Herbert Friedrich
Assad und die brennenden Steine
ISBN 978-3-96521-499-6 (E-Book)
Umschlaggestaltung: Ernst Franta
Das Buch erschien 1960 im Kinderbuchverlag Berlin.
Dieses Buch wurde beim Preisausschreiben für Kinder- und Jugendliteratur des Ministeriums für Kultur 1960 mit einem Preis ausgezeichnet
2021 EDITION digital
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„Ungeziefer! Giftspinnen!“, knurrte der Tatar Garifsian Machmud in maßloser Wut. Er ächzte und jappte nach Luft.
Assad stand mit erstaunten Augen in der Zimmerecke und betrachtete seinen rot angelaufenen Herrn. Es sah aus, als könnte der Dicke jeden Augenblick platzen.
„Diese Maden! Dass sie Allah strafe!“
Wenn er jetzt platzt, dachte Assad, nehme ich mir den Falben … Für seine elf Jahre war der Junge nicht groß geraten, und als Diener eines Teppichhändlers ging er nicht besonders gut gekleidet. Denn mit dem geflickten grauen Kaftan, der ihm viel zu weit um den mageren Körper baumelte, konnte er wirklich keinen Staat machen. Assad duckte sich, der Teppichhändler stierte ihn zornig an. Oh, das schmeckte heute nach Prügel. Aber der Dicke fand nichts, womit er nach dem Jungen werfen konnte. Hier gab es nur Matten und Kissen zum Sitzen. Hier war der Verkaufsraum, in dem sich die Kunden des Händlers niederließen. Seine kostbare Pfeife würde der Geizhals nicht nach ihm schleudern. Und außerdem konnte Assad gar nichts dafür, dass Machmud so wütend war.
Machmud zischte: „Tausend Jahre waren sie ergeben in Allah. Hundert Jahre handeln meine Ahnen mit Teppichen. Und jetzt, in diesem verfluchten Jahr neunzehnhundertundneun nach dem Kalender der Ungläubigen, im Jahre zwölfhundertsiebenundachtzig nach der Auswanderung Mohammeds, wird das Ungeziefer frech! Ziehen einen Graben durch mein bestes Weideland! Hundesöhne! Ruiniert ist mein Land, bedroht ist meine Herde!“
Machmud, hochrot im Gesicht, musste erst einmal Luft holen.
Die Herde, von der er sprach, graste in der Steppe vor den Toren der Stadt Ekibastus. Der Händler hatte sie zusammenbekommen, weil etliche Käufer die Teppiche oder Wandschirme statt mit Rubeln mit Schafen bezahlten. Assad hatte schon immer den alten Abdul beneidet, der sie hütete. Abdul war frei … Wenigstens brauchte er nicht in Machmuds Lehmhaus zu wohnen und keine Prügel zu beziehen. Wenn das kein herrliches Leben war!
Ah, Machmud hatte wieder Luft!
„Dahinter steckt nur dieser hergelaufene Kerl, der Bewässerer! Woher kommt er, wohin geht er, dieser Geier? Macht die Bauern rebellisch mit seinem Plan, die Felder zu bewässern! Unzufrieden werden diese Giftspinnen! Haben keine Achtung mehr vor einem reichen Mann! Werden meine Herde abschlachten! Die Russen in der Festung sitzen im Schatten und dösen vor sich hin! Wozu haben wir die Russen, bei Allah? Wozu haben wir die Festung?“
Machmud ließ sich erschöpft auf die Kissen sinken. Er fingerte nach der Pfeife, zitterte und ließ sie endlich fallen, da er sie vor Erregung doch nicht zum Rauchen brachte.
Assad atmete auf, als er den Dicken vor sich hocken sah. Es konnte für ihn nicht mehr allzu gefährlich werden. Der Bewässerer war also schuld an Machmuds Wut.
Assad hatte den Bewässerer nur ein einziges Mal gesehen, doch dass der etwas Böses tun konnte, daran glaubte er nicht, bei Allah! Denn das eine Mal, da er dem Bewässerer begegnet war, hatte dieser ihm geholfen. Assad war damals, vor einem Vollmond etwa, mit dem Esel-Kambar vom Basar durch die schmutzigen Gassen nach Hause gelaufen. Er war sehr müde gewesen, denn er hatte den ganzen Tag auf dem Basar gestanden und musste den störrischen Esel hinter sich herziehen. Der Esel trug die Matten und Teppiche, die Machmud nicht verkaufen konnte. Der Händler war längst auf dem Falben vorausgeritten. Deshalb beeilte sich Assad, so schnell es der Esel zuließ. Er hatte die Leine über die Schulter gelegt, zog den Esel und starrte auf die Straße. Da ertönte hinter ihm wildes Geschrei, und als er sich umwandte, sah er, wie sich eine Meute Jungen im Staube balgte. Plötzlich durchfuhr ihn ein Schrecken, denn jetzt bemerkte er, dass sich der Riemen, mit dem der Ballen auf dem Esel befestigt war, gelöst hatte und die Gassenjungen sich um die Teppiche prügelten. In dem Augenblick war ein kleiner, flinker Mann aus seinem Lehmhaus getreten. Einer der Jungen bemerkte ihn gleich und stieß einen warnenden Pfiff aus. „Der Bewässerer! Der Bewässerer!,“ kreischten sie, ließen den Ballen fahren und liefen davon. Nur ab und zu sahen sie sich um, ob ihnen keiner folgte. Der kleine, flinke Mann mit dem schwarzen Kinnbart hatte den Ballen aufgehoben und am Esel festgeschnallt … Und auf diesen Mann schimpfte Machmud, selbst die Zarensoldaten in der Festung nannte er Nichtstuer!
Assad schrak aus seinen Gedanken hoch, als Machmud krächzte: „Du wirst gehen, sogleich!“
„Wohin?“, fragte der Junge bestürzt. „Auf die Festung?“
„Dummkopf! Auf die Festung gehen wir nicht. Da mischt sich Garifsian Machmud nicht ein. Dafür haben wir andere. Du gehst zu Abdul, warnst ihn! Er soll die Herde schleunigst zum Aktepe treiben. Hinterm Aktepe an das Wasserloch. Dort soll er bleiben, bis Allah das Ungeziefer erleuchtet und zur Vernunft gebracht hat. Eil dich!“ In Assads weit auseinanderstehenden Schlitzaugen blitzte die Freude auf. Zwar war der Mittag nahe, und die Sonne brannte, aber er würde durch diesen Auftrag vom Teppichhändler viele Stunden nichts sehen und hören.
„Mach schnell, du Erdlaus!“
Assad ließ sich das nicht zweimal sagen. Er schoss zur Tür hinaus und lief mit seinen bloßen Füßen die Gasse hinunter, um so schnell wie möglich dem Händler aus den Augen zu kommen.
