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Außerdem von Anna Woltz bei Carlsen erschienen:
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess

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Dieses Buch wurde mit Unterstützung des Nederlands letterenfonds, Amsterdam, veröffentlicht.

Alle deutschen Rechte Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2016
Originalcopyright © 2015 by Anna Woltz, Amsterdam, Em. Querido`s Uitgeverij
Originalverlag: Em. Querido`s Uitgeverij, Amsterdam
Originaltitel: Gips
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor unter Verwendung von Fotos von Shutterstock / noolwlee / Carlos Caetano / TanjaJovicic
Lektorat: Katja Maatsch

Satz und E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN: 978-3-646-92873-0

Für meine Schwester,
Doktor Sarah

1

Blut, Spinnen, Feuer speiende Vulkane, küssende Eltern – ich mache nie die Augen zu. Ich will alles sehen. Nur jetzt nicht.

Überall um mich rum stehen Umzugskartons. Ich sitze auf dem Boden und halte eine Metallkiste in den Händen. Die Fächer sind mit Nägeln, Schrauben und Bolzen gefüllt. Viel glänzendes Silber, aber im hintersten Fach liegt Gold.

Ein Ring.

Ich schaue mir den schmalen Reif zwischen all den Nägeln an und kneife die Augen fest zu. Als ich zwei war, konnte ich verschwinden, wenn ich mir die Hände vors Gesicht hielt. Aber ich bin schon seit drei Wochen zwölf.

Ich mache die Augen wieder auf, denn von der Dunkelheit wird mir übel. Schnell nehme ich den Ring aus der Kiste. Ich streiche mir die langen Haare aus dem Gesicht und stehe auf.

In Papas neuer Wohnung ist noch nichts ausgepackt, außer dem neuen Fernseher. Das trifft sich gut, denn das Ding läuft lauter, als mein Gehirn denken will. Ich setze mich auf die Fensterbank und schaue raus. Die Bäume sind hier genauso kahl wie in Mamas Straße. Die Autos voller Raureif sind kleiner und haben mehr Dellen. Eine Frau, die jetzt also Papas neue Nachbarin ist, schlittert über den Gehweg. Sie trägt eine rote Mütze und hält einen Eiskratzer in der Hand.

Aus dem Fernsehen verkündet eine donnernde Stimme, dass es schneien wird. Lange Staus und Schneeballschlachten werden vorhergesagt. Ich schaue zu der Nachbarin, die die Windschutzscheibe ihres Autos frei kratzt, und spüre die warme Heizung an meinen Beinen.

Ich will nicht, dass Papa und Bente zurückkommen, und trotzdem warte ich auf sie. Der Ehering in meiner Hand fühlt sich kalt an. Im grauen Licht von draußen lasse ich die Innenseite aufblitzen.

Für immer J + S ist da hineingraviert.

Vor küssenden Eltern braucht man keine Angst zu haben. Eltern werden erst gefährlich, wenn sie sich nicht mehr küssen.

Endlich sehe ich Papa und Bente in die Straße einbiegen. Mein Vater radelt langsam und atmet weiße Wölkchen aus. Er wurde schon mit zerzausten Haaren geboren und so sind sie immer geblieben. Bei uns zu Hause hieß es, Mama habe sich erst in seine komischen Haare verliebt und danach in den Rest.

Bente sitzt auf dem Gepäckträger, aber nicht mit dem Gesicht nach vorn. Sie schaut auf die Straße, die hinter ihr liegt, und hält einen riesigen Schlitten in den Armen. Ihre Hände sind ganz rot vor Kälte, weil ihre Fäustlinge noch bei Mama liegen.

Ich dachte, hinter dem Fenster in der ersten Etage wäre ich unsichtbar, aber plötzlich fängt mein Vater an zu winken. Echt wahr, dieser Mann kann sich nicht mal eine halbe Stunde lang merken, dass er sauer ist. Aus seinem Mund steigen extra große Wölkchen und sein ganzes Gesicht lacht. Er zeigt auf den Schlitten, hebt den Daumen und winkt noch einmal.

