Kurzbeschreibung:
Jody hat sich mit ihrem Mann Mats den Traum vom Landleben erfüllt. Gemeinsam haben sie den alten Hof von Mats Eltern zu einem Ferienbauernhof ausgebaut. Die Idylle scheint vollkommen – bis auf die noch offene Kinderfrage. Da taucht überraschend Jodys sprunghafte Schwester Charlie auf und zieht kurzerhand bei ihnen ein. Die quirlige Charlie sprüht vor neuen Ideen für den Hof und schon bald kommt es zu Reibereien. Zu allem Überfluss macht die Konkurrenz vom neuen benachbarten "Wellness-Hof" Jody und Mats zunehmend zu schaffen. Als sich Charlie dann auch noch Hals über Kopf in dessen Besitzer, den gutaussehenden Thomas Hannich, verliebt, scheint das Chaos perfekt ...
Das Glück liegt hinterm Hühnerstall
Roman
Edel Elements
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart Media Design
Lektorat: Philipp Bobrowski
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-252-9
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„Das Schleifgerät vibrierte in Jodys Hand. Sie konnte die Schwingungen bis hinauf in die Schulter spüren und hatte manchmal das Gefühl, der kleine Schleifer wollte sich losreißen. Beinahe, als hätte sie etwas Lebendiges in der Hand.
Manche Leute mochten das Geräusch eines Schwingschleifers auf Holz nicht. Jody hatte schon alle Vergleiche gehört, von „kreischende Katze“ bis zu „verärgerter Hornissenschwarm“. Sie selbst allerdings nahm es mehr als einen Rhythmus wahr. Eine perfekte Begleitung zu ihrer Arbeit. Mit weichen, gleitenden Bewegungen ließ sie den Schleifer über das Birkenholz flitzen. Feiner Staub sammelte sich in kleinen Wellen wie Rippel im Sand am Meer. Jody summte leise, eine beinahe tonlose Melodie. Für einen kurzen Augenblick wurde die Harmonie unterbrochen. Draußen rief jemand. Jody horchte kurz auf, doch im nächsten Moment war sie wieder ganz von ihrer Arbeit gefangen.
Sie beschrieb mit dem Schleifgerät kleine Kreise über die Tischplatte und ließ dabei ihre Gedanken schweifen. Das abgeschliffene Holz fühlte sich weich unter ihren Fingern an, glatt und geschmeidig. Sie müsste eine passende Farbe für das Holz finden, etwas Sanftes, Helles, das dennoch zu der Wuchtigkeit des Tisches passte. Nichts zu Blasses wie Fichte, nicht zu dunkel wie Nussbaum … vielleicht ein Goldbraun. Eibe oder Lärche …
„Hey, du.“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Jody zuckte kurz zusammen. Sie schaltete den Schleifer aus und wandte sich zu Mats um. Er lächelte auf sie herunter. „Hast du mich gar nicht rufen gehört?“
Jody merkte, wie ihr das Blut ein wenig ins Gesicht stieg. „Ich war so in Gedanken. Da muss ich das irgendwie ausgeblendet haben.“ Sie zupfte etwas verlegen an ihrem alten Arbeitshemd herum und gestattete sich einen kurzen Blick auf ihre Werkstattuhr. Die Zeiger der uralten Minnie-Maus-Kinderzimmeruhr standen auf halb zwölf. Wohin war nur die Zeit verschwunden? War sie nicht eben erst vom Frühstück aufgestanden?
Mats berührte beinahe ehrfurchtsvoll die Tischplatte. „Es war nichts Wichtiges“, versicherte er. „Die Reisers sind zu einer Wandertour aufgebrochen und wissen nicht genau, ob sie es bis zum T-Shirt-Kurs heute Abend zurückschaffen. Pia war ein bisschen traurig, aber ich habe ihr gesagt, dass du ihr das mit den Shirts sicher auch mal zwischendrin zeigen kannst. Und die Thalmanns haben angerufen. Sie stecken im Stau und kommen ein bisschen später.“ Seine Finger fuhren die Maserung im Holz nach. „Du hast also noch ein bisschen Zeit für den Tisch.“
Auch Jody legte nun einmal mehr ihre Hand auf die Platte. Es kam ihr so vor, als ströme Wärme aus dem Holz in ihren Körper. Ihre Fingerspitzen pochten leicht wie vor Erwartung. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe schon viel zu lange hier in der Werkstatt gestanden. Ich habe die Zeit vergessen.“ Sie betrachtete den glatten, schönen Tisch neben sich und seufzte. Am Liebsten hätte sie gleich daran weitergearbeitet, aber für heute musste sie ihn wohl so stehen lassen.
Mats schlang seine Arme um sie und zog sie zu sich heran. Jody rieb ihre Nase an seinem Shirt, sog den warmen Geruch nach Heuboden und Sonne ein und schloss die Augen. Wärme umgab sie, durchflutete sie. Mats’ Ruhe und Kraft schienen direkt auf sie überzugehen, sie zu füllen.
„Ich finde es toll, wenn du auch mal etwas für dich tust“, murmelte Mats in ihre Haare. „Du halst dir schon viel zu viel auf. Eigentlich solltest du viel öfter mal die Zeit vergessen.“
Das sollte ich tatsächlich, war Jodys erster Gedanke, doch es siegte wieder mal ihre Vernunft. „Das können wir uns nicht leisten“, murmelte sie bedauernd.
Mats fragte nicht nach. Er hielt sie nur weiter fest im Arm, gab ihr den Halt, den sie brauchte, bis sie sich widerstrebend von ihm löste. „Ich mache mich dann mal daran, die Handwerker abzutelefonieren. Ich hoffe, ich erreiche jetzt überhaupt noch jemanden.“
Mats fuhr sich mit ausgestreckten Fingern durchs Haar. „Gut. Ich werde mir das Fundament für das Gartenhaus vornehmen, denke ich. Mittagessen mache ich dann ein bisschen später, okay?“
Jody lächelte dankbar. „Okay.“ Beinahe zärtlich berührte sie ein letztes Mal das Holz der Tischplatte.
„Bist du sicher, dass du nicht lieber doch noch hier weitermachen willst?“, fragte Mats, der ihre Geste bemerkt hatte.
„Es geht nicht.“ Jody seufzte. „Zu viel anderes zu tun. Sie fasste nach Mats’ Hand und verließ mit ihm zusammen die Werkstatt.
Mats war in Richtung seines Gartenhauses abgebogen, und Jody schlenderte langsam über den Hof in Richtung Haustür. Oben warteten ihr Schreibtisch und das Telefonverzeichnis auf sie, doch für einen Moment wollte sie einfach noch die Wärme und den Geruch des Hofes genießen. Die Sonne stand beinahe senkrecht über dem Dach des Ponystalls, neben dem Holzschuppen döste Balu – ihr schokoladenbrauner Labrador – auf den Pflastersteinen. Sie musste nachher unbedingt noch eine Runde mit ihm drehen, doch im Moment schien die Hitze selbst seine unbändige Energie zu zügeln.
