Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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ISBN: 9783754370322
1. Auflage
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
© Klaus Schmidt
Alle Rechte vorbehalten
Die Vergangenheit hilft
die Gegenwart verstehen
und auf die Zukunft hoffen
Raoul Frahm *1975
Meine Hand umklammert das Messer fester. Ich hole aus - und steche mit aller Kraft zu. Es entsteht ein unerträgliches Geräusch, bei der Durchtrennung der Bauchdecke durch die scharfe Klinge. Grad so, wie billiger Stoff zerreißt. Etwas spritzt mir in das Gesicht. Meine weißen Stoffhandschuhe saugen die Körperflüssigkeit gierig auf. Wie damals in der Schule, wenn sich die Tinte in das Löschblatt fraß.
Aber dieses Mal handelt es sich nicht um blaue Flüssigkeit; keine Tinte. Es ist Blut. Roter Lebenssaft. Das Gedärm quillt aus der offenen Bauchhöhle und legt das verletzte Herz frei. Das lebenswichtige Organ stößt einen heftigen Blutschwall aus und kämpft um sein Dasein. Ein vergeblicher Kampf.
Unregelmäßig pulsierend taumelt das Herz seinem Ende entgegen. Da erblicken mich die Augen. Sie scheinen überrascht. Mich überkommen Abscheu und Ekel. Entsetzt lasse ich das blutverschmierte Messer fallen.
Wilma: „Knut hallo! Hörst du mir nicht zu. Wo bist du. Ich erzähle dir von dem leckeren Fisch, den ich mir heute in der neu gekauften Pfanne gebraten habe, und du träumst vor dich hin. Woran denkst du?“
„Entschuldigung, du hast recht. Ich habe dir nicht mehr zugehört. Mir fiel ein Erlebnis aus meiner Jugend ein. Damals, vor vielen Jahrzehnten. Es war schrecklich. Manchmal habe ich heute noch Albträume davon.“
„Magst du mir erzählen; was dich bedrückt?“
„Ich habe bisher mit niemandem darüber gesprochen. Bei dir ist es etwas anderes. Unsere Familien kennen sich fast vierzig Jahre und ich hatte und habe immer Vertrauen zu dir. Du bist einfühlsam und verständnisvoll. Und du wirst es nicht weitertragen, wenn ich dich darum bitte. Dessen bin ich mir sicher. Und weil du ein solch zuverlässiger Mensch bist, werde ich es dir erzählen. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es mir danach besser geht. Es war, liebe Wilma, ein dramatischer Einschnitt in meinem Leben. Eine schwere Schuld lag und liegt mir auf der Seele. Ich habe gemordet!“
„Du hast was?“, ruft sie aus. Dabei weicht sie einen Schritt zurück und starrt mich erschrocken an.
„Getötet -- du hast dich nicht verhört.“
„Das glaube ich nicht.“
„Es stimmt aber. Ich habe Sebastes Norvegius umgebracht.“
Wilma schaut mich an: „Wer war das. Ein Skandinavier?“
„Nein. Sebastes Norvegius ist ein Fisch. Es ist der lateinische Name für den Rotbarsch.“
„Knut du veralberst mich. Was redest du denn da?“
„Wenn es aber stimmt. Ich habe Tausende von ihnen getötet. Auf See, auf einem Fischdampfer.“
Wilma seufzt: „Und ich befürchtete schon Schlimmes.“
„Es war und bleibt das Schlimmste für mich! Wo ich doch seit meiner Kindheit tierlieb bin und großen Respekt vor der Natur habe.“
„Ich verstehe, was du damit sagen willst Knut. Ich mag deine Einstellung ja. Vergiss nicht, dass es nur Fische waren; Lebensmittel. Der Beruf als Seemann auf einem Fischdampfer verlangte es von dir.“
„Es stimmt ja, was du sagst. Ich versuche es mir immer wieder klar zu machen. Aber die Augen Wilma. Die Augen haben mich richtig vorwurfsvoll angesehen. Manchmal erscheinen sie mir im Traum; dann ist es mit meiner Nachtruhe vorbei. Es gibt Indianerstämme die glauben, dass ihre verstorbenen Angehörigen in den Tieren weiterleben. Ein unheimlicher Gedanke. Lass uns lieber über etwas anderes reden. Wie geht ´s dir gesundheitlich Wilma?“
