Das Buch zum Film
KOSMOS
Grundlayout: DOPPELPUNKT, Stuttgart
TKKG – Das Buch zum Film, erzählt von Ulrike Leistenschneider nach dem Drehbuch von Peer Klehmet und Robert Thalheim auf Basis der gleichnamigen Buch- und Hörspielreihe von Stefan Wolf. Die Hörspielreihe erscheint auf dem Label EUROPA der SONY Music Entertainment (Germany) GmbH.
Umschlaggestaltung von Weiß-Freiburg GmbH unter Verwendung des originalen Filmplakats von Warner Bros. Pictures Germany GmbH.
Szenenfotos © 2019 Maor Weisburd und Henner Besuch, Kundschafter Filmproduktion, Delta Film.
»TKKG«® ist eine eingetragene Marke der SONY MUSIC Entertainment Germany GmbH.
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© EOS Production GmbH & Co. KG
© 2019, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-440-16555-3
eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Die Musik war cool. Tim Carsten rückte seine Kopfhörer zurecht. Der Walkman war Baujahr 1985, aber er liebte ihn heiß und innig. Genau wie das Sprayen von Graffitis. Wenn er mit den anderen Sprayern unterwegs war, fühlte er sich gut. Sie waren zu viert, einer stand Schmiere, die anderen drei mussten schnell arbeiten. Der Nervenkitzel gefiel Tim. Aber hier auf dem Dach eines Hochhauses am Rande der Millionenstadt hatten sie nichts zu befürchten. Bis jemand etwas bemerkte, waren sie längst fertig und über alle Berge. Außerdem regnete es heute, da würde bestimmt sowieso niemand hier vorbeikommen.
Tim hatte die Kapuze seines roten Hoodies über die Kopfhörer gezogen. Konzentriert arbeitete er an dem Schriftzug vor sich: Unite. Das Graffiti würde der Hammer werden. Mit gekonnten Schwüngen hielt er die Spraydose und bewegte den Kopf rhythmisch zur Musik. Das war einfach genial, tausendfach besser als Schule. Tim hielt inne. In welcher Farbe würde der Rahmen der Schrift wohl am besten rüberkommen?
Arglos nahm Tim die Kopfhörer ab. Hinter sich hörte er Schritte. »Grün oder Blau?«, fragte Tim. Er drehte sich um, doch von seinen Freunden war niemand mehr zu sehen. Verwirrt wandte sich Tim in die andere Richtung und erstarrte.
Zwei Polizisten blickten ihm streng entgegen. »Ups!«, entfuhr es Tim. Er überlegte eine Sekunde. Die anderen waren längst abgehauen und auch für ihn wurde es allerhöchste Zeit. Doch wie sollte er hier wegkommen?
Mit erhobenen Armen ging Tim auf die beiden Polizisten zu, in einer Hand hielt er noch die Spraydose. Es sah aus, als wolle er sich ergeben. Nicht jeder Zwölfjährige bildete sich ein, zwei Polizisten austricksen zu können. Doch Tim war schlau und sportlich. Also hatte er eine ernst zu nehmende Chance.
Im letzten Moment warf er die Spraydose auf die Polizisten und rannte los. Die Polizisten waren so verdutzt, dass Tim wichtige Sekunden Vorsprung gewann. Mit einem waghalsigen Sprung rettete er sich über einen hohen Absatz auf die andere Seite des flachen Daches. Er riskierte einen kurzen Blick nach hinten. Mist, die beiden Polizisten hangelten sich ebenfalls herab. Doch er war schneller.
Tim rannte weiter. Vor ihm lag das Ende des Daches. Dahinter ging es über zehn Stockwerke in die Tiefe. Er saß in der Falle. Was nun? Hinter sich hörte er die Polizisten keuchen. Er hatte keine Wahl. Tim schwang sich über die Dachkante. Unter ihm war ein Balkon, was für ein Glück. Ohne einen weiteren Gedanken zu vergeuden, sprang er hinunter. Er landete sicher, doch bei dem Sprung rutschte sein Handy aus seiner Jackentasche. »Mist!«
Tim sah, wie es in die Tiefe segelte und auf der Straße in tausend Teile zerschellte.
