Bas von Benda-Beckmann
Nach dem Tagebuch.
Das Schicksal von Anne Frank
und der anderen Untergetauchten
aus dem Hinterhaus
Aus dem Niederländischen
von Marlene Müller-Haas
Mit einem Vorwort
von Hans-Joachim Lang
Das Schicksal von Anne Frank und der anderen Untergetauchten aus dem Hinterhaus
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
Na het Achterhuis: Anne Frank en de andere onderduikers in de kampen bei Em. Querido’s Uitgeverij bv in Amsterdam
Copyright: © 2020 Anne Frank Haus/
Bas von Benda-Beckmann
Die Veröffentlichung dieses Buchs wurde ermöglicht durch eine Übersetzungsförderung der niederländischen Literaturstiftung Nederlands Letterenfonds.
Erste Auflage der deutschen Ausgabe:
© 2021 Secession Verlag für Literatur, Zürich
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung aus dem Niederländischen: Marlene Müller-Haas
Lektorat: Joachim von Zepelin
Korrektorat: Peter Natter
www.secession-verlag.com
Umschlag und typografische Gestaltung: Ferdinand Ulrich, Berlin
Umschlagbild: © Herinneringscentrum Kamp Westerbork
Satz: Marco Stölk, Berlin
Herstellung und Bildbearbeitung: Daniel Klotz, Die Lettertypen
Recherche Bildrechte: Kilian Beutel
ISBN 978-3-907336-0-07
eISBN 978-3-907336-0-14
Vorwort
Vorwort zur deutschen Ausgabe
1Eine Suche nach den Untergetauchten aus dem Hinterhaus
Wo Annes Tagebuch aufhört
Edith, Anne, Margot und Otto Frank
Auguste, Hermann und Peter van Pels
Fritz Pfeffer
Leben im Versteck und Verhaftung
Die Suche
Ein unvollständiges Puzzle
»Mama, weißt du, dass Margot hier ist?«
2Das Amsterdamer Untersuchungsgefängnis Huis van Bewaring und das Durchgangslager Westerbork
Huis van Bewaring – Im Untersuchungsgefängnis
Durchgangslager Westerbork
Ankunft
Der Alltag in der Strafbaracke
Begegnungen in Westerbork
»Diese furchtbare Verschickung«: Der Transport vom 3. September
Wissen und Erwartungen über den Massenmord
»Das Leben war eine Hölle«
3Auschwitz
Auschwitz und der Völkermord an den europäischen Juden
Ein Lager im Aufbau
Funktionshäftlinge
Die Untergetauchten in Auschwitz: Ankunft, Selektion, Registrierung
Stammlager: Die Männer in Auschwitz I
Herman van Pels in der Gaskammer ermordet
Päckchen
Überleben in Auschwitz
Abschied
»Man brauchte ihr keinen Mut zu machen, denn den gab es nicht.«
4Edith, Anne und Margot Frank und Auguste van Pels in Auschwitz-Birkenau
Das Lagerleben: Hunger, Kälte, Selektionen
Überwachung und Gewalt im Frauenlager
In der »holländischen Baracke«: Edith, Anne und Margot Frank und Auguste Pels
Noch ein Abschied: Die Abfahrt von Anne, Margot und Auguste
»Edith Frank wird krank« – Edith Franks Tod
»Ich glaube, dass ich Margot nicht außerhalb des Betts gesehen habe.«
5Anne und Margot Frank sowie Auguste van Pels in Bergen-Belsen
Von Auschwitz nach Bergen-Belsen
Bergen-Belsen: Kriegsgefangenenlager, Austauschlager und Konzentrationslager
Margot und Anne Frank sowie Auguste van Pels in Bergen-Belsen
Begegnungen am Lagerzaun
Der Tod von Margot und Anne Frank
»Ich erinnere mich an Gusta van Pels – eine gebürtige Deutsche«
6Auguste van Pels in Raguhn
»Gott sei Dank ein kleines Lager«
Arbeiten in der Flugzeugfabrik
»Sie kamen nie zurück«
7Peter van Pels in Mauthausen und Melk
Auf Todesmarsch von Auschwitz nach Mauthausen
Ein Tischler mit ovalem Gesicht
»Von den Holländern starben die meisten«
8Fritz Pfeffer in Neuengamme
Neuengamme
Fritz Pfeffer in Neuengamme
»Wo die Kinder sind, weiß ich nicht«
9Ottos Suche
Rückkehr nach Hause
Jedes Körnchen
Anhang
Anmerkungen
Archivmaterial
Literatur und übrige Quellen
Abbildungsverzeichnis:
Register
Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht das Ergebnis einer gemeinsamen Anstrengung. Die wichtigste Grundlage und den roten Faden bildet der von Erika Prins – damals als Wissenschaftlerin für das Anne Frank Haus tätig – zwischen 2012 und 2016 erarbeitete Forschungsbericht Onderzoeksverslag naar het verblijf van de acht onderduikers in de kampen (Untersuchungsbericht zum Aufenthalt der acht untergetauchten Personen in den Lagern). Ergänzt wurde dieser Bericht von Esther Göbel, sowie von Gertjan Broek und Teresien da Silva. 2019 wurde diese Untersuchung von Bas von Benda-Beckmann fortgeführt, der auf der Grundlage des Forschungsberichts von 2016 und neuer Erkenntnisse das vorliegende Buch verfasste.
Der Autor, die Wissenschaftler und das Anne Frank Haus danken allen Archivmitarbeitern, Mitlesern und Beratern. Neben den Mitarbeitern verschiedener Archive und Kulturerbe-Institutionen sind das in erster Linie Wichert ten Have, der das Projekt nicht nur mit Sachkenntnis betreute und kommentierte, sondern 2019 auch darauf drängte, die Ergebnisse in Buchform zu veröffentlichen.
Wertvolle Hinweise zum Manuskript kamen auch von Daan de Leeuw und Guido Abuys, sowie von Josje Kraamer und Annette Portegies vom Verlag Uitgeverij Querido. Zu nennen sind alle Kollegen aus dem Anne Frank Haus, die in verschiedenster Weise an diesem Buch mitgewirkt haben, vor allem Karolien Stocking Korzen, die die Bildrecherche übernahm; Liselot van Heesch, Menno Metselaar, Eugenie Martens und Tom Brink waren meine Mitleser und an der Publikation dieses Buches beteiligt.
Ohne die zahlreichen Zeitzeugen im Rahmen des Oral-History-Projekts des Anne Frank Hauses und anderer Institutionen hätte dieses Buch nie geschrieben werden können. Ihnen ist es zu verdanken, dass diese Suche nach dem Schicksal der acht im Hinterhaus Untergetauchten in den Lagern überhaupt möglich war. Ein besonderer Dank gilt allen Zeitzeugen, die uns an ihrer Geschichte teilhaben ließen.