„Wie du möchtest. Gut geht es mir, richtig gut. Nächste Woche habe ich eine Vorsorgeuntersuchung bei meinem Hausarzt, Dr. Sorge.“
„Ja so sind sie, die Mediziner. Immer auf der Suche nach neuen Geldquellen.“
Wilma schaut mich vorwurfsvoll an: „Sei nicht immer so skeptisch. Dr. Sorge ist ein guter Arzt. Zu dem gehe ich schon über 20 Jahre. Als ich vor ein paar Wochen bei einem Singkreis war, musizierte er tatsächlich am Klavier. Konnte dein Vater nicht auch Klavier spielen?“
„Ach Wilma, ich hab´ ihn ja kaum gekannt.“
„Erzähl´ mal, wie war das damals in eurer Familie?“
„Wenn du unbedingt möchtest. Vieles weiß ich aber wirklich nur aus Erzählungen meiner älteren Schwester. Ich beginne im Jahr 1949. Übrigens ist es auch das Jahr der Verfassung des Grundgesetzes.“
Der Schrei ließ die Fensterscheiben in dem schlafenden Dorf klirren. Hunde wurden aus ihrem Schlaf gezerrt. Jaulten und kläfften noch, als der verzweifelte Laut längst verstummt und in ein klägliches Wimmern übergegangen war. Nur ein Mensch in äußerster Not vermochte seine Qual so herauszuschreien. Was war in dieser kalten Novembernacht in dem kleinen Ort Unheilvolles geschehen? Was war dieser Frau, und es handelte sich ohne Zweifel um den Hilferuf einer weiblichen Person, angetan worden? Womöglich hatte ein Anwohner inzwischen die Polizei oder einen Sanitätswagen gerufen. Sie kämen aber zu spät, wenn sie einträfen. Es gäbe nichts mehr für sie zu tun. Das Blut durchtränkte Tuch würde Zeugnis ablegen. Ein Ereignis, wie es unzählbare Male auf der Welt vorkam. Zu oft für diesen kleinen Globus. Doch die wenigsten Menschen würden etwa daran ändern wollen. Es war natürlich ein Kind geboren worden.
Nun ist er es, der schrie. Kalt und ungemütlich war es in dieser Neuen Welt. Wollte er hierher? Keiner hatte ihn gefragt. Die Natur suchte es aus, so war er in das Leben hineingestoßen worden. Dort, in jener kleinen Landstadt mit wenigen tausend Einwohnern. Seine Eltern waren Flüchtlinge. Die Mutter Elke kam aus Oberschlesien und der Vater Polz aus Berlin. Gleich nach seiner Geburt zog die Familie mit den zwei Brüdern und der Schwester in ein Patrizierhaus in eine größere Hafenstadt. Das Mehrfamilienhaus -- ein Prunkstück -- gehörte dem chronometerbauenden Großvater. Im Parterre betrieb er ein Uhrmacher- und Juweliergeschäft.
Während sein Sohn das Piano und die Haushaltshilfe bespielt, lernt seine Frau das Verkaufen in Schwiegervaters Geschäft. Obwohl es schlechte Zeiten sind, wie die Erwachsenen oftmals lamentieren, gibt es keine finanziellen Sorgen. Dank des vermögenden Großvaters, der im Sinne des Friedrich Nietzsche lebt: „Willst du das Leben leicht haben, so bleibe immer bei der Herde.“
Dass einer seiner Enkel nicht im entferntesten dieser Maxime treu bleiben würde, hätte er sich nicht denken lassen. Obwohl der Spruch, für alle deutlich lesbar, in einem Stahlrahmen über dem Piano hängt. Im Ganzen gesehen, ein gutbürgerliches Entree für das neugeborene Kind.
Nietzsches Rat wird auch von den Eltern nicht befolgt. Und so geschieht einiges, dass nicht die Zustimmung des Großvaters findet. Die Mutter steht, nach kurzer Einarbeitungszeit im Geschäft des alten Herrn und verkauft Chronometer, Schmuck und Kuckucksuhren. Die Kinder werden derweil von einem Kindermädchen und der Köchin beaufsichtigt. Die Haushaltshilfe ist, auf Drängen der Mutter, fristlos entlassen worden.
