur noch in Zeitlupe wahr, dein Brustkorb spannt von der letzten Schnappatmung, deine Pupillen weiten sich, du reißt die Augen auf, dein Herz fängt an zu rasen, dein Bauch macht sich plötzlich ganz flach, als zöge eine unsichtbare Schnur daran, deren anderes Ende mit deinem sogenannten Schoß verbunden ist ...
Es war auf dem Abschiedsessen passiert, mit dem ihr Freund und Kollege Clive nach sechsjähriger Mitarbeit in der Praxis in Bristol gebührend verabschiedet werden sollte.
Chester Bakewell, der Chef-Tierarzt und Praxisinhaber mit der großen Klappe, dem großen Auto, den großen Füßen und dem großen Herzen hatte einen Tisch bei Pips Lieblingsitaliener im Stadtteil Clifton reserviert.
Pip war immer noch untröstlich, dass Clive sie verlassen würde, denn wenn er nicht so ein verdammt guter Kumpel gewesen wäre, hätte sie sich durchaus in ihn verlieben können.
Ja, gut, mit seinen Hasenzähnen und den feuerroten Haaren erinnerte er sie ein bisschen an Bugs Bunny, aber es kommt ja schließlich nicht allein aufs Aussehen an. Clive war witzig und schlau, lieb und sarkastisch, ein Meister des schrägen Humors und Liebhaber feuchtfröhlicher Mittagspausen. Seine ehrlichen Augen strahlten freundlich und weise, und er war nicht nur der unumstrittene Star in der Cliftoner Klein- und Großtierpraxis, sondern auch Pips Lieblingskollege.
Zumindest war er das gewesen, bis er verkündete, man habe ihm einen anderen Job angeboten und er würde nach Irland zurückkehren.
»Wie kannst du es überhaupt auch nur in Erwägung ziehen, mich hier allein zu lassen?«, hatte Pip zum wiederholten Mal traurig gefragt.
»Sie haben mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte ...«, antwortete er geduldig mit einem Augenzwinkern.
»Wie das denn? Du hast gesagt, es ist eine Landtierarztpraxis. Das heißt, du wirst den lieben langen Tag Schafen über schlammige Felder hinterherrennen und deinen Arm bis zur Schulter in Kuhhintern stecken ...«
»Vielleicht ist das ja gerade das Angebot, das ich nicht ablehnen konnte«, witzelte er, schüttelte dann aber den Kopf, als er Pips langes Gesicht sah. »Nein, jetzt mal im Ernst, Pip: Das Angebot, das ich nicht ablehnen konnte, war das, nach Hause zurückzukehren.«
Überrascht blinzelte Pip ihn an.
»Aber ich dachte, du wolltest nie wieder zurück in das – wie nanntest du es noch – klaustrophobische Kuhkaff? Du hast gesagt, da wolltest du nicht tot überm Zaun hängen! Du hast gesagt, du würdest dich mit Zähnen und Klauen wehren, falls dich jemand dorthin zurückverschleppen wollte, du würdest so um dich schlagen, dass du es sogar mit einem aufgebrachten, vollgepumpten Mickey Rourke aufnehmen würdest.«
Clive seufzte. Pip zitierte ihn ja ganz richtig. Und genau so hatte er das alles damals auch gemeint. Seine eigenen Worte aus Pips Mund machten ihn nachdenklich.
»Ich weiß ...«, nickte er. »Ich hätte es ja auch nie für möglich gehalten, aber jetzt lockt mich tatsächlich die Heimat. Ich glaube, jeder landet in seinem Leben mal an dem Punkt, wo nicht mehr das einzige Ziel ist, so weit wie irgend möglich von Zuhause, von Eltern, Nachbarn und Schule wegzukommen, sondern die Brücken wieder aufzubauen, die man hinter sich abgebrochen hat. Irland fehlt mir, Pip. Meine Familie fehlt mir.«
»Und ich werde dir nicht fehlen?«, seufzte Pip.
»Doch, natürlich.« Er legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie fest an sich. »Aber nur, weil ich von hier wegziehe, heißt das ja noch lange nicht, dass ich aus deinem Leben verschwinde. Wir sind doch Freunde fürs Leben, oder?«
»Darin waren wir uns einig, ja.«
»Und das wird sich auch nicht ändern, nur weil wir ab jetzt in unterschiedlichen Ländern leben, oder?«
»Versprochen?«
»Versprochen. Und vergiss nicht unseren Deal, ja? Wenn wir beide mit vierzig noch nicht verheiratet sind ...?«
Pip hatte sich ein Lächeln abgerungen.
»... hilfst du mir, Brad zu entführen, und ich helfe dir, Angelina zu entführen ...«
»Die gute Nachricht ist, dass mein Nachfolger ein ziemlich netter Kerl zu sein scheint. Chester fand, heute Abend wäre eine gute Gelegenheit für ihn, euch alle kennenzulernen, von daher wird er auch gleich noch kommen.«
»Dein Nachfolger? Na, der wird’s nicht leicht haben ...«, hatte Pip trübsinnig orakelt.
Und dann war Dan Fairweather hereinspaziert.
Im selben Augenblick verschlug es Pip den Atem, ihr Herz fing an zu rasen und ihre Libido geriet außer Kontrolle.
Clive beobachtete sie und fing an zu lachen.
»Wie war das doch gleich? Er wird’s nicht leicht haben?«
– 2 –
Nancy, Pips langjährige Freundin und Mitbewohnerin, wachte davon auf, dass sie jemanden den Kühlschrank durchwühlen und dann den Toaster betätigen hörte.
Ein Blick auf den Wecker.
Fünf Uhr morgens.
Sie hatte nur eine Stunde geschlafen.
Nancy arbeitete als Triageschwester in der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses und war nach einer hektischen Spätschicht so fix und fertig, dass ihre Augenlider sich ganz schnell wieder senkten ... bis der köstliche Duft von auf leicht angebranntem Toast schmelzender Butter in ihre Nasenlöcher drang und ihren Magen zum Knurren brachte.
»Mist«, krächzte sie. Ihr Hals war trocken, aber das Wasser lief ihr schon im Mund zusammen. Sie war so müde, dass sie problemlos weiterschlafen könnte – aber ihr Magen knurrte so laut, dass sie schon allein von dem Lärm noch wacher wurde.
Eisern kniff sie die Augen wieder zu.
Ihr Magen knurrte schon wieder. Noch lauter.
»Okay, okay, ich geb’s auf ...«
Sie gähnte so ausgiebig, dass sie sich fast den Kiefer ausrenkte, stolperte aus dem Bett, zog sich einen Bademantel über und taperte in die Küche.
Dort traf sie eine leicht betrunkene Pip in einem schicken Kleid an, die mit ziemlich müden Augen die vor sich aufgebauten Leckereien betrachtete.