Dort lag die Kurve, wo sich der Ballen damals gelöst hatte, und da stand das Haus, das der Bewässerer bewohnte.
Noch bevor es Assad erreicht hatte, hörte er den dicken Machmud schreien: „Assad! Komm heeer!“
Mit einem Ruck blieb der Elfjährige stehen. Also hat sich’s der Händler wieder einmal anders überlegt. Es wäre so schön gewesen, jetzt allein durch die Steppe zu streifen.
Gemächlich trabte der Junge zurück.
„Dummkopf!“, brummte Machmud. „Habe ich nicht gesagt, du sollst eilen? Da spazierst du auf deinen lahmen Füßen? Warum nimmst du nicht den Esel?“
Darauf wackelte Machmud in das kühle Lehmhaus.
So ritt denn Assad stolz und glücklich am Haus des Bewässerers vorbei, um die Kurve, dem Stadtrand zu. Hochmütig schaute er auf die spielenden verwahrlosten Kinder herab und auf die tief verschleierten Frauen, diese seelenlosen Geschöpfe, wie sie im Koran genannt wurden. Aber auf einem Esel saß man nicht sehr hoch, und Assad war nicht weniger schmutzig und ebenso kahl geschoren wie die Gassenjungen.
Die Lehmmauern der niedrigen, nach der Straße zu fensterlosen Häuser warfen die pralle Sonne zurück. Vom Fluss herüber trug der Wind den Geruch von Verwesung. Brav zuckelte Kambar voran, als wollte auch er schnell hinaus in die freie, weite Steppe. Assad trällerte vergnügt ein Lied.
Erst als er auf dem Steilhang angekommen war und die Lehmwälle der Festung sah, dachte er wieder an seinen Auftrag. So gut hatte der Tag begonnen.
Wie immer war er seit dem frühen Morgen auf den Beinen, hatte den Stall ausgemistet und die Pferde versorgt. Die Frauen des Händlers saßen in ihrem Raum und webten Teppiche. Das Gute aber war, dass Machmud nicht schalt und nörgelte wie sonst. Denn morgen sollte es in der Stadt im Hofe des Teehauses einen Wachtelkampf geben, und darauf freute sich Machmud heute schon. Das war sein größtes Vergnügen. Da konnte man leicht zu Geld kommen und auch mit seinem Reichtum protzen. Es war daher kein Wunder, dass der Tatar eine so ungewöhnlich gute Laune zeigte.
Dann aber war der Bursche gekommen, den Assad von vornherein nicht für einen Käufer hielt. Denn der Bursche mit der seltsam blassen Gesichtsfarbe kam nicht ruhig und gesetzt einher, sondern schlaksig und kriecherisch. Mit katzenfreundlichen Augen fragte er nach Machmud, und dieser hatte Assad gleich in den Hof geschickt, damit er dort Filz walke. Darüber war Assad sehr zornig gewesen, weil das nämlich Weiberarbeit ist und weil er nicht lauschen konnte. Der Blasse wurde von dem Teppichhändler sonderbarerweise auch nicht mit Tee bewirtet. Und als Garifsian Machmud endlich nach Assad rief, stand der Händler allein im Besucherraum und fluchte vor sich hin. Wennschon, dachte Assad und klatschte dem Esel auf den Hals. Das Gute daran war, dass er jetzt in die Steppe reiten konnte.
Die Stadt Ekibastus lag nun hinter ihm, in einer Talweitung, die der Fluss Tsei in den weichen Steppenboden gegraben hatte. Er versorgte die Einwohner mit Wasser, ermöglichte die Bewässerung kleiner Felder und das Gedeihen einzelner pappelähnlicher Bäume.
Rötlich lag die gewaltige Federgrassteppe vor Assad, in der Ferne in ein mattes Violett übergehend. Im Winde schien es, als striche eine Riesenhand Falten aus einem Seidentuch. Hier und da hatte sich in wilden Linien ein Graben, ein kleines Gewässer, eingefressen. Niemand wusste, woher es kam und wohin es ging, wie auch der Tsei irgendwo entsprang und irgendwo wieder versickerte.
Assad sang lauthals, dass es weit über die Einöde schallte. Um den Weg brauchte er sich nicht zu kümmern. Der Esel trabte allein dem Pfad nach, auf dem gewöhnlich Wanderer oder Karawanen zogen und deshalb dort keine Gräser und Kräuter mehr wuchsen.
Staksig schauten Assads nackte Beine aus der knielangen, ehemals blauen, jetzt längst verwaschenen Hose heraus. Die Arme schlenkerten übermütig aus den Löchern des losen Oberkleides. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißtropfen und liefen langsam über sein gelbbraunes Gesicht. So hätte er immer weiter reiten und singen mögen, immer weiter weg vom Haus des Händlers.
Einen Steinwurf entfernt sah er einen Pfeifhasen die Backen aufblasen. Assad glitt zu Boden und rutschte gewandt durch Gräser und Sträucher der Stelle zu, an der das Tier sitzen musste. Jagdeifer hatte ihn gepackt. An Stacheln riss er sich die Hände blutig, auch seine Hose musste ein Stück Stoff hergeben. Lange Grannen stachen ihn in die Kniekehle. Aber schließlich ging es um einen Pfeifhasen! Den konnte man bei Abdul braten! Das war mal etwas anderes als Fladenbrot oder Knoblauchsuppe! Auf einmal stieg eine Zwergtrappe mit hastigen Flügelschlägen vor ihm geräuschvoll in die Höhe. Der Hase spitzte die Ohren, dann sprang er davon, dreißig Fuß von ihm entfernt! Seine weiße Blume leuchtete, als wollte er Assad verspotten. Der Junge erhob sich und rieb sich die Knie. „Fahr zur Dusach!“, schrie er, obwohl er gar nicht wusste, ob es in der Hölle auch Pfeifhasen gäbe.
Während er zu dem gelassen wartenden Kambar zurücklief, fiel ihm ein, dass er den Hasen niemals hätte fangen können. Er besaß keine Feuerbüchse wie der tatarische Händler und auch nicht Pfeil und Bogen wie die Reiter Timurs, von denen die Käufer manchmal erzählten.
Die Sonne brannte auf seinen Rücken. Er hatte die Lust zu kleinen Abstechern verloren. Wenn er sich nicht beeilte, konnte es geschehen, dass er sogar vier Stunden brauchte, bis er die Stadt wieder erreichte. Was würde dann der Händler …?
Abdul musste mit den Schafen in einer Senke, in der Nähe eines Wasserloches sein. Nicht weit vom Wege erhob sich ein Hügel, von dem konnte er bestimmt gut die nähere Umgebung sehen. Er trieb den Esel hinan.