Da der II. Weltkrieg erst seit ein paar Jahren beendet war, halten sich Zigtausende von US-Soldaten als Besatzungsmacht in Deutschland auf. Die Amis sind in vielen norddeutschen Städten stationiert; auch in jenem Ort. Die Offiziere haben eine Schwäche für Kuckucksuhren und die Mutter eine Schwäche für Offiziere. Oft gibt es Streit um die Ami-Kuckucksuhren zwischen den Eltern. Einmal schreit der Vater die Mutter an und vermutet, dass der Neugeborene auch eine Kuckucksuhr ist.
Lag es an den ausgestopften Giraffen, Zebras und Perlhühnern, die hier ins Leere starrten? Am Meer aus schwarzen Anzügen? An den vom Krieg gezeichneten Gesichtern der Anwesenden oder der drohenden deutschen Teilung? Ausgelassene Feierstimmung wollte nicht recht aufkommen am 1. September 1948 im Zoologischen Museum Koenig in Bonn.
Inmitten von totem Getier versammelte sich der Parlamentarische Rat zum Festakt, in der Atmosphäre einer „Krematoriumsfeier“, wie Elisabeth Selbert später schrieb: „Es war also nicht etwa ein Fanfarenstoß zum neuen Anfang, sondern der Ausklang vom Ende.“
Die Anwältin Elisabeth Selbert, 51, resoluter Blick, war eine von nur vier Frauen im Parlamentarischen Rat. Im Auftrag der Alliierten sollte das 65-köpfige Gremium auf dem Scherbenhaufen der Nazi-Diktatur das Fundament für einen demokratischen Staat zimmern. Eine Herkulesaufgabe - und eine Riesenchance. Endlich bot sich auch die Gelegenheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau festzuschreiben.
Fünf Wörter, eine Revolution
Zwar konnten Frauen wählen und gewählt werden, die Weimarer Verfassung hatte 1919 festgelegt:
„Männer und Frauen haben grundsätzlich die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Ansonsten jedoch galt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB), anno 1896 beschlossen und schon damals von Frauenrechtlerinnen angefeindet: weil es ein zutiefst patriarchalisches Ehe- und Familienmodell propagierte.
Mit der Heirat mussten Frauen ihren Namen aufgeben. Ohne Einwilligung ihres Mannes konnten sie weder arbeiten noch Verträge schließen oder ein Konto eröffnen. Er hatte die Entscheidungsmacht in allen familiären Angelegenheiten - sie die Pflicht, den Haushalt zu führen. Ein Unding, fand SPD-Politikerin Elisabeth Selbert und setzte alles daran, den Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz zu verankern.
Fünf harmlos wirkende, aber revolutionäre Wörter. Selbert wollte das veraltete BGB aus den Angeln heben, war damit jedoch „allein auf weiter Flur“, wie sie beklagte. Denn anfangs unterstützten sie weder die Genossen noch die anderen drei Frauen. „Du kannst doch nicht das ganze Familienrecht außer Kraft setzen oder ändern wollen, das bedeutet ja ein Rechtschaos“, gab Wohlfahrtspflegerin Friederike Nadig, ebenfalls Sozialdemokratin, zu bedenken.
Frauenthemen mit „Heiterkeit“ quittiert.
CDU-Politikerin Helene Weber, die älteste der vier Frauen, forderte Lohngleichheit und gleiche staatsbürgerliche Rechte. Ansonsten vertraten aber sowohl die Adenauer-Vertraute als auch ihre konservative Mitstreiterin, die Zentrumspolitikerin Helene Wessel, zunächst die Ansicht, die Weimarer Verfassung habe die Gleichstellung der Geschlechter bereits hinreichend garantiert.
Der Männerrunde des Parlamentarischen Rates schienen zudem andere Themen drängender - auf Frauenthemen reagierten sie laut Protokoll gern mit „Heiterkeit“. Im Lauf der Diskussion schwenkten Nadig und die SPD auf Selberts Linie ein und machten sich für ihren Satz zur Gleichberechtigung stark. Ihr Antrag wurde dennoch dreimal niedergestimmt.
70 Jahre Grundgesetz: Die Geburt der Bundesrepublik Am 3. Dezember 1948 platzte Selbert der Kragen. Sie drohte mit einer Mobilisierung der Öffentlichkeit. Wer sie kannte, wusste: Diese Frau gibt weder nach noch auf.