Kekse, Kuchen, Obst, Chips, Marmelade, Brot.
»Hast du Hunger?«, fragte Nancy mit Blick auf den Gabentisch leicht amüsiert.
Pip nickte.
»Aber warst du nicht bei einem Abendessen?«
»Hab keinen Bissen runtergekriegt«, nuschelte Pip mit dem Mund voller Toast.
»Du warst in unserem absoluten Lieblingsrestaurant und hast nichts gegessen?«
Pip nickte und biss nun etwas von dem Früchtekuchen ab.
Nancy und Pip waren seit siebzehn Jahren befreundet, darum wusste Nancy sehr wohl, wie sehr es Pip an die Nieren ging, dass Clive nach Irland zurückzog. Aber sie wusste auch, dass es nur zwei Dinge gab, die Pips ausgeprägt gesunden Appetit verderben konnten: entweder ihre völlig durchgeknallte, wunderbare, komplizierte Familie oder ein Mann, der es in sich hatte.
»Okay.« Nancy fixierte ihre Freundin mit diesem Blick, der ihr noch jedes Mal die gewünschte Information beschert hatte. »Was ist es dieses Mal?«
Pip tat natürlich zunächst einmal so, als wüsste sie überhaupt nicht, wovon Nancy redete.
Da half auch der Blick, der ihr noch jedes Mal die gewünschte Information beschert hatte, nichts.
Denn Pip hatte sich in ihrer Not einfach immer mehr Essen in den Mund gestopft, sodass sie überhaupt nicht reden konnte.
Sie versuchte, Nancy abzulenken, indem sie ihr etwas Toast anbot. Und dann behauptete sie, es sei wegen Clive, und das war ja nun auch nicht ganz gelogen.
Als sie endlich in die Falle ging, redete sie auch sich selbst ein, dass es nur um Clive ging. Versuchte, zu vergessen, dass sie den Rest des Abends verstohlene Seitenblicke auf den Neuzugang geworfen hatte, um sich zu vergewissern, dass er auch auf den zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Blick groß und gut aussehend war, und dass seine Augen wirklich so grün funkelten wie der Jadeanhänger an ihrer Kette.
Versuchte, zu verdrängen, wie ihre diversen Körperteile und Organe auf seinen bloßen Anblick reagiert hatten. Ihr Herz, ihr Bauch, ihre Knie ...
Nach dem Essen war sie mit zu Clive gegangen. Hatte traurig die leeren Zimmer inspiziert, bis es ihr wirklich endgültig klar wurde: Clive, ihr Clive, ihr Freund, ihr Kumpel, zog weg. Sie hatten eine letzte Flasche Wein zusammen getrunken. Und je mehr Pip getrunken hatte, desto nüchterner war sie geworden ... Sie hatte diesen Tag, diese Nacht mit Grauen erwartet. Sie war unendlich traurig – und gleichzeitig kribbelte es in ihr vor Aufregung.
Was nur wieder einmal ihre Theorie bestätigte, dass Männer einem vollkommen das Hirn derangierten.
Zwar hatte Pip Chester dabei geholfen, die Unterlagen der diversen Bewerber für Clives Nachfolge zu sichten, aber an dem Tag, als Chester das Gespräch mit Dan führte, war sie nicht in der Praxis gewesen, denn sie hatte notfallmäßig zu ihrer Familie nach Cornwall düsen müssen, um wieder mal die Kartoffeln für sie aus dem Feuer zu holen.
Darum sah Pip Dan zum ersten Mal auf Clives Abschiedsfest.
»Das ist die gute Seele unserer Praxis, Pip Charteris«, stellte Chester sie vor, schlang ihr den Arm um die Taille und drückte sie so fest an sich, dass sie unwillkürlich quietschte. »Sie sorgt dafür, dass bei uns alles wie am Schnürchen läuft. Wenn Sie irgendetwas brauchen, wenden Sie sich vertrauensvoll an Pip.«
»Egal, was?«, hatte er mit einem zweideutigen Blick und einem Lächeln gefragt.
Worauf Pip knallrot angelaufen war.
Vor lauter Angst davor, gequirlten Blödsinn zu reden, war sie ihm den Rest des Abends aus dem Weg gegangen und hatte ihm nur hin und wieder schüchtern zugelächelt, wenn sie ihn dabei ertappte, wie er sie beobachtete. Was ziemlich oft vorkam.
Das ganze Wochenende hatte sie damit verbracht, auf gar keinen Fall an ihn zu denken. Montagmorgen ertappte sie sich selbst dabei, wie sie sich die Wimpern bereits zum dritten Mal tuschte – wo sie doch normalerweise nur mit Mühe und Not überhaupt daran dachte, sich das Gesicht einzucremen. Vielleicht sträubte sie sich doch ein bisschen zu heftig, vielleicht sollte sie sich eingestehen, dass es bei ihr mächtig eingeschlagen hatte. Ob es Liebe war, ließ sich noch nicht so genau sagen, aber Lust und Verlangen plagten sie allemal.
Was war schon dabei, wenn eine alleinstehende Frau in ihrem Alter sich in einen netten Mann verguckte? Ran an den Speck und genießen! Warum also versuchte sie, ihre Gefühlsregungen zu verdrängen? Warum versuchte sie, ihre Libido unter Kontrolle zu bringen?
Nun ja, ob man will oder nicht, das Leben der eigenen Eltern hat immer einen ziemlich großen Einfluss auf das eigene Leben. Manchmal ist das richtig gut, zum Beispiel dann, wenn die Eltern ein vorbildliches, weil produktives, konstruktives, glückliches und erfülltes Leben führen. Und manchmal ist das verdammt übel.
Der Punkt war, dass Pip auf gar keinen Fall werden wollte wie ihre Mutter. Die hatte sich nämlich mit derselben Leichtigkeit laufend in neue Männer verliebt. Und sie hatte vier Töchter von vier verschiedenen Vätern.
Das war natürlich nicht allein die Schuld ihrer Mutter – das Schicksal hatte bezüglich der langen Reihe von Männern in ihrem Leben ganz entscheidend seine Hände mit ihm Spiel gehabt. Pips Mutter hatte das ganz gewiss nicht so geplant, sie hatte es sich auch ganz gewiss nie so gewünscht. Nein, als Judy Partridge Pips Vater kennenlernte, war sie der festen Überzeugung, nie wieder einen anderen Mann ansehen zu wollen.
Pips Vater, Edward Charteris, war die Liebe ihres Lebens gewesen, ihr Traummann – gut aussehend, einfühlsam, intelligent, warmherzig. Kein Jahr, nachdem sie sich ineinander verliebt hatten, heirateten die beiden. Zwei Jahre später kam Pip. Sie bezogen Arandore, ein großes, altes, kornisches Haus, das sich bereits seit drei Generationen in Familienbesitz befand. Judys, Edwards und Pips Leben verlief durch und durch glücklich – bis Pips Vater zwei Tage nach ihrem achten Geburtstag völlig unerwartet starb.