Jodys Blick fiel auf den Berg von ungehacktem Holz neben dem Schuppen, und wanderte weiter zu dem alten Zaun, der gleich daneben den Kräutergarten vom Rest des Gartengeländes trennte. Die Farbe daran war alt und nach vielen Jahren in Sonne und Wind rissig und blättrig geworden. Irgendwann in diesem Sommer fände sie bestimmt die Zeit, den Zaun neu zu streichen. Und das Kaminholz sollte auch gespalten werden, um bis zum Winter richtig durchzutrocknen. Jody sah noch einmal zur hoch stehenden Sonne hinauf. Man musste schon mehr als ein bisschen verrückt sein, um zu dieser Tageszeit Holz zu spalten, wenn man auch drinnen im Büro sitzen konnte, wo es einigermaßen kühl war. Und ihre Anrufe waren auch wirklich dringend.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlenderte Jody zu dem Holzhaufen hinüber und wuchtete das erste Stück auf den Hackklotz.
Die Pflastersteine schienen zu glühen, und Jody meinte, ihre Wärme sogar durch die Sohlen ihrer Sandalen zu spüren. Die Sonne brannte ihr auf Nacken und Schultern, doch die Schwüle machte ihr nicht das Geringste aus. Sie war wie eine Eidechse, die Hitze lud sie erst richtig mit Energie auf. Schon nach den ersten zwei Holzstücken fiel Jody in einen angenehmen Rhythmus, der auf all ihre Muskeln überging und sie mit Leben erfüllte. Es war gut, sich zu bewegen. Zu leben. Sonne, Wärme, der Geruch nach noch etwas harzigem Holz, Heu und Wiese, nach warmer Wolle und den intensiven Kräutern im Garten, das war doch das wahre Leben. So sollte es sein. Der Griff der Axt war glatt und altvertraut in ihren Händen.
Die Handwerker, wisperte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Doch Jody wischte sie gedankenlos beiseite. Das Holz musste schließlich auch gespalten werden. Hochheben, spalten, die Holzstücke durch die offene Schuppentür werfen, ein einfacher Ablauf, der ihr eine seltsame Befriedigung verschaffte. Das hier fühlte sich nach richtiger Arbeit an.
„Jody?“
Die Stimme riss sie aus ihrer beinahe meditativen Beschäftigung. Jody ließ die Axt sinken und wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Sie musste zweimal blinzeln, um die Gestalt, die da vor ihr aufgetaucht war, klar erkennen zu können.
„Doro.“ Sie lächelte.
Ihre Beinahe-Freundin stand ein paar Schritte vom Hackklotz entfernt und sah so aus, als wüsste sie nicht, ob sie lachen sollte. „Und ich hab befürchtet, ich störe euch beim Mittagessen“, meinte Doro und lächelte ein wenig verlegen. Sie sah aus, als wäre sie direkt aus einem Hippiemodeladen hierher versetzt worden mit ihrem langen, grün gebatikten Sommerkleid und der überdimensionierten bunten Umhängetasche, die sie über eine Schulter geschlungen trug. Ihre hellblonden Haare fielen ihr wie ein goldener Wasserfall den Rücken hinunter, und Gesicht und Arme waren braun gebrannt. Sie wirkte wie der Inbegriff der Gesundheit.
Jody wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn und sah zur Sonne hinauf, als könnte sie dort die Uhrzeit ablesen.
„Es ist kurz nach zwölf“, informierte sie Doro, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Ich wollte bald los in die Stadt und dachte, ich schau noch mal kurz vorbei. Vielleicht brauchst du ja was.“ Sie zwinkerte schelmisch. „Außerdem habe ich einen Riesenschwung Gemüsechips und Gewürzmandeln gemacht. Ich bin nicht gut darin, das richtige Maß zu finden. Nun muss ich sie loswerden. Interesse?“
Jody grinste. Sie wusste, dass Doro nicht zufällig viel zu viele Snacks zubereitet hatte. Seit sie herausgefunden hatte, wie sehr Jody und Mats das Knabberzeug liebten, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens einmal die Woche auf einen Kaffee hereinzuschauen und ein oder zwei Tüten voll vorbeizubringen.
„Komm rein! Hast du noch Zeit für einen Cappuccino, während ich dusche? Dann nehme ich dir gerne deinen … Überschuss ab.“
Doro sah auf ihre überdimensionierte knallbunte Armbanduhr. „Gut“, meinte sie. „Mein Kurs fängt erst in einer Dreiviertelstunde an. Ein paar Minuten habe ich also noch.“
Jodys Lächeln wurde noch breiter. Sie verbrachte gerne Zeit mit Doro. Noch hatte sich keine von ihnen getraut, sich offiziell „Freunde“ zu nennen, doch das lag nur an Doros natürlicher Zurückhaltung. Sie schien jemand zu sein, der lange brauchte, um den Grad von Vertrautheit aufzubauen, den man „Freundschaft“ nennen konnte. Es war schon ein Fortschritt, dass sie Jody, ohne zu zögern, ins Haus folgte und sich einen Kaffee einschenken ließ, bevor Jody selbst im Badezimmer verschwand.
„Bist du sicher, dass ich nicht störe?“, fragte sie nur einmal, und als Jody entschlossen den Kopf schüttelte, lächelte sie nochmals schüchtern und schlang ihre langen, schmalen Finger um die Kaffeetasse, als müsste sie sie bei dieser Hitze auch noch wärmen.
Jody duschte im Schnellgang. Die Seife roch nach Zitronenmelisse und erinnerte Jody daran, dass auch diese ein Geschenk von Doro gewesen war. Ebenfalls selbst gemacht. Bei all der kreativen Energie, die in Doro steckte, war es ein Wunder, dass sie noch nie in einem von Jodys Kursen aufgetaucht war. Der frische, sommerliche Geruch vertrieb auch den letzten Rest von Jodys schlechtem Gewissen und jeglichen Gedanken an Handwerker und Termine. Sie fühlte sich sauber und energiegeladen, als sie in die Küche zurückkam.
Doro hielt sich immer noch an ihrer Kaffeetasse fest. Sie hatte sie nicht einmal zur Hälfte geleert. Stattdessen sah sie verträumt aus dem Fenster. Vor sich auf dem Tisch hatte sie mehrere Dosen mit Gemüsechips aufgereiht.
„Das ist ja ein Jahresvorrat.“ Jody konnte nicht anders – sie musste einen der Deckel aufschnappen lassen und sich eine Handvoll knuspriger Zucchini nehmen. „Mmh, du solltest die wirklich verkaufen. Die sind zu gut, um sie der Menschheit vorzuenthalten.“
Doro lächelte wieder schüchtern. „Ich mache sie lieber für Leute, die sich wirklich darüber freuen.“
„Gut, dass du dabei an uns denkst“, meinte Jody und naschte gleich noch eine Handvoll, bevor sie sich ebenfalls einen Kaffee einschenkte und sich Doro gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ. „Also, was sagt der Dorftratsch denn so?“
Doro trommelte mit ihren Fingerspitzen leicht auf die Kaffeetasse. „Nichts Besonderes. Rebecca Kemmer hat Probleme mit ihrem Ältesten. Kommt immer viel zu spät nach Hause und so was. Rita meint, dass er vielleicht mit den Schmierereien bei Gärtners zu tun hat.“ Sie drehte die Tasse in ihren Händen, und schien zu überlegen.