Über ihm erschienen die Köpfe der beiden Polizisten. »Stehen bleiben!«, schrie einer und machte sich daran, ebenfalls über die Dachkante zu klettern.
Es gab nur einen Weg. Tim stürzte durch die offene Balkontür in ein Wohnzimmer, in dem gerade zwei ältere Damen bei Kaffee und Kuchen saßen. »Tut mir leid!«, brachte Tim mit einem charmanten, aber gehetzten Lächeln hervor und fügte noch ein »Guten Appetit« hinzu, ehe er an den sprachlosen Frauen vorbeihastete.
Mit offenem Mund starrten sie ihm hinterher. »Polizei!«, brachte eine der Damen kaum hörbar hervor. Da krachte es schon wieder auf dem Balkon. Als wäre ihr tonloser Ruf erhört worden, stürmte nun einer der Polizisten durch ihr Wohnzimmer. Die beiden Damen umklammerten ihre Kuchengabeln und Teller und konnten es nicht fassen. Doch weder der Polizist noch Tim hatten Zeit, sich um sie zu kümmern.
Tim rannte durch die Wohnungstür und das Treppenhaus hinunter. Über sich hörte er schon den Polizisten poltern. Er schien ihm dicht auf den Fersen zu sein. Tim wagte es nicht, sich umzudrehen. Jede Sekunde zählte. Er war noch immer weit oben, vielleicht im achten Stock. Plötzlich sah er eine Glastür vor sich. Ein Ausgang! Tim öffnete die Tür, sprang über die dahinterliegende Brüstung und landete auf dem weitläufigen Dach eines Nebengebäudes. Gut, hier kannte er sich aus. Tim hastete weiter. Wenn er Glück hatte, war der Gang beim Lüftungskanal offen. Er raste auf das silbern glänzende Rohr zu, sprang auf das Blech und rannte dort entlang weiter. Doch sein Verfolger sprintete unermüdlich hinter ihm her.
Jetzt sprang Tim über zwei weitere Kanten, dahinter war die Bodenluke. In Windeseile öffnete er die Klappe und verschwand darin. Genau rechtzeitig. Als der Polizist ankam, war von Tim keine Spur mehr zu sehen. Wütend trat der Polizist gegen die Dachkante. Er verstand einfach nicht, wie der Junge ihm hatte entwischen können.
Das Gebäude, das Tim so gut kannte, war der Supermarkt, in dem seine Mutter arbeitete. Deshalb wusste er um die Luke, die in einen Gang führte. Er ließ sich hinabfallen und ging schwer atmend den Flur entlang. Schließlich kam er zur Hintertür des Geschäfts. Mit dem Ärmel seines T-Shirts wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und fuhr sich kurz durch die dunklen Haare. Er wartete noch ein bisschen. Als er sicher war, dass die Polizisten nicht länger nach ihm suchen würden, betrat er betont locker den Laden. Wie selbstverständlich nahm er sich einen Becher Buttermilch aus einem Regal und öffnete ihn. Gierig trank er aus, während er weiter in Richtung der Kassen schlenderte. Dort entdeckte er seine Mutter. Sie bediente gerade eine Kundin und wünschte ihr einen schönen Tag. Susanne Carsten hatte die gleichen dunklen Haare wie ihr Sohn und war eine gut aussehende Frau Ende dreißig, auch wenn sie von der Arbeit etwas ausgelaugt wirkte.
»Hey, Mama«, sagte Tim und umarmte sie kurz.
