Über dieses Buch:
Oft reicht ein einziger Moment, um das Leben aus dem Gleichgewicht zu bringen – so wie bei Sonja, die glücklich verheiratet ist und trotzdem in eine Affäre hineinrutscht, mit der sie alles aufs Spiel setzt, was ihr wichtig ist. Oder bei ihrer Freundin Billie, die so viel Angst davor hat, noch einmal von einem Mann verletzt zu werden, dass sie selbst zur kühlen Herzensbrecherin werden will. Und schließlich Hermine, Sonjas Mutter: Sie findet heraus, dass ihr verstorbener Mann ein Geheimnis gehütet hat, das nun ihr ganzes Leben verändern wird … Aber kann eine Veränderung vielleicht auch neues Glück bedeuten?
Drei Frauen, drei ganz unterschiedliche Lebenswege – und eine Wahrheit, die sie verbindet: Es gibt eine Zeit, um zu lieben; es gibt eine Zeit, um zu weinen; und es gibt eine Zeit, um das Glück zu finden – wenn wir lernen, auf uns selbst zu vertrauen.
Über die Autorin:
Silke Schütze lebt in Hamburg. Sie hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlicht. 2008 wurde sie vom RBB und dem Literaturhaus Berlin mit dem renommierten Walter-Serner-Preis ausgezeichnet.
Silke Schütze veröffentlichte bei dotbooks bereits den Roman »Schwimmende Väter«, die Romanbiographie »Die Sängerin von Berlin« (auch bekannt unter dem Titel »Henny Walden – Memoiren einer vergessenen Soubrette«) sowie – für alle Leser mit feinem Humor – die Familie-Hasemann-Abenteuer »Frau Hasemann feiert ein Fest«, »Herr Hasemann auf Wolke 7«, »Die Hasemanns auf großer Fahrt« und »Frau Hasemann findet das Glück«, die es auch in gesammelter Form gibt: »Eine Familie zum Verlieben«
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eBook-Neuausgabe Oktober 2021
Eine ältere Fassung dieses Romans erschien bereits 2004 unter dem Titel »Zeit der Erwartungen« im Wunderlich Verlag; Silke Schütze hat diese ursprüngliche Geschichte für die nachfolgende Taschenbuchausgabe im Knaur Verlag unter dem Titel »Links und rechts vom Glück« komplett überarbeitet, teils gekürzt und teils erweitert.
Copyright © der Originalausgabe © 2007 Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Lektorat der im Knaur Taschenbuch erschienenen Originalausgabe: Angela Troni
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung zweier Bildmotive von shutterstock/Maya Kruchankova
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96655-365-0
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Silke Schütze
Links und rechts vom Glück
Roman
dotbooks.
Für meine Freundinnen
Ellen, Inge, Christine, Gisela, Gabi und Sonja
März 2005
»Wenn man verliebt ist, kann man eine Biene in die Hand nehmen und die Finger zumachen. Die Biene sticht nicht. Aber man muss verliebt sein.«
Die Sieger (1994)
Eine Frau sollte niemals vor dem Frühstück über Männer nachdenken. Dabei ist völlig unerheblich, ob es sich um einen One-Night-Stand oder den eigenen Ehemann handelt. Nach einer Liebesnacht beispielsweise sind Frauen sehr verletzlich. Für Männer dagegen ist der Morgen danach einfach der Morgen danach.
Der gute Rat ihrer Mutter Hermine, niemals vor dem ersten Kaffee das Verhalten ihres Liebhabers zu ergründen, hatte Sonja Fleming schon in ihren Singlezeiten vor so mancher unerfreulichen Szene bewahrt, und auch als Ehefrau behielt er für sie weiterhin Gültigkeit. Überhaupt ist das Leben mit Männern leichter, wenn man aufhört, sie verstehen zu wollen, dachte Sonja. Ganz besonders am frühen Morgen. Ihre Freundin Billie dagegen schlug sich immer noch die Nächte um die Ohren und plagte sich bereits vor dem Frühstückstee mit all jenen Fragen herum, von denen ganze Redaktionen von Frauenzeitschriften ihre Daseinsberechtigung ableiten.
»Warum ruft er nicht an?«
»Warum trennt er sich nicht von seiner Frau?«
»Warum will er keine feste Beziehung?«
»Nimm ein Brötchen«, hatte Hermine damals gesagt, als Sonja ihr eines Morgens als Achtzehnjährige mit roter Nase, verquollenen Augen und diesen Fragen gegenübergesessen hatte. »Kein Mann der Welt ist es wert, sich das Frühstück verderben zu lassen.«
Zwanzig Jahre später dachte Sonja wieder an diese Worte. Kein Mann ist es wert. Keiner? Und wenn es mehr als einer ist? Kann man da eine Rechnung aufmachen: ein Mann – ein Brötchen? Zwei Männer – ein Brötchen und ein Croissant? Bei meiner augenblicklichen Gefühlslage sollte ich mich wohl nach einem Job in einer Bäckerei umsehen ...
Berlin, April 2004
»Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?«
»Das spart eine Menge Zeit.«
Nachts unterwegs (1940)
Sonja lehnte sich mit sanftem Druck gegen die Drehtür des Charlottenburger Hofs. Das Hotel war eine Empfehlung von Billie, und das umgebaute alte Berliner Stadtpalais gefiel ihr auf Anhieb. Verrückt, aber als die Drehtür sie in die großzügige Empfangshalle beförderte, hatte sie das Gefühl, mit einem Schwung in eine andere Frau verwandelt zu werden. In eine Frau voller Unternehmungslust, Unbeschwertheit und Neugier. Hamburg, die Familie, die Arbeit – das alles schien auf einmal viel weiter weg als zweieinhalb Zugstunden.
Sie hatte lange gebraucht, um Billies Weihnachtsgeschenk einzulösen, einen Gutschein für ein Wochenende in einer europäischen Großstadt, An- und Abfahrt sowie zwei Übernachtungen inklusive.
Billie hatte ihr die Gutscheinkarte mit den Worten in die Hand geschoben: »Morgens jobben in der Rahmengalerie, mittags die Kleine und die Wohnung, du musst mal raus aus dem Trott und wieder etwas für dich tun.«
Ach ja, und was? Soll ich mich in einem Zen-Kloster in Japan einmieten und für eine horrende Summe Fußböden schrubben? Das kann ich auch prima in Hamburg in meiner eigenen Wohnung.
Doch eine Woche zuvor, als der nasskalte Januar ausklang und ein eisiger Februarwind durch die Straßen pfiff, hatte sich Sonja plötzlich entschlossen, den Gutschein einzulösen.
»Wo soll es denn hingehen?«, fragte Billie gespannt, als Sonja sie anrief. »Paris, Budapest, London?«
»Ich möchte nach Berlin.«
Ihre Freundin war verblüfft. »Willst du etwa eine Nostalgiereise ohne mich machen und unsere Jugend hochleben lassen?« Sie klang ein wenig verschnupft.