Elisabeth Rohde wurde 1896 in Kassel geboren und wollte Lehrerin werden, doch ihr Vater, ein Gefangenenaufseher, konnte die teure Ausbildung nicht bezahlen. Elisabeth ging zur Post - am Schalter begegnete sie ihrem späteren Ehemann Adam Selbert. Der Sozialdemokrat ermunterte sie, das Abitur nachzuholen und Jura zu studieren. Binnen sieben Semestern schaffte sie es trotz zwei kleiner Söhne bis zur Promotion.
Nebenher engagierte Selbert sich politisch und kämpfte dafür, „dass die Gleichberechtigung in der Praxis bis zur letzten Konsequenz durchgeführt wird“, wie sie schon 1920 schrieb. Ihre Zulassung zur Anwältin erhielt Selbert einen Monat, bevor die Nationalsozialisten die Anwaltschaft für Frauen sperrten. Bis zum Kriegsende ernährte sie die Familie: Als „roter Funktionär“ wurde ihr Mann 1933 aus dem Staatsdienst entlassen und vier Wochen im KZ inhaftiert.
Auf Tour wie ein Wanderprediger.
Ab 1945 arbeitete Selbert am Wiederaufbau der SPD und der Kasseler Kommunalverwaltung mit, 1948 schaffte sie es auf Umwegen in den Parlamentarischen Rat - als die hessischen Genossen sie nicht nominierten, fragte sie bei Niedersachsens SPD nach. Mit Erfolg: Der Hannoveraner Parteivorstand schickte Selbert nach Bonn, wo sie schnell aneckte. Die Sozialdemokraten vor Ort taten die Frauenfrage mit „Ironie und Sarkasmus, um nicht zu sagen Hohn“ ab, klagte Selbert in einem Brief vom Oktober 1948.
Als ihr Gleichberechtigungssatz für das Grundgesetz kaum Unterstützung fand, setzte sie sich über sämtliche Konventionen hinweg und zog „wie ein Wanderprediger“, so Selbert, durchs Land. Die Juristin hielt Vorträge, sprach Journalisten sowie Ehefrauen von CDU-Mitgliedern an.
Ihre beispiellose Kampagne trug Früchte: Allein 40.000 Metallarbeiterinnen wandten sich mit Eingaben an den Parlamentarischen Rat. Ihnen taten es alle weiblichen Landtagsabgeordneten der Westzonen gleich (mit Ausnahme der bayerischen), zudem Frauenverbände - und die komplette weibliche Einwohnerschaft des hessischen Städtchens Dörnigheim.
„Ich bin Juristin und unpathetisch.“
Wäschekörbeweise erreichten Protestnoten das Gremium in Bonn, auch Medien trommelten für Selbert. Stetig stieg der Druck: Als die Gleichberechtigung am 18. Januar 1949 zum vierten Mal auf der Tagesordnung stand, glich der Parlamentarische Rat plötzlich einem Heer von Feministen.
Es sei „so viel Sturm entstanden, dass wir gedacht haben - es liegt uns ja gar nichts an einer bestimmten Formulierung“, erkannte nun Helene Weber (CDU). Und der spätere Bundespräsident Theodor Heuss (FDP) flunkerte:
„Dieses Quasi-Stürmlein“ habe die FDP nicht im Geringsten beeindruckt. „Denn unser Sinn war von Anfang an so, wie sich die aufgeregten Leute draußen das gewünscht haben.“
Grundgesetz: Bauanleitung für die Bundesrepublik Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ wurde einstimmig angenommen und als Artikel 3 (2) im Grundgesetz verankert - Revoluzzerin Selbert war am Ziel. „Es war die Sternstunde meines Lebens“, schrieb sie später und triumphierte in einer Rundfunkrede am Tag nach der Abstimmung:
„Dieser Tag war ein geschichtlicher Tag, eine Wende auf dem Weg der deutschen Frauen in den Westzonen. Lächeln Sie nicht! Es ist nicht falsches Pathos einer Frauenrechtlerin, die mich so sprechen lässt. Ich bin Jurist und unpathetisch [...]. Ich spreche aus dem Empfinden einer Sozialistin heraus, die nach jahrzehntelangem Kampf um diese Gleichberechtigung nun das Ziel erreicht hat.“
Neben Selberts Satz hatte der Parlamentarische Rat auch eine (von ihr mitverfasste) Übergangsregelung akzeptiert, die den Gesetzgeber verpflichtete, das BGB bis zum 31. März 1953 anzupassen. Doch die Adenauer-Regierung ließ die Frist verstreichen. 1957 wurde dann das „Letztentscheidungsrecht“ des Mannes in der Ehe gekippt und erst 1977 das Ehe- und Familienrecht reformiert, die „Hausfrauen-Ehe“ abgeschafft.