Auschwitz. Anne Frank. Ihre Stimme spreche für sechs Millionen, wird Anne Frank nachgesagt.1 Sechs Millionen ermordete Juden. Und Auschwitz gilt oft als das Symbol für die Shoah. Auschwitz und Anne Frank, zusammengenommen klingt das auf den ersten Blick umfassend. Doch dieser Eindruck ist falsch. Denn Anne Frank spricht nur für sich. Wenn man so will, als eine von sechs Millionen Stimmen.2 Wer nur ihr Tagebuch liest, weiß noch nichts über Auschwitz. Er kennt nur einen Ort jenes unvorstellbaren Menschheitsverbrechens, das seine Spuren nahezu im gesamten Europa hinterließ. Mit dem letzten Satz in ihrem Tagebuch, dem letzten von ihr schriftlich überlieferten Satz, fängt Annes Weg nach Auschwitz überhaupt erst an.
Aber was war nach dem Tagebuch? Der niederländische Historiker Bas von Benda-Beckmann hat diese Frage gewiss nicht als Erster gestellt, bereits Annes Vater hatte begonnen, Antworten zu suchen. Und weil sie im Hinterhaus der Amsterdamer Prinsengracht 263 zu acht versteckt waren, wollte Otto Frank nach seiner Befreiung ebenso das Schicksal der anderen Mitglieder dieser Schicksalsgemeinschaft rekonstruieren, von denen, wie sich erst noch herausstellen sollte, niemand überlebt hatte. Bas von Benda-Beckmann konnte an diese und auch noch an weit mehr Forschungen anknüpfen. Mit der präziseren Frage: Was war wie nach dem Tagebuch?
Anne Franks Tagebuch ist nicht das Einzige seiner Art, es gibt zahllose weitere Aufzeichnungen, in denen Jugendliche ihren verstörenden Alltag aus der Perspektive verfolgter Juden beschrieben. Sie notierten in Verstecken oder in Ghettos, was sie fühlten und dachten, höchst privat und bei allgegenwärtiger Lebensgefahr.3 Für die Öffentlichkeit war Anne Franks Tagebuch, als es 1947 in den Niederlanden publiziert wurde, noch beispiellos. Während in der westdeutschen Bundesrepublik Schuld und Verantwortung an den nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere auch Anklagen gegen Täter, immer weiter in den Hintergrund rückten, kletterten die Auflagen der Tagebuch-Übersetzung ins Deutsche von 1950 an rasant nach oben. Diese enorme Wirkung, zumal auch die vielfältigen Projektionen auf diesen einzigartigen Text, lässt sich eigens diskutieren. Doch wie immer man es wendet, steht am Ende ein literarisches Werk von Weltrang, in über 70 Sprachen übersetzt, seit 2009 als Dokument von »universellem Interesse« ein Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Millionen von Leserinnen und Lesern durchlitten mit Anne Frank die etwas mehr als zwei Jahre, die sie und ihre sieben Leidensgefährten im Versteck verbrachten. Wie sollen sie sich je eine authentische Vorstellung davon machen können, wie sich deren Lebenswege nach ihrer Verhaftung fortsetzten?
Anne Frank hat dazu nichts überliefert. Was man von ihr weiß, wird von anderen formuliert, zitiert, ihr mitunter auch zugeschrieben. Als Fragmente eines kurzen Weiterlebens, dessen Individualität für die Außenwelt verlorengegangen ist. Unwiederbringlich. Und schier unerträglich für die, die sich in die Empfindungswelt der jungen Frau hineingelesen haben und nur zu gerne und in ihren eigenen Worten vernommen hätten, wie es weiterging. Genauer: wie es für sie weiterging. »Manche wollen zu viel und zu schnell verstehen, sie haben für alles Erklärungen; andere weigern sich zu verstehen und betreiben eine wohlfeile Sakralisierung«, schreibt Giorgio Agamben4, als hätte er genau dieses eine Dilemma vor Augen und nicht ganz allgemein das, womit seine Reflexionen überschrieben sind: »Was von Auschwitz bleibt«. Als den einzig gangbaren Ausweg aus diesem Dilemma sieht Agamben: In dieser Kluft zu verweilen.
Genau das ist es, was »Nach dem Tagebuch« versucht, und hier begegnen wir dem Historiker Bas von Benda-Beckmann und den anderen Mitarbeitern der Anne Frank Haus, Erika Prins, Gertjan Broek und Teresien da Silva, die die Lebensereignisse der acht Untergetauchten rekonstruiert haben. Dieses Buch steigt nicht aus der privaten Geschichte aus, sie bleibt einerseits Leidfaden – und wird andererseits zum Leitfaden für die weitere Recherche. So folgt Bas von Benda-Beckmann den acht jüdischen Frauen und Männern aus dem Amsterdamer Hinterhaus ins Durchgangslager Westerbork und von dort in die Lager Auschwitz, Bergen-Belsen, Raguhn, Neuengamme und Mauthausen. Unterwegs geht es ihm um mehr als nur um die Rekonstruktion der individuellen Erfahrungshorizonte, denn er erweitert sie um den objektiven Wissensstand über die jeweiligen Aufenthaltsorte der acht Protagonisten.
Mit geschichtswissenschaftlichen und ethnografischen Methoden entsteht so eine eigene Textur aus dem, was geschah, und dem, wie es sich in den Köpfen der Betroffenen darstellt. Beziehungsweise wie es sich in deren Köpfen dargestellt haben könnte. Denn berichten, was ihm widerfahren ist, kann nur Otto Frank. Für die sieben anderen findet Bas von Benda-Beckmann Zeugnisse von Überlebenden, die sich an Anne Frank und die Ihren erinnern oder ihnen nahe waren oder wenigstens an deren vermutlichen Aufenthaltsorten selbst erlebten, wie es dort zuging.
Die personalisierende Geschichtsschreibung erhellt das Geschehen weit zutreffender als es die pure Faktenaufbereitung vermag. Denn es geht um mehr, nämlich auch um das Wesen der Konzentrationslager, die ihnen eigenen Erlebniswelten, die veränderten Verhaltensweisen, die außer Kraft gesetzten Konventionen, die Brutalität des SS-Personals, die Allgegenwart eines systemischen Vernichtungswillens. Ein Historiker kann schlicht feststellen, dass die Situation für die Häftlinge in Auschwitz hoffnungslos war. Ein Beispiel, nicht aus diesem Buch, gibt die Niederländerin Froukje de Leeuw, die für eineinhalb Jahre als Gefangene in Block 10 des sogenannten Stammlagers in Auschwitz saß. Sie schrieb nach ihrer Befreiung: »Es war kein Ende zu sehen als das, dass man wahrscheinlich zu Tode kommen wird. Ja, das war es eigentlich, wir lebten dem Tod entgegen.«5 Ihre Feststellung unterscheidet sich nur in einer Nuance, und greift doch viel weiter. Aus der Sicht der Häftlinge offenbart sich die volle Wirkung der abgrundtief zerstörerischen Unmenschlichkeit.