Pips Bilderbuchkindheit hatte ein Ende. Plötzlich war nichts mehr, wie es mal war. Ihre Mutter wurde zu einem Schatten ihrer selbst. Pips Großvater väterlicherseits, Pops, kehrte zurück nach Cornwall, denn als Witwer wusste er nur zu gut, wie es in der lieben Judy aussah. Er bezog das kleine Cottage gleich hinter Arandore, am Rand der drei Hektar großen Wiese.
Zwar war Pops seiner Schwiegertochter eine große seelische und moralische Unterstützung, aber besonders gut ging es ihm selbst nicht. Pops litt an Multipler Sklerose, und obwohl es ihm für einen MS-Kranken ziemlich gut ging und regelmäßig eine Pflegekraft ins Haus kam, fühlte Pip sich für ihn verantwortlich. Pip, der es aufgrund der alles dominierenden Trauer ihrer Mutter nicht möglich war, selbst zu trauern, verwandelte ihren Schmerz in Nächstenliebe, indem sie allen um sich herum half, wo sie nur konnte.
Zum Glück hatte sie in ihrer Tante Susan, die auch auf Arandore lebte, eine wertvolle Stütze. Gemeinsam übernahmen sie Pops Pflege und lotsten Judy vom Abgrund weg, vor dem sie stand.
Zunächst holten sie sie aus ihrem Zimmer heraus, in das sie sich vollkommen zurückgezogen hatte, dann aus dem Haus, dann aus dem Dorf und nach etwa einem Jahr dann endlich auch aus dem Land, zu ihrem ersten Urlaub seit Edwards Tod. Von diesem Urlaub hatte sie sich – nach einem heißen Flirt mit einem geheimnisvollen Franzosen – ein ganz besonderes Souvenir mitgebracht: eins, das neun Monate später schreiend und strampelnd in ihren Armen lag.
Nun ja, und danach brachte sie dann noch zwei Mädchen auf die Welt. Jedes Einzelne von ihnen ein Geschenk von einem anderen Mann. Judys Töchter waren ihr ein und alles, und auch Pip war glücklich damals. Nur ein bisschen Ruhe wünschte sie sich manchmal. Ruhe vor den Männern, die nur ein paar Wochen oder Monate durchs Haus geisterten, bevor sie wieder verschwanden. Groß, klein, schwarz, weiß, Engländer, Albaner, Italiener – Pips Mutter arbeitete sich auf der Suche nach einem neuen Edward durch eine beachtliche Reihe von Männern. Sie war dabei nicht völlig wahllos, und immerhin reichten Pip noch beide Hände und Füße, um sie zu zählen ... Aber es reichte auch, dass es ihr aufstieß und ihr ein klein wenig übel davon wurde.
Und so hatte das Leben mit Judy aus Pip einen in Herzensangelegenheiten überaus wachsamen, vorsichtigen Menschen gemacht. Ihre Mutter hatte sich stets Hals über Kopf in Beziehungen gestürzt, wohingegen Pip die Dinge gern überdachte.
Und wie sie sich nun von körperlichen Wonnegefühlen ausgelöst wie selbstverständlich schminkte, schaltete sich dann doch wieder ihr Selbsterhaltungstrieb ein. Überrascht sah sie ihrem Spiegelbild in die Augen und fragte sich, was zum Teufel sie da eigentlich gerade tat.
Sie wollte sich schon wieder komplett abschminken, als ihr Blick auf die Uhr fiel.
Sie war spät dran.
Seit fünf Jahren arbeitete sie nun schon in der Praxis, und sie war noch kein einziges Mal zu spät gekommen.
Genau, das war noch so was, was Männer mit einem machten: Sie brachten nicht nur sämtliche Gefühle und Gedanken durcheinander, sondern auch lieb gewordene Routinen.
Pips Mutter hatte stets in einem ziemlichen Chaos gelebt, darum legte Pip gesteigerten Wert auf Ordnung. Sie war unglaublich organisiert und pflichtbewusst, was ihr im Job zugute kam. Sie war immer als Erste da und ging als Letzte – mal abgesehen von Chester, der quasi mit der Praxis verheiratet war.
Heute aber schaffte Pip es nur mit Hängen und Würgen, pünktlich zu Beginn der Sprechstunde in der Praxis zu sein. Sie huschte durch das Wartezimmer, in dem bereits jede Menge Patienten, vor allem Hunde, warteten, und hoffte vergeblich, es würde niemandem auffallen, dass ihr Make-up eher einem Freitagabend entsprach als einem Montagmorgen.
Maggie, die an der Rezeption saß, zerschlug ihre Hoffnung sofort:
»Pip! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ich dachte, du wärst vielleicht krank ... Nicht, dass du krank aussiehst, im Gegenteil!« Sie beäugte sie ganz genau. »Sag mal, ist das etwa Lippenstift, Pip? Und Rouge? Und Wimperntusche?«
Pip setzte ihr »Huch, ist das wirklich so auffällig, dabei habe ich das doch nur so husch-husch gemacht«-Gesicht auf.
»Na ja ... Also ... als ich heute Morgen in den Spiegel sah, fand ich einfach, dass ich mal ein bisschen nachhelfen müsste, du weißt schon.« Pip senkte die Stimme und lehnte sich zu Maggie über den Tresen, als würde sie ihr ein Geheimnis anvertrauen. »Freitag die Nacht um die Ohren geschlagen, das ganze Wochenende geheult wegen Clive ... Ich werde ihn ganz fürchterlich vermissen, Maggie, er ist einer meiner besten Freunde, ich kann mir das noch gar nicht vorstellen, wie das hier alles werden soll ohne ihn ...«
Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Maggie.
Ihr Plan funktionierte.
Mitfühlend sah Maggie Pip an.
»Ach, Süße, um Clive musst du dir doch keine Sorgen machen. Er liebt dich wie eine Schwester. Er könnte auf der anderen Seite der Welt landen und wäre immer noch genauso für dich da wie du für ihn, es besteht also überhaupt kein Grund, so unglücklich zu sein über seinen Wegzug ... Natürlich wird sich ohne ihn so einiges ändern, aber du hast ja immer noch uns ... Und der Neue scheint ja auch ziemlich nett zu sein ...«
»Ist er schon da?«, fragte Pip so unbeteiligt wie möglich.
»Ja. Schlägt sich gerade mit Mrs. Roper und ihrem verzogenen Perserkater Percy herum, der Ärmste. Großartiger Auftakt an seinem ersten Tag in einer neuen Praxis ... So, und jetzt zieh mal deinen Mantel aus, ich hol uns beiden was Heißes zu trinken, und dann helfe ich dir bei den Rechnungen ...«
Fürsorglich nahm Maggie sie in den Arm, dann verschwand sie in die Teeküche, um eine heiße Schokolade zu brauen. Pip bekam fast schon ein schlechtes Gewissen, weil sie so geflunkert hatte, und das vertrug sich gar nicht gut mit dem flauen Gefühl, das sie aufgrund des bevorstehenden Wiedersehens mit Dan im Magen hatte.