„In die Parlamente müssen die Frauen!“
Die Aufbruchstimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit war dahin, streitbare Frauen wie Selbert hatten es schwer: Als einzige der vier weiblichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates zog sie nicht in den ersten Deutschen Bundestag ein; nach dem Alleingang zur Gleichberechtigung stagnierte ihre politische Karriere.
Auch privat stieß Selbert an ihre Grenzen, Körper und Geist streikten angesichts der Vielfachbelastung als Politikerin, Anwältin, Ehefrau, Mutter, Großmutter. Schon 1948 erlitt sie einen Herzanfall, hinzu kamen eine Gallenoperation sowie Nervenerschöpfung, Gewichtsverlust, Depressionen. 1953 erwog Selbert, die über „Zerrüttung als Ehescheidungsgrund“ promoviert hatte, die Trennung von Partner Albert.
Am Ende blieb sie sowohl ihrem Mann als auch der SPD treu. Vor allem aber engagierte sie sich bis zu ihrem Tod 1986 für die Geschlechtergleichheit: ein Grundrecht, das Frauen laut Selbert aktiv einfordern müssen. Ende der Siebzigerjahre bezeichnete sie es als „ganz schreckliches Kapitel, das die Frauen in den Parlamenten so unterrepräsentiert sind.“
Und gab Frauen dies mit:
„Sie haben doch, ganz anders als früher, alle Rechte. Sie können sich darauf berufen. Sie müssen sie durchsetzen! Es ist mir ganz und gar unbegreiflich, warum sie es nicht tun, Doppelbelastung hin oder her. Die Feministinnen mit ihren gerichtlichen Klagen gegen nackte Frauen auf Titelseiten von Illustrierten - das sind doch Nebenkriegsschauplätze! In die Parlamente müssen die Frauen! Dort müssen sie durchsetzen, was ihnen zusteht!“
Quellen: DER SPIEGEL, von Katja Iken 21.05.2019
... aus (Heike Drummer/Jola Zwilling): Ein Glücksfall für die Demokratie. Elisabeth Selbert - Die große Anwältin der Gleichberechtigung. Eichborn-Verlag, Frankfurt 1999
Muss i denn zum Städele hinaus, Städele hinaus und du mein Schatz bleibst hier. Wenn i komm´, wenn i komm, wenn i wieder, wieder komm´- ... TUUUUUUUUUUUUUT, TUUUUUUUUUUUUUUUUT – TUUUUUUUUUT. Der Rest des Liedes geht in dem infernalisch dröhnenden Schiffstyphon der MS AMERIKA unter.
Die Blaskapelle und die unzähligen Menschen an der Kaje zuckten beim ersten Ton zusammen. Einige, bis auf die Musiker, hielten sich beide Ohren zu. Selbst in kilometerweiter Entfernung war das tiefe Dröhnen des Typhons zu hören. Die Stimme Amerikas ist es, welche die Blaskapelle übertönt. Das Schiffshorn der MS AMERICA, dem Flaggschiff der United States Lines. Wuchtig, wie eine Trutzburg, liegt das Schiff an der Kaje des Columbus-Bahnhofs.
Um den schwarz-weißen Schiffsrumpf plätschert schmutzig-graues Flusswasser. Zwei qualmende, rotweiß-blaue Schornsteine krönen die haushohen Aufbauten. Trotz des kalten Oktobernachmittags haben sich mehrere hundert Menschen auf der Kaje versammelt und bestaunten den Ozeanriesen.
Wild schwenken sie ihre Taschentücher und winken den Passagieren an Bord zu. Mit Grüßen beschriftete Bettlaken werden hochgehalten. Bunte Ballons steigen auf und Luftschlangen werden vom Schiff herübergeworfen.