Den Alltag im Lager authentisch beschreiben kann nur, wer ihn selbst erlebt hat. Darum bleiben Zeitzeugenberichte unverzichtbar, so fragmentarisch sie auch immer sind und so zwangsläufig sie nur Ausschnitte der Lagerrealität wiedergeben können. Und zu alledem: Sie enthalten, wie Primo Levi nahelegt, nichts über die zu Ende geführte Vernichtung. »Die Untergegangenen hätten, auch wenn sie Papier und Bleistift gehabt hätten, niemals Zeugnis abgelegt, weil ihr Tod schon vor der Vernichtung ihres Körpers begonnen hatte.«6 Am Ende der Leben von Anne Frank, ihrer Schwester Margot und beider Mutter Edith, von Auguste und Hermann van Pels mit ihrem Sohn Peter sowie von Fritz Pfeffer steht das Unbezeugbare.
Jedes aufgespürte Körnchen, das in eine Verbindung mit den acht aus dem Hinterhaus zu bringen ist, hebt sie ein Stückchen weiter aus der Anonymität der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Durch die Augen von Zeugen sieht man sie für einige Momente auftauchen, scheinbar belanglose Szenen gewinnen den Rang von Existenznachweisen. Was in diesem Buch gelungen ist, lässt erahnen, was in anderen Fällen bei einem früheren Nachkriegsinteresse an personalisierbarem Erfahrungswissen noch alles hätte gerettet werden können – einmal ganz davon abgesehen, was bei angemessenen politischen Reaktionen am Ende der Weimarer Republik alles hätte verhindert werden können.
Viel zu lange nährte sich Geschichtswissen zu großen Teilen nur aus Täterquellen. Und der Gegenentwurf einer puren Oral History verliert leicht die Orientierung. Vorbildhaft verstand es Ende der 1990er-Jahre Saul Friedländer, durch seine Verknüpfung verschiedener Erzählebenen der standardisierten Geschichtsschreibung entgegenzuwirken. Eine »gewaltige Herausforderung« sei es, schickte er seiner monumentalen Studie »Das Dritte Reich und die Juden« voraus, »eine historische Darstellung des Holocaust zu schaffen, in der sich die Praktiken der Täter, die Einstellungen der umgebenden Gesellschaft und die Welt der Opfer in einem einzigen Raum behandeln lassen«.7 In ähnlicher Weise plädierte auch der Empirische Kulturwissenschaftler Utz Jeggle, die Möglichkeiten und die Verantwortlichkeit der individuellen Lebenswelten »auch in ihrer geschichtlichen Eigentümlichkeit gegenüber der kolonialisierenden Übermacht von gesellschaftlichen Ansprüchen festzuhalten«.8 Auch hier geht es nicht um das Ergänzende und Exemplarische, sondern um die Zusammenschau im Dienste neuer Erkenntnis, um den »innere[n] Zusammenhang zwischen Geschehen und Erlebensmodalität«. Mit der Chance, »in Geschichten innere Wahrheiten zu entdecken, die sicherlich wenig Neues über den geschichtlichen Verlauf, um so mehr jedoch über dessen Abbilder und Eindrücke im Kopf und der Seele hinterlassen«.9
Eine Faktenaufzählung zu den acht Lebensläufen »nach dem Tagebuch«, also nach der Verhaftung am 4. August 1944, fiele zwangsläufig kurz aus. Denn sieben der acht Leben sind nach wenigen Monaten brutal ausgelöscht. Bas von Benda-Beckmann schaut genauer auf dieses Geschehen, seziert das destruktive Geflecht der verschiedenen Konzentrationslager. Lehrstoff für eine empathische Aneignung von unvergessbarer Wirklichkeit.
Hans-Joachim Lang
»Sie fragten mich, ob ich Ihnen etwas über Anne und Margot erzählen kann«
Im Namen der Toten zu sprechen geht nur,
indem man die Augenzeugen zu Wort kommen lässt.
(Arnon Grunberg, Rede zum 4. Mai 2020)
Am 4. August 1944 fiel die Sicherheitspolizei in die Geschäftsräume der Amsterdamer Opekta-Filiale an der Prinsengracht 263 ein (Abb. 1). Sie fanden acht jüdische Personen, die sich seit Juli 1942 im Hinterhaus dieses Gebäudes versteckt hatten. Eine von ihnen war ein fünfzehnjähriges Mädchen, Anne Frank. Was sich in ihrem Leben ereignete, hatte sie seit ihrem dreizehnten Geburtstag gewissenhaft in einem Tagebuch festgehalten, einem Dokument, das zu einem der berühmtesten Bücher der Welt werden sollte. Durch dieses in mehr als 70 Sprachen übersetzte und mehrmals verfilmte Tagebuch wurde das Schicksal dieser acht untergetauchten Personen eines der bekanntesten Selbstzeugnisse des Zweiten Weltkriegs. Durch Annes Augen lernte die Welt die acht Menschen kennen, die sich zwei Jahre lang im rückwärtigen Trakt des Gebäudes an der Prinsengracht versteckt hielten, aus nächster Nähe und aus der Perspektive einer Heranwachsenden beschrieben.
Von diesen acht Personen handelt dieses Buch: von Otto, Edith, Margot und Anne Frank, von Hermann, Auguste und Peter van Pels, und von Fritz Pfeffer. Sie waren Juden, die im Lauf der Dreißigerjahre aus Nazi-Deutschland geflüchtet waren, um in den Niederlanden ein neues Leben aufzubauen. Acht Menschen, die im Sommer und im Herbst des Jahres 1942 gemeinsam untertauchten, um die nationalsozialistische Judenverfolgung zu überleben.
Dieses Buch macht dort weiter, wo Annes Tagebuch aufhört. Es untersucht so genau wie möglich, was den acht Verfolgten widerfuhr, nachdem man sie verhaftet und in verschiedene Konzentrations- und Vernichtungslager gebracht hatte. Sieben von ihnen fanden dort den Tod.
Wie berühmt Anne Frank und ihre sieben Gefährten auch sein mögen, ohne eine Einführung dieser acht Hauptpersonen kommt dieses Buch nicht aus. Um ihr Schicksal in den Lagern möglichst genau verfolgen zu können, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf die Ereignisse, die ihrer Festnahme vorausgingen. Wer waren diese acht Menschen? Unter welchen Umständen waren sie aus Nazi-Deutschland geflüchtet? Und wie kamen sie 1942 ins Hinterhaus?