»Nein, nein. Ich möchte nur endlich mal nach Potsdam fahren, mir Sanssouci ansehen. Das haben wir doch damals nie getan. Und ich möchte in Ruhe ein paar Museen besichtigen.«
Allerdings behielt sie für sich, dass Berlin wie ein immer wiederkehrender Traum in den letzten Tagen und Wochen vor ihrem inneren Auge aufgetaucht war. Berlin, die Stadt, in der sie ihre Ausbildung zur Tischlerin gemacht hatte. Berlin ... damals ... Sonja sagte Billie auch nicht, dass ganz tief in ihr drin die seltsame Hoffnung lebte, in den Straßen von Berlin einer jungen Frau voller Elan und Lebenslust wiederzubegegnen. Der Frau, die ich mal war. Bevor ich zur ständig leicht genervten Mutti geworden bin, die argwöhnisch darüber wacht, ob ihr Ehemann auch pünktlich aus dem Büro kommt.
Billie hatte sich schnell wieder gefasst. »Also Berlin! Das nächste Mal komme ich aber mit! Und für dieses Mal empfehle ich dir ein besonders nettes Hotel!«
Leises Stimmengewirr erfüllte die Hotellobby, als Sonja jetzt die warme Halle betrat. Unter der Krempe ihrer schwarzen Samtkappe waren Wange und Nase leicht gerötet. Ihre Schulter schmerzte vom Druck der Ledertasche. An der Rezeption, die sich gleich rechts neben der Drehtür befand, checkte sie ein und stand wenig später in einem gemütlichen Hotelzimmer. Nachlässig warf sie ihre Tasche auf das Bett. Dann fuhr sie sofort wieder hinunter und lief los, als ob sie Angst hätte, die Stadt würde innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden geschlossen. Sie fuhr mit der U-Bahn zum Alexanderplatz, bummelte Unter den Linden entlang, trieb sich ein paar Stunden auf der Museumsinsel herum und trank einen Milchkaffee in einem der viel zu lauten, überfüllten Cafés am Potsdamer Platz. Abends aß sie in einem indischen Imbiss unweit des Hotels ein paar Pakoras und schlief in dem großen, bequemen Hotelbett über einem Fotobildband mit alten Berliner Caféhäusern ein. Obwohl sie in den letzten Jahren niemals ohne Albert und Lina gereist war, fühlte sie sich erstaunlich wohl.
Am nächsten Morgen frühstückte sie ausgiebig und in Ruhe im lichten Atrium des Hotels, während sie mit Interesse den Berliner Tagesspiegel las. Sie spürte eine unbestimmte Erregung in sich aufsteigen. Wann habe ich zuletzt einen ganzen Tag für mich allein gehabt? Sie beschloss, sofort nach Potsdam zu fahren und sich Schloss Sanssouci anzusehen. Mit schlechtem Gewissen dachte sie daran, wie befreiend es war, einmal ohne Lina an der Hand, stets bereit zum Erklären, Reden und Trösten, irgendwohin zu fahren.
Nach der Besichtigung des Schlosses spazierte sie trotz des schneidend kalten Windes noch eine Weile durch den Park und trat bei Einbruch der Dunkelheit die lange Fahrt in einer gespenstisch leeren S-Bahn zum Bahnhof Zoo an. Mit einem Mal vermisste sie Linas Geplauder und die kleine warme Hand in ihrer. Es war ein schöner Tag gewesen, ja. Aber jetzt fühlte sie sich allein und verloren. Müde, verfroren und dankbar für die anheimelnde Atmosphäre betrat sie am frühen Abend die Hotelhalle.
Während der Concierge nach Nachrichten für sie sah, blickte sie sich um. In den tiefen Sofas der Halle saßen einige Gäste beim Aperitif. Geschickt platzierte Lampen auf Konsolen und niedrigen Tischen schufen Lichtinseln. Dicke Teppiche dämpften die Schritte, im hinteren Bereich flackerte ein Kaminfeuer. Rechts von der Schwingtür zur Bar stand ein Stutzflügel, auf dem ein Pianist Jazz-Standards spielte.
»Ihre Nachricht, Frau Fleming.« Der Concierge reichte ihr einen roten Umschlag.
Sonja nahm ihn entgegen und steuerte den Fahrstuhl an. Sie freute sich auf ein heißes Bad. In ihrem Zimmer ging sie noch im Mantel ins Badezimmer, um heißes Wasser in die Wanne laufen zu lassen. Erst dann widmete sie sich der Nachricht. Sie kam von Billie, ein Fax aus dem Büro mit der Mitteilung, dass ihre Freundin an diesem Abend mit Albert kochen und sich um Lina kümmern wollte.
»Freddy’s Pizzaservice ist schon informiert, deinem Göttergatten wird mit Rotwein der Trennungsschmerz versüßt, für das Fräulein Tochter sind der Clown und die Ponys bestellt, und nachts lassen wir uns in der Spielwarenabteilung einschließen!«
Die munteren Zeilen verstärkten Sonjas Heimweh. Billie ist jetzt dort, wo ich sein sollte. Die glückliche Aufregung des Morgens war verpufft. Vielleicht half ja das heiße Bad, ihre Laune zu verbessern? Bevor sie sich auszog, öffnete sie, einer spontanen Eingebung folgend, einen Piccolo aus der Minibar und goss sich ein Glas Sekt ein, das sie mit ins Badezimmer nahm. Mit einem Aufatmen ließ sie sich in das heiße Wasser gleiten. Während sie den Sekt in kleinen Schlucken trank, wanderten ihre Gedanken zu dem Tag zurück, der hinter ihr lag.
In Sanssouci hatte sie eine der alle zwanzig Minuten stattfindenden Führungen mitgemacht. Bei dem Gedanken an die vollbusige Frau in der zu engen Jacke, die mit sächsischem Kommandoton ihre Schäfchen zusammenhielt und Sonjas langes Verweilen mit missbilligend zusammengezogenen Augenbrauen beobachtete, musste sie lächeln. Solange Sonja zurückdenken konnte, hatten Möbel sie fasziniert. Wenn ihre Schwester Anne mit ihren Puppen Modenschauen veranstaltete, baute Sonja für sie Hochbetten, Sofas, Stühle und Tische.
Na, also: Es geht doch nichts über ein heißes Bad und einen Schluck Sekt im richtigen Moment. Schon viel besser gelaunt verteilte sie den Hotelbadeschaum im Wasser und erinnerte sich an das Arbeits- und Schlafzimmer auf Schloss Sanssouci, das sie mit seiner bemalten Decke und den ionischen Säulen mehr beeindruckt hatte als der pompöse Marmorsaal. Der Rokokoschreibtisch! Wie gerne sie seine Oberfläche berührt hätte. In einer unbewussten Bewegung, als prüfe sie die Struktur eines feinen Stoffes, rieb sie die Finger ihrer rechten Hand gegen den Daumen. Im Kopf bevölkerte sie die Räume des Schlosses mit blass geschminkten Frauen unter hoch aufgetürmten Puderperücken und in Reifröcken, ließ sie Männer in engen Kniebundhosen auf den Stühlen mit den geschwungenen Beinen Platz nehmen.