Vielleicht, ging es ihr hoffnungsvoll durch den Kopf, vielleicht war er ja gar nicht so umwerfend, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Vielleicht hatte sie die rosarote Brille aufgehabt. Oder besser: die rosé-rote Brille ... Und er war in Wirklichkeit gar nicht das Prachtexemplar von einem wunderbaren Mann, das sie zu sehen geglaubt hatte.
»Ach, Pip, Gott sei Dank sind Sie da!«
Mary Batley riss sie aus ihren Gedanken. Die alte Dame kam mit ihrem kleinen Hund auf dem Arm auf den Tresen zu.
»Bingo muss seine Tabletten nehmen, und Sie wissen doch, wie ungeschickt ich bin ...«
Bingo war ein alternder Malteser, der sein Frauchen stets nach seiner Pfeife tanzen ließ. Egal, was Bingo wollte – er bekam es. Und was Bingo ganz bestimmt nicht wollte, waren seine Entwurmungstabletten, aber Pip schaffte es jedes Mal, sie ihm einzuverleiben.
Mary lächelte Pip hoffnungsvoll an, platzierte Bingo auf dem Tresen und bot Pip zur Entschädigung ein Fruchtbonbon an.
»Na, los schon, her mit ihm.« Pip nahm sich erst ein Fruchtbonbon und dann den Hund. Gerade, als sie dem störrischen Köter die kleine weiße Entwurmungstablette in den Rachen schieben wollte, öffnete sich die Tür zu dem Behandlungszimmer, das einst Clives war, und ein Halbgott in Weiß trat heraus: Dr. med. vet. Dan Fairweather.
Er sah Pip an und lächelte.
Worauf Pip sich die Entwurmungstablette in den Mund schob und dem verdutzten, aber hoch erfreuten Bingo das Fruchtbonbon verabreichte.
– 3 –
»Toll siehst du heute Morgen aus, Pip ... neue Klamotten?« Verschmitzt lächelnd sah Maggie zu ihr auf. Sie wollte Pip damit sagen, dass es durchaus nicht ihrer Aufmerksamkeit entgangen war, wie sehr ihre Kollegin auf ihr Äußeres achtete, seit Dan Fairweather vor zweieinhalb Wochen bei ihnen angefangen hatte.
»Nö«, log Pip. »Kennst mich doch.«
Maggie nickte, sah aber wenig überzeugt aus.
Pip hatte eine geschlagene Woche gebraucht, bis sie ihn, wenn sie mit ihm redete, auch ansehen konnte, ohne dass ihr Magen sich anfühlte, als befände er sich im Schleuderprogramm.
Gott sei Dank musste Pip sich auch um den anderen Neuzugang kümmern, sodass sie gar keine Zeit hatte, viel über Dan nachzudenken. Chesters Plan, in der Nachbargrafschaft eine zweite Praxis zu eröffnen und auf längere Sicht in jeder Grafschaft Südwestenglands eine Niederlassung zu betreiben, hatte ihn dazu veranlasst, gleich zwei neue Tierärzte einzustellen.
Lizzie Manning war vergangene Woche, kurz nach Dan, zu ihnen gestoßen.
An Lizzie war alles groß: Ihr Busen, ihr Hintern, ihr Herz. Und sie hatte eine Stimme wie ein Nebelhorn. Man könnte sagen, dass sie eine weibliche Version von Chester war. Pip hatte sie sofort ins Herz geschlossen, aber ihr fiel auf, dass Dan Clives Behandlungszimmer quasi nahtlos und ohne viele Anweisungen übernommen hatte, während Lizzie ständig alles Mögliche mindestens drei Mal nachfragte.
Aber es war Lizzie, die das Eis brach, das sich in einer dünnen Männer-Schutzschicht um Pip herum gebildet hatte – damit alles, was über das reine Arbeitsverhältnis hinausging, an ihr abprallte wie ein Pingpongball von der Platte.
Lizzie hatte einen ziemlich ungewöhnlichen Patienten gehabt, nämlich eine riesige Vogelspinne, die einem Bristoler Spinnen- und Reptilienliebhaber gehörte.
Sie hatte dem Mann geholfen, das schwere Glasterrarium aus dem Behandlungsraum zur Rezeption zu tragen, und dabei nicht bemerkt, dass der eigentliche Patient Reißaus genommen hatte und nicht mehr in seinem Glaskasten saß, sondern glücklich auf ihrer Schulter thronte und ihr dabei zusah, wie sie die Formalitäten mit seinem Besitzer klärte.
Alle anderen Mitarbeiterinnen sowie die im Wartezimmer sitzenden Klienten hatten die monströse Spinne, die wie eine große, haarige Hand auf der Schulter der neuen Tierärztin saß, bemerkt und schwiegen entsetzt. Pip und Dan dagegen hatten hysterisch angefangen zu lachen, einander angesehen und dann noch hysterischer gelacht. Das war der Moment gewesen, in dem zwischen ihnen beiden eine Verbindung entstanden war.
Pip stand auf humorvolle Männer. Clive zum Beispiel hatte einen wunderbaren Humor, er konnte sie in beinahe jeder Situation zum Lachen bringen.
Ob Dan so eine Art Clive mit Sexappeal sein konnte? Nicht, dass Clive kein Sexappeal hätte, Clive sprühte förmlich vor Sexappeal, der Punkt ist nur, dass nicht jede Art von Sexappeal alle Menschen gleichermaßen anspricht, und zwischen ihr und Clive hatte es diesbezüglich nun mal nie gefunkt, und darum waren sie immer einfach nur gute Freunde geblieben.
Was Dan betraf, so fand Pip, dass es bei ihr nicht nur heftig funkte, sondern direkt alles lichterloh brannte.
Insbesondere, als er in aller Seelenruhe auf Lizzie zuging, ihr die Tarantel von der Schulter hob und sie ihrem Besitzer mit den Worten reichte: »Ich glaube, die gehört Ihnen, oder?«
Von da an nannte Dan Lizzie nur noch »Mary Jane«, nach dem Mädchen in Spiderman. Er hielt sich immer mal ein bisschen am Empfangstresen auf und erzählte Pip Witze, die seine Freunde ihm gesimst hatten, oder wenn sie da nicht war, ging er hinter den Tresen, lehnte sich mit einer Tasse Kaffee in der Hand gegen den Türrahmen zu ihrem Büro und erzählte ihr alle möglichen Sachen, über die er sich amüsieren konnte.