Als er auf der Kuppe des Hügels stand, sah er den Tsei, der sich wie eine Furche durch das Land zog, und die weißleuchtenden Lehmhäuser von Ekibastus. Der viele Schmutz in der Stadt war von hier aus nicht zu sehen. Auf der anderen Seite gewahrte Assad einen zum Himmel steigenden Rauchfaden und einen dunklen Fleck inmitten des rosigen Teppichs: die Herde mit Abdul, dem Hirten.
Da war Assad zufrieden. Er grub die nackten Fersen in die Weichen des Esels, so dass dieser in unregelmäßigen Sprüngen den Hügel hinunterstürmte. Assad wieherte wie eine Stute. Jetzt war er Timur, der große Khan, der vor unzähligen Geschlechtern fünfunddreißig Feldzüge gewonnen und Hindostan, Turkestan und viele, viele andere Länder erobert hatte. Bestimmt war er am Ende der Welt gewesen, und vielleicht sogar in Mekka, der heiligen Stadt, die in der Richtung lag, wo die Sonne des Mittags stand.
Assad brauchte keinen Weg mehr. Deutlich erkannten seine scharfen Augen einzelne Tiere der Herde, den Hund, den Esel und auch den alten Abdul. Da – ein kleiner Graben! Für Assad wurde er zum Festungsgraben der Stadt Byzanz. Ein Sprung hinüber! Ein verruchter Türke, und da noch einer! Geh zum Scheitan! Assad fuchtelte wild, als hiebe er mit dem Krummschwert auf die Feinde ein. Machmud hätte ihm den Falben geben können. Schon oft war Assad geritten, jedoch immer auf dem Esel. Ein Pferd war nichts für einen Diener. Der Hund kam ihm bellend entgegengelaufen.
„Karaul, Karaul!“ Flink stieg der Junge ab und streichelte den Kopf des Tieres. Der Hund sprang an ihm empor, klopfte mit dem Schwanz den Boden und stieß die Schnauze in Assads Hand. Assad und der Hund waren gute Freunde. Das war keineswegs selbstverständlich. Denn der Hund war misstrauisch gegen jeden. Selbst den Händler knurrte er böse an. Er war groß und kräftig. Im vergangenen Herbst hatte er erst einen Wolf totgebissen, einen Einzelgänger. Das war ein Kampf gewesen! Karaul war ein guter Wächter. Das letzte Stück hetzten die beiden nebeneinanderher, während sich der Esel Kambar Zeit ließ. Der Hund lief hechelnd nach einem Schaf, das sich zu weit abgesondert hatte. Assad stand nach Luft schnappend vor dem Hirten. „Du hast ja nicht einmal Atem für ein Salam“, rief der Alte. „Ich sah dich schon eine ganze Weile herumspringen wie einen tollen Wolf.“
Als Assad den Hirten zum ersten Mal gesehen hatte, bekam er Furcht vor dem pockennarbigen, breitknochigen Gesicht, doch das war lange her. Jetzt lachte er ihn an und erklärte stolz: „Ich bin Timur, der große Eroberer!“
Abdul winkte ab. Er trug einen gestreiften wattierten Mantel, den Khalat, und eine weiße Filzmütze, die von seinem braunen Gesicht genauso abstach wie der dünne, weiße Kinnbart. Auch sein tief herabhängender Schnurrbart war weiß. Seine Beine steckten in großen Lederstiefeln.
Spöttisch sagte er: „Du wärst höchstens ein Knecht Timurs. Denn er selber konnte bestimmt nicht so springen. Er heißt doch Tamerlan der Lahme, weil er in einem Kampf am Bein verwundet wurde. Aber warum jagst du den armen Kambar zuschanden?“
Assad überschaute die Herde, das Zelt, die Mulde. Alles gehörte Machmud, selbst der alte Abdul. Aber die Mulde eigentlich nicht. In der Steppe gab es tausend Mulden, und tausend Herden konnten satt werden.
„Du sollst weitertreiben, schnell sollst du treiben, Abdul. Zum Wasserloch am Aktepe sollst du die Herde bringen.“
Der Alte blinzelte verwundert. „Da jagst du dich ab? Am Aktepe ist alles kahl wie das Kinn eines Ungläubigen. Ein Steppenbrand hat das Gras vernichtet.“
„Ja, dann …“ Assad sah nachdenklich zu Boden. „Dann weiß ich auch nicht. Du sollst doch die Herde retten!“
Abdul stutzte. „Die Herde? Ja, wieso? Ist sie denn bedroht? Wasser haben wir, und Kräuter gedeihen hier. Der Händler kann zufrieden sein.“
„Aber Machmud sagt doch, der Bewässerer will die Herde abschlachten.“
Abdul brach in ein schallendes Gelächter aus. „Hahaha, nein! Bei Allah, das ist ein Witz.“ Die Tränen rannen ihm beim Lachen über die Wangen, so dass auch Assad lächeln musste. Der Junge aber wurde gleich wieder ernst. Denn da lachte noch einer mit, ganz tief: „Hohoho!“
Woher kam das nur?
„Hahaha!“, wieherte Abdul. „Der Bewässerer schlachtet die Herde ab!“
„Hohoho!“, kam das Echo. Aus dem Zelt kam es. Assad hatte es deutlich vernommen.
„Hast du das gehört, Matkerim“, schrie der Pockennarbige lachend. „So etwas vertreibt den stärksten Schlaf. Hast du gehört, du schlachtest die Herde ab.“
Assad aber traute seinen Augen nicht. Denn aus dem Zelt kroch der Bewässerer.
„Ach, du bist das!“, rief der Mann und klopfte sich mit der Samtmütze die Halme von der Hose.
Matkerim, der Bewässerer, war nicht groß, doch von kräftiger Gestalt. Sein schwarzer Bart war nur kurz, und auf seiner braunen Stirn standen viele kleine Falten.
„Ihr beide seid ja schöne Spaßvögel“, rief er, „der große und der kleine Machmud, der dicke und der dünne!“, hier lachte der Bewässerer wieder und warf seine Mütze zu Boden, die doch mit den schönen Adlerdaunen daran viel zu schade dafür war. „Hat sich dein Vater neulich gefreut, dass du die Teppiche sicher nach Hause gebracht hast, he?“ Er musste immer noch lachen.
Assad sagte leise: „Machmud ist nicht mein Vater.“
„Er ist der Diener des Händlers“, ergänzte Abdul, „seine Eltern sind bei Allah.“
„Ach.“ Der Bewässerer wurde ernst und etwas verlegen. „Das tut mir leid, Junge, das habe ich nicht gewusst.“ Das sagte er so herzlich, dass ihm Assad nicht böse sein konnte.
„Assad heißt er“, erklärte der Hirt.
