Colligite quae superaverunt fragmenta, ne pereant

Sammelt die übrigen Brocken, dass nichts umkomme

Johannes 6,12

In Erinnerung an

Maria und Thomas S. Barthel

Ulrich Siegele

Johann Sebastian Bach
komponiert
Zeit

Tempo und Dauer in seiner Musik

Band 5

Konzerte und Sonaten

Inhalt

Vorwort

KONZERTE

Die sechs Konzerte für ein Cembalo

Das maßgebende Werk

Ausgangspunkt und nächste Umgebung

Ausdehnung

Beschluss

Der Zusammenhalt des Ganzen

Der Rest

Die einzelnen Konzerte für mehrere Cembali

Konzerte für zwei Cembali

Konzerte für drei Cembali

Konzert für vier Cembali

Zusatz 1: Das Italienische Konzert

Zusatz 2: Das Tripelkonzert in a-Moll

Übersicht

Die sechs Brandenburgischen Konzerte

Die drei kurzen Konzerte

Die drei langen Konzerte

Die Disposition

DREISÄTZIGE SONATEN

Die sechs Sonaten für zwei Klaviere und Pedal

Das maßgebende Werk

Übersicht

Ein Paar einzelner Sonaten

VIERSÄTZIGE SONATEN

Die drei Sonaten für Violine allein

Die Gruppe der drei Sonaten

Übersicht

Die sechs Sonaten für Violine und Cembalo

Ein nur virtuell maßgebendes Werk

Die Gruppe der fünf Sonaten

Übersicht

Der Sonderfall der sechsten Sonate

Einzelne Sonaten

Zwei Sonaten für Viola da gamba und Cembalo

Zwei Sonaten für Flauto traverso und Continuo

Zwei außergewöhnliche Sonaten

Übersicht

Verallgemeinerungen

Die Dauern der fünf Werke im Vergleich

Eine Systematik der Tempostufen

Verzeichnis der zitierten Literatur

Vorwort

Der vorliegende fünfte Band der Reihe über Tempo und Dauer in Johann Sebastian Bachs Musik gilt Konzerten und Sonaten. Sie bilden drei Gruppen. Denn während ein Konzert in der Regel aus drei Sätzen der Folge schnell–langsam–schnell besteht, können die Sonaten einerseits, wie die Konzerte, aus drei Sätzen dieser Folge bestehen. Diesen sogenannten Sonaten auf Konzertenart stehen andererseits die eigentlichen Sonaten gegenüber, die einen langsamen Satz voranstellen, sodass die Folge aus vier Sätzen besteht. Demnach gliedert sich das Material, das hier behandelt wird, in drei Gruppen, nämlich in Konzerte, in dreisätzige und in viersätzige Sonaten. Denn die Entscheidung, ob eine Satzfolge aus drei oder aus vier Sätzen besteht, bildet eine fundamentale Voraussetzung für die Verteilung der Dauern der einzelnen Sätze auf die gesamte Dauer der Satzfolge, also auf die Beziehung zwischen dem Richtwert der Satzfolge und den Richtwerten der einzelnen Sätze.

Für jede der drei Gruppen hat Bach maßgebende Werke von sechs Satzfolgen vorgelegt, für die Konzerte die sechs Konzerte für ein Cembalo, denen die Brandenburgischen Konzerte für mehrere Instrumente gegenüberstehen, für die dreisätzigen Sonaten die sechs Sonaten für zwei Klaviere und Pedal, für die viersätzigen Sonaten die sechs Sonaten für Violine und obligates Cembalo, schließlich die gemischte Folge der drei Sonaten und drei Partiten für Violine allein. Jedes dieser fünf Werke gibt Auskunft über die benützten Richtwerte, die stets methodisch auf die einzelnen Satzfolgen verteilt sind.

Die Darstellung der ersten Gruppe lässt auf die Konzerte für ein Cembalo (BWV 1052 bis 1059) die einzelnen Konzerte für mehrere Cembali (BWV 1060 bis 1065) folgen. Als Zusatz sind der besetzungsmäßige Sonderfall des Italienischen Konzerts (BWV 971) und der entstehungsgeschichtliche Sonderfall des Tripelkonzerts in a-Moll für Flöte, Violine und Cembalo (BWV 1044) einbezogen. Die Brandenburgischen Konzerte für mehrere Instrumente (BWV 1046 bis 1051) bilden den Schluss.