In ihrer Berufsschulklasse hatte Sonja stets für Heiterkeit gesorgt, wenn sie von ihren Ausflügen in schleswig-holsteinische Wasserschlösser oder von ihrer Vorliebe für Heimatmuseen mit original wiederaufgebauten Bauernstuben berichtete. In der Abschlusszeitung ihres Jahrgangs gab es ein Foto von ihr vor ihrem Gesellenstück, einem großen Esstisch. Darunter stand: »Dank hartnäckiger Feldforschung und unter Lebensgefahr gelang es der Holzkundlerin, das scheue Gebrauchsmöbel in seinem natürlichen Lebensraum aufzuspüren.«
Nachdem sie das Billie einmal erzählt hatte, gehörten die Kommentare ihrer Freundin über die unterschiedlichsten Dinge (Espressotassen, Toilettenbürsten, Nagelfeilen) oder Personen (Atomphysiker, Frittenverkäufer, Pediküren) und deren natürlich meist gar nicht natürliche Lebensräume (beispielsweise, wenn sie Sonjas Nachtcreme neben der Butter im Kühlschrank entdeckte) zu ihrem Standardrepertoire vertraulichen Unsinns, den nur sie beide verstanden.
»Aber es ist wirklich etwas Besonderes, Möbel in den Räumen zu sehen, für die sie mal gemeint waren! «, hatte sich Sonja damals empört gegen die Heiterkeitsausbrüche ihrer Klassenkameraden verteidigt, und auf ihren Wangen waren zwei kreisrunde knallrote Flecken erschienen, wie immer, wenn sie sich aufregte.
Seufzend nahm sie noch einen Schluck Sekt, lehnte sich zurück und hing weiter ihren Gedanken nach. Sie hatte in Sanssouci zum ersten Mal seit Jahren wieder den Drang verspürt, etwas Eigenes zu bauen. In ihrem Hinterkopf begann sich eine Idee zu formen, noch undeutlich und kaum mehr als ein Impuls. In der Geborgenheit des warmen Badewassers ließ sie ihrer Fantasie freien Lauf. Wenn ich nun eine eigene Werkstatt einrichtete? Die Hobelbank, die ihr Vater ihr zur Gesellenprüfung geschenkt hatte, stand noch im Keller, daneben ihr Werkzeugschrank, das Werkzeug in Kisten verpackt. Fast meinte sie, über dem Seifenduft des Badewassers den Geruch von Holz, Wachs und Lack wahrzunehmen.
Erst als ihre Haut sich an den Fingern langsam wellte, stieg sie aus der Wanne. Warm eingehüllt in den dicken weißen Frotteemantel mit Hotelemblem, kuschelte sie sich in den Sessel und trank ein weiteres Glas Sekt. Vor dem Fenster hob sich die Skyline Berlins glitzernd vom Abendhimmel ab. Sonja überlegte, ob sie Albert anrufen sollte. Aber aus irgendeinem Grund wollte sie das Gefühl dieses Abends noch ein bisschen für sich allein behalten. Außerdem verbrachte Albert den Abend mit Billie. Vielleicht würde er den Anruf als weibliche Inkonsequenz empfinden. »Da siehst du’s, du kannst einfach nicht ohne uns leben! Stimmt’s, Liebling? Uns geht es gut. Entspann dich doch einfach! « Er hatte ja recht. Was würde Billie ihr in dieser Situation raten? Sie sah ihre Freundin vor sich, wie sie ihr kopfschüttelnd und mit glimmender Zigarette im Anschlag Vorhaltungen machen würde. Sonja, du hast jetzt drei Möglichkeiten. Erstens: Selbstmord durch Minibar. Zweitens: der Spielfilmkanal im Fernseher. Da gibt es garantiert irgendwo einen alten Streifen, den du zwar schon auswendig kannst, aber wie ferngesteuert wieder gucken würdest. In Berlin! An deinem Wochenende! Wie müde ist das denn? Mit beiden Möglichkeiten kannst du deinen Berlintrip erfolgreich als Flop verbuchen. Möglichkeit drei? Du ziehst dich an, suchst deinen Lippenstift und tust das, was erwachsene Frauen in schönen Hotels tun: einen Drink an der Bar nehmen.
Ein Glas Sekt später kramte sie in ihrem Schminktäschchen nach dem Lippenstift.
Als sie aus dem Fahrstuhl stieg, lag die Lobby wie ausgestorben vor ihr. Der Flügel stand verwaist und zugeklappt da. Nur ein älteres Paar saß in harmonischem Schweigen vor dem Kaminfeuer. Sonja öffnete die Schwingtür zur Bar und musste unwillkürlich an das berühmte Bild Nighthawks von Edward Hopper denken. Die Längsseite des schlauchförmigen Raums nahm eine lange, dunkle Theke ein, gesäumt von einer Reihe bequemer, mit grünem Leder bezogener Barhocker. Gegenüber zog sich eine Lederbank die Wand entlang, davor standen in gleichmäßigen Abständen Tische und tiefe Sessel mit ebenfalls grünen Lederbezügen. An der Theke machte sich der Barkeeper zu schaffen, ein Endfünfziger mit grau melierten Schläfen und einem freundlich-zerfurchten Gesicht. Sein weißes Oberhemd wurde von einer schwarzen Fliege gekrönt, seine Weste aus grauer Seide schimmerte. Nur wenige Gäste verteilten sich im Raum. Sonja trat an die Bar, kletterte auf einen der Hocker und beobachtete den Barkeeper, der ihr seltsamerweise vertraut vorkam. Sie lehnte sich vor.
»Heinz Kupinski? Kupp?«
Der Angesprochene blickte auf. Er war nur für den Bruchteil einer Sekunde irritiert. Dann trat ein wissendes Erkennen in seine Augen. Er streckte die Hand über den Tresen. »Sonja? Das ist ja eine Überraschung. Ich fürchte, beim Nachnamen müssen Sie mir helfen. Es war irgendetwas Skandinavisches.«
»Hansen! Aber mittlerweile habe ich geheiratet, ich heiße jetzt Fleming. Sagen Sie ruhig weiter Sonja, Herr Kupinski.«
»Und Sie Kupp, Sonja.«
Sie lächelten einander an.
»Wie lange ist das jetzt her, meine Liebe?«
Sonja hob abwehrend die Hände. »Ach, mir kommt es vor wie hundert Jahre! Ich hatte gerade meine Ausbildung zur Tischlerin abgeschlossen, lebte noch nicht in Hamburg und wollte das wahre Leben kennenlernen, bevor ich mir eine Arbeitsstelle suchte.«
»Das wahre Leben! Ausgerechnet in einem Kurs zum Cocktailmixen.«
»Das war die Idee meiner Freundin Billie. Weil sie in einer Zeitschrift gelesen hatte, dass man dort die interessantesten Männer trifft.«
»An interessante Männer kann ich mich in diesem Kurs irgendwie gar nicht erinnern.«
Sonja lachte. »Der interessanteste waren Sie, Kupp.«
Der Barkeeper nahm das Kompliment mit einem kurzen Nicken und selbstironisch hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis.