„Assad. Also dann auf gute Freundschaft.“ Der Bewässerer ging auf den Jungen zu und gab ihm die Hand. Und das war das erste Mal, dass ihn ein Erwachsener wie seinesgleichen behandelte. Nur tief in seinem Inneren saß noch ein Rest Misstrauen.
„Du willst also der Herde wirklich nichts antun?“
Jetzt lachte der Bewässerer nicht mehr. „Das ist erlogen.“
„Und du willst hier auch keinen Graben ziehen, damit der Tümpel ausläuft?“ Assad wies auf die tiefste Stelle der Mulde, wo der Tümpel mit Feldsteinen eingefasst war. Sein Wasser war so klar, dass man die bunten Steinchen auf seinem Grunde sehen konnte.
„Erlogen, erlogen. Ich bewässere nachts die Felder am Damm oberhalb von Ekibastus. Das ist ein weiter Weg in die Stadt. Deshalb krieche ich zum Schlafen bei Abdul unter. Daraus lügen sie sich etwas zusammen.“
„Und zum Essen kommt er auch“, der Hirt schmunzelte. „Essen müssen wir, bei Allah. Ich bin hungrig wie ein Wolf. Ich glaube, ich bereite das Essen.“ Eilfertig schlurfte er hinüber zur Feuerstelle.
Kritisch fragte Assad: „Wie können sie aber so etwas über dich zusammenlügen?“
Der Bewässerer hockte sich auf die Erde. „Setz dich zu mir, Assad. Das ist nämlich eine schwierige Geschichte.“ Dann erzählte er: „Ich habe bei meiner nächtlichen Arbeit viel Zeit zum Nachdenken. Ich stapfe durch Schlamm. Die Mücken umschwirren mich. Ich öffne und schließe Gräben und bewässere die Melonen und Gurken und den Mais, eben alles, was da wächst. Dabei habe ich mir ein Grabensystem ausgedacht, das auch die höher gelegenen Felder mit Wasser versorgen könnte und die Ernte dann bedeutend ertragreicher macht. Die Felder, die ich bewässere, gehören meist den armen Bauern. Die großen Landbesitzer haben alle eigene Quellen und Tümpel, wie Machmud diesen hier. Woher? Von Allah nicht! Sie brauchen das Grabensystem nicht, sie haben genug Wasser und gute Ernten. Sie sind nun wütend, weil die Ärmeren große Ernten haben könnten. Sie fürchten, dass ihnen dann auf dem Basar und mit den Karawanen die Geschäfte entgehen, vor allem die mit den russischen Händlern.“
„Aber“, fragte Assad verwundert, „die Russen sitzen doch in ihren Festungen schön im Schatten und dösen vor sich hin?“
Der Bewässerer lächelte und erklärte dem Jungen: „Das sieht nur so aus. Die Russen begünstigen die reichen Grundbesitzer und beherrschen mit ihrer Hilfe das Land. Und viele, die in diesem Zarenstaat leben, Kirgisen, Kasachen, Tataren, kriechen vor den zaristischen Kommandanten und Offizieren, um das Volk betrügen zu können und ohne Arbeit reich zu werden. Die Russen werden wohl nichts gegen unsere Gräben haben. Reiche Leute aus unserem eigenen Volk verbreiten die Lügen. Ich sprach mit den armen Bauern. Sie sind begeistert. Noch ehe der Mond abnimmt, gehen wir an die Arbeit und ziehen die Gräben, damit alle Felder trinken können.“
Ja, das war eine Sache. Am liebsten hätte Assad dabei mitgeholfen. Gräben ziehen war besser als Filz walken und Wandschirme flechten. Gräben ziehen war keine Weiberarbeit.
Abdul schrie herüber: „Essen kommen, los!“
Der Bewässerer stand sofort auf. Sicherlich hatte er großen Hunger. Assad erhob sich zögernd. „Ja, dann werde ich wohl gehen“, sagte er unschlüssig und schielte nach dem dampfenden Kessel. Nicht nur der Bewässerer hatte Hunger. Der Bewässerer zog ihn am Arm. „Wir sind nicht im Fastenmonat. Komm essen, Assad.“
Der Junge zögerte. „Ich werde zu spät in die Stadt kommen.“
Aber jetzt drängte auch der Hirt. „Du wirst eine halbe Stunde später von hier aufbrechen und jagen wie Timurs Hengst. Oder magst du nicht essen?“
Assad dachte an den weiten Weg zurück, an seinen knurrenden Magen, an den Pfeifhasen, den er gern gebraten hätte. „Essen mag ich schon, aber …“ Dabei ging er bereits auf das Feuer zu.
„Aber die Prügel, stimmt’s?“ Abdul kramte in einer kleinen Kiste, die hinter einem Windschutz stand. Er zog nicht mit einer Jurte umher. Er weilte ständig in der Nähe der Stadt. Sein Zelt hier war schnell auf- und abgebaut. Ein Esel konnte es leicht tragen. Vor dem Zelt brannte das Feuer, von dem Assad den Rauch von weitem gesehen hatte.
„Du kommst früh genug nach Hause“, krächzte Abdul, während er mit Büchsen und Näpfen hantierte. „Wenn du erzählst, dass du beim alten Abdul bereits gegessen hast, ist dir der Geizkragen Machmud sogar noch dankbar.“ Der Alte nahm von dem Haufen trockener, abgestorbener Sträucher, die er in der Umgebung gesammelt hatte, und legte sie auf das Feuer.
Assad hockte sich nur zu gern hin.
„Du musst nicht Eroberer spielen, Assad!“, sagte der Hirte plötzlich. „Eroberer, das sind solche wie Garifsian Machmud, grausam, kalt, ohne Mitgefühl für die Armen. Timur war grausam, und der russische Zar, den wir jetzt haben, ist grausam.“
Während er sprach, knetete er zähen, grauen Teig. Das Wasser im Kessel dampfte. „Seine Festungen stehn im Land, und die Herden der Kasachen werden geplündert.“
Der Hirt drehte und faltete den Teig, zog ihn mehrmals lang. Assad lief das Wasser im Munde zusammen. Das wurden Lapscha!
Abdul sagte: „Alles allein musst du heute machen. Keiner hilft dir. Manchmal wäre ein Zauberer gut, einer, der die Armen reich macht. Doch das gibt es bloß in den Märchen.“
Assad schaute lächelnd auf den Bewässerer, der neben ihm saß. Der hatte ihm gerade erzählt, wie die armen Bauern zusammen arbeiten und sich gegenseitig helfen wollten. Der hatte ihm auch erklärt, wie die Armen reicher werden konnten. Das war kein Märchen! Aber, ein Märchen wäre jetzt nicht übel. Da verginge die Zeit, bis das Essen endgültig fertig war. „Erzähl ein Märchen, Abdul.“
Der Alte ließ sich nicht lange bitten. Leise begann er: „Ich will dir erzählen, wie die Stadt Ekibastus entstanden ist. Höre wohl, Assad.