Zuerst handelt es sich um die Familie Frank. Der Vater Otto Frank war ein Geschäftsmann, der in einer wohlhabenden Bankiersfamilie in Frankfurt am Main aufgewachsen war. Er entstammte liberalen jüdischen Kreisen und hatte im Ersten Weltkrieg als deutscher Offizier an der Westfront gekämpft.1 1925 heirateten Otto Frank und Edith Holländer in Ediths Heimatort Aachen (Abb. 2). Wie Otto entstammte Edith einem liberalen jüdischen Milieu, war aber weitaus gläubiger als ihr Mann und legte größeren Wert auf jüdische Traditionen. Nach ihrer Heirat lebten Edith (Abb. 3) und Otto (Abb. 4) in Frankfurt am Main. Dort wurden auch die beiden Töchter geboren, 1926 Margot und drei Jahre darauf Anne (Abb. 5).
In Frankfurt bekam die Familie die Bedrohung durch die aufkommende nationalsozialistische Bewegung unmittelbar zu spüren. Nach dem Krieg erinnerte sich Otto Frank, dass die beklemmende Stimmung in Deutschland zu Beginn der Dreißigerjahre ihn und seine Frau immer öfter über eine mögliche Emigration nachdenken ließ:
Ich erinnere mich schon 1932, dass SA-Gruppen vorbeigezogen sind und gesungen haben: »Wenn das Judenblut am Messer spritzt.« Also das war schon sehr deutlich sichtbar. Und ich habe gleich mit meiner Frau besprochen: »Wie können wir hier wegkommen?«, aber es ist ja schließlich die Frage: »Wie kann man einen Lebensunterhalt verdienen, wenn man weggeht und alles mehr oder weniger aufgibt?«2
Für die Franks war schließlich die Machtergreifung Adolf Hitlers und der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) im Januar 1933 der ausschlaggebende Grund, Deutschland zu verlassen. Unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler wollten die Nationalsozialisten auch den Frankfurter Juden klarmachen, dass es von nun an in der Stadt keinen Platz mehr für sie gab. Mit dem von den Nazis im März angekündigten landesweiten Boykottaufruf, der am 1. April in ganz Deutschland in die Tat umgesetzt wurde, nahm der antisemitische Terror noch bedrohlichere Formen an.
Überall in Deutschland wurden jüdische Geschäfte, Unternehmen und Ärzte gebrandmarkt und blockiert. In Frankfurt – mit seiner etwa 31.000 Mitglieder zählenden jüdischen Gemeinde, was etwa sechs Prozent der Einwohner der Stadt entsprach – waren die Auswirkungen immens.3 Am 13. März 1933 fiel die Sturmabteilung (SA) – das paramilitärische Rollkommando der Nationalsozialisten – ins Rathaus ein und hisste dort die Hakenkreuzfahne (Abb. 6). Der liberale Oberbürgermeister Ludwig Landmann wurde zum Rücktritt gezwungen und durch den nationalsozialistisch gesinnten Richter Friedrich Krebs ersetzt. Noch am selben Nachmittag versperrte die SA an verschiedenen Stellen in der Stadt die Eingänge zu Geschäften und Warenhäusern jüdischer Eigentümer und schüchterte Geschäftsinhaber und Kunden ein. In den Tagen danach wurde die Situation noch bedrohlicher, bis es am 1. April 1933 zum landesweiten, oft mit großer Gewalt, Einschüchterungen und Schikanen einhergehenden Boykott jüdischer Geschäfte kam. Bereits am 21. März hatte der neue Frankfurter Polizeipräsident auf einer großen NSDAP-Kundgebung den jüdischen Stadtbürgern zugerufen, dass gerade in Frankfurt der Boykott jüdischer Unternehmen unverzichtbar sei: »Frankfurt soll deutsch werden. (…) Ihr Juden, ihr braucht nicht zu zittern, wir bleiben legal, so legal, dass Euch vor lauter Legalität noch unbehaglich wird.«4
Solche kaum verhohlenen Drohungen überzeugten Otto und Edith Frank endgültig, dass es für sie in Deutschland keine Zukunft mehr gab. Auch finanzielle Probleme spielten bei der Entscheidung eine Rolle. Die Geschäftsbank seines Vaters geriet rasch in große Schwierigkeiten, ebenso erging es Otto Franks eigenen geschäftlichen Unternehmungen. Daher beschlossen die Franks im Frühjahr 1933, in die Niederlande zu emigrieren, wo Otto Frank mit Hilfe seines Schwagers Erich Elias für Opekta eine niederländische Auslandsvertretung aufbauen wollte (Abb. 7). Das Unternehmen handelte mit Pektin, einem Geliermittel, das zur Herstellung von Marmelade verwendet wird.
Mitte August 1933 ging zunächst Otto Frank nach Amsterdam, um dort sein neues Unternehmen aufzubauen und die Ankunft von Frau und Töchtern vorzubereiten, die bis dahin für ein paar Monate bei Ediths Mutter in Aachen wohnten.5 Im Dezember 1933 bezog die Familie in Amsterdam eine großzügige Wohnung am Merwedeplein im neuerbauten Viertel Rivierenbuurt (Abb. 8 und 9). Anfangs hatte Otto Frank für sein Unternehmen einige Räume im Candida-Gebäude am Nieuwezijds Voorburgwal im Stadtzentrum gemietet, 1934 zog er an die Singel um. 1938 kaufte er noch die Firma Pectacon, einen Hersteller von Gewürzen und Konservierungsmitteln, von deren Gründer Johannes Kleiman, der später einer seiner engsten Mitarbeiter wurde. Anfang Dezember 1940 verlegte Otto Frank beide Unternehmen in ein Gebäude aus dem 17. Jahrhundert in der Prinsengracht 263. Es hatte ein Vorder- und ein Hinterhaus sowie ausreichend Büroräume, Magazine und Lagerraum für beide Betriebe. Dort gab es sogar Platz für eine Gewürzmühle.
In Amsterdam bauten sich die Franks eine neue Existenz auf. Die Mädchen gingen zur Schule, fanden rasch Anschluss und lernten sehr schnell Niederländisch. Und auch Otto und Edith Frank fanden neue Bekannte und Freunde in der Nachbarschaft, die meisten aus Deutschland emigrierte Juden, aber auch niederländische Nachbarn, Geschäftspartner und Kollegen aus Otto Franks Firma Opekta-Pectacon. Vor allem die Beziehung zu Ottos Kollegen Victor Kugler, Johannes Kleiman und den Sekretärinnen Miep Santrouschitz, die später Jan Gies heiratete, sowie Bep Voskuijl und deren Vater Johannes war sehr eng. Diese Kollegen waren es auch, die vom Sommer 1942 an bis August 1944 die Versorgung der acht Untergetauchten im Hinterhaus übernehmen sollten (Abb. 10, 11 und 12). Sie brachten ihnen Lebensmittel und frische Kleidung, boten ihnen aber auch Gesellschaft und versorgten die Franks und ihre Mitbewohner in der isolierten Welt ihres Zufluchtsorts mit Nachrichten von draußen.