Sonja hatte damals geradezu für Kupinski geschwärmt. Er beherrschte die World-Cocktails vom Adonis bis zum Za-Za, war stets tadellos gekleidet und ein Meister der stimmungsvollen Inszenierung, der nicht nur über Takt und Diskretion, sondern auch über eine umfangreiche Sammlung von musikalischen Barklassikern auf Kassette verfügte, für die sich später das Label »Lounge-Musik« etablierte. Auch jetzt hörte Sonja die sanfte Stimme von Astrud Gilberto, identifizierte den samtigen Sound des Saxophons von Stan Getz.
»Immer noch mit Musik im Gepäck?« Kupinski nickte. »Aber mittlerweile alles auf CD.«
Er lächelte Sonja so herzlich an, dass ihr warm ums Herz wurde. Schade, dass man mit einem Menschen wie Kupp nicht befreundet sein kann. »Barkeeper haben kein Privatleben!«, hatte er ihnen damals verkündet und damit die Dating-Versuche aller weiblichen Kursteilnehmer bravourös ausgebremst.
»An Billie kann ich mich gut erinnern«, sagte er jetzt. »Ich habe einmal einen Artikel über sie gelesen, damals wurde sie von der jungen Szene gefeiert. Ist sie beim Mixen geblieben?«
»Nein, das war eine einmalige Geschichte. Sie kannte den Journalisten recht gut. Den Shaker hat sie später ebenso an den Nagel gehängt wie ... den Schreiberling.« Sonja kicherte. »Sie lebt mittlerweile auch in Hamburg und arbeitet in einer großen Werbeagentur.«
»Und Sie?«
»Ich habe eine achtjährige Tochter und arbeite nur noch halbtags. Als Aushilfe in einer Rahmengalerie. Dort rahmen wir Fotos, Urkunden, was immer die Kunden uns so bringen.«
Wieder nickte er. »Was treibt Sie nach Berlin zurück, Sonja?«
Ja, was eigentlich?
Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich antworten: »Ich habe mir dieses Wochenende als Auszeit genommen, um nachzudenken. Und habe mich jetzt entschlossen ...« Ihre Stimme klang auf einmal ein wenig unsicher, aber sie fuhr nach einem Räuspern fort: »Ich habe mich entschlossen, wieder in meinen Beruf einzusteigen. Vielleicht eine eigene Werkstatt aufzumachen!« Wow! Habe das wirklich ich gesagt?
»Das freut mich.« Unter Kupinskis warmem Blick verflog das letzte Restchen Fremdheit. »Einen GT?«
Sonja fühlte, wie sie sich entspannte. Sie plauderten weiter wie zwei alte Freunde, und die Zeit verflog. Kurz vor Mitternacht füllte sich die Bar, und Kupinski hatte alle Hände voll zu tun.
»Wenn alle Stricke reißen, hole ich Sie hinter den Tresen«, raunte er Sonja zu, während er an das andere Ende der Theke eilte, wo eine alte Dame auf einem Hocker thronte.
Sonja beobachtete, wie der Barkeeper mit der Dame sprach, einen Moment überlegte und zum Telefon griff. Wenig später erschien ein Page, der auf einem Tablett eine kleine Flasche balancierte. Mit ungerührtem Gesicht goss Kupinski Wasser in ein Cocktailglas, fügte Eiswürfel hinzu und ließ mehrere Tropfen aus der Flasche in das Glas fallen. Er servierte der Dame das Getränk mit einem Minzeblatt garniert und einer höflichen Verbeugung.
Sonja beugte sich interessiert vor. »Was haben Sie denn da gerade gemixt, Kupp?«
Kupinski senkte verschwörerisch die Stimme. »Die Dame wollte etwas ganz Spezielles. Ihren täglichen Schluck ...« Er pausierte dramatisch. »Klosterfrau Melissengeist!«
Sonja starrte ihn erst ungläubig an, aber dann musste sie schallend loslachen. Sie wusste jetzt schon, wie Billie dieses Erlebnis kommentiere würde: »Exzentrikerinnen in ihrem natürlichen Lebensraum, der Berliner Hotelbar.« Was für ein schöner Abend. Was für eine großartige Idee, nach Berlin zu fahren!
Ein Mann betrat den Raum. Sonja bemerkte, wie Kupinski ihn mit erfahrenem Blick taxierte. Dunkle, kurze Haare, glatt rasiert, teure, sportliche Kleidung. Nachdem der Ankömmling sich eine Weile umgesehen hatte, kam er an die Bar. Er fragte mit dem Hauch eines amerikanischen Akzents: »Ist hier noch frei?« Seine Stimme war angenehm tief.
»Ja, bitte schön.« Sonja nickte und sah, wie Kupp ihr zuzwinkerte. Sie erinnerte sich, wie er in dem Cocktailkurs von seiner Skepsis amerikanischen Barbesuchern gegenüber berichtet hatte. »Bei amerikanischen Gästen steht zu befürchten, dass sie die Bar mit der Bestellung eines entkoffeinierten Espresso oder eines alkoholfreien Biers entweihen!« Ob ihn derlei Vorurteile heute noch bewegten, war seiner höflichen Miene nicht zu entnehmen.
»Danke.« Der Amerikaner nahm neben ihr Platz.
Ihre Augen trafen sich in den verspiegelten Wänden. Sonja wollte den Blick abwenden, aber sie konnte nicht. Ein leichtes Kribbeln stieg von ihrem Magen nach oben in die Brust. Der Amerikaner rührte sich nicht. Sie sahen einander unverwandt im Spiegel an.
Als es ihr endlich gelang, die Augen niederzuschlagen, klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Sie versuchte, ruhig zu atmen, und betrachtete ausgiebig die Flaschen auf dem Regal hinter der Theke.
Der Mann neben ihr wandte sich an den Barkeeper. »Zwei Stinger, bitte«, sagte er.
Sonja sah, wie Kupinskis Gesicht der Ausdruck professioneller Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde entglitt. Bravo, unbekannter Fremder! Du bist also keiner von der Fraktion »koffeinfrei und niedrigprozentig«!
»Kommt sofort.«
Der Amerikaner wandte sich an Sonja. »Darf ich Sie zu diesem Getränk einladen?«
Was sollte sie antworten? Wie ein Aufreißer sah der Mann eigentlich nicht aus. Sondern wirklich sehr sympathisch. Und bei dem Getränk kann ich eigentlich gar nicht nein sagen. Außerdem: Kupp war ja dabei. Aber ich muss dem Ami schnellstens klarmachen, dass ich nicht der Typ Frau bin, der sich in einer Bar zu einem Getränk einladen lässt.