Vor langer, langer Zeit, noch bevor die Horden Dschingis Khans über die Steppen stampften, lebte die Schlange Tsei zum Schrecken der Nomaden zwischen den beiden großen Seen. Sie war so groß, dass sie ihre Schwanzspitze im Aral badete, wenn sie aus dem Balchasch trank. Sie war unersättlich in ihrer Gier. Im Winter wehte ihr Eisatem, und ihr Geifer gefror zu tausend Eiskörnern. Im Sommer wehte ihr Glutatem, und ihr Geifer waren tausend Feuerfunken. Sie fraß die Schafe, Kamele, Esel, Pferde und Hammel. Sie fraß die Baschkiren, Kirgisen, Tadshiken und Kasachen mitsamt ihren Jurten, Lehmhäusern und Zelten. Die Brunnen verdorrten oder froren zu. Große Not hielt überall Einzug.
Inmitten der Steppe wohnte der junge, arme Kasach Nurman. Seine Eltern waren lange tot, seine Herde war dünn wie das Haar auf dem Schädel eines Greises.
Eines Nachts weckte ihn das Knurren seines Hundes. Ein Greis stand vor der Jurte. Kalt fuhr der Ostwind durch seine Lumpen.
‚Lass mich bei dir übernachten‘, bat er, ‚morgen will ich weiterziehen.‘ Der Kasach Nurman hieß ihn willkommen und entfachte ein Feuer, um dem Wanderer eine Schale Tee zuzubereiten. Da erschrak er, und seine Hand mit dem Kupferkrug zitterte.
Das Feuer beleuchtete das Gesicht des Alten. Es war vom Aussatz zerfressen.
Der Wanderer murmelte müde: ,So will ich weiterziehen, da du mich nicht beherbergest.‘ Er schickte sich an, die Jurte zu verlassen.
Da rief Nurman: ,Bleib, wärm dich, trink und schlaf! Du bist mein Gast, so lange du willst. Es gibt nur ein Wesen, das ich nicht willkommen heißen würde und das schlimmer ist als der Aussatz: die Schlange Tsei!‘
Die beiden legten sich auf die ärmlichen Matten und schliefen. Als Nurman am Morgen erwachte, lag neben ihm ein alter, weißbärtiger Mann mit schönem, ebenmäßigem Gesicht und reichen Kleidern.
,Was staunst du?‘, fragte der, ohne die Augen zu öffnen.
,Wo ist mein Gastfreund von gestern, und wie kommst du in meine Jurte?‘
,Ich bin dein Gastfreund von gestern‘, sagte der Greis. ,Ich bin der Zauberer Tussup Weißbart.‘ Damit erhob er sich. ,Da du mich aufgenommen hast und mich nicht verstießest, soll dir ein Wunsch erfüllt werden.‘
,Was soll ich mir wünschen?‘, entgegnete Nurman. ,Ich habe eine Jurte zum Wohnen und bin gesund.‘
‚Willst du Vieh? Soll ich deine Jurte vergolden? Oder willst du ein Pferd, das nie ermüdet?‘
Da rief Nurman: ‚Nichts von dem will ich. Aber wenn ich einen Wunsch habe, dann ist’s dieser: Töte die Schlange Tsei, damit die Menschen aufatmen können!‘
,Du hast klug gewählt, Nurman‘, sagte der Zauberer Tussup Weißbart. ‚Die Schlange wird sterben und die ernähren, die sie vordem gewürgt hat.‘
Damit verließ er die Jurte und stieg auf ein prachtvolles Ross, das draußen graste. Nurman schaute ihm nach, wie er über die Steppe hinwegbrauste. Als der Zauberer am Horizont verschwunden war, erbebte die Erde, und Feuer fuhr zum Himmel. Überall verbreitete sich die Kunde: Die Schlange Tsei ist tot. Der Zauberer Weißbart hat sie getötet, und der Hirt Nurman hat es sich gewünscht.
Alles wurde so, wie es der Zauberer gesagt: Die Schlange wird die nähren, die sie gewürgt hat. Denn die Schlange wurde der Fluss Tsei, und alles, was sie verschlungen hatte, die Kirgisen, Baschkiren und Kasachen mit ihren Jurten und Lehmhäusern, war wieder da. So entstand die Stadt Ekibastus mit ihren Bewohnern. Der Tsei nährte sie, bewässerte ihre Felder und tränkte ihre Herden. Der Hirt Nurman aber wurde in dieser Stadt zum Khan gewählt.“
Abdul hatte seine Erzählung beendet. Er tauchte den Teig in die kochende Brühe. In wenigen Minuten war er gar.
Noch als sie die brennend scharfen Lapscha aßen, betrachtete Assad das von Narben entstellte Gesicht Abduls, ob nicht Tussup, der weißbärtige Zauberer, dahintersteckte. Dann sah er wieder zu Matkerim, der klug war wie Nurman und das Wasser zwang. „Ich werde nun Nurman sein, wenn ich wieder einmal spiele, oder der Zauberer. Denn ich bin auch ein Kasach.“
Er schlug sich an die Brust.
Abdul lachte. „Du bist ein Kasach, und ich bin ein Kirgis. Doch dein Hunger ist der gleiche wie der meine.“
Assad sagte sehnsüchtig: „Ich möchte fort, in die Steppe, nicht mehr in einem Lehmhaus wohnen, sondern in einer Jurte wie Nurman.“
Sie schwiegen alle drei, ihren Gedanken nachhängend. Abdul blickte über die weidenden Schafe, die Ginsterbüsche und die Federgräser. Immer weiter wanderten seine Augen, bis dorthin, wo im fernen Dunst der Himmel die Erde berührte.
„Bist du satt?“, fragte er barsch. „Nein, fortziehen darfst du nicht. Das sind alles Träume. Ich verstehe dich nur zu gut. Viel zu nahe ist mir die Stadt. Aber ich bin zu alt. Du bist zu jung. Deine Eltern sind tot, und die Steppe ist ohne Weg und Steg.“ Er stand auf und ging zum Wasserloch.
„Später einmal kannst du gehen“, tröstete der Bewässerer. „Wenn du älter bist. Aber wenn du jetzt in die Steppe gehst, wird sie dich verschlingen. Es gibt zwar keine Schlange Tsei mehr, aber den Staubsturm und den Schneesturm, Wölfe und Geier und das Schlimmste: Zarensoldaten. Es ist nicht gut, allein in die Steppe zu gehen.“ Er schöpfte behutsam Wasser, um sich die Hände zu waschen. „Nun lauf zum Händler, schnell, sonst wird es zu spät.“
Assad schaute versonnen in die Weite. Ja, es war wohl Zeit zu gehen. Aber nicht hinaus in die freie Steppe ging es, sondern zurück zu Machmud.