Auch nach ihrer Ankunft 1933 in den Niederlanden verfolgten die Franks weiter die Entwicklungen in Deutschland. Von Verwandten und Freunden hörten sie Berichte über die zunehmenden Gewalttätigkeiten und die immer aggressivere Judenverfolgung in ihrem Heimatland, aber sie sahen auch mit eigenen Augen, was dort geschah, weil Otto und Edith Frank bis 1938 – dem Jahr, in dem die antijüdischen Ausschreitungen extrem zunahmen – regelmäßig bei Verwandten in Deutschland zu Besuch waren. Anne und Margot reisten jedes Jahr, meist um Weihnachten, zu ihrer Großmutter nach Aachen.6 Auch in dieser überwiegend katholischen Stadt nahe der niederländischen Grenze war der Einfluss der NSDAP auf den Alltag der kleinen jüdischen Gemeinde nicht zu übersehen. Ediths Mutter Rosa und ihre beiden Brüder Walter und Julius (Abb. 13 und 14), die gemeinsam ein gut laufendes Metallverwertungsunternehmen führten, wurden ständig von der neuen Staatsmacht drangsaliert.7
Im Juni 1933 verhaftete die Gestapo den Rechtsanwalt Karl Löwenstein, einen guten Freund von Ediths ältestem Bruder Julius.8 Der Jurist Löwenstein war Vorsitzender des Synagogenrats, dem auch Julius Holländer angehörte. Zusammen mit seinem Bruder wurde Löwenstein ohne nachvollziehbaren Grund im Juni 1933 wochenlang in Schutzhaft genommen.9 Auch Walter und Julius Holländers Metallverwertungsunternehmen geriet durch die antijüdischen Verordnungen in eine zunehmend ernste Schieflage.10 Selbst der Gang zur Synagoge wurde Walter, Julius und Mutter Rosa Holländer-Stern erschwert, die alle drei regelmäßig an der wöchentlichen Sabbatfeier in der Aachener Neuen Synagoge teilnahmen. Woche für Woche marschierten SA-Leute freitags und samstags vor der Synagoge auf und wiesen die Besucher zurück. Mehr und mehr wurden die Juden aus dem öffentlichen Leben verdrängt.
Die massiven antijüdischen Ausschreitungen am 9. und 10. November 1938 machten Annes und Margots alljährlichen Besuchen in Aachen definitiv ein Ende. Diese Nacht ging als »Kristallnacht« oder »Reichskristallnacht« in die Geschichte ein. Der Ursprung des Begriffs ist nicht völlig geklärt. Soweit bekannt, wurde er 1939 zum ersten Mal von einem Nazi-Offizier verwendet und war als zynische Anspielung auf die überall vor den zerstörten Wohnungen, Geschäften und Büros, den Synagogen und öffentlichen jüdischen Einrichtungen herumliegenden Glasscherben gedacht. Obwohl »Kristallnacht« im nationalsozialistischen Deutschland nie zum offiziellen Propaganda-begriff wurde, ist die Verwendung dieser Bezeichnung nach wie vor umstritten, vor allem in der deutschsprachigen Literatur, wo er in jüngster Zeit vor allem durch die Begriffe »Novemberpogrom« oder »Pogromnacht« ersetzt wurde, auch, weil der Hinweis auf zerbrochenes Glas dem Ausmaß der gewalttätigen Ausschreitungen jener Nacht nicht annähernd gerecht werden kann.11 In einer landesweit koordinierten Terroraktion hatten Trupps von Nationalsozialisten im gesamten Deutschen Reich, zu dem inzwischen auch Österreich gehörte, Synagogen in Brand gesteckt und jüdische Geschäfte zerstört (Abb. 15 und 16). Sie traten die Türen ein, misshandelten die jüdischen Bewohner und schlugen deren Hausrat kurz und klein. Etwa 30.000 jüdische Männer wurden verhaftet und vorübergehend in den Konzentrationslagern Buchenwald, Sachsenhausen und Dachau interniert, die 1933 von den Nationalsozialisten errichtet worden waren, um ihre politischen Gegner einzukerkern. Auch Walter und Julius Holländer wurden im November verhaftet. Julius wurde bald darauf wieder entlassen, weil er als Träger des Verwundetenabzeichens aus dem Ersten Weltkrieg besonderes Ansehen genoss. Aber seinen Bruder Walter hielt man drei Wochen lang im Konzentrationslager Sachsenhausen fest und ließ ihn erst frei, als er nachweisen konnte, dass er, dank Otto Franks Vermittlung, in ein niederländisches Flüchtlingslager aufgenommen werden sollte, um dort auf ein Einreisevisum in die Vereinigten Staaten zu warten. Beiden Brüdern, Walter und Julius, gelang es, über die Niederlande in die Vereinigten Staaten zu entkommen. Annes Großmutter Rosa Holländer-Stern verließ nun ebenfalls Aachen und zog bei den Franks am Merwedeplein ein. Die nächtliche Terroraktion vom 9. auf den 10. November 1938 war ein Menetekel – ein klares Signal, dass Juden in Nazi-Deutschland nun keinen Rechtsstatus mehr hatten.12
Eineinhalb Jahre darauf, am 10. Mai 1940, stellte sich heraus, dass auch die Niederlande nicht mehr sicher waren. In nur fünf Tagen zwang die deutsche Wehrmacht die Niederlande zur Kapitulation. Seit dem Spätsommer 1940 dekretierte die Besatzungsmacht unter Führung von Reichskommissar Arthur Seyss-Inquart, eines österreichischen Juristen und NS-Politikers, immer umfangreichere antisemitische Anordnungen (Abb. 17). Diese Veränderungen gehörten zu den ersten Ereignissen, die Anne Frank in ihrem seit Juni 1942 geführten Tagebuch beschreiben sollte:
Nachdem die Deutschen hier das Szepter schwangen, hat für uns das Unglück begonnen, erst kam die Rationierung und alles musste auf Marken gekauft werden, dann kamen in den zwei Jahren, die sie nun hier sind, lauter Judengesetze. (…) Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abliefern; Juden dürfen nicht in die Straßenbahn; Juden dürfen in kein Auto, auch nicht in ein privates; Juden dürfen nur von 3–5 Uhr einkaufen, außer in jüdischen Läden, auf denen Jüdisches Geschäft steht; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Friseur; Juden dürfen von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und anderen der Unterhaltung dienenden Stätten aufhalten; Juden dürfen nicht in ein Schwimmbad, auch nicht auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben. Juden dürfen nach 8 Uhr abends nicht mehr in ihrem Garten sitzen, auch nicht bei Bekannten; Juden dürfen die Wohnungen von Christen nicht betreten; Juden müssen in jüdische Schulen gehen, und noch dergleichen mehr, so ging unser Leben weiter und wir durften dies nicht und das nicht. Jacque [eine Freundin von Anne] sagte immer zu mir: ‚Ich traue mich nichts mehr zu tun, weil ich Angst habe, dass es verboten ist.13
Die deutsche Besatzung stellte das mit großer Anstrengung aufgebaute Leben der Franks völlig auf den Kopf. Außer den von Anne beschriebenen Beschränkungen gab es noch weitere Auswirkungen (Abb. 18–22). Als Erstes die wirtschaftliche Enteignung: Die Firmen Opekta und Pectacon mussten »arisiert« werden. Otto Frank gelang es nur durch eine geschickte finanzielle Konstruktion, seine Firmen durch befreundete Mitarbeiter, Johannes Kleiman, Victor Kugler und Jan Gies, den Ehemann seiner Sekretärin Miep, übernehmen zu lassen. Auf diese Weise konnte er verhindern, dass sein Betrieb einem von den deutschen Besatzern eingesetzten Verwalter in die Hände fiel.