Der Fremde sagte: »Wollen Sie einen Telefonjoker für die Beantwortung der Frage setzen oder lieber das Publikum entscheiden lassen?« Sie sah ihn verständnislos an. Er lächelte immer noch. Dann beugte er sich vor und sagte: »Haben Sie keine Angst, ich habe wirklich nichts weiter im Sinn, als Sie zu einem Drink einzuladen. Einfach, weil mir Ihre Gesellschaft netter erscheint, als allein an der Bar zu sitzen.«
Das war so entwaffnend, dass sie spontan sein Lächeln erwiderte. Er hatte also ihre Gedanken gelesen. Aber, sehe ich etwa aus wie ein langweiliger Blaustrumpf? Manchmal kann männliche Offenheit erschreckend uncharmant sein. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, sagte sie: »Der Stinger ist einer meiner Lieblingscocktails. Danke, sehr gern! «
Während Kupp arbeitete, studierte der Amerikaner die Cocktailkarte, und Sonja beobachtete ihn verstohlen. Er war jünger, als sie im ersten Moment gedacht hatte, obwohl sie in seinen dunklen Haaren vereinzelte graue Strähnen entdeckte. Er hatte gerade Schultern und war muskulös, ohne plump zu wirken. Sein Gesicht war wie seine Hände leicht gebräunt und hob sich dunkel gegen seinen hellen Hemdkragen ab. Unerwartet sah er auf. Und sie hatte ihn einfach so angestarrt. Wie peinlich! Schnell inspizierte Sonja die Schale mit Salznüssen, als sei sie das achte Weltwunder. Dabei spürte sie seinen belustigten Blick. Plötzlich war sie froh, dass sie nach dem Bad nicht in ihre Jeans und den hellbraunen Wollrolli geschlüpft war, sondern in ein schwarzes langärmeliges T-Shirt und die weich fallende schwarze Seidenhose. Ein Geschenk von Billie zu ihrem letzten Geburtstag. Da ihre Haare vom Baden noch feucht gewesen waren, als sie sich anzog, hatte sie sie nicht wie sonst mit einem Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst, sondern mit zwei dicken Haarnadeln am Hinterkopf festgesteckt. Sie hatte Lippenstift aufgetragen, den sie tatsächlich gefunden hatte, nachdem sie das Schminktäschchen von innen nach außen gekrempelt hatte. Kupp stellte zwei Gläser vor sie hin.
Der Amerikaner deutete eine Verbeugung an, als er sagte: »Darf ich mich vorstellen? Richard Andersen.« Er sprach seinen Namen englisch aus.
Das klingt wie in einem Hollywood-Film. In Deutschland läuft das anders: »Und, wie heißt du so?« Oder: »Ich bin übrigens der Sven.« Aber das hier ...
»Sonja Fleming.«
Sie hoben die Gläser. Richard Andersens Augen waren grün, mit einem dunklen Rand um die Iris. Sonjas Herz fing wieder unversehens an zu rasen, und erneut konnte sie die Augen nicht von seinen abwenden. Meine Güte, was ist das denn? Sie hatte das Gefühl, als ob sich das Licht eines großen Scheinwerfers auf sie und Richard Andersen richtete. Kupinski schien außerhalb des imaginären Lichtkegels zu stehen. Guck weg. Stell dein Grinsen ab. Erzähl einen Witz. Verschluck dich. Fall vom Stuhl. Tu irgendetwas. Aber hör auf, ihm in die Augen zu sehen! Sonjas Gedanken überschlugen sich, während sie die Augen nicht von Richards lösen konnte. In ihrer Brust wurde es eng. Richard hielt ihren Blick fest, viel länger, als Fremde einander ansehen dürfen, ohne zu viel von sich preiszugeben. Sie spürte, wie ihr Hals trocken wurde, und befeuchtete nervös die Lippen mit der Zunge. Was tue ich hier eigentlich? Früher hatte sie gerne geflirtet, aber seit ihrer Heirat hatte kein anderer Mann mehr ein solches Kribbeln in ihr ausgelöst.
Am Anfang ihrer Beziehung hatten Albert und sie einmal über die Möglichkeit gesprochen, sich irgendwann in eine andere Frau oder einen anderen Mann zu verlieben.
Albert schien das ganz nüchtern zu sehen. »Wenn du eines Tages mit einem anderen Mann schlafen willst, dann tu es. Aber behalte es bitte für dich. Nur wenn es unsere Beziehung infrage stellt, möchte ich es erfahren. Was ich nicht weiß ...«
Sonja hatte leidenschaftlich auf seine Worte reagiert. »Ich will niemals mehr mit einem anderen Mann ins Bett gehen. Und du sollst mit keiner anderen Frau schlafen.«
Danach hatten sie das Thema nicht mehr angeschnitten.
Damals habe ich gesagt: Ich will niemals mehr ... Niemals mehr?
Sie würde den Drink austrinken und auf ihr Zimmer gehen. Eine Einladung zu einem Cocktail, ein belangloses Gespräch. Das war völlig harmlos und hatte mit einem Flirt überhaupt nichts zu tun.
Sonja, du lügst. Du möchtest mit diesem Fremden hier in der Dunkelheit der Bar sitzen und dir vorstellen, wie es wäre, seine Hand zu berühren.
»Wieso ist der Stinger Ihr Lieblingsdrink, Sonja?«, holte sie Richard Andersens Stimme aus ihren verwirrten Gedanken.
Sie fing sich wieder. »Das ist der Drink, den Bette Midler in dem Film Freundinnen immer trinkt. Meine Freundin und ich können sämtliche Dialoge auswendig. Früher hat Billie beispielsweise immer Bette Midler mit dem Satz ›Ich hasse mein Haar‹ zitiert. Jedes Jahr im Mai sehen wir uns den Film gemeinsam auf DVD an – früher hatten wir natürlich ein Video.«
Richard lächelte. »Und zu dieser Tradition gibt es Stingers?«
»Genau. Wenn dann am Ende Barbara Hershey stirbt, müssen wir jedes Mal furchtbar heulen und schwören uns, wie Bette Midler und Barbara Hershey immer füreinander da zu sein. Ich fürchte, ich habe eine fatale Neigung zum Hollywood-Kino.«
»Wer von den beiden sind Sie? Bette Midler oder Barbara Hershey?«
»Mit Sicherheit Bette Midler. Billie ist viel schöner als ich. Außerdem habe ich auch noch die große Klappe von Bette abbekommen.«
Er lächelte sie wieder an. »Die steht Ihnen aber ganz hervorragend.«
»Wie bitte?«
»Ihre angeblich große Klappe.«
Sonja fühlte, wie sie rot wurde. »Vielen Dank.« Selbst, wenn ich nicht flirte: Er flirtet. Und wie!
Richard fragte sie, was sie nach Berlin geführt habe.
Sonja erzählte ihm von Billies Geschenk und wiederholte, diesmal schon viel selbstverständlicher, dass sie einen beruflichen Wiedereinstieg plane.
»Sie sind Tischlerin?«
Wieso wirkte er so erstaunt? Spontan hielt sie ihm ihre Hand unter die Nase. »Sehen Sie diese Narbe? Da habe ich mir mit einem Stecheisen die Gelenkkapsel zerschmettert.«
Richard zuckte bei der Erzählung zusammen und nahm ihre Hand, die trotz der breiten Handfläche und der kräftigen Finger mit den kurz geschnittenen Nägeln neben seiner sehr klein wirkte. Er sah sich die weiße Narbe genau an, und für einen irrwitzigen Moment glaubte Sonja, er würde sie küssen.