Und dann rutschen sie weg.

Es passiert so schnell, dass ich sie fast nicht fallen sehe. Im einen Moment fahren sie noch, im nächsten liegen sie beide auf dem Boden. Papa landet auf dem Lenker und Bente fällt auf den Schlitten. Den Schlitten, den sie noch immer im Arm hält.

Zwei Herzschläge später ist es ganz still. Die Nachbarin hat mit dem Kratzen aufgehört, ich klemme die Finger um den goldenen Ring – und dann fängt Bente an zu kreischen.

Natürlich habe ich sofort vergessen, dass ich nicht nach draußen darf. Ich reiße die Tür auf und stürme die steile Treppe hinunter. Sobald ich die Haustür aufziehe, höre ich Bente wieder. In meinem viel zu dünnen Pullover renne ich auf die Straße. Die Luft ist knisterkalt und beißt mir in die Nase. Sogar aus der Entfernung kann ich das Blut sehen.

Papa kniet neben meiner Schwester und die neue Nachbarin steht auch schon da. Bente krallt die Finger ihrer linken Hand um ihr rechtes Handgelenk. Ihre rechte Hand ist die, aus der das viele Blut kommt.

Ich bleibe stehen und fühle mich schummrig.

Die Kuppe ihres Ringfingers ist verschwunden. Der Finger hört viel zu früh auf. Und da, wo eben noch die Fingerkuppe war, ist jetzt Blut. Irrsinnig, furchterregend viel Blut.

»Wir müssen ins Krankenhaus«, sagt Papa. Er schaut sich nervös um, als hoffe er, hier in der Straße plötzlich ein Krankenhaus zu entdecken.

»Mama soll kommen!«, brüllt Bente.

Papa ist blass. »Wir rufen sie gleich an. Aber erst müssen wir …« Er schaut sich wieder um. »Sie hat das Auto …«

»Ich fahre euch«, sagt die Nachbarin ruhig.

Ich weiß, dass ich Blut sehen kann, aber das hier ist Blut, das ich kenne. Der zu kurze Finger macht mich ganz schwindlig. Während ich die Zähne zusammenbeiße, lasse ich den Blick über das Straßenpflaster gleiten. Da liegt das Fahrrad, flach auf dem Boden. Da liegt der Schlitten mit seinen messerscharfen Kufen. Und da …

»Ich sehe die Fingerkuppe!«

Bente ist sofort still. Papa sieht aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen, und die neue Nachbarin bewegt sich nicht mehr. Zu viert starren wir auf Bentes Fingerkuppe, die dort ganz allein auf der Straße liegt. Auf meinem Hinterkopf spüre ich eine Gänsehaut und auch in meinem Nacken und auf dem Rücken. Trotzdem gehe ich darauf zu. Es ist eine Art Fleischmützchen aus weißer Haut mit blutrotem Futter. An der Vorderseite ist kein Schirm, sondern ein Stück Nagel.

»Warte«, sagt die Nachbarin. »Ich hole eine Tüte.«

Während sie zu ihrer Haustür schlittert, schaue ich mir die Fingerkuppe weiterhin an und schüttele mich ganz leicht. Es fühlt sich an, als müsse ich sie bewachen. Igitt, igitt, igitt, wiederhole ich immer wieder in Gedanken – sonst geht es nicht.

Später werde ich Ärztin, das weiß ich schon, seit ich sieben bin. Aber Ärzte haben Regeln und eine dieser Regeln lautet, dass sie niemals jemanden aus ihrer eigenen Familie operieren dürfen. Ich verstehe jetzt genau, warum.

Bente weint mit langen Schluchzern. In ihrer blauen Winterjacke ist ein Riss und immer mehr Blut tropft auf die Straße. Papa hat einen Arm um sie gelegt und weiß nicht, was er sagen soll.

»Soll ich Mama anrufen?«, frage ich, denn meine Mutter weiß immer genau, was sie sagen muss. Sogar beim Schirmgespräch hat sie jeden Satz beendet und ganz klar und deutlich gesprochen, als stünde sie vor einem Saal voller Leute.