In der Zwischenzeit unternahm Otto Frank zwei weitere Versuche zur Emigration. Bereits 1937 hatte die Familie Frank ernsthafte Pläne geschmiedet, ein Unternehmen in England zu gründen. Nachdem dieses Vorhabens endgültig gescheitert war, stellte Otto Frank, vermutlich 1938 oder 1939, einen Einreiseantrag für die Vereinigten Staaten.14 Bei der Bombardierung Rotterdams am 14. Mai 1940 wurde auch das dort angesiedelte US-Konsulat getroffen und die Verwaltungsstelle für Visaanträge in die USA dem Erdboden gleich gemacht. Als das Konsulat wenige Wochen später wieder öffnete, mussten alle, die bereits einen Antrag gestellt hatten und auf der Warteliste standen, ihre Empfangsbestätigungen für die eingereichten Anträge abgeben; diese wurden dann zur Grundlage einer neuen Warteliste. Obwohl es von Otto Frank keinerlei Belege dafür gibt, dass er diese Nachweise eingeschickt hat, geht aus seiner Akte hervor, dass sein Antrag nach 1940 weiterbearbeitet wurde. Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten war inzwischen äußerst schwierig geworden, doch mit Hilfe seines amerikanischen Freundes Nathan Straus und der beiden Brüder von Edith, die bereits 1938 nach Boston emigriert waren, versuchte er es ein zweites Mal. »Ich bin gezwungen, nach der Möglichkeit einer Auswanderung zu suchen, und soweit ich sehen kann, sind die USA das einzige Land, in das wir gehen können«, schrieb er am 30. April 1941 an Nathan Straus in New York.15
Am 28. Mai 1941 wandte er sich mit seiner Frau an die Einwanderungsabteilung des National Refugee Service (NRS), die am Tag darauf eine neue Akte auf Otto Franks Namen anlegte, File A-23007. Mit den Brüdern Holländer und dem Boston Committee for Refugees verfassten Straus und dessen Frau ein Empfehlungsschreiben samt einer Bürgschaftserklärung, um den Einreiseantrag von Otto Frank und seiner Familie zu unterstützen (Abb. 23).16
Doch die Hoffnung auf eine Emigration in die Vereinigten Staaten platzte wie eine Seifenblase, als im August 1941 bekannt gegeben wurde, dass alle laufenden Einwanderungsanträge noch einmal beim Judenrat Amsterdam eingereicht werden müssten – die US-Konsulate waren bereits seit Juni geschlossen. Otto Frank bat wieder Straus und seine Schwäger um Unterstützung, dieses Mal für einen Einwanderungsantrag nach Kuba; dafür brauchte er allerdings zusätzlich noch ein Transitvisum durch das neutrale Spanien. Wegen des komplizierten Verfahrens, des hohen finanziellen Risikos und der geringen Erfolgsaussichten beantragte Otto Frank zunächst nur für sich allein ein kubanisches Visum, um zu sehen, ob er damit Erfolg haben könnte. Im Lauf der Monate Oktober und November 1941 stellte sich aber heraus, dass Otto Franks Auswanderungsversuche trotz aller Bemühungen zum Scheitern verurteilt waren, da keine Ausreisevisa mehr ausgegeben wurden. Vom 7. Dezember 1941 an befanden sich die Vereinigten Staaten im Krieg mit Deutschland. Vier Tage später wurde das Antragsverfahren für Otto Franks Kuba-Visum endgültig eingestellt. »In Anbetracht der gegenwärtigen internationalen Lage (…) wurde der Antrag auf ein kubanisches Visum für Otto Frank storniert«, vermeldet eine kurze Notiz in seiner Emigrationsakte am 11. Dezember 1941.17
In den Niederlanden nahm der staatliche Terror gegen Juden immer mehr zu. Es blieb nicht bei Enteignung und Raub, die Verfolgung wurde zum Völkermord. Am 5. Juli 1942 wurde die erste Gruppe Amsterdamer Juden aufgefordert, sich zu einer »von der Polizei überwachten Arbeitsbeschaffung« zu melden (Abb. 24). Zu dieser ersten Gruppe gehörte auch Margot Frank.18 Und damit war der von allen gefürchtete Augenblick gekommen. Obwohl niemand genau wusste, was diese »Arbeitsbeschaffung« bedeutete, befürchteten die Franks das Schlimmste. Am Tag, nachdem Margot diese Aufforderung erhalten hatte, tauchte die ganze Familie im Hinterhaus des Firmengebäudes an der Prinsengracht unter.