»Sieht so aus, als hätte er sich endlich eingelebt«, kommentierte Emmy, eine der Kolleginnen, nach einem solchen Kaffee-im-Türrahmen-Plausch und bedachte Pip mit einem eindeutigen Blick.
»Was willst du damit sagen?«, gab Pip unschuldig zurück, obwohl sie genau wusste, dass sein Kaffeepäuschen ganz schön lang geraten war.
Emmy lachte leise.
»Ich will damit sagen, dass ich gehört habe, wie er Chester erzählte, dass er sich in Clifton ein Haus kaufen will ... Und wenn er das will, kann man doch wohl davon ausgehen, dass es ihm hier gefällt und dass er bleiben möchte, oder? Das ist doch toll.«
»Wenn du meinst«, erwiderte Pip schmallippig.
Ganz gleich, wie sehr sich jede einzelne weibliche Angestellte der Groß- und Kleintierpraxis die Finger nach Dan leckte – es war, als bestünde unausgesprochene Einigkeit darüber, dass er für Pip vorgemerkt war.
Nach außen wies Pip jegliche Anspielung in dieser Richtung ab, aber insgeheim lächelte sie über jeden Kommentar. Denn wenn schon ihre Kolleginnen meinten, dass er eine Schwäche für sie hatte, dann waren ihre eigenen Hoffnungen ja vielleicht doch nicht völlig unbegründet.
Normalerweise sprang Pip, endlos kollegial, wie sie war, in der Mittagspause immer für die anderen ein. Sie selbst gönnte sich selten mehr als zehn Minuten draußen an der frischen Luft.
Heute allerdings war sie nach einer ganzen Woche mit neuen Mitarbeitern und den bevorstehenden Praxiseröffnungen sowie vom ständigen Bauch-Einziehen so erschöpft, dass sie ausnahmsweise mal eine richtige Pause machen wollte.
Dann tauchte Dan an der Rezeption auf.
»Hi.«
Pip bückte sich gerade über den streikenden Drucker und schlug sich fast den Kopf an, als sie sich aufrichtete, um seinen Gruß zu erwidern.
»Hi«, entgegnete sie entschieden zu atemlos. »Und wie läuft dein Tag so?«
»Super«, antwortete er strahlend. »Ein ganz toller Vormittag mit jeder Menge Welpen. Mit so vielen Welpen kann der Vormittag nur gut laufen.« Er lachte über sich selbst. »Ich habe eine Schwäche für Hunde«, erklärte er dann achselzuckend.
Pips Lächeln wurde breiter.
»Ich auch. Meine absoluten Lieblingstiere«, quietschte sie.
Gott, wie peinlich. Pip versuchte, ihr Lächeln und ihre Stimme zu dämpfen.
»Hunde sind einfach so wunderbare, liebenswerte Tiere.«
Ups, das war aber heiser geraten.
Pip räusperte sich, um endlich eine angemessene Tonlage zu finden. Wie aktivierte sie noch mal ihre ganz normale Stimme? Das sollte ihr doch wohl gelingen! Aber das war wie mit dem Blinzeln, oder wie mit der Zunge: Man durfte nicht darüber nachdenken. Man musste die Augenlider und die Zunge völlig sich selbst überlassen, dann machten sie ihre Arbeit. Denn wenn man erst mal über sie nachdachte, fühlten sie sich plötzlich fremd und ungelenk an.
»Wir haben zwei zu Hause.«
Gut, das war weder gequietscht noch heiser.
»Hast du es gut. Meine Mutter hat auch zwei, die fehlen mir ganz schön. Ich glaube, das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ganz ohne Hund bin. Aber wenn das mit dem Hauskauf klappt ... Und wo ist ›zu Hause‹?«
»In Cornwall.«
»In Cornwall ...«, wiederholte er und sah sie interessiert an.
»Dort bin ich geboren und aufgewachsen.«
»Ich liebe Cornwall.«
»Ich auch.«
»Und wo in Cornwall?«
»Gallant. Kleines Dorf an der Mündung des Fowey.«
»Kenne ich.«
»Echt?«, rief sie vor lauter Entzücken darüber, dass eine andere Menschenseele außer ihr östlich des Tamar von dem winzigen Weiler gehört hatte, aus dem sie stammte.
»Und wieso hat es dich hierher verschlagen?«, wollte er wissen.
»Die Lehr- und Wanderjahre, könnte man sagen. Ich habe BWL studiert.«
»Du bist also zum Studieren hierher gekommen?«
»Nein, das habe ich noch in Cornwall gemacht – wahrscheinlich hat es mich dann genau deshalb in die weite Welt gezogen. Nachdem ich das Diplom in der Tasche hatte, bin ich erst mal achtzehn Monate durch Europa gegurkt, und als ich nach England zurückkam, war meine beste Freundin Nancy nach Bristol gezogen. Ich habe sie besucht, wollte ein paar Wochen bleiben, dann sah ich die Stellenanzeige für den Job hier – und der Rest ist sozusagen Geschichte.«
»Aus ein paar Wochen wurden also ein paar Jahre, ja? Dann muss es dir hier ja gut gefallen. Finde ich gut. Ich bin ja ganz neu hier und noch grün hinter den Ohren. Kenne euch alle noch nicht richtig und frage mich, ob ich die richtige Entscheidung getroffen habe.«
Er lächelte, und auf einmal ging Pip auf, dass er der Einzige war, der Fragen gestellt hatte – und sie hatte sie alle beantwortet. Dabei wollte sie ihn doch auch so viel fragen!
»Und du?«
»Ich?« Er stützte den einen Ellbogen auf den Tresen und sah sie aufmerksam an.
Pips Herz setzte kurz aus. Die Frage war absichtlich sehr vage gehalten, denn das, was sie eigentlich am liebsten gewusst hätte, traute sie sich nicht zu fragen. Einerseits konnte sie es nicht leiden, um den heißen Brei zu reden, aber sie wollte ihn auch nicht direkt fragen, ob er Single war.
»Na ja, woher kommst du denn? Bist du ein echter Londoner?«
»Nein. Ich bin in Biarritz geboren.«
»Du bist Franzose?« Er kam also aus dem Süden, das erklärte wenigstens seinen dunklen Teint.
»Halb. Meine Mutter ist Französin, mein Vater stammt aus Dorset.«
»Und wie lange hast du in Frankreich gelebt? Du hast ja gar keinen Akzent?«
»Hatte ich früher mal. Du hättest mich mal hören sollen, als ich klein war. Ich bin in Frankreich aufgewachsen. Als ich zehn war, sind wir nach England gezogen, und dreizehn Jahre in Poole haben mir den Akzent gründlich ausgetrieben. Dann war ich noch ein paar Jahre in London. Wenn ich heute die Familie meiner Mutter in Frankreich besuche, bekomme ich zu hören, ich hätte einen Londoner Akzent, selbst wenn ich Französisch spreche. Stell dir mal vor!«
»Und warum jetzt Bristol?«
»Ich wollte raus aus der Großstadt, rein in eine etwas abwechslungsreichere Praxis. Nicht nur Hunde, Katzen, Hamster und so, sondern auch Pferde, Rinder und Schafe.«
Pip hatte sein Bewerbungsschreiben und seinen Lebenslauf inzwischen mindestens acht Mal durchgelesen und wusste das natürlich alles schon, aber sie hörte ihm trotzdem gerne zu.