Das Schirmgespräch fand am zweiten Weihnachtstag statt und natürlich habe ich mir den Namen nicht ausgedacht. So wird es in Glücklich verheiratet, glücklich getrennt genannt. Dieses Buch liegt jetzt schon seit einer Woche auf unserem Küchentisch.

Beim Schirmgespräch erzählen die Eltern den Kindern gemeinsam, dass sie sich trennen werden. Dass sie es zwar supertoll fanden, eine Familie zu sein, jetzt aber wirklich lieber wieder allein sein wollen. Pech für die Kinder, aber da kann man nix machen. Die neue Wohnung für Papa ist schon gemietet. Die Wochenpläne sind fertig.

In Glücklich verheiratet, glücklich getrennt steht nicht, dass das Schirmgespräch am zweiten Weihnachtstag stattfinden soll. Das hatten sich meine Eltern ganz allein ausgedacht. Ich dachte, wir würden an diesem Nachmittag zusammen Mensch ärgere Dich nicht spielen. Aber das stimmte nicht.

Die Nachbarin kommt zurück. Sie reicht meinem Vater ein rot kariertes Geschirrtuch und zieht sich den Klarsichtbeutel über die Hand. Mit Daumen und Zeigefinger hebt sie Bentes Fingerkuppe von der Straße auf.

»Soll ich Eiswürfel holen?«, frage ich. »Damit sie nicht verdirbt?«

Ich bekomme keine Antwort. Die Nachbarin verknotet den Plastikbeutel und Papa steht noch immer mit dem Geschirrtuch in den Händen da. Reglos starrt er auf den blutenden Finger. Wenn er Arzt wäre, dürfte er Bente also nicht behandeln. Aber er macht Möbel und für Tischler gibt es keine Regeln über Wunden.

»Nun mach schon!«, rufe ich. »Was glaubst du, was Mama sagt, wenn du Bente hier verbluten lässt?«

Ich sehe, dass er Angst hat. Seine Hände zittern fast so schlimm wie die von Bente. Die Nachbarin seufzt. Ohne mich anzusehen, reicht sie mir den Plastikbeutel mit dem rot gefütterten Mützchen. Dann kniet sie sich neben Bente und nimmt Papa das Geschirrtuch aus den Händen. Vorsichtig und trotzdem energisch wickelt sie das Tuch um den blutenden Finger.

»Hochhalten«, sagt sie. »Schaffst du das? Du musst die Hand höher halten als dein Herz. Dann blutet es weniger.«

Mir ist eiskalt und ich finde das hier wirklich vollkommen lächerlich. Dass eine Frau, die ich vor einer halben Stunde zum ersten Mal gesehen habe, jetzt meine Schwester rettet.

»Gehen wir?«, frage ich ungeduldig.

Jetzt, da Bentes Finger in dem Geschirrtuch steckt und das Mützchen in der Plastiktüte, guckt Papa mich zum ersten Mal wieder an. Ich sehe, wie sich sein Gesicht verändert. Gerade eben noch war er ein Vater, der keine Ahnung hatte. Jetzt ist er ein Vater, der genau weiß, was zu tun ist.

»Du bleibst hier.«

»Natürlich nicht«, sage ich sofort. »Ich komme mit zur Notaufnahme!«

Papa steht auf. »Glaubst du wirklich, dass ich dich mit ins Krankenhaus nehme, so wie du aussiehst?«

Er zeigt auf meinen Kopf und ich habe das Gefühl, als würde ich die letzte Treppenstufe verpassen. Durch Bentes Unfall hatte ich das ganz vergessen. Mein Gesicht.

Nun schaut mich auch die neue Nachbarin an. Sie liest die Wörter auf meiner Stirn und auf meinen Wangen und ich sehe, dass sich ihre Augen ein wenig weiten.

»Ich wasch es ab«, sage ich schnell. »Ich lass Bente nicht allein!«

Aber Papa schüttelt den Kopf. »Keine Zeit.«

So hat er mich noch nie angesehen. Als wäre es ihm egal, wie ich mich fühle.