Alt und Jung sind auf den Beinen. Es herrscht ein fröhliches Treiben. Man lacht, singt und Grüße werden gerufen. Da ertönt erneut das Typhon des Auswandererschiffs und den meisten vergeht das Lachen. Erinnert es sie schmerzlich daran, dass der Abschied naht. Denn die Erwachsenen wissen mehr als die unbeschwert mit Luftballons spielenden Kinder. Ihnen wird klar, dass geliebte Menschen sie verlassen; einige für immer. Für nicht wenige wird es eine Reise ohne Wiederkehr, ohne ein Wiedersehen.
Viele Menschen weinen und rufen ihren Angehörigen auf der AMERICA zum Abschied zu. Auf dem Schiff stehen die Auswanderer an der Reling und winken zurück. Sie lassen ihren Tränen ebenfalls freien Lauf. Es fließen und flossen viele Tränen an diesem Ort, dass der Fluss längst über die Ufer getreten wäre, würde er nicht in die Atlantik münden.
„Papa! Da oben steht ja Papa. Was macht Papa dort auf dem Schiff Nette?“, fragt der fünfjährige Knut und schaute dabei zu seiner Schwester hoch.
Die zehnjährige Janett kann ihm aber nicht erklären, warum ihr Papa mit ihren beiden Brüdern dort oben auf diesem großen Ozeandampfer steht. Und wieso ist die olle Fehlman mit auf dem Schiff und steht so dicht neben ihrem Vater? Nein, jetzt küsst sie ihn auch noch. Das darf doch nur die Mama! Wenn die das mitkriegt, gäbe es für Papa schimpfe und Mama würde die Fehlman in das eiskalte Wasser schubsen, denn -- ihre Mutter ist stark, denkt sich Janett.
Erst gestern hat die Kleine das wieder zu spüren bekommen, als es Dresche mit dem Kleiderbügel gab. Das war aber nicht schlimm für sie. Schlechter ergeht es ihrem Bruder; der tut ihr leid. Er versteht nicht, dass die Eltern sich nicht mehr lieb haben. Und dass der Papa, mit der doofen Nachbarin und ihren Söhnen, auswandert. Obwohl -- er wandert ja nicht. Er kann nicht über das Wasser wandern. Er reist mit diesem großen Dampfer. Egal ob man läuft, fliegt oder mit dem Schiff fährt. Es heißt auswandern, wenn man in ein fremdes Land zieht und nie mehr zurückkommt.
So hat es ihr die Oma erklärt. Bei diesen Gedanken kommen ihr wieder die Tränen und sie drückt die kleine Hand ihres Bruders fester: „Sei still Kleiner! Unser Papa wandert aus.“
„Und was ist mit Horsti und Günti. Sind die auch auf dem Schiff?“
„Die wandern auch aus. Winke ihnen mal zu, da oben stehen sie. Neben dem Rettungsboot. Die beiden Jungs mit den roten Jacken. Siehst du sie?“
„Ja, Sie winken. Kommen sie bald wieder Nette?“
„Nein Knutchen, sie kommen nie wieder“, schluchzt Janett.
„Auch nicht, wenn sie ausgewandert haben?“, fragt ihr Brüderchen ängstlich zu ihr aufblickend.
„Nein Kleiner, auch dann nicht. Nie mehr.“
Die Kinder halten sich aneinander fest, während der Ozeanriese loslassen muss. Loslassen von den dicken
Eisenpollern, um die seine kräftigen Leinen geschlungen sind und ihn an das Land fesseln. Die Schiffsschrauben drehen und wirbeln das trübe Flusswasser am Achterschiff auf. Ein heftiges Zittern läuft durch den Schiffsrumpf. Vier Hafenschlepper ziehen und schieben an der AMERICA. Behäbig löst sich der Koloss von der Kaje und dreht seinen voluminösen Rumpf gen Westen. Richtung Amerika. Auf der Kommandobrücke befiehlt der Kapitän dem Matrosen am Ruder: „Halbe Kraft voraus!“
Das Schiff nimmt Fahrt auf und durchschneidet mit seinem Bug majestätisch die vergeblich Widerstand leistenden Wellen. Die Rufe der Menschen an Bord der AMERICA werden immer leiser, bis sie nur noch der Wind vernimmt und das riesige Auswandererschiff zu einem kleinen Punkt am Horizont schrumpft. Die eben noch Jubelnden auf der Kaje jubeln nun nicht mehr. Sie begeben sich mit gesenkten Köpfen schweigend auf den Heimweg. Es gibt nichts mehr zu sehen und es gibt nichts mehr zu feiern. Die Liebsten sind fort aus ihrem Leben. Die meisten für immer. Eine fühlbare Traurigkeit legt sich über den, vor Minuten so fröhlichen Columbusbahnhof. Den Bahnhof der Tränen, wie er auch im Volksmund genannt wird.