„Joel Kemmer? Glaube ich kaum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der überhaupt weiß, wie eine Spraydose aussieht.“ Jody nahm einen Schluck Kaffee. Trotz der Thermoskanne war er bereits lauwarm.
Doro zuckte mit den Schultern. Wie immer beschränkte sie sich darauf, die Dorfgeschichten weiterzugeben, ohne sie zu bewerten. Mats meinte, dass Doro gar keine eigene Meinung hätte, aber Jody glaubte, dass sie einfach kein Urteil über andere Leute aussprechen wollte. Und gerade dafür mochte sie sie.
„Rebecca vermutet auch eher, dass es die Kinder aus dem Ferienprogramm sind. Die müssen immer ziemlich lange warten, bis nach der Betreuung wieder ein Bus in die Stadt fährt, und Rebecca sagt, die Jugendlichen hängen dann an der Bushaltestelle herum und wissen nichts mit sich anzufangen. Gerade weil die Busse momentan so selten fahren wegen der Baustellen auf der Landstraße.“
Doro machte eine kurze Pause, um einen Schluck Kaffee zu nehmen, bevor sie fortfuhr. „Roland Fredricks will seine Scheune abreißen und einen Reitstall bauen. Aber vermutlich erst nächstes Jahr. Und seine Tochter ist dagegen. Hannich wollte das Gelände vom alten Gerbritson kaufen, aber der hat abgelehnt. Außerdem gab es bei Hannichs wohl wieder Streit mit seiner Exfrau. Ging wohl um Lara. Ihrer Meinung nach verbringt das Mädchen zu viel Zeit alleine auf dem Hof, und er kümmert sich nicht genug um sie.“ Doro erzählte alles, während sie den Blick nicht vom Fenster nahm. Beinahe, als interessierten sie die Vorgänge im Dorf nicht besonders. Dabei wusste Jody, dass Doro ihre Ohren überall hatte und eine aufmerksame Zuhörerin war. Wenn sie einmal mehr über die Leute im Dorf wissen wollte, musste sie nur Doro fragen.
„Ich dachte, das Sorgerecht um Lara wäre geklärt“, warf Jody ein.
Doro zuckte mit den Schultern. „Nicht was die Frau angeht.“ Jetzt sah sie doch zu Jody, auch wenn ihre hellblauen Augen immer noch in weite Ferne zu blicken schienen. „Manchmal tut er mir ja ein bisschen leid“, sagte sie. „Die Frau ist furchtbar.“
Jody verzog etwas den Mund. Dass Doro gerade bei Hannich weich genug wurde, um ihre Meinung kundzutun, gefiel ihr nicht besonders. „Er ist jetzt auch nicht gerade mein Lieblingsmensch“, warf sie ein, doch dieses Mal hob Doro wieder nur eine Schulter und sah erneut zum Fenster.
„Trotzdem würde man ihm Besseres wünschen“, murmelte sie und leerte ihre Kaffeetasse. Mit einem vernehmlichen Klacken stellte sie sie auf den Tisch zurück und sah Jody jetzt wieder direkt an. „Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“ Es schien sie einige Überwindung zu kosten, die Frage auszusprechen.
Jody konnte sehen, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg. „Aber immer“, erwiderte sie rasch. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Doro gerade so verunsicherte.
„Ich … du weißt ja, dass ich Massagekurse in der Stadt anbiete“, begann Doro. „Ich massiere selbst, aber ich bringe auch Interessenten die Grundlagen bei. Und in letzter Zeit dachte ich, dass ich das vielleicht ja auch zu Hause tun könnte.“ Sie machte eine Pause. Ihre langen Finger klopften einen leisen Trommelwirbel auf die Tischplatte.
„Ja?“, fragte Jody vorsichtig. Sie war sich immer noch nicht sicher, worauf Doro hinauswollte.
„Also, ich habe ein paar Werbezettel gestaltet, um mich vorzustellen sozusagen. Und ich wollte wissen, ob ich die bei deinen anderen Flyern auslegen darf. Vielleicht hat ja mal einer von deinen Gästen Interesse …“ Doros Stimme wurde immer leiser, als sei ihr dieser Wunsch schon peinlich.
Jody musste lachen. „Na klar“, sagte sie. „Immer doch. Je mehr Angebote, desto besser.“ Sie lächelte Doro an. „Dafür musst du uns aber nicht erst mit Chips bestechen. Nicht, dass ich die nicht gerne nehme …“
Über Doros Gesicht ging ein Strahlen. „Keine Bestechung. Es macht mir einfach Spaß, die zu backen.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Und jetzt muss ich wirklich los. Sonst steht mein erster Schüler vor verschlossener Tür.“ Sie sprang auf, plötzlich energiegeladen, und zu Jodys Überraschung machte sie einen Schritt auf sie zu und umarmte sie herzlich. „Ich komme morgen mal ein bisschen länger vorbei“, versprach sie, dann war sie auch schon auf halbem Weg die Treppe hinunter.
Jody räumte die Kaffeetassen in die Spülmaschine und verstaute die Gemüsechips im Vorratsschrank. Sie lächelte, weil sie dabei an Doro denken musste. Dass sie so lange an so einer Kleinigkeit herumgedruckst hatte. Jody musste ihr unbedingt mal sagen, dass sie und ihre Ideen hier immer willkommen waren.
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Halb eins. Zeit, endlich die Handwerker anzurufen. Doch sie hatte kaum zwei Schritte in Richtung Arbeitszimmer getan, als die Türklingel schrillte.
Charlie summte vor sich hin und betrachtete die Außentreppe. Es war schon nicht einfach gewesen, die ganzen Möbel aus dem Tagelöhnerhaus nach unten zu bringen. Dieser enge Treppenschacht würde noch größere Probleme darstellen. Sie blickte sich um, doch der Hof war verlassen, abgesehen von Balu, der vor der Haustür lag und in der Nachmittagssonne döste. Keine Hilfe in Sicht.
Sie wandte sich wieder unschlüssig der Treppe zu. Der Möbelstapel, den sie nach und nach bis hierher geschleppt hatte, wirkte riesenhaft neben den schmalen Stufen. Die Stühle hinunterzubringen war sicher kein Problem, aber wie sie den Tisch schaffen sollte …
Etwas quietschte direkt neben ihr, und Charlie hatte gerade noch Zeit, sich mit einem gekonnten Sprung in Sicherheit zu bringen, bevor sie die Hintertür zu Mats’ Laden in den Rücken bekam. Dabei entfuhr ihr ebenfalls ein Quietschen, das dem der Tür in Nichts nachstand.
„Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass du hier bist.“ Mats steckte seinen dunkelblonden Wuschelkopf zur Tür hinaus und lächelte Charlie an. „Ich wollte ein bisschen Luft hereinlassen. Es wird im Sommer oft ziemlich warm in der Küche.“
Charlie schnupperte begeistert. Zusammen mit der warmen Luft drang ein wunderbarer Duft aus der Tür, eine Mischung aus Bittermandel, Honig und Zimt. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, dass der Duft mehr an die Adventszeit erinnerte als an Hochsommer. „Was machst du da denn gerade Leckeres?“, wollte sie wissen.
„Gewürz-Schoko-Lollis“, antwortete er. Seine Stimme war leise, als verriete er ein großes Geheimnis. „Kann man in heiße Milch einrühren oder einfach so essen. Wenn man sich mal etwas gönnen möchte.“ Er lächelte. „Ich bin mir noch nicht sicher, wie sie werden. Ich habe heute mit den Gewürzen ein bisschen rumexperimentiert. Willst du versuchen?“ Er streckte ihr einen schokoladenverschmierten Löffel entgegen.
Charlie griff danach, und steckte ihn versuchsweise in den Mund. Im ersten Moment waren da nur Zimt und Schokolade, danach folgte eine frische Note, die sie nicht einordnen konnte, und ein Hauch Marzipan. „Mmh … bisschen weihnachtlich“, meinte sie. „Aber gut. Advent im Sommer.“
„Ich habe eine Prise Anis reingetan“, sagte Mats. „Ich war mir nicht sicher, ob das gut passt.“
„Keine Sorge, das passt super“, meinte Charlotte, und reichte ihm den Löffel zurück. „Hast du noch mehr davon?“
Bedauernd schüttelte er den Kopf. „Die Lollis müssen noch fest werden“, sagte er. „Aber freut mich, dass sie dir schmecken. Dann mache ich vielleicht gleich noch eine kleine Charge zum Verkaufen.“
Charlie spähte an Mats vorbei, um einen Blick in die Küche zu werfen. Der Raum war klein, blitzsauber, mit gekachelten Oberflächen und glänzenden Edelstahlgeräten. Ein bisschen unpersönlich, fand sie, man könnte doch hier und da noch eine dekorative Note setzen. Die einzigen persönlichen Gegenstände waren eine Reihe von selbst gebastelten Kühlschrankmagneten. Charlotte fragte sich, ob sie ein Geschenk von Jody waren oder ob Mats sich selbst am Basteln versucht hatte.
Auf einer der Arbeitsflächen standen eine Reihe Silikonformen, aus denen weiße Lollistiele herausragten, und auf der Spülmaschine hatte sich ein Rührbecher mit diversen schokoladenverklebten Gerätschaften gefüllt. Neben dem kleinen Herd warteten zwei Tüten Zucker und mehrere Sahnepäckchen auf ihre Verarbeitung, vermutlich als Karamellbonbons.
„Hast du eigentlich nur vor der Tür gewartet, um meine Schokolade zu versuchen?“ Um Mats Augen herum hatten sich Lachfältchen gebildet, was ihn mit seinem braun gebrannten Gesicht ein wenig wie Robert Redford aussehen ließ. „Oder gab es da noch einen Grund?“
Sofort fiel Charlie wieder der Stapel Möbel ein. Über die himmlische Schokolade hatte sie ihn vollkommen vergessen. Sie strahlte Mats an. „Jody sagte, ich kann das Zeug in ihren Bastelkeller bringen“, meinte sie, und gestikulierte zu den Stühlen und dem Ecktisch hinüber. „Ich hatte mich gerade gefragt, wie ich die wohl die Treppe hinunterbekomme.“
„Ich könnte dir tragen helfen, wenn es wichtig ist.“ Mats’ Blick war eher zweifelnd, aber Charlie beschloss, einfach nicht darauf zu achten.
„Das wäre toll“, sagte sie. „Je schneller das Zeug unten ist, desto eher kann ich mit der Arbeit anfangen.“ In Gedanken malte sie sich schon aus, wie die Stühle aussähen. Sie würde ganz schicke Farben auswählen. Jody hatte gesagt, die Wohnung heiße Amselnest, also vielleicht etwas in Grün wie die Bäume im Frühjahr und natürlich schwarz mit gelben Akzenten. Etwas Frisches, Kräftiges, das sich angenehm von dem ganzen Pastelltrend heutzutage abhob. Schließlich wollten sie ja auch, dass der Sperlingshof auffiel. Positiv natürlich.
Mats nickte, steckte den Schokoladenlöffel zu den anderen Geräten in den Rührbecher und zog sich die Schürze aus, bevor er durch die Hintertür ins Freie trat. Skeptisch betrachtete er Charlies Möbelstapel ein zweites Mal. „Was hast du denn mit den Kissen vor?“, wollte er wissen.
„Ach, die müssen einfach nur aus dem Weg sein, wenn ich den Rest der Wohnung renoviere“, gab sie rasch zurück. „Natürlich wäre es auch toll, wenn man denen einen neuen Bezug verpassen könnte, vielleicht kann man welche mit türkisem, gesprenkeltem Stoff nähen. Wie bei Amseleiern.“
…“
„Bist du sicher, dass das passt?“, fragte Mats, und hob einen der Stühle hoch. „Ganz schön schwer.“
„Nicht wahr? Ich fürchte, ich habe mit denen auch ein paar Macken in das Treppengeländer im Tagelöhnerhaus gemacht“, gestand Charlie. Sie setzte ein entschuldigendes Lächeln auf, doch Mats zuckte nur mit den Schultern. So gut man das eben konnte, wenn man einen Stuhl schleppte. „Wir müssen ja sowieso renovieren“, sagte er und begann, die Treppe hinabzusteigen. Charlie atmete erleichtert auf. Sie hatte eine viel heftigere Reaktion erwartet. Immerhin war das nicht das erste Mal, dass sie sich so unachtsam verhielt. Leider merkte sie das immer zu spät. Wenn sie nur ein wenig mehr von Jodys innerer Ruhe hätte … Aber es lohnte nicht, mit sich zu hadern. Rasch schnappte sie sich zwei Kissen, balancierte noch zwei Regalbretter obendrauf und folgte ihm.
Die steile, enge Treppe endete unten an einer in fröhlichem Grün gestrichenen Tür. Genau so ein Grün, dachte Charlie. Für die Stühle. Und den Tisch mache ich schwarz. Dann noch Fotos von Amseln und Kunstharz … Sie kam nicht weiter in ihren Überlegungen, denn Mats schob ächzend die Tür auf, und sie traten in einen dunklen, etwas niedrigen Flur, der trotz aller offensichtlichen Bemühungen, ihn fröhlich wirken zu lassen, eine etwas unheimliche Ausstrahlung hatte. Ein Keller, in dem einem Monster begegnen konnten. Charlie schauderte und folgte Mats den Gang entlang. Rechts und links zweigten einige interessant aussehende Türen ab, aber ihr Ziel war eine schwere Metalltür, die Mats erst aufziehen konnte, nachdem er den Stuhl abgestellt hatte. Hinter der Tür verbarg sich eine Überraschung. Das Zimmer war geräumig und viel heller, als man es im Kellergeschoss vermutet hätte. Einige lange Fenster aus gitterdurchzogenem Sicherheitsglas waren direkt unter der Decke in die Wand eingelassen und ließen so viel Licht wie möglich in den Raum. Als Mats einen Schalter an der Wand betätigte, flammten zusätzlich noch mehrere Tageslichtlampen auf.