»Aber Papa!«, rufe ich. »Ich muss doch …«

»Du bist selbst schuld.« Vorsichtig hebt er Bente vom Boden auf. »Geht’s?«, fragt er sie.

Ich fange an zu weinen.

Jetzt weiß ich es sicher. Wir gehören nicht mehr zusammen.

2

Ich weine fast nie. Ich bin keine Anstellerin und alle meine Opas und Omas leben noch.

Aber jetzt kann ich nicht anders, denn auf einmal weiß ich es. Es kommt mir vor, als würde mich jemand langsam mit einer Winde hochziehen. Erst sehe ich nur Papa und die Nachbarin, Bente und mich selbst und das Blut auf der Straße. Aber dann schwebe ich noch höher und dann sehe ich alles.

Wie es ab jetzt sein wird:

Dass wir uns ohne einander verletzen.

Sonntags, montags und dienstags muss Mama uns ins Krankenhaus bringen.

Am Donnerstag, Freitag und Samstag geht Papa mit uns hin.

Und mittwochs sollte uns besser nichts passieren, denn das müssen sie erst noch regeln.

Stell dir nur mal vor, du hast Kinder, dann muss sich JEDEN TAG jemand um sie kümmern.

»Hör auf mit dem Geflenne!«, ruft Papa mir zu. »Geh rein. Sobald wir mehr wissen, ruf ich dich aus dem Krankenhaus an.«

»Aber dann bin ich ganz alleine!«, brülle ich. Meine Schultern zucken und Tränen laufen mir in den Ausschnitt. »Da drinnen ist nichts. Ich kann da nur sitzen und warten. Ich muss einfach dabei sein, wenn Bentes Fingerkuppe wieder angenäht wird!«

Die Nachbarin stemmt die Arme in die Hüften und schaut meinen Vater streng an.

»Du bist zwar neu hier, aber in dieser Straße sind wir nett zu unglücklichen Kindern.« Sie winkt mich zu sich. »Komm mit, Heulsuse.« Sie geht zu ihrer Haustür, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich weiß nicht weshalb, aber ich schlittere hinter ihr her.

Drinnen riecht es nach Krapfen und alten Katzen. Ich warte im Flur, während ich sie oben rumpoltern höre.

»Guck mal!« Sie kommt die Treppe wieder runter. »Die ist für dich.«

Sie reicht mir einen grinsenden Tigerkopf aus bunter Pappe. An den Seiten wurden zwei Gummibänder befestigt und statt Augen sind zwei Löcher hineingestanzt. Ich will die Maske sofort wieder zurückgeben, weil ich mich überhaupt nicht gern verkleide. Aber dann stelle ich mir vor stundenlang allein zwischen den Umzugskartons hocken zu müssen, den Fernseher auf voller Lautstärke.

Ohne etwas zu sagen, wische ich mir die Wangen ab und hake die Gummibänder hinter die Ohren. Die Welt ist sofort um einiges kleiner. Die runden Löcher befinden sich nicht genau an den richtigen Stellen und immer wieder atme ich meinen eigenen Atem ein.

»Großartig«, sagt die Nachbarin zufrieden.

Das Krankenhaus hat einen besonderen Eingang für uns. NOTAUFNAHME steht über den gläsernen Schiebetüren.

»Vielleicht findest du ja einen netten Arzt für mich«, ruft die Nachbarin beim Aussteigen. »Und pass auf die Fingerkuppe auf!«

Ich halte die Plastiktüte gut fest, während Papa Bente aus dem Auto hilft. Ihr Gesicht ist weiß und sie zittert wie eines dieser Mini-Hündchen, das manche Frauen in der Handtasche mit sich rumtragen. Sie will selbst gehen, aber nach drei Schritten bleibt sie stehen und fängt an zu schwanken. Papa hebt sie schnell hoch.

»Ist Mama schon da?«, fragt sie heiser. »Wo ist Mama?«

Nicht hier, denke ich. Als Papa sie gerade eben anrief, rannte sie eine Runde durch den Park. Meine Mutter hat zwölf Jahre und zehn Monate keinen Gedanken daran verschwendet, für einen Marathon zu trainieren, aber heute hat sie wieder mit dem Laufen angefangen.