Seine Mutter blickte ihn ernst an. »Ich war heute in der Schule«, sagte sie. »Im Gegensatz zu dir! Der Kalmuczak wollte mit mir sprechen.«
Schuldbewusst senkte Tim den Kopf. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen, dass sein Lehrer sich irgendwann bei seiner Mutter melden würde. Nicht zum ersten Mal hatte Tim die Schule geschwänzt. Aber dass sie gleich in die Schule bestellt wurde, machte ihm wirklich ein schlechtes Gewissen. Er wollte nicht, dass sie seinetwegen Ärger bekam. »Sorry, ich musste …«, begann er, doch seine Mutter ließ ihn nicht ausreden.
»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte sie und nun breitete sich ein Strahlen in ihrem Gesicht aus. »Du hast den landesweiten Mathetest gewonnen!« Sie klatschte vor Freude in die Hände.
Etwas verdutzt sah Tim sie an. Hatte er gerade richtig gehört? Gewonnen? Nun, das war eine überraschende Wende der Ereignisse, die ihm mehr als gelegen kam. »Cool!«, sagte er und grinste breit.
»Dein Vater wäre sehr stolz auf dich. Und ich bin es auch«, fügte seine Mutter glücklich hinzu und schloss ihren Sohn noch einmal in die Arme. Dann zog sie einen Brief aus ihrem Fach unter der Kasse hervor. »Guck mal!«
Auf dem Briefkopf war ein altes, barockes Gebäude zu sehen, es sah fast aus wie ein Schloss. Tim runzelte die Stirn. Was hatte das nun schon wieder zu bedeuten? Schnell überflog er den Brief. »MINT-Förderprogramm?« Fragend sah er seine Mutter an.
Stolz erklärte sie ihm: »Kalmuczak hat dich mit diesem Ergebnis für ein Internatsstipendium vorgeschlagen. Und stell dir vor, sie haben dich genommen!«
»Was, echt?«, stieß Tim verblüfft hervor.
»Und das Beste«, fuhr seine Mutter unbeirrt fort und drückte ihm noch einen Prospekt in die Hand. »Du kannst da nicht mehr schwänzen! Weil du ab jetzt in der Schule wohnst!« Sie grinste siegessicher, so als hätte sie Tim gerade bei all dem überlistet, was er schon Schlimmes angestellt hatte.
Ungläubig starrte Tim sie an. Das war ja wie im Märchen! Gerade noch wurde er von der Polizei verfolgt und nun sollte er ein Stipendium für ein angesehenes Internat erhalten? Irgendwie war ihm das nicht ganz geheuer. Skeptisch blätterte er in den Prospekt hinein. Ordentlich gekleidete Jugendliche posierten vor dem Portal des Internats und blickten ihm und der Zukunft optimistisch entgegen.
»Warte mal, ich kenne da doch niemanden«, warf Tim ein.
»Aber du wirst da tolle neue Leute kennenlernen«, erwiderte seine Mutter und lächelte mindestens genauso optimistisch wie die Jugendlichen auf dem Prospekt.
Auf dem Rollfeld des Flughafens landete ein schicker, weißer Privatjet, auf dessen Heckflügel ein geschwungenes schwarzes S prangte. Im Flugzeug saßen Willi Sauerlich und sein junger Chauffeur und Pilot Georg.
Während der Jet ausrollte, wurde im Radio ein altmodischer Song gespielt. »Die Morgencrew wünscht allen Hörern der Millionenstadt einen guten Start in den Tag«, ertönte die fröhliche Stimme des Radiomoderators. »Die Sommerferien sind vorbei, der Ernst des Lebens beginnt wieder!« Dazu lachte er, als sei der Ernst des Lebens ein Riesenspaß.
Willi, der ein schickes Jackett trug und sein Gesicht mit einer dunklen Sonnenbrille bedeckt hatte, stöhnte.
Während Georg seine Kopfhörer abnahm und die Tür des Flugzeugs öffnete, erhob sich Willi aus seinem Sitz und marschierte mit seinen blitzblanken Slippern zum Ausgang. Die Sonnenbrille war berechtigt, das erkannte er sofort.