In ihrem Schein sah Charlie einige lange, alte Tische, die schon einiges mitgemacht zu haben schienen. Farbflecken und so mancher tiefe Kratzer zeugten von den kreativen Unternehmungen, die hier in die Tat umgesetzt wurden. Dazu gab es ungefähr zwanzig Drehhocker, zwei Waschbecken an der Wand und eine Regalreihe, in der sich hinter Plexiglastüren die unterschiedlichsten Bastelmaterialien stapelten. Kistenweise Servietten, Reihen von Kleber- und Farbflaschen, ein Scherenregal, Schachteln, die vielversprechend mit „Glitzer“, „Perlen“, „Pfeifenputzer“, „Knöpfe“, „Bänder“, „Streuteile“, „Mosaik“ und vielem mehr beschriftet waren, Pappmachéfiguren zum Bekleben, Blankobilderrahmen, Plastikkugeln, Holzreste. Und Papier. Stapelweise Papier, von einfachen weißen Bögen über buntes Tonpapier bis hin zu dicht gemustertem Origami- und Dekopatch-Papier. Ein Regal enthielt eine richtiggehende Bibliothek mit bestimmt zweihundert bunten Bücherrücken und Heftchen.
An einer freien Wand stand gebündeltes Peddigrohr, daneben eine Werkbank mit Schraubzwinge und einer Standbohrmaschine. Überall, wo noch ein Fleckchen Wand frei war, hingen Bastelarbeiten und Fotos von glücklichen Teilnehmern an Jodys Kreativkursen.
„Wow. Hat Jody einen Bastelladen geplündert?“, wollte Charlie wissen und ließ ihre Kissen auf einen der Tische fallen.
Mats blickte sich um, suchte offensichtlich einen Platz für den Stuhl und entschied sich dann für eine halbwegs freie Ecke hinter dem letzten Basteltisch. „Vieles davon sind Spenden“, sagte er. „Wir haben das Kreativprojekt groß aufgezogen und beworben. Jody hofft, dass es den Ausschlag für Leute gibt, die einen etwas anderen Urlaub verbringen wollen.“
„Und, klappt es?“ Charlie beeilte sich, Mats zu folgen, der schon wieder auf dem Weg nach oben war. Am Fuß der Treppe hielt er inne, um sich nach ihr umzudrehen, und sie stieß dabei fast gegen ihn.
„Geht so. Ich glaube, es braucht noch ein bisschen Zeit. Die Süßigkeiten laufen ganz gut.“ Er lächelte versonnen, wurde aber gleich wieder ernst. „Es bleibt dabei, dass noch eine Menge zu tun ist. Wir renovieren, so gut wir können, aber Zeit und Geld sind eben immer knapp. Wir haben eine Menge geschafft, in drei Jahren, aber dann kam letztes Jahr dieser Hannich, investierte eine Menge Geld in den alten Bauernhof am Hang und zog sein Wellness-Monster da hoch.“ Er verzog das Gesicht. „In der Zeit, in der ich die Hühnerstiege renoviert und das Schuppendach geflickt habe, hat er den ganzen Hof umgebaut. Er hat ganz andere Mittel als wir.” Kopfschüttelnd ging er weiter. „Sauna. Massagen. Handgefertigte Seifen, das ganze Programm. Das zieht natürlich Urlauber an. Urlauber, die vielleicht sonst zu uns gekommen wären.“
„Warum bietet ihr das nicht ebenfalls an?“ Charlie schnaufte hinter Mats die Treppe hoch. Er hatte sich bereits den zweiten Stuhl geschnappt, und sie sah sich nach etwas Leichtem um, das sie tragen könnte. „Im Tagelöhnerhaus ist doch noch genug Platz, wenn man zum Beispiel auf eine oder auch zwei von den Wohnungen verzichtet …“
Zu ihrer Enttäuschung antwortete Mats darauf erst mal nicht, sondern widmete sich ganz seiner Arbeit. Nach kurzem Nachdenken nahm Charlie das letzte Sofakissen an sich und überlegte gerade, ob sie noch mal hoch in die Wohnung laufen sollte, um einen der Bilderrahmen von der Wand zu nehmen, als etwas Wolliges um die Ecke getrappelt kam.
„Böhhh?“ Ein dunkles Gesicht, umrahmt von grauen Locken blickte hoffnungsvoll zu Charlotte auf.
„Hallo, Michel.“ Charlie machte vorsichtshalber einen halben Schritt zurück. Sie war sich nicht sicher, ob Mats‘ Gefährte mit seinen gedrehten Hörnern nicht doch vielleicht gefährlich werden konnte.
„Böh“, erwiderte das Schaf und nutzte Charlies Zurückweichen, um sich an ihr vorbeizuschieben. Neugierig spähte es durch die Hintertür, die Mats offen stehen gelassen hatte, in die Schokoladenküche.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du da nicht reindarfst“, meinte Charlie. Sie legte ihr Sofakissen wieder weg und trat vorsichtig einen Schritt auf Michel zu, um ihm den Weg zu versperren.
Das Schaf warf einen Blick über seine Schulter, als wolle es ihr sagen, dass es genau wusste, was sie vorhatte. Bedächtig setzte es einen Huf auf die blitzblanken Fliesen.
„Komm da raus!“, zischte Charlie und spähte die Treppe hinunter, ob Mats vielleicht schon wieder auftauchte. Diesen Augenblick nutzte Michel, um flink in die Küche zu trotten. Schnurstracks steuerte er auf die Arbeitsfläche zu, wo die noch flüssigen Schokoladenlollis in ihren Formen warteten.
„Michel!“ Charlie wurde lauter. „Hierher!“
„Bööh!“ Michel hob die Nase, schnupperte neugierig und zupfte versuchsweise mit den Zähnen an einem Lollistiel. Die Form kippelte, und Charlie konnte sehen, wie die zähflüssige Schokolade über den Rand kroch.
„Jetzt reicht es!“, knurrte Charlie. Ungeachtet ihrer eigenen verdreckten Schuhe stapfte sie in die Küche. Michel drehte sich halb zu ihr um, und betrachtete sie interessiert. Er schien nicht im Mindesten beunruhigt zu sein. Charlie war beinahe erleichtert. Das ging ja besser, als sie gedacht hätte. „Du kommst jetzt mit!“, sagte sie und packte Michel an einem seiner gewundenen Hörner.
In diesem Moment verwandelte sich das wollige Etwas neben ihr in einen gehörnten Teufel.
Ruckartig sprang das Schaf zurück und warf dabei den Kopf in den Nacken, sodass Charlie das Horn loslassen musste. Vom Schwung des Schafes mitgerissen, stolperte sie, taumelte gegen die Arbeitsfläche und stieß gegen die Lolliformen. Schokolade schwappte bedenklich in den hübschen Blumenmustern. Gerade noch rechtzeitig konnte Charlie die Formen beiseiteschieben.
Michel blökte und schüttelte den Kopf, wie um sich zu versichern, dass die lästige Hand nicht mehr da war. Doch anstatt jetzt zu fliehen, fühlte er sich offensichtlich so beleidigt, dass er zum Angriff überging. Er senkte den Kopf und fixierte Charlie aus gelblichen Augen. Es fehlte gerade noch, dass er mit den Hufen scharrte und Rauch aus seinen Nüstern stieg, dachte Charlie, und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. Mit der Hüfte stieß sie abermals an die Arbeitsfläche. Michels Kopf senkte sich noch weiter. Charlie erwartete in jedem Moment, spanische Stierkampfmusik zu vernehmen. Sie machte sich bereit, im letzten Moment zur Seite zu springen, wenn der Schafbock auf sie zugestürmt kam.