Ich denke an die Worte auf meinem Gesicht und ich bereue nichts.

Auf dem Gehweg vor dem Krankenhaus ist Sand gestreut, damit die Kranken nicht auch noch ausrutschen. Ich friere in meinem dünnen Pulli. Von all den Leuten hier bin ich die Einzige, die wie tot wirkt. Wegen der Maske steigen aus meinem Mund keine weißen Wölkchen.

»Papa …«, sagt Bente. Sie klingt eine ganze Ecke jünger als neun. »Wie wird der Finger eigentlich wieder angenäht?«

»Mit Nadel und Faden natürlich«, sage ich.

»Aber schlafe ich dann? Oder sehe ich, wie sie nähen?«

Ich beiße mir auf die Lippen und gebe keine Antwort. Ich will Ärztin werden, aber ich weiß noch überhaupt nichts.

Während Papa versucht etwas über das Annähen von Fingerkuppen zu sagen, ohne zu verraten, dass auch er keinen blassen Schimmer hat, beobachte ich die Menschen, die aus dem Krankenhaus kommen. Durch meine runden Tigeraugen sehe ich eine humpelnde Frau mit einem riesigen Pflaster auf der Nase und einen Jungen mit zwei eingegipsten Armen. Ich wünschte, auf ihrer Stirn stünde, was mit ihnen passiert ist. Wie sie sich verletzt haben. Wie lange sie hier bleiben mussten und was genau die Ärzte gemacht haben.

Die Notaufnahme fängt nicht mit lauter so netten Geschäften an wie der Flughafen. Hier ist fast nichts. Nur ein kahler Gang, eine Art Empfangsschalter mit dickem Glas davor und ein Mann mit einem Ziegenbärtchen, der wissen will, was passiert ist.

Während ich den Plastikbeutel hochhalte, erzählt Papa mit seiner Erwachsenenstimme von dem Unfall. Der Mann mit dem Ziegenbart schaut erst auf meine Maske, dann auf Bentes Fingerkuppe. Er verzieht keine Miene.

»Haben Sie den Personalausweis Ihrer Tochter dabei?«

»Äh«, sagt Papa. »Meine Frau … ich meine, meine Ex…« Er räuspert sich. »Ihre Mutter, meine ich, die hat die Personalausweise.«

Ich schaue auf den Boden. Er ist aus gelblichem Linoleum, einer Farbe, die sich bestimmt mit Blut beißt.

»Eine Krankenversicherungskarte vielleicht?«, fragt der Mann.

Papa seufzt. »Auch bei ihrer Mutter. Tut mir leid. Sie ist auf dem Weg hierher und bringt bestimmt alles mit. Einschließlich Freischwimmerzeugnis, Bibliothekskarte, Rabattkarte und Schnürsenkeldiplom.«

Der Mann lacht nicht. »Der Name Ihrer Tochter?«

»Bente Sofieke Nieuwenhuis.«

»Geburtsdatum?«

»Dritter Februar …«

»Mama hat am dritten Februar Geburtstag«, sage ich. Ich schaue hoch und plötzlich bin ich genauso wütend auf ihn wie auf sie. Es mag ja sein, dass es ihre Idee war, aber ER hat schließlich nichts dagegen unternommen. Er hat einfach weiter Betten gebaut und sich die Haare zerzaust. Und auch wenn einem diese Wuschelhaare erst so gut gefallen haben, irgendwann hat man mal genug von einem schweigenden Kopf voller Beize und Sägespäne. Das begreife sogar ich.

»Entschuldige«, sage ich zu meinem Vater. »Ich meine natürlich deine Ex. Deine Ex hat am dritten Februar Geburtstag. Bente am achten.«

Papa schaut auf die Tigermaske mit den schwarz-gelben Streifen und den Löchern als Augen. Montag, wenn ich wieder zur Schule muss, setze ich diese Maske einfach auch auf. Dann kann ich alles sagen und es ist egal, wie ich dabei schaue.