Nachbar Fehlman hakt die Kindsmutter unter und bestimmt jovial: „Komm wir gehen noch in die Wirtschaft. Einen trinken. Wo wir IHN jetzt endlich los sind.“
Herr Fehlman und die Mutter streben der Schankwirtschaft zu. Oma Anna und die Kinder tippeln hinterher. Das Auswandererlokal, ein schlichter hölzerner Rundbau, liegt direkt an der Kaje. Zum Glück erwischt die Familie einen unbesetzten Tisch und drei Stühle. Die Kinder müssen stehen. Oma bekommt zur Feier des Tages einen echten Bohnenkaffee. Herr Fehlman bestellt für sich und seine Geliebte zwei Piccolos. Sämtliche Tische sind von traurigen Menschen besetzt. Einige Kinder tollen herum, was eigentlich streng verboten ist. Die Eltern beschäftigten sich mit ihren eigenen Gedanken und achten nicht darauf. Manche Kinder weinen still vor sich hin und Janett fragte leise die Großmutter: „Sind die Väter von den anderen Kindern auch mit dem Schiff fort und kommen nie mehr wieder?“
Da sitzen dann alle schweigsam herum. Auch an dem Tisch von dem kleinen Knut gibt es keine Fröhlichkeit. Sein Vater hat die beiden Brüder mitgenommen. Die Familie ist darüber sehr betrübt -- nur Herr Fehlman nicht. Der zieht lächelnd den kleinen Knut an seinen dünnen Ärmchen zu sich heran: „Komm´ her Kleiner. Du musst nicht traurig sein. Hör´ schon auf zu heulen. Große Jungens weinen nicht. Du bist doch kein Mädchen! Dein Papa ist zwar fort, aber jetzt hast du ja mich. Ich bin dein neuer Papa. Hier sieh, was ich für dich habe.“
Das Knutchen schlägt seine Hand zur Seite und das Bonbon fällt auf den Boden.
„Undankbarer Bengel, über dich werde ich mich nicht ärgern. So Oma Anna“, wendet er sich an die Großmutter der Kinder, „Sie nehmen den Jungen zu sich. Wir haben keinen Platz für ihn. Es reicht gerade für Janett, wie sie wissen.“
Dabei streicht er dem Mädchen über das Haar und erhebt sich von seinem Stuhl. „Oma, auf geht´s! Auf Wiedersehen. Vergessen Sie nicht, zu zahlen, haha“, lacht er gemein.
Elke steht ebenfalls auf und haucht ihrem Sohn einen Kuss auf die Wange. Dann rauscht sie, Janetts Hand ergreifend, durch die lustlos schwingende Pendeltür ins Freie.
„Mama Mama, Nette!“, schreit der kleine Knut und reißt sich von Omas Hand los.
„Hoppla kleiner Mann, wo willst du hin. Auch nach Amerika?“, hält der Oberkellner den Jungen an der Tür auf.
Oma Anna eilt herbei. Schimpft mit dem Kind und bezahlt die Zeche. Der Ober nimmt das zusammengesuchte abgezählte Kleingeld naserümpfend entgegen und hält mit herablassender Geste die Pendeltür auf. Oma besteigt mit ihrem Enkel den vor dem Lokal wartenden Omnibus, nicht ohne dem Jungen vorher einzubläuen, dass er, wenn er gefragt werde, sagen soll, er sei erst vier. Ab fünf Jahre muss ein Kinderfahrschein gekauft werden und die Oma hat nicht mehr genügend Geld dabei. Sie konnte nicht damit rechnen, die Zeche in der Wirtschaft bezahlen zu müssen.
So ist sie -- Oma Annas Tochter. Wenn es darauf ankommt, denkt sie nur an sich. Das ist ein Grund, warum sich der Vater der Kinder von ihr hatte scheiden lassen. Aber dass der Schwiegersohn gleich nach Kanada auswandert und dazu noch mit der Nachbarin, das hat Oma Anna nicht erwartet. Wo die doch selbst drei eigene Kinder großziehen muss. Das wird Oma nie verstehen. Sie versteht weder ihre Tochter noch ihren Schwiegersohn. Wie können die das ihren Kindern nur antun. Aber sie müssen wissen, was sie tun. Alt genug sind sie ja. Es ist eben eine verrückte Welt. Zu Omas Zeit, wenn die Kinder noch nicht aus dem Gröbsten heraus waren, hätte es sowas nicht gegeben.