„Was macht ihr denn hier?“
Charlie zuckte zusammen und fuhr herum, um einen fassungslosen Mats in der Küchentür zu entdecken. „Ich …“, begann sie, doch in diesem Moment stürmte Michel los. Nicht auf sie zu, sondern freudig blökend in Mats‘ Richtung. Dennoch zuckte Charlie erneut zusammen und stützte sich auf der Arbeitsplatte ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. An die Lollis dachte sie erst, als die Finger ihrer rechten Hand schon in etwas Klebriges, noch leicht Warmes getaucht waren. „Oh …“ Charlie hob sich die Hand vor die Augen. Eine Schokoladenspur rann langsam von ihren Fingerspitzen über die Handflächen.
„Bööööh?“, machte Michel und sah unschuldig zu Mats auf. Sieh nur, was sie wieder angestellt hat, sagte sein Blick, bevor er sich umdrehte und über den Hof davon trottete.
„Schafe mögen es wohl nicht besonders, an den Hörnern angefasst zu werden“, sagte Charlie kleinlaut. Sie erinnerte sich dunkel an ein Telefonat mit Jody voriges Jahr, wo diese ihr eine ganz ähnliche Geschichte erzählt hatte. Mit dem Schlusssatz: „Ich jedenfalls fasse nie mehr einem Schaf an die Hörner.“
Mats seufzte. „Richtig“, murmelte er und nickte in Richtung der Schokoladenform. „Jetzt kannst du sie auch essen, schätze ich.“
Für heute war es wohl besser, sich auf dem Sperlingshof rar zu machen. Charlie beeilte sich, die letzten Stühle die Treppe hinunterzutragen, und überließ Mats danach seiner Arbeit in der Küche. Sie selbst lief nur kurz die Treppe hinauf in ihre neue Wohnung, um sich ein anderes Kleid anzuziehen. Das rote hatte Schokoladenflecken abbekommen. Xita wartete vor der Wohnungstür, als wäre sie hier schon immer zu Hause gewesen, und Charlie kraulte sie abwesend. „Was tun wir nur, um das wiedergutzumachen?“, wollte sie von ihrer Gefährtin wissen, doch die schien nur an dem interessiert, was Charlie eventuell in ihrem Kühlschrank hatte. Als sie feststellen musste, dass der Inhalt sehr übersichtlich war, strich sie einmal etwas vorwurfsvoll um Charlies Beine und machte sich dann mit einem Satz aus dem Fenster davon. Sofort stürmte Charlie ebenfalls zum Fenster und stellte zu ihrer Erleichterung fest, dass sich direkt darunter ein Schuppendach befand, über das Xita nun gemächlich davonspazierte.
Jetzt, wo sie schon einmal hier am Fenster stand, nahm sich Charlie die Zeit, den Sperlingshof in Ruhe zu betrachten. Es hatte sich vieles verändert, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Das musste tatsächlich schon fast zwei Jahre her sein, rechnete sie sich aus und war selbst überrascht. Natürlich war sie zur Eröffnung gekommen und im folgenden Jahr noch ein paar Mal, aber dann war ihr Laden so richtig angelaufen, und es hatte immer wieder eine neue Idee gegeben, die sie sofort umsetzen musste. So hatte sie Besuche bei Jody immer wieder verschoben und nur ab und zu mal eine Mail mit ihr gewechselt. Und angerufen. Zu Geburtstagen und Weihnachten und vielleicht ein-, zweimal zwischendrin.
Wir sprechen viel zu wenig, ging ihr durch den Kopf. Ich weiß gar nicht mehr, wie es ihr hier geht. Sie sah sich um. Vieles sah neu und frisch aus, die Spielgeräte im Garten waren offensichtlich erst vor recht kurzer Zeit angeschafft worden, Scheune und Wohnhaus strahlten mit frischem Putz, und auf der Koppel standen zwei Ponys, die sie noch nie gesehen hatte. Doch man konnte auch überall Anzeichen dafür erkennen, dass noch viel zu tun war. Ein Teil des Gartens war abgesperrt, dort hatte Mats das Fundament für ein neues Gartenhaus gegossen. Balken und Bretter lagen bereit, aber noch war es einfach eine Baustelle. Die Rahmen von Fenstern und Türen waren mit einer verblichenen, ehemals dunkelbraunen Farbe gestrichen, die dringend erneuert werden musste. Und die Pflastersteine auf dem Hof waren aufgesprungen und rissig.
Das änderte nichts an der friedlichen Stimmung, die der Sperlingshof gerade in diesem Licht und um diese Tageszeit verbreitete. Die Tiere auf der Weide, der warme Geruch nach Gras und die liebevoll mit Blumen dekorierten Fenster erweckten den Anschein der perfekten Dorfidylle. In dem Garten hinter dem Schuppen versammelten sich gerade die Gastfamilien vom Sperlingshof. Es ging auf den Abend zu, genau die richtige Zeit für ein gemütliches Beisammensein. Zwei ältere Mädchen hatten ein kleineres in die Mitte genommen und versuchten offensichtlich, ihr irgendein Spiel zu erklären, ein kleiner Junge sprang ausgelassen auf dem Trampolin herum, und ein anderer, älterer, hockte träge vor dem Kaninchenkäfig und hatte seine Finger im Gitter durch das Drahtgeflecht geschlungen. Die beiden Elternpaare hatten sich mit den Kaffeetassen in der Hand um den Picknicktisch niedergelassen und waren angeregt ins Gespräch vertieft. Ein paar Hühner pickten um sie herum im Gras.
Charlie seufzte. Kaffee und ein bisschen plaudern wäre jetzt vermutlich genau das Richtige. Aber sie war sich nicht sicher, was Jody und Mats davon hielten, wenn sie sich unter die Gäste mischte. Ein anderer Plan musste her. Also: Ein Spätnachmittagsspaziergang. Das war was. Vielleicht schnappte sie ja die eine oder andere Idee auf. Der Anblick von Jodys Bastelraum hatte Charlie einen vollkommen neuen Energieschub verpasst. Hier gab es ja so viel zu tun, und manches schien Jody noch gar nicht in den Sinn gekommen zu sein. Nur gut, dass sie jetzt hier war, um die Dinge mal richtig anzugehen.
Wahllos griff Charlie in den Koffer und zog ein dunkelblaues Kleid hervor, das über dem Saum mit grünlich-türkis-weißen Meereswellen bedruckt war. Schön. Ein Urlaubskleid. Sie schlüpfte aus dem roten, machte sich gedanklich eine Notiz, Jody nach einer Waschmaschine zu fragen, und warf sich das blaue Kleid über. „Blau, blau, blau sind alle meine Kleider“, sang Charlie leise vor sich hin, während sie ihre Haare hochsteckte und eine Schmetterlingsspange in den wilden Locken befestigte. Nun noch die Sandalen an die Füße, dann war sie bereit, für ihren abendlichen Dorfrundgang.