Er zog die rutschende Hose hoch. Nachdenklich wischte er sich die Hände daran ab. Sie büßte dadurch nicht viel an Schönheit ein. Leise sagte er: „Allah segne dich, Abdul. Ich danke dir, Matkerim.“
„Brauchst ja nicht gerade zu erzählen, dass du mich hier getroffen hast!“
Assad schüttelte den Kopf. Was der Bewässerer von ihm dachte! Dann trabte er auf Kambar davon.
Als er den Hügel hinter sich hatte, lag vor ihm Ekibastus, die Stadt am Tsei. In der Talweitung nährte die Schlange die Menschen. Hier hatte einst der Kasach Nurman als kluger Khan geherrscht.
Als Assad zurückkehrte, war der dicke Machmud besser gelaunt. Denn der Händler hatte unerwartet eine Beschäftigung bekommen, die für ihn sogar noch schöner als Essen war: Er verkaufte einen Teppich. Gerade als Assad aus dem Stall trat, in dem er den Esel Kambar festgebunden hatte, kam der Fremde. Jetzt saß dieser mit Machmud bereits geraume Zeit beisammen, während Assad sie vom Gang aus durch ein Loch im Vorhang beobachtete.
„Du kannst zufrieden sein, Osman. Feinere Teppiche findest du nicht zwischen Aral und Balchasch“, rief Machmud, wobei er den Käufer schlau anblinzelte. Kräftig schüttelte er beide Hände des Gastes. Assad atmete auf. Also war der Kauf endlich abgeschlossen.
„Möge dir das Geld Freude bringen“, erwiderte der mit Osman Angesprochene, „so wie ich mich an deinen herrlichen Matten ergötzen werde.“
Es war dunkel geworden. Nur noch wenig Licht fiel durch das einzige Fenster in der Lehmwand. Sie saßen mit untergeschlagenen Beinen auf Teppichen und Kissen, mit denen der gestampfte Lehmfußboden bedeckt war. Aus der Vertiefung in der Mitte des Bodens leuchtete in mattem Rot die letzte Glut des Holzkohlenfeuers und überzog Gesichter und Hände der Männer mit einem rosigen Schimmer. Der kleine Star hinter dem Perlennetzwerk in dem halben Kürbis am Fenster pfiff leise wie im Schlaf. Assad gähnte.
„He, Junge!“, rief Machmud, in die Hände klatschend. „Den Tee!“ Assad dehnte die Arme. Jetzt gab es Arbeit. Und er wäre beinahe eingeschlafen! Schnell packte er das niedrige, runde Tischchen, das hinter ihm stand. Jetzt durfte er sich keine Müdigkeit anmerken lassen. Das Tischchen mit der Platte vor sich hertragend, wollte er in das Zimmer treten. Verwünschter Vorhang! Assad schwitzte. Die Tischbeine mussten sich in dem Stoff verfangen haben. Der Vorhang bewegte sich wild hin und her.
„Tölpel!“, kollerte der Händler schon. „Nichtsnutz!“
Endlich konnte sich der Junge aus den Falten befreien. Mit einem würdigen Gesicht, so wie er es bei Machmud gesehen hatte, trat er ein. Ruhig entbot er dem Gast seinen Salam. Dann setzte er das kniehohe Tischchen über die Bodenvertiefung.
Der Star begann bei seinem Eintritt lustig zu pfeifen. Assad verbeugte sich an der Tür und verschwand erleichtert hinter dem Vorhang. Er spitzte die Ohren, während er nach dem Tee lief. Sicher würde ihn jetzt der Händler vor dem Fremden schelten.
„Dein Sohn ist gut erzogen“, lobte Osman, „dein alterndes Auge wird seinen Anblick trinken wie das Stachelkraut den Regen.“ Er hüllte sich dichter in den braunen Mantel. Noch waren die Abende kühl.
Der alte Machmud griff sich unwillig an seinen dünnen Spitzbart. „Er ist nicht mein Sohn. Er ist mein Uschak. Allah hat mir drei Frauen geschenkt und einen Tagedieb ins Haus geschickt.“ Er blickte auf. Assad stand mit Kanne und Tassen an der Tür. Garifsian Machmud winkte mit einer herrischen Gebärde. Flink stellte der Junge die Gefäße auf den Tisch, während ihm die beiden Männer schweigend zusahen. Der Tee dampfte wärmeverheißend in den tönernen Schalen und füllte den Raum mit einem aromatischen Duft.
„Ein heißer Tee ist wie der Anblick des Jurtenfeuers nach einem Steppenritt im Winter.“ Osman hielt die Tasse zwischen Daumen und Zeigefinger und schlürfte das warme Getränk. Sein faltiges, braunes Gesicht verzog sich zu einem behaglichen Schmunzeln. Wenn er trank, sah es aus, als gösse er den Tee in seinen grauen Bart. Der Schnauzbart ging so in die Kinnhaare über, dass man seinen Mund nicht sah.
Garifsian Machmud blickte ihn zufrieden an. Es war ein gutes Geschäft gewesen: Neunzig Rubel für zwei kleine Teppiche, kaum drei Arschin lang und zwei Arschin breit. Freilich hatte er noch eine Matte dazugeben müssen. Er streichelte den Beutel mit den Münzen, der in den Falten seines weiten, gestreiften Khalats völlig verschwand. Mit nicht minderem Behagen als der Gast trank er in kleinen Schlucken. Assad stand wieder in dem engen Gang hinter dem Vorhang. Der Fremde hatte es ihm angetan.
Hier stand Assad jedes Mal, wenn ein Käufer zu dem tatarischen Händler kam, und das war nicht selten. So wartete er auf Machmuds Wink, um den Tee zu bringen, auf die Mischalle, eine mit Honig zubereitete Schaumspeise, wenn das Geschäft gut gewesen, und auf die Schläge, wenn der Käufer, ohne etwas zu erhandeln, wieder gegangen war.
Assad trat von einem Bein aufs andere. Denn der Lehmboden war für nackte Füße noch etwas kalt. Der Händler hatte Schafwollschuhe an und saß auf einem Teppich. Der fror sicher nicht. Heute hatte es besonders lange gedauert, heute würde es Mischalle geben. Denn lange Geschäfte gingen immer gut aus,
Was tat es, wenn er eine halbe Stunde wartete oder zwei oder drei? Ihm wurde es nicht langweilig. Die Hände verbarg er in dem geflickten Kaftan, um sie zu wärmen. Ab und zu lief er in den kleinen Raum am Ende des Ganges, wo das Teewasser bereitstand und die Vorräte lagen: Fett, Hammelfleisch, Melonen und Kumys, ein Getränk, das so würzig schmeckte. Nur einmal hatte er verstohlen daran genippt, als er den Tee für einen Käufer zubereitete. Zu einer anderen Zeit durfte er diesen Raum nicht betreten, denn Patma kochte dort das tägliche Essen. Sie saß jetzt mit den beiden anderen Frauen in einem Raum, den sie nicht verlassen durften, wenn ein Fremder im Haus weilte. Assad hörte sie von dorther leise und lang gezogen singen. In diesem Raum war er in den fünf Jahren seines Hierseins noch nicht gewesen. Oh, der Tatar Garifsian Machmud war reich: Ein großes Lehmhaus mit drei Räumen und einem Gang besaß er. Ein schöner Hof, von hohen Lehmmauern umgeben, lag dahinter. Dann gehörten ihm noch die Pferde, Schafe, Kamele und Esel!