Was aber war in jener Zeit denn so verrückt? Der Krieg ist vor ein paar Jahren beendet worden und vieles noch zerstört oder ver-rückt. Nicht mehr an seinem Platz halt. Das galt für Straßen und Wege, Gebäude und Wohnraum. Aber auch für Familien und Freundschaften. Alles war nicht mehr so, wie es einmal war. Auch Moral und Anstand haben gelitten. Orientierungslose Menschen sahen für sich im zerstörten Deutschland keine Zukunft mehr. Und so verliessen viele von ihnen das Land mit der Hoffnung auf ein besseres Leben – irgendwo.
Die „Galerie der 7 Millionen“ erinnert an die Einzelschicksale der Auswanderer und informiert über ihre Motive für die Emigration. Besucher der multimedialen und interaktiven Ausstellung tauchen ein in die damaligen Lebensumstände der Auswanderer und werden Teil einer Inszenierung, die die Reise der Auswanderer ins Ungewisse nachstellt. Von der Wartehalle über den Abschied am Kai, die Überfahrt auf vollen Schiffen bis zur Ankunft in New York stellt das Museum verschiedene Szenerien originalgetreu nach. In der „Galerie der 7 Millionen“ sind die Biografien von Auswanderern hinterlegt. Von manchem nur Name, und Ausreisetag. Von Anderen ganze Lebensgeschichten.
Quelle: NDR, DAS! 24.02.2019
Am Tag seiner Einschulung ist Knut 6 Jahre alt, klein und schmächtig. Neben dem Lehrer waren in dem muffigen Klassenraum 36 Schülerinnen und Schüler mit ihren Eltern und Knuts Oma anwesend. Alle Kinder, bis auf eines, tragen eine Zuckertüte unterm Arm und einen neuen Schulranzen auf dem Rücken. Nur ein Kind nicht und das ist Knut. Oma hat kein Geld dafür übrig und so trägt er seine Schiefertafel, die Griffel und das Reinigungsschwämmchen in einem Kartoffelnetz. Und anstelle eines bunten Trockentuches für die Tafel gab ihm Tante Inge einen alten Topflappen mit. Heute Nachmittag werde ich ein Zuckerbrot bekommen – wenn ich artig bin. Das verspricht mir Großmutter auf dem einstündigen Fußmarsch zur Grundschule. Und meine Oma hält ihre Versprechen, wenn nicht grade wieder einmal das Geld für wichtigere Anschaffungen gebraucht wird. Wir sind nicht direkt arm, sagt sie dann immer, wir haben nur kein Geld.
Die Kinder in der Schule sind doof - finde ich. Warum soll ich dort hingehen? Alles Wichtige hat mich bereits mein Onkel gelehrt. Regenwürmer auf einen Angelhaken ziehen. Das ist nicht so leicht, wenn sich die Würmer dabei in der Hand winden, weil sie den Haken nicht in ihren Leib gestochen haben wollen.
Das muss aber sein, sonst kann ich keine Fische fangen. Erklärt mir Onkel Polle. Und der weiß es genau, denn er ist der erfolgreichste Angler am Fluss. Ich bekomme mein Zuckerbrot als wir wieder zu Hause sind und ich beschließe, diese doofe Schule schnell zu vergessen.
Doch das Doofe gilt nicht für alle. Einige Mitschüler in der Klasse sind OK. Werner Warneke zum Beispiel. Mit dem komme ich prima zurecht. Mit acht Jahren besuche ich ihn nachmittags zu Hause. Eine Stunde Fußweg zwar, aber dafür darf ich, wenn die Arbeiter Feierabend haben, mit ihm in der Holzhandlung seines Opas herumtollen. Aus dünnen Leisten schnitzen wir uns Schwerter und kämpfen wie edle Ritter für die Gerechtigkeit. Werner wächst auch bei seinen Großeltern auf. Seine Eltern sind ebenfalls nach Amerika ausgewandert; darum gibt es viele Gemeinsamkeiten.