Als sie die Treppe hinunterkam, entdeckte sie Jody auf der anderen Seite des Hofs. Sie hatte sich einen Malerkittel über die Jeans geworfen, die dunklen Haare in einen strengen Pferdeschwanz gebunden und war gerade auf dem Weg zu der kleinen Gruppe Erwachsener und Kinder, die sich an der Treppe zum Werkraum versammelt hatten. Offensichtlich stand einer von Jodys Kursen an. Die musste sie sich auch einmal näher ansehen, doch nicht heute. Sie wusste außerdem überhaupt nicht, was heute auf dem Programm stand. Schließlich wollte sie sich nicht auf irgendetwas einlassen, das ihr gar nicht lag.
So winkte sie Jody nur zu und folgte dann dem Trampelpfad, der zwischen dem Tagelöhnerhaus und dem Ponystall hindurch zur Seitenstraße führte. Obwohl es noch hell war, lag bereits die Ahnung des Abends in der Luft. Es war stiller, und die Wärme schien mehr von den Steinwänden zu beiden Seiten auszustrahlen als von der Sonne. Im hohen Gras neben dem Trampelpfad zirpten die Grillen.
Charlie blieb stehen, schloss die Augen und lauschte nur diesem Geräusch. Sommerabend. Fehlte noch der Sommernachtstraum.
An genau so einem Abend war es gewesen, als ihr die Idee zu ihrem Laden gekommen war. Sie erinnerte sich nur zu gut daran. Jody und sie hatten gemeinsam im Garten ihrer Eltern gesessen, mit dem Rücken an die beiden alten Apfelbäume gelehnt, und Jody hatte von Mats geschwärmt und darüber gegrübelt, ob sie die Polizeiarbeit aufgeben sollte, um etwas „Richtiges“ zu machen. Etwas, was die Leute auch bewegte, was nicht nur aus Konfrontationen bestand. Sie hatte es mit ihrem damaligen Team nicht gut erwischt gehabt und ständig um Anerkennung kämpfen müssen. „Bei der Polizei habe ich nicht das Gefühl, irgendetwas bewegen zu können“, hatte sie geklagt. „Ich drehe mich immer nur im Kreis, und dabei reibe ich mich an meinen Vorgesetzten und Kollegen vollkommen auf.“ Sie hatte von ihren Plänen erzählt, für die Volkshochschule zu arbeiten, und Charlie hatte zugehört und geträumt.
Die Bienen summten im Lavendel, und Charlie erinnerte sich, wie sie den Garten betrachtet hatte, ihre selbst gefertigten Skulpturen zwischen den Stauden und Büschen, die ihre Mutter voller Stolz jedem zeigte. Und dann war die Idee gekommen: Wenn Jody ihr Leben über den Haufen werfen konnte, dann konnte Charlie das auch. Ihre Skulpturen waren gut, das wusste sie. Und hatte ihre Mutter nicht immer gesagt, sie müsste Geld dafür verlangen?
Zwei Wochen später hatte sie ihren Laden entdeckt und drei Monate darauf eröffnet.
Charlie musste über sich lächeln. Ein fünf Jahre währender Sommernachtstraum. Zeit für etwas Neues. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu klären, und öffnete die Augen wieder. Rasch trat sie zwischen den beiden Gebäuden hervor. Die vier Ponys des Hofs waren noch auf der Koppel und rupften gemütlich das spärliche Gras. Zwei vielleicht neun- oder zehnjährige Mädchen turnten am Zaun herum und ließen die Tiere keinen Moment lang aus den Augen. Beide trugen Reiterleggins und hohe Stiefel, sahen aber nicht so aus, als wären sie gerade zum Reiten hier. Sie schenkten Charlie abschätzige Blicke, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder den Ponys zuwandten. Menschen rangierten in ihrer Wahrnehmung ganz offensichtlich weit unter Reittieren.
Charlie folgte dem Pfad bis zur Straße. Die wurde nur wenig befahren und führte in einer Richtung zu hohen Maisfeldern, in der anderen zur Hauptstraße des Dorfes. Es gab keinen Gehweg, doch bei dem spärlichen Verkehr bestand kaum Gefahr, überfahren zu werden. Charlie bog in Richtung Dorf ab. Der Asphalt unter den Sohlen ihrer Sandalen schien zu glühen, und es roch nach weichem Teer und Gras. Sie passierte zwei moderne Einfamilienhäuschen, weiß verputzt, mit gepflegten Vorgärten, dann folgte eine offene kleine Wiese, hinter der das eigentliche Dorf begann. Alte Fachwerkhäuser und ein hübscher Natursteinkirchturm waren hinter dem wogenden Gras zu erkennen.
Charlie blieb einen Moment stehen. Sie konnte weiter der kleinen Straße folgen oder einfach auf dem Trampelpfad durch die Wiese laufen. Das würde Zeit sparen, und die blumenbedeckte Wiese im Spätnachmittagslicht sah einfach so einladend romantisch aus. Wie aus einer längst vergangenen Zeit.
Charlie bog von der Straße ab und folgte dem Trampelpfad. Langes Gras streichelte ihre bloßen Waden, und die Grillen schienen nur für sie extra laut zu zirpen. Um sie herum duftete es nach Sommer. Warmer Grasgeruch, gemischt mit einem Hauch von Pferdestall. Am liebsten hätte Charlie sich hintenüber ins lange Gras fallen lassen, um mit ihrem ganzen Körper in den Sommer einzutauchen. Stattdessen blieb sie stehen, schloss die Augen und atmete tief ein. Wärme. Glück. Gelassenheit.
„Sie wissen aber schon, dass das Privatbesitz ist?“ Eine Stimme wie ein knappes Bellen riss sie aus ihrer Schwärmerei. Charlie blinzelte und sah sich auf einmal Auge in Auge mit einem ziemlich verknautschten Gesicht. Dunkelbraune Augen, eingebettet in eine Menge Fältchen, braun gebrannte Haut, eine verblichene blaue Mütze auf dunklem Haar, das war alles, was sie auf die Schnelle erkennen konnte. Hastig trat sie einen Schritt zurück, um die ganze Gestalt besser betrachten zu können. Es war ein schmaler, großer Mann in Cordhosen und einem T-Shirt, und er sah gerade nicht besonders freundlich aus.
„Na?“, knurrte der Mann.
„Ich … entschuldigen Sie, aber ich weiß gar nicht, was Sie meinen …“, stotterte Charlie.
„Natürlich. Aber einfach mal über meine Wiese laufen“, brummte der Mann, jetzt schon ein bisschen weniger aggressiv. „Meine Wiese, verstehen Sie? Sie können hier nicht durch.“
„Es gibt ja aber keinen Zaun“, merkte Charlie an. Trotz ihres berechtigten Einwands spürte sie, wie ihre Wangen vor Verlegenheit heiß wurden. Vorsichtshalber blickte sie sich um, ob sie vielleicht nicht doch ein Hinweisschild übersehen hatte. Aber sie konnte nirgendwo Markierungen entdecken.
„Hier gab’s noch nie einen Zaun.“ Der Mann verzog das Gesicht. „Da, sehen Sie?“ Er stampfte mit dem Fuß auf den ausgetretenen Pfad. „Da wächst so schnell nix mehr. Und dann lassen noch alle ihre Hunde hinkacken.“
Charlie blickte auf den Trampelpfad, sagte aber nichts.
„Alles wegen diesem Hof!“ Es klang eher resigniert als wütend. Und damit drehte er sich um und stapfte davon. Auf dem verhassten Trampelpfad.
Charlie blieb stehen wie zur Salzsäule erstarrt, bis der Mann hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war. Dann erst wagte sie, sich wieder zu bewegen. Ganz langsam drehte sie sich um und ging auf dem Trampelpfad wieder zurück. Auf gar keinen Fall wollte sie diesem Kerl noch mal begegnen. Sie setzte ihre Füße ganz vorsichtig auf, um so wenig wie möglich zu beschädigen. Unwillkürlich entfuhr ihr ein erleichterter Seufzer, als sie wieder auf der kleinen Straße stand.
„Ach, nehmen Sie es nicht so schwer.“ Jetzt erst bemerkte Charlie die Frau, die ein Stück weiter auf einer Bank saß. Sie hatte ein Paar Nordic-Walking-Stöcke neben sich an das Holz gelehnt und faltete gerade sorgsam eine leere Brötchentüte zusammen. „Johann macht immer so ein Theater“, erklärte sie. „Ich hab ihm schon so oft gesagt, er soll einen Zaun ziehen. Aber der Mann ist sturer als meine Schafe.“ Die Frau lächelte und erhob sich von ihrem Sitzplatz. Sie verstaute sorgfältig die Brötchentüte in der Hintertasche ihrer Jeans. „Sarah Kaufmann“, stellte sie sich vor. „Ich wohne gleich hier um die Ecke.“
Charlie ergriff die dargebotene Hand und wunderte sich über den ungewöhnlich festen Händedruck. Sie musterte die Frau. Sie war vermutlich um die fünfzig, trug die noch dunklen Haare zu einer praktischen Frisur hochgesteckt und wirkte drahtig in ihren Bluejeans und der weiten blauen Bluse. Jody nicht unähnlich, nur ein paar Jahre älter.
„Sie sind die Schwester von Jody, nicht?“
Charlie nickte etwas verwundert. „Charlotte Engels“, sagte sie. „So offensichtlich?“
„Ach, ich dachte schon, dass ich da eine Ähnlichkeit sehe.“ Die Frau lächelte. „Schön, dass Sie auch hier sind. Helfen Sie Jody und Mats?“
Charlie lächelte verlegen. „Ich versuche es. Ich bin erst heute angekommen.“
„Da finden Sie sicher bald was zu tun. Die beiden haben schon viel aus dem Hof rausgeholt, aber es gibt noch eine Menge Arbeit.“
„Kennen Sie Mats und meine Schwester besser?“, fragte Charlie.
Frau Kaufmann grinste. Es ließ sie fremdartig wirken, ein wenig koboldhaft. „Ach, ich war früher Babysitter bei den Sperlings, Sie wissen ja, Mats Eltern“, meinte sie. „Habe auf ihn und die kleine Melanie aufgepasst. Die hatten vielleicht Unsinn im Kopf. Hat er Ihnen mal erzählt, wie sie getrocknete Pferdeäpfel gesammelt haben, um zu sehen, ob sie brennen?“
Charlie schüttelte den Kopf. Sie merkte, dass es sie ein wenig traurig machte, dieses Detail nicht zu kennen. Sie redete wirklich zu wenig mit Mats und Jody. Besser das Thema wechseln, dachte sie und deutete die Straße hinunter. „Aber hier darf ich doch gehen, oder?“
Sarah Kaufmann blickte in die Richtung, in die Charlie zeigte, als müsste sie erst überlegen. „Ach, natürlich. Kommen Sie, ich muss auch wieder los. Mein Päuschen ist vorbei.“ Sie deutete auf die Walking-Stöcke. „Ärztliche Verordnung“, murmelte sie, als vertraute sie Charlie ein großes Geheimnis an. Dann packte sie die Stöcke mit einer Hand und begann, die Straße entlangzustapfen.
Als sie sich ein paar Schritte von der Wiese entfernt hatten, merkte Charlie, wie ihr wieder leichter ums Herz wurde. Irgendwie hatte der Unmut des mürrischen Alten immer noch über ihr geschwebt. Jetzt konnte sie wieder die Schönheit des anbrechenden Sommerabends wahrnehmen. Es ist ein nettes kleines Dorf, ging ihr durch den Kopf, als sie die Kreuzung erreichten. Charlies Kindheit war davon geprägt gewesen, von einer großen Stadt in die nächste zu ziehen, bis sich ihre Eltern schließlich in Schmallenberg niedergelassen hatten. Charlie selbst hatte es immer in die Städte gezogen. Es hatte sie zuerst nach Bielefeld und später nach Köln verschlagen, bis sie schließlich wieder „zu Hause“ gelandet war. Doch das echte Dorfleben kannte sie bisher nur aus Zeitschriften. Das Bild, das sich ihr jetzt bot, hätte perfekt in eine dieser Zeitschriften gepasst. Die Dorfstraße zog sich nach rechts in einem weiten Bogen dahin, gesäumt von Häusern mit altem Fachwerk und hier und da einer weiß verputzten Fassade. Eine kleine, gedrungene Kirche ruhte zwischen Beeten mit gelbem Sonnenhut und Zinnien. Auf der anderen Straßenseite stieg das Gelände allmählich an, die Hälfte des Dorfes zog sich stufenförmig weiter nach oben, bis die Häuser vom Waldrand abgelöst wurden. Hinter dieser Anhöhe, das wusste Charlie, fiel das Gelände sanft ab bis zum Ronnesee. Ein wunderschönes, klares Gewässer, in dem man im Sommer auch schwimmen konnte. Eine bessere Gegend gab es eigentlich nicht für einen Ferienhof.
„So, jetzt haben wir Johann aber wirklich hinter uns gelassen.“ Sarah Kaufmann grinste wieder ihr Koboldgrinsen und stemmte sich auf ihre Walkingstöcke. Sie blickte ebenfalls die Dorfstraße hinunter, als sähe sie sie zum ersten Mal. „Ich muss jetzt los. Kommen Sie mal auf einen Kaffee vorbei?“ Sie zwinkerte fröhlich. „Natürlich ohne jeden Hintergedanken. Kann sein, dass ich … ein oder zwei Tupperschüsseln herumstehen habe, und wenn sie Ihnen gefallen …“ Sie lachte über sich selbst. Charlie musste wohl einen etwas verlegenen Ausdruck aufgelegt haben, denn Sarah lenkte gleich ein. „Nein, im Ernst, ich freu mich auch so über neue Gesichter in Schevelsbach. Und Sie könnten ein paar Leute kennenlernen. Vielleicht gibt es weniger Gemecker, wenn die mal sehen, was sich beim Sperlingshof so tut.“
Charlie runzelte die Stirn. Sie versuchte, ihren Blick nicht von der Sonne zu wenden, die gerade glorreich hinter dem Hügelkamm versank. „Der Sperlingshof ist nicht beliebt?“
Die Frau hob eine Schulter. „Ach, den meisten ist es schon recht.
Charlie hatte den Eindruck, Sarah wolle den Sperlingshof nicht beleidigen.