»Strahlend blauer Himmel. Ist doch wie in Nizza«, bemerkte Georg fröhlich hinter ihm.
»Aber ohne Meer, dafür mit Schule!«, entgegnete Willi leicht genervt.
Georg schleppte Willis Koffer und Taschen neben ihm her. »Diesmal klappt’s bestimmt«, meinte er zuversichtlich.
»Hm«, brummte Willi und schritt zielsicher auf eine edle, schwarze Limousine zu, die in der Halle neben der Landebahn geparkt war. »Darf ich fahren?«, wandte er sich an Georg.
Obwohl Willi erst dreizehn Jahre alt war, konnte er schon ein bisschen Auto fahren. Georg hatte es ihm heimlich beigebracht. Doch jetzt lehnte Georg schmunzelnd ab: »Heute nicht! Wir wollen doch ankommen.« Dann zeigte er auf Willis Sonnenbrille. »Brille!«, sagte er lächelnd und hielt die Hand auf.
Murrend zog Willi die Sonnenbrille ab und gab sie Georg. Dann ließ er sich auf die Rückbank der Limousine fallen, während sich Georg hinter das Lenkrad setzte und losfuhr.
Während Georg und Willi die Straßen der Millionenstadt entlangbrausten, stieg Tim gerade aus dem Bus. Heute begann auch für ihn der Ernst des Lebens, er würde im Internat einziehen. Seine Sachen hatte er alle in einen großen Rucksack gepackt und wie immer trug er seinen alten Walkman um den Hals. Tim hörte immer dasselbe Tape, er besaß nur dieses eine.
Als der Bus davongefahren war, erkannte Tim das alte Barockgebäude, das er auf dem Briefkopf gesehen hatte. Es war aus rotem Backstein mit großen, edlen Treppenaufgängen von zwei Seiten. Alles wirkte noch größer und feiner, als er gedacht hatte, denn links und rechts des Innenhofs gab es neuere Anbauten. Das flößte Tim gehörigen Respekt ein. Er vergrub die Hände in seinen Jackentaschen und ging mit gemischten Gefühlen durch das große Eingangstor. Dahinter lag der geräumige Pausenhof, auf dem sich schon einige Schüler tummelten. Sie standen in kleineren Gruppen zusammen und redeten, lachten oder spielten mit ihren Handys. Alles wirkte recht freundlich und Tim trat etwas gelöster auf das Hauptgebäude zu.
Welches Zimmer hatte er noch mal? Ah, 53, da stand es auf dem Zettel, den er sich extra eingesteckt hatte.
Plötzlich stieß Tim mit einem Jungen zusammen, der so klein war, dass er ihn glatt übersehen hatte. Ein großer Stapel mit Heften fiel zu Boden. Erschrocken rückte der Junge seine Brille zurecht und begann hektisch, die Hefte aufzusammeln. Tim half ihm schnell. Dabei blieb sein Blick zufällig an einer Matheaufgabe hängen und er erkannte einen Fehler. »Der rationale Exponent ist 8, nicht 7«, erklärte er dem Jungen in der Annahme, dass dieser froh über seine Hilfe sein würde.
Doch der Junge schaute nur erstaunt auf das Blatt und murmelte dann mehr zu sich selbst: »Ein paar Fehler muss man ja einbauen.« Dann suchte er hastig die restlichen Sachen zusammen.
Tim verstand kein Wort. »Weißt du, wo Zimmer 53 ist?«, fragte er noch, bevor der Junge abhauen konnte.
Mit einem Stift wies der Junge auf ein Fenster. »Da, die 53 ist das Adlernest!«, erwiderte er, dann hastete er weiter. Verwundert blickte Tim ihm hinterher. Hoffentlich waren seine Mitschüler hier nicht alle so verpeilt.
Sein Zimmer lag im Dachgeschoss. Es war zwar klein und mit zwei Betten, Schreibtischen und Schränken ausgefüllt, aber es wirkte ganz gemütlich. Das würde also für die nächsten Jahre sein Zuhause sein. Tim ging zum Fenster und zog die Gardinen auf. Man konnte auf den Vorplatz schauen, gar nicht so schlecht, fand er. Da sah er eine schicke, schwarze Limousine vorfahren. Ein übergewichtiger Junge im Jackett und mit viel zu viel Gel in den Haaren sowie ein smarter junger Typ im Anzug, mit schwarzer Dienstkappe und cooler Sonnenbrille stiegen aus.
Willi blickte anerkennend an der Fassade des Internats hinauf. »Und, was musste mein Vater dieses Mal springen lassen, um mich hier unterzubringen? Neue Computer? Eine neue Bibliothek?«, fragte er, während er mit seinem dunkelgrünen Samtkissen unter dem Arm auf den Eingang zuging.
Georg trug wie immer sein restliches Gepäck. Ohne eine Miene zu verziehen, antwortete er: »Das sowieso. Dazu ein neues Sportstadion mit Höhentrainingssimulation und Schwimmbad.«
Willi blieb überrascht auf der ersten Treppenstufe stehen. »Echt?«
Als Georg seinen fragenden Blick sah, setzte er noch eins obendrauf: »Und eine Kreuzfahrt für die gesamte Lehrerschaft.« Nun musste er aber doch lachen.
»Alter!«, sagte Willi kopfschüttelnd, als er kapierte, dass Georg ihn nur veräppelt hatte. Lachend schlug er ihm das Kissen vor den Bauch.
Gemeinsam gingen sie in das Gebäude hinein. Vor der Zimmernummer 53 stoppte Willi und öffnete die Tür. Tim packte gerade seinen Rucksack aus.
»Sorry!« Schnell zog Willi die Tür wieder zu. Verwirrt sah er auf seinem Handy nach. Aber dort stand, dass die 53 sein Zimmer war. »Also doch!«, stellte Willi fest und öffnete entschlossen ein zweites Mal die Tür. »Entschuldigung, das hier ist Zimmer 53«, sagte er mit wichtigem Gesicht und trat ein.
»Stimmt.« Tim lächelte Willi stirnrunzelnd, aber freundlich an und kam auf ihn zu.
Doch Willi war nicht so freundlich gesinnt. »Das muss ja wohl ein Missverständnis sein. Die 53 ist MEIN Zimmer«, brachte er etwas überheblich hervor.
»Okay!« Tim nickte noch immer freundlich. »Meins auch«, sagte er und hielt Willi zur Begrüßung die Faust hin.
Leicht angewidert drehte Willi sich weg. »Ein Doppelzimmer?«, wandte er sich entsetzt an Georg und ignorierte Tim komplett. Dann begutachtete er sein Bett. »Ey, mein Vater hasst mich echt, oder?«
Schnell wandte sich Georg an Tim: »Das meint er nicht so.«
»Doch.« Willi ließ sich auf sein Bett plumpsen. »Ein Doppelzimmer mit einem Turnschuhträger«, sagte er vorwurfsvoll. Er zog ein Tuch hervor und polierte damit demonstrativ seine weißen Slipper.
Erstaunt blickte Tim auf seine Sneaker. Was war an ihnen bitte schön so schlimm?
Georg redete noch immer auf Tim ein. »Gib ihm ’ne Chance. Er hat ein großes Herz, man braucht nur manchmal etwas Zeit, um es zu entdecken …«
»Und ich dachte, nach dem Internat in Piemont kann es nicht schlimmer kommen!«, rief Willi dazwischen.
Beschwichtigend stellte sich Georg vor Willi und hockte sich zu ihm herunter. »Hör mal, das wird schon«, versuchte er, ihn zu beruhigen.