»Ich wollte Sie nicht beleidigen. Natürlich glaube ich, dass Sie Tischlerin sind. Nur hatte ich mir eine Tischlerin immer irgendwie ... ja ... handfester vorgestellt.«
»Wieso, ich bin doch handfest!«, wollte Sonja erwidern, besann sich aber im letzten Moment eines anderen. Richard hielt immer noch ihre Hand, und sie entzog sie ihm langsam. Dabei sah sie ihr Spiegelbild. Einige Haarsträhnen hatten sich gelöst und kringelten sich auf ihren Schultern. Das schwarze T-Shirt machte sie schmaler, ihre Augen glänzten. Mit der Sonja im ausgeleierten Sweatshirt, die in mit Holzstaub bedeckter Arbeitshose Passepartouts zuschnitt, hatte die Frau im Spiegel wirklich nichts gemein.
»Wollen wir noch einen Stinger trinken?«
Sonja nickte.
Zwei Stunden später wusste Sonja, dass Richard keine Salznüsse aß, wie sie zum ersten Mal im Charlottenburger Hof wohnte und Plattenproduzent aus Los Angeles war.
»Das klingt viel glamouröser, als es ist. Ich bin kein Multimillionär, und in meinem Büro sind die Wände auch nicht mit Platinschallplatten gepflastert. Und ich trinke nicht mit Popgrößen Champagner. Watermelon Records, meine Firma, produziert vor allem Jazz, Jazz-Rock und ein bisschen New Folk.«
Er erzählte, dass er nach Deutschland gereist sei, um einen kanadischen Komponisten zu treffen, der zwischen Prag und Berlin pendelte.
»Ich war ganz aufgedreht, als ich sein Studio in Berlin-Mitte verlassen habe. Die Welt ist jetzt so viel näher zusammengerückt. Selbst wir Amerikaner kennen plötzlich Länder mit Namen wie Litauen, Estland oder Bosnien. Ich bin lange durch die Straßen gelaufen und habe erst bemerkt, wie spät es war, als ich vor Kälte keine Faust mehr machen konnte.« Er lächelte. »Ich vergesse immer meine Handschuhe.«
Dann legte er seine Hand auf Sonjas. O Schreck! Aber es fühlt sich gut an. Gleich werde ich meine Hand wegziehen. Gleich, nicht sofort. Aber gleich. Hm.
»Sie haben ein so schönes Lachen.«
Sprich weiter. Oder nein, sag bitte nichts mehr. Was soll ich denn jetzt nur tun? Wir wollten doch nur einen Drink ...
»Finden Sie?«
»Ja, deshalb bin ich überhaupt in die Bar gegangen. Dieses schöne Lachen voller Wärme.«
Oh! Ob Kupinski etwas mitbekommen hat? Schließlich hatte sie ihm vorhin von ihrer Ehe und ihrer Familie erzählt. Aber der Barkeeper bediente gerade eine Gruppe junger Engländer und wandte ihr den Rücken zu.
Als Richard endlich seine Hand von ihrer hob, spürte sie die kühle Luft, die ihren Handrücken traf wie eine Enttäuschung. Schnell zog sie die Hand von der Theke und legte sie in ihren Schoß.
»Wieso sprechen Sie so gut Deutsch?«
»Weil ich Deutscher bin. Meine Eltern sind Anfang der siebziger Jahre in die Vereinigten Staaten gegangen, als ich noch sehr klein war. Wir haben zu Hause viel Deutsch gesprochen. Meine Familie kommt aus Schleswig-Holstein. Ich bin allerdings in Hamburg geboren.«
Es gibt keine Zufälle.
»Dort lebe ich.«
Sie lächelten einander an.
»Woher kommt Ihre Familie denn genau?«
»Keine Ahnung. Mein Vater hat irgendwann einmal Rendsburg erwähnt. Aber eigentlich hat die Vergangenheit ihn nie besonders interessiert, und ich habe nie viel gefragt.«
»Haben Sie denn Ihre Großeltern nicht kennengelernt?«
»Die Eltern meiner Mutter waren schon tot, als wir in die USA gezogen sind.«
»Und die Familie Ihres Vaters?«
»Als Baby hat mich der Vater meines Vaters wohl ein paar Mal auf dem Arm gehalten, aber ich kenne nur die Fotos und habe selbst keine Erinnerung mehr daran. Mein Vater ist gegen den Willen meines Großvaters nach Amerika gegangen.«
»Die beiden haben sich nie versöhnt?«
Richard schüttelte den Kopf: »Meine Großeltern sind lange tot. Ich weiß so gut wie nichts von ihnen. Aber nun habe ich ja noch einen weiteren Grund, Hamburg einmal zu besuchen ...« Er lächelte sie an.
Sonja spürte, wie ihr Herz wieder zu rasen begann. Hastig sprach sie in ihre Aufregung hinein: »Kann man diese Ahnensuche nicht auch per Internet vornehmen?«
»Bestimmt, aber ich würde gerne einmal nach Hamburg reisen, um die Luft meines Geburtsorts zu schnuppern.«
»Sie sind ein Romantiker.«
»Ich fürchte, ja.«
Er legte erneut seine Hand auf ihre. Sonja blickte wieder schnell zu Kupinski hinüber. Aber der hatte die Geste nicht bemerkt, sondern unterhielt sich am Ende der Bar mit einem Gast. Hilfe, ich benehme mich schon, als würde ich es auf einen Seitensprung anlegen! Glücklicherweise hatte Richard von ihren Überlegungen keine Ahnung. Oder doch? Vielleicht war das alles Teil seines ausgeklügelten Plans, europäische Frauen aufzureißen?
»Habe ich jetzt Ihr Bild vom harten amerikanischen Cowboy zerstört?« Seine Stimme klang schon wieder amüsiert.
Sonja musste grinsen. »Aber nein, ich habe doch Ihr Pferd in der Hotellobby gesehen.«
Es war nach Mitternacht, als Kupinski nach einem letzten Wunsch fragte.
Sonja blickte erschreckt auf die Uhr. »So spät schon! Ich sollte jetzt wirklich schlafen gehen.«
Sie sah Kupinski an. »Bringen Sie mir die Rechnung, bitte?«
Aber Richard gab dem Barkeeper ein Zeichen, ohne auf Sonjas Widerspruch zu achten. Insgeheim war sie geschmeichelt. Wie lange ist es her, dass mich ein Mann eingeladen hat? Beschämt zensierte sie ihre Gedanken. Warum sollte dich ein anderer Mann als dein eigener einladen? Während Kupinski die Rechnung fertig machte, zückte Richard seine Brieftasche und entnahm ihr eine Visitenkarte.
»Falls Sie mal in Los Angeles sind ...«
Sonja musste lachen. »Sehr komisch! Hollywood! Ich war seit Wochen nicht mehr am Sunset Boulevard!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich und L. A., das ist doch ein Witz! « Was ist das da in seinem Blick? Melancholie? Fühlt er sich zurückgewiesen? Schnell streckte sie die Hand aus: »Na, geben Sie schon her!«
Sie steckte das elfenbeinfarbene Kärtchen mit der blauen Prägeschrift in ihre Ledertasche. Er sah sie erwartungsvoll an. Was will er denn jetzt? Trinkgeld? Ach, Quatsch, er will MEINE Karte.
Entschuldigend hob sie die Achseln. »Ich habe gar keine ...«, sie verbesserte sich, »... im Moment keine Karte dabei.« Es war merkwürdig, all dies unter Kupinskis Augen zu bereden, der mit der Rechnung vor ihnen stand. Ob er wohl dachte, dass sie die Nacht miteinander verbrachten? Gute Barkeeper sehen und hören alles, aber sie sagen nichts. Das hatte er ihnen im Cocktailkurs mehrfach gepredigt. Tatsächlich lag nichts als Unverbindlichkeit in Kupinskis Lächeln, als er Sonjas Hand schüttelte.
»Grüßen Sie Billie!«
Etwas ratlos standen Richard und Sonja kurz darauf in der verwaisten Lobby. Selbst der Nachtportier war nirgendwo zu sehen. Richard umfasste ihren Ellenbogen.
»Sind Sie sehr müde?«
»Ich war den ganzen Tag auf den Beinen.«
»Wollen wir noch irgendwo anders hingehen?«
»Noch mehr Alkohol vertrage ich nicht.«
Er lehnte sich vorsichtig an sie.
Nein. Das geht doch nicht. Oder? Was soll ich tun? Meine Knie sind ganz weich ... Hilfe!
Sie blieb einfach stehen, und als er merkte, dass sie seinem Druck keinen Widerstand entgegensetzte, legte er die Arme leicht um sie.
Seine Wange berührte ihr Haar.
»Haben Sie Lust, noch ein paar Schritte zu gehen und ein bisschen frische Luft zu schnappen?«
»Jetzt?«
»Ja, jetzt. Sagen Sie bitte nicht nein.«
Plötzlich war er wie ein kleiner Junge. Er wirbelte sie herum und zog sie zum Fahrstuhl.
»In welchem Stock ist Ihr Zimmer? Wir holen nur unsere Mäntel.« Er grinste sie an: »Und meine Handschuhe!«
In ihrem Hotelzimmer stand Sonja vor dem Spiegel. Soll ich nicht lieber einfach ins Bett gehen? Er würde verstehen. So ein Abgang hätte Stil. Oder? Oder wäre er feige? Sie konnte sich nicht entsinnen, wann ihr schon mal ein Mann auf Anhieb so gut gefallen hatte wie Richard. Würde sie sich nicht ewig vorwerfen, diesen Spaziergang ausgeschlagen zu haben? Ein Spaziergang ist schließlich kein One-Night-Stand.
...
Noch nicht.
Sonja trat mit dem Mantel über dem Arm wieder auf den Korridor und ging zum Fahrstuhl. Ob sich wohl das schöne Gefühl des Abends verflüchtigte, wenn sie sich jetzt wieder begegneten? Als Richard im fünften Stock zustieg und sie anlächelte, wusste sie, dass ihre Befürchtungen grundlos waren. Irgendetwas an ihm zwang sie, ebenfalls zu lächeln. Ein Lächeln, das ihr Vater als Honigkuchenpferdlächeln bezeichnet hätte. So breit, dass sich ihr Gesicht zu schmal dafür anfühlte. Richard hielt ihr triumphierend ein paar schwarze Lederhandschuhe vor die Nase.
»Dann kann’s ja losgehen.«
Zu ihrem Amüsement steckte er vor dem Hotel jedoch die Handschuhe in die Manteltasche und nahm ihre Hand. Sonjas Magen krampfte sich zusammen. Schweigend schlenderten sie durch die nächtlichen Straßen.
Wenn uns jetzt jemand sieht? Wer sollte das aber sein?
Die Luft war kalt und frisch.
»Leider sind keine Sterne zu erkennen.«
»Nur Schneesterne.«
Es begann zu schneien. Sie hielt die Hand hoch und zeigte ihm eine Schneeflocke auf der Spitze ihres Zeigefingers. Da beugte er sich vor und küsste die Schneeflocke fort.
Sie gingen über den Breitscheidplatz, die Budapester Straße entlang, am Elefantentor des Zoologischen Gartens vorbei, bis sie den goldenen Engel der Siegessäule über den Baumwipfeln des Tiergartens sehen konnten. Immer dichter wirbelten die Schneeflocken, und die Kälte drang langsam durch die Schuhsohlen.
»Ich könnte immer so weiterschlendern.«
»So lange, bis wir beide eine Lungenentzündung bekommen?«
»Ich dachte, Sie sind Romantiker.«
»Ja, aber kein Eskimo.«
Im Licht der Straßenlampen funkelten die vom Himmel fallenden Flocken, und ein weicher Teppich aus Schnee dämpfte ihre Schritte, als sie zurück zum Hotel liefen.
Vor der Drehtür lösten sie fast verlegen ihre Hände. Richard trat zurück und ließ ihr den Vortritt. Plötzlich war ein bedrücktes Schweigen zwischen ihnen, das Richard brach, als sie auf den Fahrstuhl warteten.
»Sonja.«
Seine Augen waren auf einmal sehr nah.
»Sonja, es war so ein schöner Abend. Ich ...« Er nahm wieder ihre Hand: »... Ich komme mir vor wie ein Schuljunge.«
Sie sah auf ihre verschlungenen Hände, verspürte ein seltsames Flackern zwischen Glück und Bedauern und verstärkte den Druck ihrer Finger. Und wenn ich jetzt mit dir auf dein Zimmer gehe? Sie atmete tief durch. Es gab nur eine Antwort.
»Richard, ich bin verheiratet. Glücklich.«
Langsam strich er mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken und betrachtete ihre Hände. Dann sagte er: »Ich auch.«
Die Fahrstuhltür öffnete sich vor ihnen, und sie stiegen Hand in Hand ein.
Es war einer diese magischen Augenblicke, die unerklärlich sind. In denen die Zeit stehen bleibt, die Welt mit einem Schlag verstummt, in denen der Herzschlag in den Ohren dröhnt und es keinen Ausweg mehr gibt. Plötzlich lagen sie einander in den Armen.
Darf ich ... sollte ich nicht ... ach.
Sein Atem streifte ihre Wange. Sie roch Rasierwasser, den Duft von sauberer Wäsche und warmer Haut und schloss die Augen. Seine Lippen erforschten die ihren, sie öffnete leicht den Mund ...
Als der Fahrstuhl im fünften Stock anhielt und sich die Tür mit einem lauten Glockenton öffnete, lösten sie sich schweigend und widerwillig voneinander. Sonja blinzelte in der grellen Beleuchtung. Sie holte tief Luft.
Du musst jetzt gehen ...
Sanft schob sie ihn aus der Tür. Ihr Atem ging schnell, ihre Augen brannten. Sie blieb im Fahrstuhl stehen und sah ihn unverwandt an. Er erwiderte ihren Blick schweigend. Ihre rechte Hand hob sich langsam zu ihren Lippen. Die Hand, von deren Finger er die Schneeflocke geküsst hatte. Die Fahrstuhltür schloss sich. Goodbye, Richard ...
Den Rest der Nacht verbrachte Sonja in einem Schwebezustand zwischen Schlafen und Wachen.
Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. In ihrem Kopf überschlugen sich die Bilder: Richards Gesicht an ihrem, Richards Lippen auf ihrem Mund. Andere Bilder entstanden. Bilder von Albert. Ihr Magen zog sich zusammen, ihr Mund wurde trocken. Von dem Moment an, als sie mit Richard die Bar verließ, hatte Albert für sie einfach nicht mehr existiert. Er lag jetzt ahnungslos zu Hause in ihrem gemeinsamen Bett, wahrscheinlich durfte Lina bei ihm schlafen. Mein Liebling, wie konnte ich dich nur vergessen? Wie konnte ich euch beide nur vergessen? Eine Woge der Zärtlichkeit für ihren Mann und ihr Kind durchflutete sie, gefolgt von schlechtem Gewissen, abgelöst von neuen Bildern von Richard, seinen Augen, seinen Händen, seinen Lippen ...
Wie kann ich einen anderen Mann derartig begehren?
»Richard«, flüsterte sie in die Dunkelheit. Während sich auf der Straße die Autos durch den tauenden Schnee fraßen und den weißen Schleier in grauen Matsch verwandelten, fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Am nächsten Morgen blieb sie nicht lange liegen. Wenn sie sich beeilte, erwischte sie den frühen Zug nach Hamburg. Dann wäre sie vor der Mittagszeit zu Hause und konnte Lina bei Schulschluss überraschen. Draußen erinnerte nichts mehr an die sanfte Stille der letzten Nacht. Der Schnee war geschmolzen, und stattdessen überzog ein scharfer Wind die Stadt mit Hagel und Regen. Während der Concierge ihre Rechnung fertig machte (»Haben Sie die Minibar benutzt?« – »Ja, zwei Piccolos«), sah sie aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.
»Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?«
Sonja schrak auf. »Nein danke, ich habe nur meine Reisetasche, ich nehme die S-Bahn zum Bahnhof.«
Der Concierge sah sie aufmerksam an.
»Ich möchte eine Nachricht für Herrn Andersen hinterlassen.«
Er schob ihr einen Block und einen Briefumschlag zu. Einen Moment haderte Sonja mit sich. Was soll ich ihm schreiben? Soll ich mich überhaupt bei ihm melden?
Schließlich kritzelte sie ihre Telefonnummern und ihre E-Mail-Adresse auf das Hotelpapier. Dann klebte sie den Umschlag zu.
Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch, zog ihre Handschuhe an und schulterte die Reisetasche. Ein schneller Gang durch die Morgenkälte und der böige Wind waren genau, was sie brauchte, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Draußen regnete es in Strömen. In Hamburg fiel der Regen immer schnurgerade aus den Wolken herab. Nirgendwo regnete es lakonischer als in der Hansestadt. Berliner Regen war anders. Prickelnder, durchsetzt von kleinen Pausen, als ob der Wind zwischendurch Atem holte. Und er roch anders. Einzigartig.
Berlin ... damals ... Sie erinnerte sich an die unverwechselbare Mischung aus Linoleum und Kohleofen, nasser Katze und Schimmel, die nur Berliner Hinterhäuser atmen. An den Duft des Herbstes in kastaniengesäumten Alleen. Sie hörte wieder die hämmernden Beats der Diskomusik, die sie nach einer langen, durchtanzten Nacht hinaus auf die morgendlich verwaisten Straßen begleitet hatten ...
Westberlin, September 1987
»Du wirst ungefähr ein Jahrhundert warten müssen, bevor die Evolution jenen Mann produziert hat, den du dir vorstellst. Deshalb geh in der Zwischenzeit raus und tanze mit dem, was da ist.«
Das große Finale (1980)
Es war kurz vor Mitternacht im »Dschungel«, einer spärlich beleuchteten Szenedisko in der Nürnberger Straße, einen Steinwurf vom Kurfürstendamm entfernt. Whitney Houstons »I wanna dance with somebody« wummerte aus den Lautsprechern. Die Tanzfläche im hinteren Bereich war überfüllt, die Lautstärke ohrenbetäubend.
Sonja saß an der Bar und nippte gedankenschwer an einem Glas Rotwein. Vor zwei Wochen hatte sie hier mit Ulf bis in die Morgenstunden getanzt. Ulf war der rothaarige Referendar an ihrer Berufsschule, und sie war immer noch verliebt in ihn. Er besaß einen trockenen Humor, schiefergraue Augen, und zu Sonjas Begeisterung war er nicht nur auf dem Kopf rothaarig. Leider kam Ulf erst reichlich spät auf die Idee, sie davon in Kenntnis zu setzen, dass er eine feste Freundin hatte. Genauer gesagt fiel ihm Olga aus Oldenburg erst nach mehreren Nächten in Sonjas Hochbett ein. Olga nahm Ulfs Interesse an seiner Schülerin so übel, dass sie einen Eimer rote Farbe über seinen weißen VW Käfer kippte. Worauf Ulf sich hastig von Sonja zurückzog. Der Feigling! Vor drei Tagen hatte er ihr schließlich auf dem Schulkorridor in der dunklen Ecke zwischen Lehrertoilette und Besenkammer eröffnet, dass er mit Olga eine gemeinsame Wohnung suche.
»Es tut mir leid, Sonja. Wir können uns nicht mehr sehen.«
Zu den Klängen einer ausgeleierten Kassette, auf die sie in weiser Voraussicht »Bridge over troubled water« in einer Endlosschleife aufgenommen hatte, heulte Sonja das ganze Wochenende durch. Dann wischte sie sich die Tränen ab und stürzte sich mit verletztem Stolz in das Berliner Nachtleben. Soll Ulf doch sehen, wo er bleibt. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.
Ein durchtrainierter Managertyp im Zweireiher mit graumelierten Schläfen lehnte sich neben ihr an die Bar. Ohne Umschweife schrie er laut gegen die Musik an.
»Guten Abend. Geben Sie mir doch mal einen Tipp. Als Frau. Seit einer Stunde versuche ich, mit der Barschönheit am Zapfhahn ins Gespräch zu kommen. Vergeblich. Ist sie nun einfach ein Eisberg oder ein Vulkan, den man nur zum Ausbruch bringen muss?«
Sonja traute ihren Ohren nicht. Eisberg oder Vulkan! Hat der Typ noch alle Tassen im Schrank?
Sie sah sich die Frau hinter der Theke an. Schmal, schlank, die dunklen Locken mit einem bunten Tuch aus dem Gesicht gebunden, was ihr den Anstrich eines Mannequins aus den fünfziger Jahren gab. Durch ein tailliertes schwarzes T-Shirt mit U-Boot-Ausschnitt und dunkle Leggins unterstrich sie ihn noch.
»Schöne Frau!«, rief der Manager und winkte der Kellnerin mit großer Geste zu. Sie ignorierte ihn und begann mit unbewegter Miene Bier zu zapfen.