Die Anzahl der Tiere wechselte ständig, je nachdem, ob die Kunden mit Rubeln oder Tieren bezahlten und wie viel der Händler davon wieder verkaufte oder tauschte. Auch dass Garifsian Machmud drei Frauen besaß, Aischa, Patma und Mura, war ein untrügliches Zeichen für seinen Reichtum.
Nein, Assad wurde es gewiss nicht langweilig. Oft erzählten die Fremden wunderbare Geschichten: von der Steppe, die sich endlos rings um die Stadt ausdehnte, von Wölfen und Schneestürmen und von den Basmatschis, den Räubern. Darum stand Assad hinter dem Vorhang, beobachtete und lauschte.
Der Fremde musste ein Kirgise sein, denn er trug eine blaue, bestickte Kappe. Sie sah so neu aus, dass sie gar nicht zu dem abgetragenen Mantel passte.
Er saß auf dem rechten Fuß und stützte seinen Arm auf das hochgezogene linke Knie. Gerade wischte er sich die Tropfen aus dem Bart und sagte: „Den Tee versteht dein Assad zuzubereiten, Maschallah!“ Der Junge wurde hellwach, als er seinen Namen hörte.
„Verzeih, wenn es auch nur dein Uschak ist und nicht dein Sohn!“ Das Lob des Käufers tat Assad wohl. Es war, als hätte er ein Geschenk erhalten. Er lächelte ihm durch das Loch im Vorhang zu und wünschte, ihm seine Dankbarkeit beweisen zu können. Durch die barsche Art des Händlers war er nicht mit Zärtlichkeiten verwöhnt. Gespannt stand er an seinem Platze und vergaß ganz die Kälte an den nackten Füßen. Da vernahm er die Stimme Machmuds. „Fünf Jahre habe ich ihn schon, aber er ist tappig wie eine Blindmaus in der Sonne und lahm wie ein angeschossener Falke. Immer bloß in den lieben langen Tag hineinschlafen, Fladenbrot und Lapscha in Unmassen vertilgen und bei jedem Arbeitchen, das ich ihm auftrage, knurren!“ Assad stieg die Zornröte ins Gesicht über diese unverschämten Lügen. Allah sollte ihn strafen! Verbot nicht der Koran das Reden der Unwahrheit? Hatte Machmud aber nicht schon Lügen über den Bewässerer verbreitet?
„Wenn dein Uschak ein solcher Scheitan ist, weshalb hast du ihn aufgenommen?“, fragte Osman listig. „Wenn du den Wolf selbst in deinen Aul lässt, so wundere dich nicht, wenn er deine Herde rauft.“
„Allah hat mich gestraft. Kein Sohn wurde mir geboren. Alles nur Töchter. Fünf seelenlose Langhaarige! Zur Dusach mögen sie fahren! Meine Mühe hatte ich, dass ich sie gegen ein gutes Brautgeld wieder aus dem Haus bekam. Jetzt hat sie der Steppenwind überallhin verstreut wie die Samen der gelben Distel. Mein Haus wurde einsam, als sie, eine nach der anderen, heirateten. Das Brautgeld, das ich von den Schwiegersöhnen bekam, war bald vertan.“
„Fünfmal ein Brautgeld erhalten, jedes Mal vielleicht zwanzig Pferde oder hundert Schafe – ai, ai, wie bist du reich, Machmud!“
Der Händler war ins Reden gekommen. „Vor fünf Jahren rüstete ich eine Karawane nach Taschkent aus. Dort waren Tausende am Verhungern. Eine Mutter hat mir den Jungen geschenkt, damit ich ihn nähre. Ich habe ihn genommen und damit ein Allah wohlgefälliges Werk getan.“
Der magere Junge stand und lauschte. Dass seine Eltern nicht mehr lebten, wusste er. Aber würde er endlich mehr über sie erfahren?
„Mögen dir deine Kinder später dafür einmal ein würdiges Totenfest ausrichten. Aber er ist doch kein Usbek oder Tadshik?“ Der Fremde setzte die leere Schale verkehrt auf den Tisch zum Zeichen, dass er nicht mehr trinken wollte.
„Er ist ein Kasach aus der Mittleren Horde nördlich der beiden großen Seen. Seine Mutter hatte es nach dem Süden verschlagen. Alles ist vorgezeichnet.“
Osman kraulte sich nachdenklich den Bart.
Assad hatte die Finger in den Stoff seines weiten Gewandes verkrampft. Aufgeregt schluckte er. Sein Kopf war heiß. Ein Gefühl der Dankbarkeit überkam ihn, wenn er daran dachte, dass ihn ein wildfremder Mensch vor dem Verhungern bewahrt hatte. Aber dann fiel ihm das andere ein. Wer ihn jetzt gesehen, hätte gestaunt über seine wütenden Augen. Vor dem Verhungern hatte ihn Machmud bewahrt, aber nicht vor dem Hungern. Und was war mit seiner Mutter? Hatte es für sie nichts mehr zu essen gegeben? Auch heute Abend würde er wohl Prügel statt Schaumspeise bekommen, trotz des guten Geschäftes. Denn der Tatar war durch die vielen Fragen des Fremden zornig geworden. Assad holte sich am Ende des Ganges Filzmatte, Schlafrolle und Decke, dann rollte er müde die Matte neben der Tür auf. Es kümmerte ihn heute nicht, dass es ihm verboten war, sein Lager aufzuschlagen, bevor Machmud zur Ruhe gegangen war. Prügel würde es so oder so geben.
Assad zog die Füße unter den Leib. Von der Tür, die zum Hof führte, zog es kalt herein. Die Frauen sangen immer noch. Bisch, der Star, war nicht mehr zu hören.
Um so lauter sprachen die beiden Männer. Ein Streifen Mondlicht fiel durch einen Türspalt in den Gang.
„Alles steht im Buch des Lebens verzeichnet. Kismet.“ Machmud gähnte.
Osman sagte versonnen: „Einen solchen Jungen wie deinen Assad könnte ich gebrauchen … Vom Norden stammt er, und nach dem Norden werde ich ziehen, sobald die Sonne aufgeht.“
Der Händler brauste auf. „Da wird nichts draus. Der Junge bleibt.