Er sah auf die Uhr.
»Ich muss los.« Er runzelte die Stirn, als passte ihm das gar nicht. »Hausbesuch. Der Parminter-Hof. Ich muss erst um halb zwei da sein, aber ich will lieber rechtzeitig los, weil ich den Weg nicht kenne.«
»Der Parminter-Hof? Ich weiß, wo der ist. Wenn du willst, kann ich ihn dir zeigen, ich mache ohnehin Mittagspause.«
»Das musst du doch nicht.«
»Aber ich liebe das Land und freue mich, ab und zu mal aus der Stadt herauszukommen. Und außerdem ist es draußen bei den Parminters so schön, dass ich gerne jeden Tag dort Mittagspause machen würde!«
»Na, hervorragend.« Er lächelte jetzt und sah sie dabei direkt an.
»Hervorragend«, wiederholte Pip, die dabei war, in seinen grünen Augen zu ertrinken. »Äh ... ich hol dann mal eben meine Sachen.« Pip löste sich von seinem Blick. Sie hätte im Erdboden versinken mögen, aber er lächelte immer noch.
»In zehn Minuten auf dem Parkplatz?«
Pip nickte, und sobald er verschwunden war, schoss sie zu den Toiletten, wo sie sich die Haare bürstete, sich die Zähne mit einem Papierhandtuch abrubbelte und ziemlich genervt feststellte, dass man ihr die Aufregung ansah. Sie versuchte, ein wenig herunterzukommen, dann eilte sie zurück ins Büro, um ihre Tasche und ihre Jacke zu holen, und ertappte Maggie dabei, wie sie Dinge von ihrem eigenen Lebensmitteleinkauf in Pips Brotzeittasche warf.
»Maggie? Was machst du da?«
»Ich mache aus etwas langweiligen Sandwiches ein Picknick. Du weißt doch: Liebe geht durch den Magen.«
»Ja, aber ...«
»Nichts aber. Ich habe doch Augen im Kopf.« Maggie nickte ernst und legte noch etwas Früchtekuchen und zwei Bananen in Pips Tasche. Jedoch nicht ohne Pip die größere der beiden Bananen kurz mit einem breiten, anzüglichen Grinsen direkt vor die Nase zu halten.
»Maggie!«
»Du wirst mir ewig dankbar sein, wenn ihr erst mal auf einer sattgrünen Wiese sitzt und aneinander herumknabbert.«
»Maggie! Jetzt hör endlich auf, Amor zu spielen! Darum geht es mir überhaupt nicht ... Ich habe gerade zufällig Zeit, und es ist meine Aufgabe, Dan zu helfen, sich hier möglichst schnell zurechtzufinden. Und unsere Klienten kennenzulernen.«
»So so. Die Klienten soll er kennenlernen, ja?« Maggie grinste. »Also weißt du, Pip Charteris, du bist die schlechteste Lügnerin, die mir je begegnet ist. Komm, jetzt gib schon zu, dass du ihn magst! Seit ich dich kenne, läufst du als Single durch die Gegend, ich finde, jetzt ist mal langsam Zeit für eine Liebesgeschichte.«
Vielleicht hatte Maggie ja recht, ging es Pip durch den Kopf, während sie Dan dabei zusah, wie er den stets freundlichen, aber doch eher reservierten Reg Parminter hofierte.
Dadurch, dass sie sich immer erst mit den Männern anfreunden wollte, bevor sie romantische Gefühle zuließ, hatte Pip inzwischen jede Menge richtig gute Freunde und so gut wie keine romantischen Gefühle. Denn immer dann, wenn sie fand, dass es mit einem Mann richtig gut lief, fand der Mann, dass es besser hätte laufen können – und arrangierte sich mit der Rolle des guten Kumpels.
Und obwohl sie sich noch nie vorher so zu einem Mann hingezogen gefühlt hatte wie zu Dan, war sie auch dieses Mal entschlossen, es langsam angehen zu lassen.
Nachdem er sich um Regs preisgekrönte Schafe gekümmert hatte, setzten sie sich in der Tat auf eine sattgrüne Wiese, wo sie aber lediglich an ihren Lebensmitteln knabberten, sich unterhielten und die tolle Aussicht genossen. Die einzige körperliche Zuwendung, die Pip auf ihrem Ausflug erfuhr, kam von Reg Parminters Collie Bob, der ihnen bei ihrem Picknick Gesellschaft leistete und Pip eifrig abschleckte, bis sie ihm endlich einen ihrer Schinkensandwiches gab.
Trotzdem war sie zufrieden. Dan war humorvoll, eloquent, offen, charmant und selbstbewusst. Und wie er so den Blick auf die wunderschöne Landschaft richtete und Pip immer wieder verstohlen zu ihm hinsah, stellte sie fest, dass er auch im Profil einfach nur umwerfend aussah.
Als er sie wieder an der Praxis absetzte und selbst weiterfuhr zu einem Termin bei seinem Anwalt, fühlte es sich fast so an, als seien sie von einem Date wiedergekommen. Es war dieser typische Moment, in dem man unschlüssig ist, ob man sich die Hände reichen oder sich küssen soll – oder vielleicht gleich türmen, weil man diesen Menschen am liebsten nie wieder sehen möchte.
Pip rief sich in Erinnerung, dass sie lediglich einen beruflichen Termin gemeinsam wahrgenommen hatten, und darum drehte sie sich zu ihm um, lächelte und sagte: »Bis später dann.«
Er nickte.
»Ja, klar. Falls Chester mich brauchen sollte, ich bin spätestens um vier wieder da.«
Als sie ausstieg und die Autotür zuschlug, ließ er das Fenster herunter und rief:
»Pip ...«
»Ja?« Sie drehte sich um.
»Danke. Das war eine sehr schöne Mittagspause.«
»Das war eine sehr schöne Mittagspause.« Dieser Satz spukte Pip den Rest des Tages im Kopf herum. Natürlich durfte sie ihn auf keinen Fall überbewerten, aber so was sagte man doch nicht nach einem rein beruflichen Termin zu jemandem.
Nein, so etwas sagte man am Ende eines Dates. Vielleicht hatte er es also auch so empfunden. Oder vielleicht sponn sie nur gerade herum.
Noch so etwas, was plötzlich durcheinandergeriet, wenn man sich in einen Mann verguckte: Man vertraute nicht mehr seiner inneren Stimme, bombardierte sich selbst vielmehr mit zahllosen Fragen, nahm sich ins Kreuzverhör, als sei man Ankläger und Verteidiger zugleich.
Seufzend schloss Pip die Tür zu ihrem Büro, empfahl ihrer inneren Stimme, mal die Klappe zu halten, und vertiefte sich in ihre Arbeit.
– 4 –
»Pip!«
Maggie hatte sie schon ein paar Mal gerufen, aber Pip war so versunken in irgendwelche Versicherungspapiere, dass es erst beim dritten, ziemlich lauten Mal zu ihr durchdrang.
»Ja?« Pip streckte den Kopf zur Tür heraus.
Maggie hielt ihr den Telefonhörer entgegen.
»Seit wann gehst du denn nicht mehr ans Telefon? Ist für dich«, flötete sie mit einem Grinsen, das Pip sofort verriet, wer dran sein musste.
Überglücklich stürzte sie zum Tresen und schnappte sich den Hörer.
»Clive! Wie geht’s dir? Wie ist es in Irland?«
»Es ist einfach wunderbar hier, Süße. Und wie geht’s dir? Vermisst du mich?«
»Natürlich!«
»Aber nicht ganz so doll, wie du gedacht hattest, was?«
»Wie bitte?«
»Jetzt tu nicht, als wüsstest du nicht, wovon ich rede. Du himmelst doch insgeheim euren neuen Alphatierarzt Dan an.«
Okay, damit war klar, dass er schon ein paar Takte mit Maggie gesprochen hatte, denn die nannte Dan seit Neuestem so.
»Clive!«, schalt Pip ihn und sah sich um, als könnten die anderen hören, was er sagte, und sie dafür auslachen.
»Ich habe gehört, du und Dan, ihr seid euch in den letzten Wochen nähergekommen?«
Das hatte Maggie ihm also erzählt?
Bloß, weil sie seit ihrem Ausflug zu den Parminters vor zwei Wochen noch ein paar Mal die Mittagspause gemeinsam verbracht hatten? Ja, gut, vielleicht hatten sie sich ein wenig angefreundet.
Aber mehr auch nicht.
Noch nicht.
»Maggie zufolge ist dies die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit«, schwor er feierlich.
»Also Maggie und Wahrheit in einem Atemzug zu nennen, Clive ...« Pip zwinkerte Maggie zu.
»Jetzt sei mal nicht so zickig, Persicoria, das passt doch gar nicht zu dir.«
Pip schnappte nach Luft. Was fiel ihm ein, sie so zu nennen?
»Clive Trueman! Soll ich dir den Mund mit Seife auswaschen?!«, schimpfte sie.
»Hast du etwa Angst, dass ein gewisser hochgewachsener, dunkelhaariger, gut aussehender Herr Wind von deinem echten Namen bekommen könnte, Persicoria?«, zog er sie liebevoll auf. »Da würde ich mir an deiner Stelle keine Sorgen machen, Süße, im Grunde würde ich dir nämlich einen Gefallen damit tun, schließlich wird er deinen wahren Namen ja ohnehin spätestens bei eurer Hochzeit hören ...«
Persicoria Affinis Charteris.
Allseits bekannt als Pip.
Alle vier Charteris-Töchter trugen Blumennamen.
Erst kam Pip, dann Viola Sororia.
Das schöne, robuste, nutzlose Pfingstveilchen.
Jeder ging davon aus, dass Viola ihrem Vater ähnlich sah, auch wenn das niemand belegen konnte, weil nämlich niemand außer ihrer Mutter ihn je gesehen hatte.
Nach Viola war Flora Genensis gekommen, deren Vater Heinrich ein lerneifriger, kluger, attraktiver deutscher Ökologe war. Er hatte sich während seiner Mitarbeit am Eden-Projekt im Regenwald-Biom Hals über Kopf in die attraktive Judy verliebt. Fast zwei Jahre war er geblieben, dann musste er wieder zurück nach Deutschland. Er wollte Judy und die Mädchen mitnehmen, aber Judy wollte Arandore um nichts in der Welt verlassen.
Er kam sie in Cornwall besuchen, so oft er konnte, und war so zu einer recht konstanten Vaterfigur für alle drei Mädchen geworden. Nur leider wurde er nie zu einer echten Partnerfigur für Judy – sie liebte ihn einfach nicht genug.
Das hatte sie beide traurig gestimmt, weil er nämlich wirklich ein feiner Kerl war.
Und schließlich kam Gypsophila Rose, in Anlehnung an das wunderschöne, fluffige Teppiche bildende, rosablühende Schleierkraut. Ihr Rufname heute war allerdings Gypsy, und der passte auch viel besser zu dem kleinen Wildfang, in den sich das einst so wohl gepolsterte, rosige Baby verwandelt hatte.
Ihr Vater war ein weltbekannter Rockstar. Er hatte das renommierte Tonstudio in Gallant gemietet, um dort zwei Wochen lang in aller Abgeschiedenheit neue Stücke aufzunehmen. Er hatte gehofft, in Gallant Inspiration zu finden – und die fand er in Form von Judy Charteris.
Die Identität des Rockstars hielt die Familie Charteris streng geheim. Einerseits, weil er verheiratet war, andererseits – und das war in ihren Augen viel wichtiger –, um Gypsy vor den Medien zu schützen. Da ihr Vater nicht in der Lage und auch nicht wirklich willens war, im Leben seiner einzigen Tochter eine aktive Rolle zu spielen, ging der Plan auch ganz gut auf.
Wie auch immer. Persicoria!
So oft hatte Pip sich gewünscht, die Lieblingsblume ihrer Mutter wäre eine schlichte Iris oder Jasmin gewesen.
Clive war der einzige Mitarbeiter der Praxis, der ihren richtigen Namen kannte. Sie hatte sich eines Abends unter Alkoholeinfluss verplappert, und seither hatte er sie oft damit aufgezogen.
»Ganz egal, wie gerne ich jetzt mit dir telefonieren würde, Clive: Wenn du nicht sofort damit aufhörst, lege ich auf«, zischte Pip leise.
»Persicoria ...«, wiederholte Clive in einem unerträglichen Singsang. »Persicoria Fairweather ...« Clive lachte sein übliches, ihr so vertrautes Lachen, und sie konnte gar nicht anders, als mitzulachen.
Dan Fairweather schob den letzten Termin des Tages aus seinem Behandlungszimmer und seufzte erleichtert, weil das Wartezimmer leer war.
Ein wunderbarer Vormittag war in einen ziemlich ätzenden Nachmittag gemündet.
Dann sah er Pip lachen.
Sie war so schön, wenn sie lachte.
Ihre gute Laune steckte ihn sofort an.
»Hätte irgendjemand Lust, mit mir etwas trinken zu gehen?«, fragte er in die Runde, sah dabei aber nur Pip an.