Willi ließ den Kopf hängen. »Kannst du nicht noch ein bisschen bleiben?«, bettelte er.
Georg schüttelte den Kopf. »Ich muss morgen früh für deinen Vater nach Genf fliegen.«
Bekümmert blickte Willi zu Boden. Georg legte ihm tröstend eine Hand auf die Schulter. »Sei nicht traurig. Ich gehe direkt am Flughafen zur Privatconfiserie und schicke dir den Macaronkuchen mit Zitronensoufflé im Buttermantel. Mit dem Morgenkurier. Versprochen!«
Tim traute seinen Ohren nicht. Privatconfiserie? Wen hatte er da eigentlich vor sich?
Willi lächelte Georg dankbar an. Dann umarmten sich die beiden lange. »Mach’s gut, Klößchen«, sagte Georg.
Klößchen! Nun konnte sich Tim ein Lächeln nicht verkneifen. Was für ein passender Name für diesen dicken Jungen.
Willi war Tims Grinsen nicht entgangen. Sofort verschwand das selige Lächeln, das Georg ihm entlockt hatte, aus seinem Gesicht. »Ey, nee!«, stellte er klar. »So dürfen mich nur meine Freunde nennen.«
»Alles klar. Davon hast du ja bestimmt ’ne Menge«, erwiderte Tim spöttisch.
»Zufälligerweise ja«, prahlte Willi. »Aber nur die wirklich guten, also einige Auserwählte, dürfen mich so nennen.« Dann leerte er eine seiner Reisetaschen aus. Unzählige Tafeln Schokolade kamen zum Vorschein.
Verblüfft nahm Tim eine in die Hand. Auf der blauen Verpackung stand in geschwungener Goldschrift Sauerlichs Beste. Daneben war unverkennbar Willis Gesicht abgebildet.
Grinsend hielt Tim Willi die Schokolade hin. »Klößchen?«, erkundigte er sich.
»Ja, Klößchen.« Gereizt nahm Willi ihm die Schokolade ab. Da knackte es plötzlich in dem kleinen Lautsprecher, der an der Zimmerdecke angebracht war. Es folgte ein Knistern und dann ertönte eine Männerstimme: »Die neuen Internatsschüler Tim Carsten und Willi Sauerlich, bitte mal in der Bibliothek einfinden!«
Willi und Tim warfen sich einen kurzen Blick zu, dann gingen sie ohne ein Wort los.
»Was hast du eigentlich gegen Turnschuhe?«, fragte Tim, als sie über den Schulhof liefen.
Vollkommen ernst antwortete Willi: »Beim Sport habe ich nichts dagegen. Aber den mache ich ja nicht.«
Sie liefen durch eine größere Gruppe von Schülern, die anscheinend auf eine Orchesterprobe warteten. Einige von ihnen hatten Polohemden mit dem Schulemblem darauf an und trugen Instrumentenkoffer mit sich. Plötzlich entdeckte Tim den kleinen Jungen, mit dem er vorhin zusammengestoßen war. Drei größere Jungs hatten sich vor ihm aufgebaut.
»Ey, Superbrain, hast du Mathe gemacht?«, rief ein vorlauter blonder Junge und hielt fordernd die Hand auf.
Schüchtern übergab der Kleine ihm die Hefte, die Tim zuvor mit eingesammelt hatte.
»Sehr schön!« Der blonde Junge grinste. »War ja wohl krass, dass wir über die Ferien arbeiten sollten …«
»So hattest du wenigstens was zu tun«, feixte einer der anderen beiden mit fiesem Grinsen.
Tim spürte Wut in sich aufsteigen. »Zum Selbermachen seid ihr wohl zu blöd?«, sagte er höhnisch im Vorbeigehen.
Den Spruch hätte er sich besser verkniffen. Die drei Jungen kamen auf ihn zu. »Bist du nicht der Stipendiat aus dem Getto?«, fragte der Blonde abfällig.