Die dreisätzigen Sonaten stehen im Übergang zwischen den beiden umfangreichen Gruppen, einerseits den Konzerten, von denen sie zwar nicht die große Besetzung, wohl aber die Zahl der Sätze, andererseits den viersätzigen Sonaten, von denen sie den Titel und die kleine Besetzung übernehmen. Sie stellen selbst eine schmale Gruppe dar, die, neben zwei einzelnen Sonaten, von dem maßgebenden Werk der sechs Sonaten für zwei Klaviere und Pedal (BWV 525 bis 530) gebildet wird.

Den viersätzigen Sonaten stehen die drei Sonaten für Violine allein voran, die zusammen mit den drei Partiten ein Werk bilden (BWV 1001 bis 1006). Ihnen folgen die sechs Sonaten für Violine und Cembalo (BWV 1014 bis 1019). Sie sind das maßgebende Werk der Gruppe, obwohl die letzte Sonate hinsichtlich der Zahl und Form der Sätze ihren eigenen Weg geht. Hier bilden sechs einzelne Sonaten, darunter die Triosonate des Musikalischen Opfers (BWV 1079/3), den Schluss.

Das letzte Kapitel widmet sich zunächst dem zentralen Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, nämlich dem Nachweis der Disposition der fünf Werke zu je sechs Satzfolgen, die in den Konzerten und Sonaten enthalten sind. Das Augenmerk richtet sich hier insbesondere auf die gesamten Dauern und auf die spezifische zeitliche Struktur ihrer einzelnen Satzfolgen und Sätze. In deren Merkmalen äußert sich ein grundlegender Unterschied, der zwischen Konzerten und Sonaten besteht. Eine Systematik der Tempostufen zieht Bilanz.

Kein anderes Repertoire des überlieferten Bachschen Schaffens bietet eine derartige Fülle mehrfacher Verwendung ein und derselben musikalischen Substanz in anderem klanglichem Gewand und wechselndem Zusammenhang, wozu eine noch größere, beinahe unüberschaubare Zahl von vermuteten früheren Fassungen und mehr oder weniger begründeten und begründbaren Rekonstruktionsversuchen tritt. Allerdings berührt dieser Umstand die vorliegende Untersuchung nur am Rand. Denn die Veränderung der Anzahl der Takte eines Satzes beschränkt sich auf wenige und für Tempostufe und Dauer nebensächliche Fälle. Nicht nur die Tempostufe, auch die Zahl der Takte eines Satzes und damit seine Dauer waren der feststehende äußere Rahmen, innerhalb dessen sich eine Bearbeitung vollzog.

Offenkundig hatte Bach sich die formale Disposition eines Satzes, die sich meist auf mehr als eine Ebene bezog, von vornherein derart genau überlegt, dass er später keinen Anlass sah, sie substanziell zu verändern. Die einzige wirkliche Ausnahme in dieser Hinsicht bildet das erwähnte Tripelkonzert in a-Moll. Die fünf aus sechs Satzfolgen bestehenden maßgebenden Werke sind also nicht als solche entworfen, sondern aus bereits vorhandenen Satzfolgen oder gar einzelnen Sätzen, die zudem meistens eine andere Gestalt besaßen, zusammengestellt. Ihnen eignet somit ein dokumentarischer, gewissermaßen abschließender Charakter innerhalb der Konzerte und Sonaten. Deshalb hielt ich mich für berechtigt, stets die späteste überlieferte Fassung zugrunde zu legen; dort habe ich dann, soweit erforderlich, auf andere Fassungen hingewiesen, die tatsächlich oder möglicherweise vorhergingen.

Insofern besteht im vorliegenden Zusammenhang kein Anlass, im Detail auf die Frage der Bearbeitungen zurückzukommen, mit denen ich mich vor 65 Jahren, in der Frühzeit eines Neuansatzes der Bachforschung, beschäftigt habe. Auch kann es hier nicht darum gehen, eine umfassende Bibliografie des Problems zu geben, für die bessere Möglichkeiten verfügbar sind, als hier geboten werden könnten. Am umfassendsten informiert zuletzt der Band 5 des Bach-Handbuchs, dessen erster Teilband über die Orchestermusik von Siegbert Rampe allein verfasst, dessen zweiter Teilband über die Kammermusik von Siegbert Rampe und Dominik Sackmann herausgegeben ist. Für die Sonaten verweise ich auf die zahlreichen Untersuchungen von Hans Eppstein, für die Konzerte, insbesondere für die Bearbeitungsschritte der Konzerte für ein Cembalo, auf die ausgreifenden Studien von Werner Breig, die in Band VII/4 der Neuen Bach-Ausgabe gipfeln. Den Stand der Forschung setze ich voraus, ohne davon mehr zu referieren als das, was das Thema von Tempo und Dauer unmittelbar angeht. Wo ich im Einzelfall auf Untersuchungen anderer zurückgegriffen habe, ist dies an Ort und Stelle vermerkt.