Die war sich nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte.
»Äh, kleinen Moment mal bitte, Clive.« Sie hielt die Hand über die Muschel. »Etwas trinken gehen?«, fragte sie nach.
Er nickte.
»Ja, klar, warum nicht? ... Wäre ... klasse.«
Klasse? Hatte sie wirklich gerade klasse gesagt?
Herrgott noch mal.
Aber ihm schien das egal zu sein, er strahlte sie an.
»Super.«
Sie schlug vor, in einen netten alten Pub am Fluss zu gehen, ihren und Nancys Lieblingspub, der von der Größe und vom Ambiente mit den unterschiedlichen Holztischen, dem Steinfußboden und dem im Hintergrund laufenden Jazz, den offenen Kaminen und dem Duft nach echtem englischen Ale angenehm urig war.
Außerdem gab es dort auch richtig gutes Essen. Dan beäugte die großen Tafeln an den Wänden, auf denen das Tagesmenü mit Kreide geschrieben stand.
»Ich habe einen Mordshunger. Hättest du was dagegen, wenn wir einen Happen zu uns nehmen?«
Ob Pip etwas dagegen hätte, wenn aus den Drinks ein Abendessen würde?
Heftig schüttelte sie den Kopf.
»Sehr gut«, sagte er und schnappte sich sofort eine der kleinen Speisekarten vom Tresen. »Ich finde es nämlich langsam ziemlich nervig, immer alleine zu essen. Das bin ich nicht gewöhnt.«
»Große Familie?«
Er schüttelte den Kopf.
»Einzelkind, aber meine Eltern hatten ständig Gäste, Essen war ein großes soziales Ereignis für sie ... Und darum genieße ich das hier jetzt, nachdem ich seit Wochen nur Take-away gegessen habe.«
»Und, wie läuft’s so? Lebst du dich gut ein in deiner Wohnung?«
Die Grimasse, die er zog, sagte alles.
»So schlimm?«
»Na ja, anfangs wirkte alles ganz toll, modern, sauber, in der Nähe der Praxis, Vermieterin und anderer Mieter höflich und angenehm ... Nur leider war mir nicht klar, dass ich das Badezimmer mit jemandem würde teilen müssen, der jeden Morgen geschlagene zwei Stunden braucht, um zu duschen und sich sein Toupet wieder aufzusetzen, und dass die Vermieterin mit Vorliebe bis zwei Uhr nachts bei voller Lautstärke Pavarotti hört.«
»Oh.«
»Yep, das fasst es ganz gut zusammen.«
»Aber in zwei Wochen ziehst du doch in dein eigenes Haus ein, oder?«
Er schüttelte den Kopf und seufzte.
»Das war der Plan, aber der geht leider nicht auf ...«
»O nein! Wieso? Was ist passiert?«
»Die Verkäufer wollten natürlich ein anderes Haus kaufen, sie hatten sich ein ganz bestimmtes ausgeguckt, aber die Sache hat sich leider zerschlagen, und darum verkaufen sie jetzt doch nicht. Aber ich bin wild entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Ich werde schon etwas finden, wahrscheinlich sogar etwas Besseres. Aber jetzt fängt halt alles wieder von vorne an – das Suchen, die Besichtigungen, die Gutachten, die Notare ... Ich versuche, mich damit zu trösten, dass ich nur noch ein paar Wochen zur Miete wohnen muss, nicht den Rest meines Lebens, aber im Moment fühlt es sich echt an wie lebenslänglich.« Mit Leichenbittermiene stellte er sein Glas ab und fing an, Nessun dorma zu schmettern.
Pip lachte und sah sich dann im Pub um. Die anderen Gäste lauschten seiner spontanen Arieneinlage, aber das schien ihn herzlich wenig zu interessieren. Er hatte eine gute Stimme, voll und melodisch. Sie ging nahtlos vom Singen zum Lachen über, und dann lächelte er sie an, seine Augen so offen, aufmerksam und zielgerichtet, dass sie meinte, Funken darin sprühen zu sehen.
Und auf einmal sagte sie es.
»Bei uns ist ein Zimmer frei.«
Die Worte purzelten ihr einfach so aus dem Mund, sie hatte überhaupt nicht über sie nachgedacht, aber kaum hatte sie sie ausgesprochen, war sie froh darüber. Und legte gleich nach:
»Ist bloß eine winzige Kammer, aber als Übergangslösung wäre das doch nicht schlecht ...«
»Ist das dein Ernst?«
»Ja, klar.«
Er beobachtete sie einen Moment, unsicher, ob sie doch nur scherzte.
»Das ist wirklich dein Ernst?«
Pip nickte.
»Ich meine alles ernst, was ich sage.«
»Na, wenn das so ist, dann werde ich jetzt mal was für uns bestellen, und wenn du danach immer noch meinst, dass ich in euer freies Zimmer einziehen soll, dann können wir weiterreden.«
Er ging zum Tresen, kam fünf Minuten später mit Getränken und Besteck wieder, setzte sich und erzählte ihr dann erst mal von seinem Hausbesuch bei einem der ansässigen Landwirte und brachte sie zum Lachen. Und als das Essen kam, bot er ihr so selbstverständlich etwas von seinen Pommes an, dass Pip ihren Vorschlag wiederholte.
»Ich meinte das wirklich ernst, Dan. Wenn es da, wo du jetzt wohnst, so unerträglich ist, kannst du gerne bei uns wohnen, bis du ein Haus gefunden hast.«
»Und deine Mitbewohnerin? Was sagt die dazu? Musst du die nicht erst mal fragen?«
»Nancy? Ach was, das macht der überhaupt nichts aus. Sie ist es gewöhnt, dass ich aus der Praxis alle Nase lang irgendwelche herrenlosen Viecher anschleppe.« Ups. Das klang vielleicht etwas schräg. »Äh, und mit einem quasi obdachlosen Kollegen wäre das natürlich noch mal etwas ganz anderes. Also, Nancy ist echt entspannt, die hat kein Problem damit, ich wette, sie würde es sogar selbst vorschlagen, wenn sie jetzt hier wäre.«
Nachdenklich, fast schon mit Hoffnung im Blick, sah er sie an. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, lieber nicht.«
»Lieber nicht? Also lieber weiter bis zwei Uhr nachts Pavarotti hören?«
»Nein, aber ich kann mich doch nicht einfach so bei euch einnisten.«
»Würdest du ja auch nicht. Ich biete es dir hochoffiziell an.«
»Okay. Wenn die heutige Nacht ähnlich verläuft wie die letzte, wirst du mich wahrscheinlich auf Knien rutschend vorfinden, und ich werde dich anflehen, mich bei dir aufzunehmen.«
Auf Knien klingt gut, dachte Pip und erwiderte sein Lächeln. Auf Knien klingt richtig gut.