Was willst du im Norden, wenn deine Herden am Rande der Schneeberge stehen? Was willst du mit einem solchen Taugenichts?“
Osman lächelte. Dann sagte er ernst: „Böse war der Herbst vor zwei Jahren. Die Seuche riss mir die Schafe wie der gierigste Wolf. Der Winter aber war die Hölle. Es hörte nicht auf zu schneien. Die Tiere scharrten vergeblich den Schnee zur Seite und fanden doch nicht bis zum Boden. Und als es taute, gefror es gleich darauf, so dass eine Eisschicht das Weiden unmöglich machte. Die Geier hatten ein prächtiges Mahl. Die Gebeine meiner Herde wiesen dem Wanderer den Weg zu meiner Jurte. Ich wurde ein Hirt ohne Herde.“
„Und da willst du den Jungen haben?“, fragte der Händler großspurig. Osman seufzte. „Wenn ich meine Herde noch hätte …“
Staunend hörte Assad zu. Da war ein Mensch, der freundlich zu ihm war, der ihn haben wollte!
Machmud fragte gierig: „Du hast aber doch gute Rubel?“
Osman erklärte geduldig: „Im Norden graben die Fremden aus Anglistan und Frankistan nach brennenden Steinen. Dort habe ich meine Jurte aufgestellt und gearbeitet. Nun will meine Tochter heiraten, und diese Teppiche sollen ihr Haus schmücken.“
Assad lauschte begierig. Wie mochten sie wohl aussehen, die Anglistaner und die Frankistaner und die brennenden Steine? Einmal war ein Kosak bei dem Händler gewesen, der große blaue Augen und einen dichten blonden Bart hatte. Seine Haut war bleich gewesen. Sonderbar erschien dem Jungen das. Seitdem dachte Assad, alle Fremden, alle Menschen, die im fernen Europa lebten, würden aussehen wie der Kosak. Brennende Steine aber konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Holz brannte, auch Saksaul, und Kameldung gab ein Feuer, an dem man einen Hammel kochen konnte. Aber brennende Steine? Osman betrachtete die roten, mit kunstvollen Mustern versehenen Teppiche aus Kamelhaarwolle. Dann legte er sie übereinander, obenauf noch die Filzmatte, und rollte alles zusammen. „Ich nehme deine wertvolle Zeit schon viel zu lange in Anspruch, Händler. Ich muss morgen früh aufbrechen.“
Auch der Händler hatte sich erhoben. In seinem langen Khalat wirkte er riesig und massig. Das Feuer im Becken war gänzlich erloschen. Der Mond erhellte den Raum mit seinem fahlen Licht. „Wenn du nicht schon einen Gastfreund hättest, würde ich dich bitten, bei mir zu übernachten.“ Es kostete den dicken Machmud viel Überwindung, dies zu sagen.
Osman schob die Kappe zurecht. „Ich danke dir. Ich will meinen Schwiegersohn, den Fladenbäcker Abuisch, nicht kränken.“ Machmud gähnte unverhohlen. Dann schrie er „Assad!“
Der Junge auf der Filzmatte hinter dem Vorhang fuhr aus seinem Grübeln hoch. Hatte er alles richtig vernommen oder nur geträumt? Trotz seiner Müdigkeit sprang er wie ein Wiesel in die Höhe. Auf einen zweiten Ruf wollte er es nicht ankommen lassen. Er schlüpfte durch die Tür. Machmud trat bereits mit dem Fremden auf die Straße. In einer breiten Bahn drang die Kühle der Nacht in den Raum.
Assad klemmte flink die Teppichrolle unter den Arm. Dann eilte er hinterher. Die Straße war mondhell. Ein Fuhrwerk, das zwei mächtige Räder besaß, stand vor dem Haus: die Arba des Fremden. Der Junge warf die Rolle in den Kasten. Jetzt musste er das Pferd holen. Mit einem großen Schlüssel öffnete er den Stall, der sich am anderen Ende des Gebäudes befand. Warm war es darin. Es roch nach Dung, Schweiß und Wolle. Ketten klirrten leise. Die Pferde schnoben, als so spät noch jemand zu ihnen kam. Assad rief die Tiere beim Namen, damit sie nicht erschraken. Rasch band er die braune Stute des Gastes von der Wand los und führte sie hinaus. Sie hatte einen wunderbaren weißen Stern auf der Stirn. Nur der Esel und drei Pferde standen jetzt im Stall. Die vierzig Schafe befanden sich in Abduls Obhut.
Die Lapscha hatten gut geschmeckt. Und der Bewässerer stapfte wohl wieder durch Schlamm und Gräben.
Der Fremde und der Händler standen im Gespräch an der Tür. Als Assad mit dem Pferd nahte, ließ Osman den Tataren stehen, um die gabelförmige Deichsel hochzuheben. Der Junge zog das Tier rückwärts zwischen die Scheren. Machmud hätte keinen Finger krumm gemacht, um ihm zu helfen. Er kannte nur zwei Mittel, die Arbeit voranzubringen: fluchen und schlagen.
Das Pferd kannte seinen Herrn. Es rieb den Kopf an dessen Brust. Osman klopfte ihm den Hals. „Heute noch nicht, aber morgen, morgen geht es in die Steppe!“, flüsterte er dem Pferd ins Ohr.
Neidisch sah der Junge zu. Oh, wenn ich doch mitkönnte! dachte er. Fort, weit fortziehen von dem Händler, über Schluchten und Flüsse, Salzebenen und Hügel, bis zu den Menschen, bei denen ich mich nicht so schinden muss wie bei Machmud.
Osman stieg auf die Deichsel der Arba und schwang sich auf die Stute. „Wiedersehen, Assad!“, rief er winkend. Dem Jungen wurde ganz warm. Ein letztes „Aman-i-san“ erklang. Dann setzte sich der Karren in Bewegung und war bald an der Straßenbiegung, beim Haus des Bewässerers, verschwunden.
Früh am Morgen bereits hockte der Junge im Gang. Die Tür zum Hof stand offen, so dass ein Zipfel des beginnenden Sommers hereinflatterte. Assad flocht an einem Wandschirm, wie deren viele in den anderen Räumen des Hauses standen, um die Lehmziegel zu verdecken. In dem Gang, dort wo Assad sich aufhalten musste, war freilich die nackte Wand zu sehen. Neben ihm lag ein Bündel Weidenruten, die mit bunten Wollfäden umwickelt waren. Geschickt flocht er die roten, blauen und gelben Ruten zusammen, so dass sich kleine geometrische Muster ergaben. Machmud verdiente beim Verkauf der Wandschirme viel Geld. Der Junge verspürte Hunger.