Schließlich ist hier die vor zwanzig Jahren geschriebene und einige Jahre später veröffentlichte Dissertation von Matthias Geuting zu nennen: Konzert und Sonate bei Johann Sebastian Bach. Formale Disposition und Dialog der Gattungen, Kassel 2006 (Bochumer Arbeiten zur Musikwissenschaft 5), zumal sie die Proportionsanalyse zu einem ihrer Themen nimmt. Ich mache aber darauf aufmerksam, dass diejenigen, die über Proportionierung bei Bach sprechen, außer Geuting etwa Don O. Franklin, Ruth Mary Tatlow und Siegbert Rampe, von unterschiedlichen Ansätzen ausgehen, ein unterschiedliches Erkenntnisinteresse verfolgen, unterschiedliche Methoden anwenden und folglich zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Auch mein Ansatz hat sich im Lauf der Jahre und Jahrzehnte gewandelt, entwickelt und präzisiert.

Bei meiner analytischen Arbeit liegt mir daran, nicht meine Fragen an Bachs Musik zu stellen, sondern mir die Fragen von Bachs Musik stellen zu lassen, nämlich den Standpunkt des Komponisten einzunehmen, das Regelsystem, nach dem er arbeitete, zu rekonstruieren und zu eruieren, vor welchen Problemen er bei einer Komposition stand und wie er sie löste – was ich übrigens auch bei anderen Komponisten und Kompositionen der vergangenen vier Jahrhunderte getan habe. Hier hat sich mein Interesse mehr und mehr Fragen der Form zugewandt: Wie haben Komponisten die zeitliche Erstreckung und funktionale Differenzierung ihrer Kompositionen entworfen, hergestellt und kontrolliert? Die Zahlen sind eine Kurzschrift zur Darstellung des fundamentalen musikalischen Sachverhalts der Dauer. Es geht nicht um Arithmetik, sondern um Musik.

Die Proportionierung ist in meinen Augen kein ewig gültiges Prinzip, sondern ein Arbeitsmittel zur Verfertigung einer Komposition, das nur so lange in Kraft bleibt, wie nicht andere Arbeitsschritte andere Arbeitsmittel erfordern. Sie ist kein bindendes Gesetz, sondern muss stets den Freiraum gewähren, dessen jede kompositorische Arbeit bedarf. Ein und dasselbe Grundmuster, ja sogar ein und dieselbe Modifikation eines Grundmusters definieren nicht die einzige kompositorische Lösung, die darin stattfinden kann. Die proportionale Ordnung, die aus dem Wechselspiel mit der konkreten Ausarbeitung erwächst, engt nicht ein, sondern eröffnet Möglichkeiten. Das ist ihre Stärke. Wie diese Möglichkeiten genutzt werden, liegt am Komponisten, und wie er sie nutzen kann, hängt vom musikalischen, aber auch vom politischen, sozialen und ökonomischen Kontext ab.

Die Dauer eines Musikstücks verwirklicht sich in der Taktart und der Tempostufe, die für mich in dieser Funktion von Bedeutung sind und sich aus den in der Partitur dokumentierten Satztypen präzise erheben lassen. Diese Überlegungen liegen der Reihe über Tempo und Dauer in Bachs Musik zugrunde: Johann Sebastian Bach komponiert Zeit.

Unten füge ich die bekannte Übersicht über die sechs Tempostufen der Bachschen Musik an. Auch diesmal danke ich Siegbert Rampe für ständigen Austausch und Linda Maria Koldau für ihre Freundschaft und Verlässlichkeit, Gesprächsbereitschaft und Kritik. Dem Band wünsche ich eine verständniswillige Leserschaft, bereit, dem Weg der Untersuchung zu folgen.

DIE SECHS TEMPOSTUFEN DER BACHSCHEN MUSIK

Kennzahl

Proportion der Tempostufe

Metronomische Signatur

Grundlage des Bereichs

12

Das Dreifache (= 3 p)

172,8

 

8

Das Doppelte (= 2 p)

115,2

 

6

Das Anderthalbfache (= 3/2 p)

86,4

Konzert

4

Prinzipieller Wert (= p)

57,6

Motettischfigural

3

Dreiviertel (= 3/4 p)

43,2

Liturgischchoral

2

Die Hälfte (= 1/2 p)

28,8

 

KONZERTE