In den vorangegangenen Monaten hatte Otto Frank diesen Schritt sorgfältig vorbereitet und seine Kollegen Victor Kugler, Johannes Kleiman, Bep Voskuijl und Miep Gies gefragt, ob sie ihm, wenn es nötig werden sollte, beim Untertauchen helfen würden.19 Dafür veranlasste er wesentliche Umbauten am Gebäude. Er ließ vom Treppenabsatz vor dem Privatbüro im ersten Stock eine zusätzliche Treppe zum Flur vor dem Eingang zum Hinterhaus einbauen (Abb. 25). Im August 1942 wurde dieser Eingang noch zusätzlich hinter einem drehbaren Bücherregal versteckt. Es ist nicht sicher, ob die neue Treppe mit der Absicht gebaut wurde, sich im Hinterhaus verstecken zu können oder aus rein betriebstechnischen Gründen. Sie sollte sich jedoch noch als sehr wichtig erweisen. Ursprünglich gab es nur eine Treppe in den zweiten Stock, in den man über eine separate Außentür gelangte. Aber mit der zusätzlichen Treppe entstand eine direkte Verbindung zwischen den Büros im ersten Stock und dem Eingang zum Hinterhaus im zweiten Stock. Über diese neue Treppe konnten die Helfer ins Hinterhaus gelangen, ohne von den Lagerarbeitern gesehen zu werden und ohne zuerst vom Büroeingang außen herum zu der zweiten Eingangstür gehen zu müssen. Zur selben Zeit wurde auch die Küche, die sich ursprünglich auf dem kleinen Treppenabsatz vor dem Bücherschrank befand, ins Hinterhaus verlegt. Wie bei der Treppe ist auch hier unklar, ob die Verlegung der Küche bereits eine bewusste Vorbereitung für ein mögliches Untertauchen war; jedenfalls erwies sich diese Verlegung später ebenfalls als eine wichtige Voraussetzung, die ein geheimes Leben im Hinterhaus überhaupt erst möglich machte.20
In den Wochen vor dem Umzug in die Prinsengracht schafften Otto und Edith so unauffällig wie möglich Kleider und Vorräte in das Gebäude und Johannes Kleiman und sein Bruder brachten Bettzeug, Decken und Handtücher ins Hinterhaus.21
Außer ihrer eigenen Familie bezogen Otto und Edith Frank auch die Familie des anderen jüdischen Opekta-Pectacon-Kollegen in den Plan mit ein. Hermann van Pels sollte mit seiner Frau Auguste und seinem Sohn Peter zu den Franks im Hinterhaus dazustoßen. Am 8. Juli 1942 schrieb Anne, wie ihre Eltern ihr, kurz vor dem plötzlichen Aufbruch zur Prinsengracht, von den Plänen erzählt hatten, ins Versteck zu gehen:
Papi und Mami erzählten mir nun eine Menge. Wir würden zu Papis Büro gehen und dort oben sei eine Etage für uns freigeräumt. Van Pels würden auch kommen, dann wären wir also zu siebt, die Katze der van Pels würde auch mitkommen, dann hätten wir ein bisschen Abwechslung. Wir kamen im Büro gut an und dort gingen wir direkt weiter nach oben, dort waren erst die Toilette und dann ein kleines Badezimmer mit einem neuen Waschbecken, daran grenzte ein kleines Zimmer mit zwei Schlafsofas, das war das Zimmer von Margot und mir. Dort gab es drei Wandschränke, daran grenzte wieder ein Zimmer, das von Papa und Mama, da standen wieder zwei Schlafsofas und zwei kleine Tische mit einem Rauchtisch und ein Bücherregal und auch ein Wandschrank, in dem standen 150 Dosen Gemüse und allerhand andere Vorräte, dann kamen wir auf einen kleinen Flur und dann waren da wieder zwei Türen, eine führte zum Gang, und dann kam man nach unten und zu Papas Büro. Und eine führte wieder zu unserem Badezimmer, dann ging eine sehr steile Treppe nach oben und da ist eine große Wohnküche für die van Pels mit einem kleinen Zimmer für Peter, und dann kam ein Dachboden mit einem Spitzboden.22
Hermann van Pels hatte einen niederländischen Vater und damit auch die niederländische Staatsbürgerschaft, war aber in Deutschland aufgewachsen, wo er auch sein Leben lang gewohnt hatte. Er war in Osnabrück in der väterlichen Firma tätig gewesen, die mit Kräutern und Gewürzen für den Fleischbedarf Handel trieb. 1925 heiratete er Auguste Röttgen (Abb. 26).
Auguste stammte aus dem kleinen Ort Buer in der Umgebung von Recklinghausen und Gelsenkirchen und zog im Alter von sechs Jahren mit ihren Eltern und zwei älteren Schwestern nach Essen, wo ihre Familie in der Innenstadt eine Schneiderei besaß.23 Obwohl Auguste von Anne Frank als etwas bornierte und intellektuell beschränkte Frau beschrieben wird, war sie in Wirklichkeit gebildeter als Annes eigene Mutter. Wie Edith hatte auch Auguste ein Mädchenlyzeum besucht, aber anschließend auch ein Semester an der Universität Köln studiert.24
Seit ihrer Heirat lebten Auguste und Hermann in Osnabrück, wo 1926 auch ihr einziger Sohn Peter geboren wurde (Abb. 27).25 Im Gegensatz zu den Franks verließen die van Pels’ Deutschland nicht gleich nach Hitlers Machtergreifung, sondern sie setzten alles daran, ihr Alltagsleben so gut es eben ging weiterzuleben. Das war nicht leicht. In der Zeit von 1933 bis zu ihrem Aufbruch im Sommer 1937 wurde das Leben für die kleine Gemeinde aus etwa vierhundert Osnabrücker Juden immer unsicherer. Sie mussten sich gegen den aggressiven Boykott jüdischer Unternehmen, gegen eine ausgesprochen bösartige Hetze in der Lokalpresse und gegen immer neue Gewalttätigkeiten behaupten. Auch wenn die Familie van Pels, soweit wir es wissen, nicht persönlich tätlich angegriffen oder verhaftet wurde, war die Bedrohung doch gewaltig. Peter besuchte die kleine jüdische Schule in Osnabrück und beobachtete, wie die Zahl der Schüler in den Dreißigerjahren immer weiter abnahm (Abb. 28). Ständig wurden sie von der Hitlerjugend eingeschüchtert, und es kam zu Straßenschlachten. Ein Schulfreund weiß noch, wie sich Peter auf der Straße wiederholt gegen die Pimpfe aus der Hitlerjugend verteidigen musste.26
1937 hielten Hermann und Auguste es nicht länger in Osnabrück aus. Hermanns niederländischer Pass machte einen Umzug nach Amsterdam ziemlich einfach.27 In den Niederlanden eröffnete Hermann van Pels zunächst zusammen mit seinem Schwager eine eigene Firma, verließ sie jedoch bald darauf und trat 1939 in Otto Franks Gewürz- und Konservierungsmittelhandel ein. Eine Woche nach den Franks tauchte schließlich auch Hermann van Pels mit seiner Familie im Hinterhaus unter und bezog dort mit Frau Auguste und Sohn Peter das Stockwerk über den Franks.
Der letzte, der im Hinterhaus Schutz suchte, war der Zahnarzt Fritz Pfeffer (Abb. 29). Als sie bereits eineinhalb Monate im Versteck lebte, schrieb Anne Frank über dessen Einzug am 21. September 1942 in ihr Tagebuch: »Es wird darüber gesprochen, dass Mijnheer Pfeffer auch dazukommt, dann können wir dem auch helfen.«28 Merkwürdigerweise zögerte Pfeffer sein Untertauchen lange hinaus; und als sich ihm diese Möglichkeit eröffnete – wahrscheinlich am 17. November -, bat er Miep Gies, die gekommen war, um ihm das Angebot zu überbringen, um eine Woche Aufschub, weil er noch Operationen geplant habe und außerdem auf die ausstehende Bezahlung durch den Zahnarzt warte, in dessen Praxis er illegal weitergearbeitet hatte. Aber Miep Gies drängte ihn im Namen der anderen Untergetauchten zu einer schnellen Entscheidung. Noch länger zu warten würde das Untertauchen gefährden.29
Fritz Pfeffer hatte Otto Frank 1940 über seine Amsterdamer Zimmerwirtin kennengelernt, eine alte Frankfurter Bekannte von Annes Vater.30 Pfeffer lebte damals erst kurz in den Niederlanden; er hatte von allen späteren Mitbewohnern im Hinterhaus am längsten mit seiner Flucht gezögert. Aufgewachsen in Gießen, hatte er in Würzburg und Berlin Medizin und Zahnheilkunde studiert. Abgesehen vom Wehrdienst in der deutschen Armee, wo er es wie Otto Frank bis zum Offizier brachte, arbeitete Fritz Pfeffer von 1913 an als Zahnarzt in Berlin, wo er 1920 auch promovierte.31
Dort heiratete er seine erste Frau Vera Bynthiner, mit der er einen Sohn, den sie Werner nannten, bekam. 1933 zerbrach die Ehe und es kam zur Scheidung. Nicht lange danach ging Fritz eine Beziehung mit der nicht-jüdischen Charlotte Kaletta ein (Abb. 30). Obwohl es nie zu einer offiziellen Vermählung kam, betrachteten sich Fritz und Charlotte als Ehepaar. Fritz stellte Charlotte allen als »Frau Pfeffer« vor. Doch die Nürnberger Gesetze von 1935 machten eine Heirat der beiden unmöglich. Sogar in den Niederlanden, wo sie seit 1938 lebten, verhinderte ein multilateraler Staatsvertrag von 1902 eine Heirat der beiden.32
Trotz der zunehmenden Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden versuchte Fritz Pfeffer zunächst, sich in Berlin als Zahnarzt durchzuschlagen. Erst nach dem Terror der Kristallnacht vom 9. auf den 10. November beschloss er zu fliehen. In dieser Nacht und an den darauffolgenden Tagen wurden in Berlin ungefähr 12.000 Männer verhaftet und nach Sachsenhausen und Buchenwald gebracht.33 Pfeffer gelang es, sich der Verhaftung zu entziehen. Obwohl von ihm selbst keine Quellen erhalten sind und nicht bekannt ist, ob er damals persönlich angegriffen oder misshandelt wurde, steht fest, dass er die gewalttätigen Ausschreitungen jener Nacht aus nächster Nähe miterlebt haben muss. Nur 200 Meter von seiner Wohnung entfernt, in der Passauer Straße, stand seit 1905 eine Synagoge des Religionsvereins Westen, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November von einer Horde von Männern völlig zerstört wurde (Abb. 31).34 Etwas weiter von seiner Wohnung entfernt, jenseits des Kurfürstendamms, setzten SA-Männer in derselben Nacht auf persönlichen Befehl Joseph Goebbels’ die berühmte liberale Synagoge in der Fasanenstraße in Brand.35
Für Fritz Pfeffer, seinen Sohn Werner und seine Verlobte Charlotte war dieser Gewaltausbruch das Zeichen, das Land so schnell wie möglich zu verlassen. Mit Hilfe seiner nicht-jüdischen Haushälterin Else Messmer-Hoeft organisierte Pfeffer zunächst die Flucht seines Sohnes Werner nach England. Werner fuhr mit einem sogenannten Kindertransport – eine Initiative britischer kirchlicher und staatlicher Organisationen, um deutsch-jüdische Kinder ins Land zu holen – per Schiff von Bremerhaven nach Harwich und wurde schließlich in Minehead untergebracht, einem kleinen Küstenort im Südwesten Englands (Abb. 32).36 Fritz Pfeffer ging Anfang Dezember 1938 in die Niederlande, wieder mit Hilfe seiner Haushälterin und von Charlotte Kaletta, die ihm ein paar Wochen darauf ebenfalls in die Niederlande folgte.37
Welche Eindrücke all diese Ereignisse bei Fritz Pfeffer hinterließen – zuerst die Flucht des Sohnes, dann sein eigener urplötzlicher Aufbruch mit der geliebten Charlotte -, lässt sich aus den Quellen nicht erschließen. Aber in einem Gespräch mit Ernst Schnabel, dem deutschen Journalisten, der die erste Biografie über Anne Frank veröffentlichte und dafür in den 1950er-Jahren mehr als 40 Zeitzeugen interviewte, sagte Charlotte etwas darüber, wie ihre Berichte in den Niederlanden aufgenommen wurden. Man glaubte ihnen einfach nicht: »Die Holländer konnten sich nicht vorstellen, dass die Deutschen so seien. (…) Sie haben den Geschichten nicht geglaubt, die die deutschen Migranten mitbrachten (…) nicht einmal die Juden in Holland konnten es glauben.«38 Charlotte und Fritz lebten in Amsterdam zusammen, bis er sich im November 1942 schweren Herzens den Untergetauchten im Hinterhaus anschloss. Von da an lebte er getrennt von Charlotte, mit der er nur gelegentlich über Miep Gies Nachrichten austauschte und die für ihn kleine Lebensmittelpäckchen mitgab.
Die acht Untergetauchten wohnten etwa zwei Jahre lang im Hinterhaus zusammen, in ständiger Angst vor Entdeckung (Abb. 33). Mit großem Gespür für die Dynamik der sozialen Beziehungen und stilistischem Geschick dokumentierte Anne den Alltag der acht Menschen in ihrem Zufluchtsort. Ihr Tagebuch gibt uns einen intimen Einblick in die Gedanken und Gefühle eines pubertierenden Mädchens, das mit sich und den ständigen Spannungen in dem beengten Hinterhaus zu kämpfen hat. Sie führt uns vor Augen, wie sehr das isolierte Leben im Versteck die beiden Familien und Fritz Pfeffer belastete und mitunter zu Konflikten führte. Sie beschreibt die Angst, die gereizte Stimmung und die Streitereien, aber auch die Solidarität und Widerstandskraft der sieben Schicksalsgefährten, mit denen sie sich den engen Raum des Hinterhauses teilen musste. Zwischen Anne Frank und Peter van Pels erblühte für kurze Zeit eine junge Liebe, die aber später von Annes Seite her wieder abkühlte. Zur beiderseitigen Frustration mussten sich Anne Frank und Fritz Pfeffer ein kleines Zimmer teilen, in dem sie regelmäßig darüber stritten, wer den kleinen Schreibtisch benutzen durfte. Am 16. März 1944 vertraute Anne ihrem Tagebuch an: