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Bibliografische Information der
Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2021 Sabine Schumacher
facebook.com/psychokrimi
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Titelfoto: iStock.com/Okea
Grafik Design: Barbara Rutzmoser / mondart.de
ISBN: 978-3-7534-8660-4
Noch im Halbschlaf wickelte sie die Decke fester um ihren nackten Körper und kuschelte sich wohlig seufzend in die weichen Daunen. Sie genoss die behagliche Wärme, das Gefühl von Geborgenheit, das sie nur in frühester Kindheit gekannt und danach stets schmerzlich vermisst hatte.
„Guten Morgen, meine Liebe. Es wird Zeit aufzustehen“, raunte eine sanfte Stimme an ihrem Ohr.
„Jetzt schon?“, klagte sie schläfrig, öffnete aber folgsam die Augen und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht, das durchs Fenster schien. Seine strahlende Silhouette zeichnete sich deutlich davor ab.
„Ja, Faulpelz! Raus aus den Federn! Es ist schon nach acht Uhr; die anderen warten mit dem Frühstück auf uns.“
Sie blickte ihn eine Zeit lang schweigend an.
„Es war kein Traum, oder? Sie sind alle tot“, sagte sie schließlich leise.
„Ja“, antwortete er und legte zärtlich seine warme Hand an ihre Wange. „Wir haben es für dich getan – und für die gesamte Menschheit.“
Mit einem resoluten Ruck zog Hannelore Urban die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Sie war spät dran, wenn sie den Bus um dreizehn Uhr acht erwischen wollte, der sie von der Münchner Freiheit zur Heckscherstraße bringen sollte. Um vierzehn Uhr begann ihre Schicht als Krankenschwester auf der Palliativstation des Schwabinger Krankenhauses, und vorher war Übergabe. Bis zur Rente hatte sie noch zwei Jahre vor sich; ihr Mann befand sich bereits im Ruhestand.
Sie hielt sich am Geländer fest und wollte gerade die Stufen des Treppenhauses hinabsteigen, als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, dass die Tür zur Nachbarwohnung immer noch ein wenig offenstand. Schon gestern, als sie spätabends von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie Licht durch den Spalt schimmern sehen. Nun wurde sie stutzig.
„Wie seltsam“, dachte sie verwundert und blieb stehen. „Und wie fahrlässig!“ Mit einem kurzen Blick auf die Uhr machte sie entschlossen kehrt und drückte auf den Klingelknopf. Trotz des schrillen Läutens rührte sich drinnen nichts. Zögernd beugte sie sich vor und versuchte, ins Innere zu spähen. Dabei stieß sie versehentlich mit der Schulter an die Tür, die mit einem leisen, knarrenden Geräusch aufschwang. Obwohl es taghell war, brannte im Flur das Licht.
„Hallo? Frau Gerhaupt? Sind Sie da?“ Ein merkwürdiger Geruch drang aus der Wohnung. Nach altem Fisch. Und Knoblauch. Unschlüssig blieb Hannelore Urban stehen. Sollte sie nachsehen? Vielleicht war die Nachbarin nur kurz in den Keller gegangen. Dann wäre es äußerst peinlich, von ihr in den fremden vier Wänden erwischt zu werden. Normalerweise ließ in diesem Haus niemand seine Wohnungstür offenstehen, da dem älteren Ehepaar aus dem Erdgeschoss durchaus zuzutrauen war, eine solche Gelegenheit zur Schnüffelei schamlos auszunutzen. Die beiden streiften öfter neugierig umher, kontrollierten die Einhaltung der Kehrwoche, mokierten sich über ein vor der Wohnung abgestelltes Paar Schuhe oder einen Regenschirm.
Die Krankenschwester seufzte. Sie war hin- und hergerissen. Einerseits wollte sie ihren Bus erreichen und hatte auch gewisse Hemmungen, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen. Andererseits war sie in Sorge, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte und die Nachbarin vielleicht Hilfe brauchte. „Tritt ein – bring Glück herein!“, las sie auf der Matte zu ihren Füßen. Das gab den Ausschlag. Sie überwand ihre Skrupel und tat einen ersten, vorsichtigen Schritt über die Schwelle.
„Hallo? Frau Gerhaupt?“, rief sie erneut.
Die Wohnung war baugleich mit ihrer eigenen, nur spiegelverkehrt. Die Türen zu Bad und Toilette gingen rechts vom Flur ab, linker Hand lagen Schlafzimmer und Küche, das Wohnzimmer mit Balkon befand sich geradeaus. Erleichtert stellte Hannelore Urban fest, dass das Badezimmer leer war.
„Dass die jetzt nackig aus der Dusche kommt, hätte mir gerade noch gefehlt“, dachte sie und kicherte nervös. Auch im Schlafzimmer und auf dem WC hielt sich niemand auf, soweit sie das mit einem vorsichtigen Blick im Vorübergehen beurteilen konnte. Auf Höhe der Küche verstärkte sich der eigenartige Geruch.
Inzwischen rief Hannelore Urban nicht mehr nach ihrer Nachbarin, sondern schlich möglichst geräuschlos durch den ihr unbekannten Gang. Außer dem eigenen Atem war kein Laut zu hören. Ihr wurde unheimlich zumute. Die Angst manifestierte sich in einem dicken Knoten in ihrem Hals, sie schluckte schwer. Vor der offenen Tür zum Wohnzimmer hielt sie entsetzt inne. Ihr Mund öffnete sich zu einem schrillen, gellenden Schrei, doch kein Ton drang über ihre Lippen. Instinktiv wollte sie die Hände vors Gesicht reißen, aber sie gehorchten ihr nicht. Etliche Sekunden starrte sie wie gelähmt, fassungslos und stumm auf das schreckliche Bild, das sich ihr bot. Endlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie machte jäh auf dem Absatz kehrt.
„Nur weg!“, dachte sie panisch und stürzte Hals über Kopf hinaus. Ihre Handtasche schlug gegen Wände und Türrahmen, das rechte Knie knallte hart gegen eine der Streben des Geländers im Treppenhaus – fast wäre sie gefallen. Wie besessen hämmerte sie mit beiden Fäusten wild gegen die Tür ihres eigenen Zuhauses. „Herbert! Herbert! Mach‘ doch auf!“ Dann brach Hannelore Urban schluchzend zusammen.
Eine gute halbe Stunde später stellte Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein seinen alten VW Golf verkehrswidrig mit zwei Rädern auf dem Bürgersteig gegenüber des gepflegten Altbaus ab und blickte auf den Nikolaiplatz, eine der zahlreichen grünen Inseln inmitten der bayerischen Landeshauptstadt. Hier befindet sich, umgeben von Wiese und alten Bäumen, zentral der Fischerbrunnen, den der Münchner Bildhauer Eugen Mayer-Faßold Ende der 1920er-Jahre entworfen hatte. Jetzt war das Kunstwerk für den Winter mit Holz verschalt. Buntes Herbstlaub lag auf den Brettern.
„Nur schade, dass sie alle paar Meter diese depperten ‚Kacken-Verboten-Schilder‘ in den Rasen rammen müssen“, dachte Branntwein bedauernd. Die Darstellung von Hunden, die gerade ihre Notdurft verrichten, störte den ästhetischen Gesamteindruck der Anlage seiner Meinung nach erheblich.
Kopfschüttelnd stieg er aus. Die junge Kriminalassistentin Susanne Nowak tat es ihm gleich. Obwohl Susi kein Wort gesagt, sondern nur kritisch eine Augenbraue hochgezogen hatte, wusste der Kommissar genau, was sie dachte.
„Sonst kommt hier doch keiner mehr durch!“, rechtfertigte er seine ordnungspolitisch unkorrekte Stellplatzwahl.
„Schon klar, Chef“, antwortete sie. „Und die zwei Parkplätze direkt vor dem Eingang lassen wir mal vorsichtshalber für die Lufthansa frei.“ Susi grinste und hängte sich ihre überdimensional große, selbst gebatikte Umhängetasche über die Schulter.
„Oder für den Leichenwagen – je nachdem, wer zuerst kommt... Ah, da drüben ist der Jürgen“, lenkte Branntwein rasch ab und ging über die Straße, um den uniformierten Kollegen Mooshammer von der Polizeiinspektion 13 per Handschlag zu begrüßen.
„Servus Franz, hallo Susi! – Was hat denn so lange gedauert?“, wollte der Polizeiobermeister wissen.
„Frag‘ lieber nicht! Wartungsarbeiten an den Straßenbahnschienen in der Barer Straße“, seufzte der Kommissar. „Dabei bin ich extra nicht über die Leopoldstraße gefahren, weil ich mir gedacht hab‘, dass da bei dem schönen Wetter heute bestimmt einige Hundert Hipster rumhopsen und alles blockieren.“
„Dafür, dass ihr im Stau gestanden seid, ist er aber gut gelaunt“, raunte Jürgen Mooshammer Susi augenzwinkernd zu.
Die nickte. „Ja, ich bin ein Glückskind!“
Der Kommissar grunzte gereizt. „‚Er‘ würde jetzt gerne die Leiche sehen, wenn’s recht ist. – Weißt du schon was über sie?“
„Ja. Josefina Gerhaupt. Gerade mal dreißig Jahre alt. Ledig, keine Kinder. Laut Melderegister war sie als freiberufliche Kartenlegerin tätig“, berichtete Mooshammer.
„Kartenlegerin?“ Branntwein war überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass das ein Beruf ist.“
„Doch. Eine Bekannte meiner Mutter macht das auch“, warf Susi ein. Ihr Chef sah sie erstaunt an, schwieg jedoch.
„Die Zeugin, die die Tote gefunden hat, heißt Hannelore Urban. Sie lebt mit ihrem Mann in der Wohnung gegenüber der des Opfers. Er, also ihr Mann, ist auch gleich noch rüber und hat die Leiche deshalb ebenfalls gesehen. Sie sind beide ziemlich geschockt, aber vernehmungsfähig“, informierte Mooshammer weiter.
„Super, vielen Dank, Jürgen. Bleibst du bitte hier unten und hältst uns die Schaulustigen vom Hals? Und die Presse, falls nötig. Vor allem die Presse!“
„Klar, Franz, mach‘ ich. – Ach! Und nicht wundern, wenn ihr an der linken Erdgeschosswohnung vorbeikommt. Die älteren Herrschaften da sind ziemlich vorwitzig. Gesehen oder gehört haben sie nichts, aber sie wollten vorhin unbemerkt in den zweiten Stock schleichen.“
„Alles klar!“ Wenn Franz Branntwein – außer grünem Tee und reißerischen Reportagen – etwas nicht leiden konnte, dann waren das neugierige Menschen, die Ermittlungs- oder Rettungsarbeiten behinderten. Auf seinem Golf prangte nicht umsonst ein Aufkleber seines Lieblingsradiosenders: „Gaffen geht gar nicht!“
Entsprechend wenig entgegenkommend war seine Grundeinstellung, als sich prompt die Tür besagter Parterrewohnung öffnete, sobald die beiden Ermittler das Haus betreten hatten. Branntwein und Susi grüßten höflich, gingen aber zielstrebig weiter und stiegen die Stufen hinauf, das Rufen und Schimpfen hinter sich routiniert ignorierend. Vor der Tür zum Tatort stand ein uniformierter Kollege Mooshammers, den die beiden Ermittler nicht kannten. Sie zückten ihre Dienstausweise. Der Polizist nickte freundlich und ließ sie passieren.
Conrad Fleischmann, der leitende Kriminaltechniker der Spurensicherung, kam gerade aus der Küche, als sie eintraten. Er war in einen weißen Schutzanzug der KTU gehüllt. „Handschuhe!“, forderte er statt einer Begrüßung.
„Dir auch einen wunderschönen guten Tag“, antwortete Branntwein sarkastisch, streifte sich aber folgsam das Latex über. Susi folgte seinem Beispiel.
„Jetzt sei nicht so empfindlich, Franz. War ja nicht bös‘ gemeint! – Aber gut, ich kann auch anders…“ Fleischmann zauberte ein strahlendes Lächeln aufs Gesicht und breitete die Arme aus: „Wir freuen uns, Sie am Leichenfundort begrüßen zu dürfen! Bitte klappen sie Ihre Münder zu und stellen Sie die Ohrwascheln in eine aufrechte Position! Die Tote befindet sich nur wenige Meter Luftlinie entfernt geradeaus im Wohnzimmer – und die Schneiderin ist auch schon da.“
„Depp!“, grinste Branntwein, rümpfte aber gleich darauf die Nase. „Sag‘ mal, Conni, was stinkt denn hier so furchtbar?“
„Mei, die Shrimps halt. Da drüben, neben dem Herd.“ Der Kriminaltechniker deutete in Richtung Küche, wo ein geöffnetes Schälchen besagter Meeresfrüchte neben einer Flasche Olivenöl, einer Knoblauchzehe, einem halben Salatkopf und einer Zitrone auf der Arbeitsplatte lag. „Sind schon leicht angegammelt, weil die Heizung läuft.“
„Bei dem schönen Wetter heute?“, wunderte sich der Kommissar.
„Mei, wer nur Salat frisst, friert halt auch leichter“, tat Fleischmann eine seiner Lebensweisheiten kund. Susi verdrehte die Augen.
„Salat mit Senfdressing alla Conni“, feixte Branntwein.
„Bevor das Niveau der Unterhaltung die Poebene erreicht: Was hast du da gefunden?“, brachte die junge Kriminalassistentin das Gespräch wieder aufs Berufliche zurück und zeigte auf ein Markierungsschild der Spurensicherung, das zwischen den Lebensmitteln hervorlugte.
„Das Handy der Toten. Wollte ich euch eh sagen: Sie hat gestern Abend kurz nach zwanzig Uhr einen anonymen Anruf entgegengenommen, der aber nur knapp fünfzehn Sekunden gedauert hat. Danach nichts mehr.“
„Hm. Brannte das Licht schon, als du gekommen bist?“, wollte Susi wissen.
„Ja. Aber nur hier im Gang und im Wohnzimmer.“
„Sie wollte gerade kochen und wurde durch den Anruf unterbrochen“, spekulierte Susi, während sie dem Kriminaltechniker durch den Flur folgten. „Das würde die eingeschaltete Heizung und das Licht erklären.“
„Salat mit Shrimps würde ich zwar nicht direkt als ‚kochen‘ bezeichnen, aber an sich eine gute Theorie. Schau‘n mer mal, was die Schneiderin sagt“, antwortete Branntwein.
Als die Ermittler den Tatort betraten, starrte ihnen Josefina Gerhaupt aus glanzlosen, offenen Augen entgegen. Die Tote saß exponiert auf einem schwarzen Bürostuhl, der in die Mitte des freien Raumes gerollt worden war. Sie war geknebelt. Hände und Arme verschwanden hinter der Lehne. Zur weißen Bluse und hellblauen Jeans trug sie plüschige Hausschuhe mit Elchgeweih. Die Kleidung war blutbefleckt. Rund um ihre Füße hatte sich auf dem Eichenlaminat eine kleine, dunkelrote Lache gebildet. Der fischige Gestank aus der Küche vermischte sich im Raum mit dem metallenen Geruch geronnenen Blutes. Dr. Elisabeth Schneider, die Rechtsmedizinerin, kniete hinter der Leiche.
Franz Branntwein wandte den Blick vom Opfer ab und unterzog den Fundort einer kurzen Musterung: Auf der linken Seite des Wohnzimmers befand sich eine gemütlich wirkende Sofaecke mit bunten Kissen und passender Tagesdecke. Davor stand ein niedriger Tisch mit beigen Moosröschen in einer weinroten Vase. Die Farben wiederholten sich im Couchvorleger und in den Perlen der halblangen Makramee-Vorhänge vor den Fenstern. Fernseher, Audioanlage und Boxen waren gegenüber in einem Hightech-Regal untergebracht. An den weiß gestrichenen Wänden hingen Kunstdrucke stilisierter Landschaften, allesamt schwarzweiß.
Ein großer Schreibtisch nahm die gesamte Fensterfront rechts der Balkontür ein. Neben einem aufgeklappten Laptop im Ruhemodus, dem Festnetztelefon und einem kabellosen Headset mit Mikrofon lagen drei Kartenstapel – Josefina Gerhaupts Handwerkszeug. Ein knapper Meter der gläsernen Tischplatte war komplett leer, bis auf ein weinrotes Seidentuch, das ausgebreitet darauf lag.
„Überhaupt kein Esoterik-Schnickschnack“, bemerkte der Kommissar. „Merkwürdig, oder?“
„Na ja, Chef, du trägst ja auch keinen Trenchcoat oder hast eine Pfeife im Mundwinkel hängen“, sagte Susi.
„Trotzdem! So ein kleines bisschen magisches Ambiente darf man bei einer Kartenlegerin doch erwarten.“
„Wenn du auf Klischees abfährst, schenken wir dir am besten eine Deerstalker-Mütze zu Weihnachten“, frotzelte Conni Fleischmann. „Wie die von Sherlock Holmes!“
„Der einzige Hirsch, den ich mir anschau‘, bist du – und das auch nur, weil ich muss“, konterte Branntwein.
Elisabeth Schneider richtete sich auf und wischte mit dem Ärmel des Schutzanzuges über ihre Stirn. „Eine schwarze Katze haben wir ebenfalls nicht angetroffen – um ein weiteres Vorurteil zu bedienen… Hallo, ihr zwei!“ Sie schenkte den beiden neu eingetroffenen Ermittlern ein herzliches Lächeln.
„Grüß dich, Elisabeth. Kannst du uns schon was sagen?“, fragte Branntwein.
„Selbstverständlich. Ich bin schon ein ganzes Weilchen hier. Im Gegensatz zu euch. Seid ihr wieder über die Leopoldstraße gefahren?“
Susi kicherte. „Nein, heute nicht, aber wir standen trotzdem im Stau.“
Branntwein knurrte nur.
„Na, wie dem auch sei“, fuhr Schneider fort, „jetzt seid ihr ja da. – Fundort ist gleich Tatort. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist diese Stichverletzung die Todesursache.“ Sie zeigte auf eine Wunde am Oberkörper der Frau. „Verblutet ist sie nicht, dafür reicht die ausgetretene Menge nicht aus. Den Hautverfärbungen nach, und den Spuren auf Kleidung und Mobiliar zufolge, saß sie bei Todeseintritt in diesem Stuhl; in der gleichen Position wie jetzt. Der Täter – oder die Täterin – hat ihr die Waffe direkt ins Herz gestoßen und umgehend wieder zurückgezogen. Dabei hat er – oder sie – vermutlich so vor ihr gestanden und sie überragt.“ Elisabeth Schneider hob die Arme und demonstrierte ihre vorläufige These des Tathergangs pantomimisch. „Der Stich wurde von oben nach unten ausgeführt.“
„Die Tatwaffe habt ihr also nicht gefunden“, folgerte Branntwein enttäuscht.
Schneider und Fleischmann schüttelten unisono den Kopf.
„Todeszeitpunkt?“
„Ich muss erst die Rektaltemperatur messen, aber einer ersten Einschätzung nach zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr gestern Abend“, antwortete die Rechtsmedizinerin.
„Abwehrspuren?“
„Nein. Und auf den ersten Blick auch keine anderen Verletzungen. Aber vielleicht finden sich unter der Kleidung noch entsprechende Anhaltspunkte.“
„Braucht man viel Kraft für so einen Stich ins Herz?“, wollte Susi wissen.
„Wenn er präzise gesetzt ist, nicht. Unser Lebensmuskel ist ein gar zartes Pflänzlein“, fügte die Rechtsmedizinerin überraschend philosophisch hinzu. Sie war normalerweise mehr für ihre sophistische Ader bekannt.
„Äh – okay. Danke, Elisabeth. Ich glaube, das war’s fürs Erste“, sagte Branntwein.
Schneider nickte und packte ihre Sachen zusammen.
Der Kommissar wandte sich an Fleischmann: „Und bei dir, Conni?“
„Bis auf den Schreibtischsessel ist nichts bewegt worden. Ein Kampf hat nicht stattgefunden. Jedes Staubkrümelchen ist an seinem Platz.“
„Dann war das vielleicht kein Einzeltäter“, dachte Susi laut nach. „Fesseln, knebeln – und alles ohne Gegenwehr oder Gerangel? Kann ich mir nur schwer vorstellen. – Ist eigentlich eingebrochen worden?“
„Nein. Entweder hatte der Mörder einen Schlüssel, oder jemand hat ihm aufgemacht“, antwortete der Kriminaltechniker, während er damit begann, die bereits fotografierten Kartenstapel auf dem gläsernen Schreibtisch zu zählen und in die sorgfältig beschrifteten Beweismittelbeutel zu stecken.
„Ich glaub‘, du könntest recht haben“, stimmte Branntwein seiner Assistentin zu. „Die waren mindestens zu zweit. Einer bedroht sie, der andere hält sie fest und zwingt sie, sich auf den Stuhl zu setzen, wo er sie fixieren und mundtot machen kann. – Trotzdem werden wir erst mal das Ergebnis der Obduktion abwarten, bevor wir weiterspekulieren. Vielleicht finden sich noch andere Hinweise. Gift zum Beispiel. Oder Betäubungsmittel. – Das würde unsere verehrte Frau Doktor der Rechtsmedizin doch jetzt bestimmt anmerken wollen: Genaueres…“, er hielt kurz inne und sprach dann gemeinsam mit Elisabeth Schneider den Satz zu Ende: „…erst nach der Obduktion.“ Die beiden lachten.
„In der Tat. Sehr vernünftig, Herr Kriminalhauptkommissar“, sagte die Rechtsmedizinerin verschmitzt und deutete eine leichte Verbeugung an.
Branntwein grinste: „Ich bin durchaus lernfähig, auch auf meine alten Tage.“
„Sucht euch doch ein Zimmer“, kommentierte Conrad Fleischmann die Szene amüsiert. Aber nur in Gedanken.
Auch Susanne Nowak folgte dem Gespräch zwischen ihrem Chef und der Medizinerin mit heiterem Interesse. Noch vor wenigen Monaten waren sie sich förmlich an die Gurgel gegangen, der grantelnde Münchner Kriminalhauptkommissar und die affektiert wirkende Frau Dr. med. aus Düsseldorf. Doch ein gemeinsamer Fall mit gleich vier Leichen hatte ihnen offenbart, dass sie mit ihrem vorschnellen Urteil über den Charakter des jeweils anderen gründlich falsch gelegen hatten. „Vielleicht wird das ja was mit den Zweien“, dachte Susi nun vergnügt, aber auch etwas wehmütig. Sie selbst war seit gut einem Jahr wieder Single.
„Dann fahre ich jetzt ins Institut. Conni, sagst du den Sargträgern Bescheid?“, bat Schneider, während sie sich auf dem Flur aus ihrem Schutzoverall schälte. „Die warten bestimmt schon.“ Kurz darauf verabschiedete sie sich und ging in Richtung Wohnungstür. „Ich beeile mich“, rief sie im Hinausgehen.
Conrad Fleischmann trat an den Laptop und drückte die Enter-Taste. „Ich wollte euch noch was zeigen.“ Auf dem Bildschirm erschien die Zeichnung eines Königs mit rotem Umhang. Er saß auf einem Thron, in der rechten Hand ein Schwert, in der linken eine Waage mit zwei Schalen. Über seiner Krone war in römischen Ziffern „XI“ – die Zahl elf – und zu seinen Füßen das Wort „Gerechtigkeit“ zu lesen. Der Hintergrund war überwiegend gelb gehalten.
„Das ist eine Wahrsagekarte aus dem Tarot“, sagte Susi.
„Du kennst dich damit aus?“, fragte Branntwein verdutzt.
„Eigentlich nicht. Früher, so mit achtzehn, neunzehn, haben wir das im Freundeskreis mal eine Zeit lang ausprobiert. Aber nur so zum Spaß halt.“ Sie kratzte sich verlegen an der Nase.
Der Kommissar musste schmunzeln. So, wie sie „früher“ gesagt hatte, hörte es sich an, als sei das ewig her. Dabei war seine Assistentin erst dreiundzwanzig. Ein Jahr jünger als seine eigene Tochter.
„Bei denen vom Schreibtisch war so eine aber nicht dabei“, warf Fleischmann ein.
„Zeig‘ die doch mal her“, bat Susi.
Der Kriminaltechniker öffnete seinen Forensik-Koffer und entnahm ihm zwei der zuvor eingepackten Beweismittelbeutel.
„Hm, also das eine Päckchen ist ein Engelorakel. Die größeren Karten hier, seht ihr? Soweit ich weiß, werden sie als Ratgeber und auch als eine Art Wegweiser für den Tag gedeutet“, sagte Susi.
„Meine Mutter – Gott hab‘ sie selig – hat jeden Morgen einen Schutzheiligen gezogen, der auf die Familie aufpassen sollte“, erzählte Branntwein.
Nun war es an Susi, erstaunt zu sein: „Du stammst aus einer esoterischen Familie? Wer hätte das gedacht!“
„Nein, aus einer katholischen selbstverständlich! Ich bin schließlich Oberbayer!“, empörte sich Branntwein und reckte das Kinn.
„Und die kleineren hier?“, versuchte Fleischmann, die Unterhaltung wieder aufs Wesentliche zu lenken und hielt einen zweiten Satz in gängiger Spielkartengröße in die Höhe. „Von denen waren zwei identische Stapel mit je sechsunddreißig Stück auf dem Schreibtisch gelegen. Kennt die auch einer von euch?“
Branntwein schüttelte den Kopf. „Nein.“
„Ich schon!“, rief Susi. „Das sind die gleichen, die die Bekannte meiner Mutter verwendet. Mir fällt jetzt nur nicht mehr ein, wie die heißen“.
„Du kennst eine Kartenlegerin?“, fragte Conni Fleischmann verdutzt.
„Ja mei, was man halt so unter ‚kennen‘ versteht“, antwortete Susi Nowak.
„Der Name der Karten ist für den Moment nicht so wichtig. Den finden wir schnell heraus“, sagte Branntwein und trat einen Schritt zur Seite, um den Sargträgern Platz zu machen, die wortlos Josefina Gerhaupts Leiche verstauten und abtransportierten. Die gebeugte Haltung und die ruckelnde Gangart der schwarz gekleideten Gestalten erinnerten Branntwein an die Geier in den Lucky-Luke-Comics, die er als Kind verschlungen hatte.
„Hast du Mausi schon informiert, damit er mit den Recherchen anfangen kann?“, wechselte der Kommissar das Thema und sah seine Assistentin fragend an.
Er sprach von Joachim Mayer, dem IT-Experten des Teams. Der arbeitete fast ausschließlich vom Büro aus und war unter anderem fürs Sammeln von Hintergrundinformationen zuständig. Außerdem fungierte er als zentrale Anlaufstelle sämtlicher Mitarbeiter und war ein ausgezeichneter Hacker. Seinen Spitznamen verdankte er der Tatsache, dass er sich nicht für menschliche „Mäuse“ interessierte, sondern lediglich für die Maus seines PCs, wie er in alkoholisiertem Zustand auf einer Weihnachtsfeier vor mehreren Jahren lautstark selbst verkündet hatte. Seither trug er den Alias mit stoischer Gelassenheit. Es ging das Gerücht, dass mancher Kollege den Vornamen des Computerfachmanns gar nicht mehr kannte.
„Ja klar, Mausi weiß Bescheid“, bestätigte Susi. „Daniel und Schorsch sind ebenfalls auf dem Laufenden. Sie müssten jeden Moment kommen, um die Anwohnerbefragung zu übernehmen. Ich hab‘ ihnen alle Daten auf die Handys geschickt. Sie können also direkt loslegen.“
„Sehr gut! Dann gehen wir beide jetzt mal zu den Nachbarn rüber, die die Leiche gefunden haben. Wie heißen die doch gleich?“
„Hannelore und Herbert Urban“, antwortete Susi mit Blick auf ihr Smartphone, in dem sie alle Informationen abspeicherte. „Hast du von denen schon die Fingerabdrücke?“ Sie sah fragend auf.
Conrad Fleischmann nickte. Die Ermittler hoben die Hand und verabschiedeten sich.
„Lass‘ das Notebook bitte gleich zu Mausi bringen, wenn du damit fertig bist“, rief ihm Branntwein über die Schulter noch zu.
Im Treppenhaus war von dem uniformierten Kollegen, der hier Wache gestanden hatte, nichts mehr zu sehen. Dafür hörten sie das gedämpfte Pochen eines Gehstocks, der möglichst leise auf den Holzstufen aufgesetzt wurde. Ein Blick übers Geländer bestätigte Branntweins Verdacht. Die faltigen Bratzen gehörten mit großer Wahrscheinlichkeit zum Ehepaar aus dem Erdgeschoss, das einen weiteren Anlauf unternahm, seine Neugierde zu befriedigen.
„Sie gehen jetzt aber mal fix in Ihre Wohnung zurück, bevor ich gleich so richtig grantig werde!“, rief der Kommissar über die Brüstung gebeugt. Die Hände zuckten erstaunlich flink zurück. „Ist es denn zu glauben!“, grummelte er etwas leiser und wartete dann schweigend ab, bis unten eine Tür ins Schloss fiel.
„Vielleicht wurden Jürgen und sein Kollege zu einem anderen Einsatz gerufen“, mutmaßte Susi und läutete an der Wohnungstür gegenüber des Tatorts.
„Grüß Gott. Herr Urban, nehme ich an?“
Der Mann nickte stumm.
„Ich bin Kriminalhauptkommissar Franz Branntwein, und das ist meine Kollegin Susanne Nowak. Dürfen wir kurz reinkommen?“
„Bitte sehr“, sagte Herbert Urban tonlos und ging voran in die Küche. Noch im Türrahmen rutsche Susi vor Schreck die Umhängetasche von der Schulter, hinter ihr schnappte Branntwein entsetzt nach Luft. Auf der gemütlichen Eckbank aus Kiefernholz saß Klara Buchfink, die Lokaljournalistin der BLIND-Zeitung, in Polizeikreisen besser als „die Schmierfink“ bekannt. Sie winkte ihnen fröhlich entgegen.
„Was machen Sie denn hier?“, knurrte der Kommissar und machte aus seiner Verärgerung keinen Hehl.
„Die Hubers aus dem Erdgeschoss sind alte Bekannte meiner Großeltern“, antwortete Buchfink gut gelaunt. „Sie haben mich darüber informiert, dass hier im Haus ein Verbrechen geschehen ist – ein Mord! Und da bin ich!“
„Nein. Da waren Sie. Raus hier!“
Die Reporterin wirkte kurz verdattert, blickte dann aber empört auf Branntwein und zum Ehepaar Urban, von dem sie sich anscheinend Unterstützung erhoffte. Doch die Beiden waren noch immer so verstört, dass sie gar nicht richtig mitbekamen, was in ihrer Küche vor sich ging.
„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“, fragte Hannelore Urban mechanisch, machte jedoch keine Anstalten aufzustehen.
„Nein, danke“, antwortete Susi und warf ihrem koffeinsüchtigen Vorgesetzten einen warnenden Blick zu. „Machen Sie sich bitte keine Umstände.“ Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich mit an den Tisch.
„Ich sagte: Raus hier!“, wiederholte Franz Branntwein laut und unmissverständlich in Richtung Klara Buchfink. Schon häufig hatte die reißerische und teilweise sehr fantasievolle Berichterstattung der Journalistin die Arbeit der Kriminalpolizei erschwert oder sogar behindert. Der Toleranzpegel des Kommissars ihr gegenüber glich der Kurve des Elektrokardiogramms von Josefina Gerhaupt: Nulllinie.
„Also gut! Ich gehe! Aber das wird Konsequenzen haben, Herr Branntwein“, drohte Buchfink. – „Ich lege Ihnen meine Kontaktdaten hier auf die Kommode“, sagte sie an die Urbans gewandt. „Die Öffentlichkeit hat schließlich ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren!“ Hoch erhobenen Hauptes stolzierte sie aus der Küche. Das traumatisierte Ehepaar blickte ihr nicht einmal nach.
Die Befragung der zwei Zeugen erwies sich für die Ermittler als wenig ergiebig. Hannelore Urban berichtete, sie sei am Vorabend um zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig von der Spätschicht nach Hause gekommen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie erstmals die angelehnte Wohnungstür ihrer Nachbarin bemerkt, sich jedoch nicht viel dabei gedacht.
„Im Krankenhaus musste ich schon viele Menschen sterben sehen, Herr Kommissar. Ich arbeite auf der Palliativstation“, fügte sie erklärend hinzu, „aber so etwas…“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf und führte ihren Gedanken nicht zu Ende. „Hätte ich doch bloß gestern gleich nachgesehen!“ Sie blickte auf. „Ich mache mir solche Vorwürfe!“, schluchzte sie mit Tränen in den Augen.
Susi legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Nein, Frau Urban, tun Sie das nicht. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Es wäre sowieso… Sie hätten nichts mehr für sie tun können.“
Herbert Urban hatte nach dem Zusammenbruch seiner Frau vor der Wohnungstür zunächst nicht verstanden, was geschehen war. Erst nachdem er sie soweit beruhigt hatte, dass sie es ihm erklären konnte, war er selbst in die Wohnung der Nachbarin geeilt und hatte umgehend die Polizei informiert. Nun griff er die Hand seiner Frau und drückte sie fest. Es war nicht klar, wer hier wem Halt gab. Und es spielte auch keine Rolle.
„Sie haben also weder etwas angefasst noch Licht gemacht?“, vergewisserte sich der Kommissar.
Die Urbans schüttelten den Kopf. Sichtlich erschüttert beschrieben sie Josefina Gerhaupt schließlich als höfliche, junge Frau, zu der sie jedoch keinen näheren Kontakt gepflegt hatten. Auch über eine Liebesbeziehung oder die familiären Hintergründe wussten sie nichts zu berichten.
„Herr Urban, ist Ihnen gestern Abend etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Hatte Frau Gerhaupt vielleicht Besuch? Oder waren merkwürdige Geräusche zu hören?“, erkundigte sich Branntwein.
„Nein, tut mir leid, Herr Kommissar. Meine Ohren sind aber auch nicht mehr die besten. Wenn Hannelore in der Arbeit ist, sehe ich meistens fern. – ‚Viel zu laut‘, sagst du immer, stimmt’s, mein Schatz?“ Seine Frau lächelte tapfer und nickte. „Aber vielleicht können Ihnen die Hubers aus dem Erdgeschoss weiterhelfen. Die beiden sind – ähm – in der Regel über die Begebenheiten hier im Haus gut informiert“, umschrieb Herbert Urban das an Kontrollsucht grenzende Interesse seiner Nachbarn diplomatisch.
„Gut. Machen wir. Das war’s fürs Erste.“ Die beiden Ermittler standen auf. „Vielen Dank für Ihre Zeit.“
Susi kramte zwei Visitenkarten hervor und reichte sie dem Ehepaar. „Hier, bitte schön. Zögern Sie nicht, uns anzurufen, falls Ihnen doch noch etwas einfallen sollte – egal wie unbedeutend es Ihnen auch erscheinen mag. Und das ist die Telefonnummer des psychologischen Notdienstes. Nur für alle Fälle.“
„Vielen Dank“, sagte Hannelore Urban. „Aber mein Herbert, der steht mir schon bei. Und ich ihm.“
„Das ist schön. Also dann – auf Wiedersehen!“
Franz Branntwein und Susanne Nowak stiegen die Treppe hinab. Von ihren Kollegen, Daniel Baumann und Georg „Schorsch“ Hinterhuber, war bislang nichts zu sehen. Dafür hallte aus dem Erdgeschoss eine vertraute Stimme empor: „Das ist eine Unverschämtheit! Ich werde mich über Sie beide beschweren!“
Reflexartig drückte sich Branntwein mit dem Rücken an die Wand. Susi gluckste.
„Psssst!“, zischte ihr Vorgesetzter. „Die hört uns doch!“, fügte er flüsternd hinzu.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, Chef?!“ Susi sprach ebenfalls leise, obwohl sie seine Reaktion übertrieben fand. „Irgendwann musst du sowieso…“
„Herr Branntwein? Sind Sie das da oben?“, ertönte es prompt. Das Klackern hoher Absätze folgte den Worten die Stufen hinauf. „Sie verstecken sich doch nicht vor mir?“
„Kein Kommentar“, presste er hervor.
„Aber – ich habe Sie noch gar nichts gefragt!“
„Doch.“
Die Reporterin blickte zu Susi. „Heute ist er wohl besonders zickig, der Herr Kriminalhauptkommissar?“, fragte Klara Buchfink mit süffisanter Arroganz. „Dabei müsste ich es doch sein, die böse auf ihn ist.“
„Nö.“ Auch Susi hatte in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit dem nur rudimentär vorhandenen Berufsethos der Journalistin gemacht und blieb entsprechend einsilbig.
Im Parterre wurde eine Wohnungstür geöffnet. Gleich darauf klangen die Stimmen von Daniel und Schorsch durchs Treppenhaus. Offensichtlich verabschiedeten sie sich soeben vom Ehepaar Huber. Die Reporterin tippelte die Stufen eilig wieder hinab. Branntwein und Susi folgten ihr.
„Ja, Chef, wir sind mit den Befragungen durch“, bestätigte Daniel nach der Begrüßung. „Jürgen Mooshammer und sein Kollege hatten schon gute Vorarbeit geleistet.“
Schorsch nickte zustimmend.
„Dann mal nichts wie raus hier!“
„Einen Moment!“ Adolf Huber trat vor und schnitt dem Kommissar überraschend wendig den Weg ab.
Der musterte den kaum einen Meter sechzig großen und sicher weit über achtzig Jahre alten Mann und dessen ebenso verhutzelte Ehefrau mit gehobenen Augenbrauen. „Ja bitte?“, fragte er. Das Paar erinnerte Branntwein an die Zwetschgenmanderl, die er früher als Bub mit der Oma gebastelt hatte. „Genauso runzlig, aber bei Weitem nicht so süß“, urteilte er im Stillen.
Adolf Huber hingegen betrachtete den leger gekleideten Staatsbeamten abschätzig: Ausgetretene Turnschuhe, Jeans, ein weißes Sweatshirt mit dem Frontprint eines Mainzelmännchens im Polizeiauto, verwaschene Jeansjacke. „Ich nehme an, Sie sind der leitende Ermittler?“, sagte er, wartete eine Antwort aber gar nicht erst ab, sondern pochte resolut mit seinem Gehstock auf den Boden und forderte herrisch: „Wir haben ein Recht darauf zu erfahren, was hier vor sich geht!“
„Das finde ich auch“, schloss sich Klara Buchfink umgehend an.
Der Kommissar blickte von einem zum anderen. „Ich nicht. Habe die Ehre.“ Freundlich lächelnd ging er an dem verdatterten Rentnerpaar und der konsternierten Reporterin vorbei und folgte seinem Team zur Haustür hinaus.
Die Rückfahrt der Beamten zum Polizeipräsidium in der Ettstraße verlief ohne größere Verzögerungen. Die Arbeiten an den Straßenbahnschienen waren noch nicht beendet gewesen, weshalb sie vorsichtshalber die Route über die Leopoldstraße genommen hatten. Und obwohl die boulevardartig angelegte Pappelallee stark frequentiert war, konnte der im Wagen hinter Branntwein fahrende Schorsch rechtzeitig abbremsen, als ihm herumfliegende Federn kurzzeitig die Sicht nahmen: Ein paar zu spät ausweichende Tauben waren dem Kriminalhauptkommissar in die Quere gekommen.
„Ich brauch‘ jetzt erst mal einen Kaffee!“, verkündete Branntwein, als sie zu viert das Büro betraten. Noch im Gehen zog er seine Jeansjacke aus und warf sie – wie gewohnt – in Richtung des Garderobenständers. Daneben. Sie landete auf dem Boden, wo sie meistens lag.
„Wo steckt eigentlich Mausi?“, wunderte sich Susi, bekam aber keine Antwort.
„Ui, der ist ja schon fertig!“ Umgehend kam neues Leben in den Kommissar, und er schenkte sich pfeifend eine Tasse des frisch Aufgebrühten ein. Die neue Maschine, die er vor wenigen Monaten von seinen Kollegen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, erfüllte sämtliche Ansprüche, die er an seine gepflegte Koffeinsucht stellte: Große Kanne, Warnblinkanzeige bei drohender Verkalkung und eine integrierte Zeitschaltuhr. Jetzt noch Zucker und viel Milch – seine Welt wäre in Ordnung.
„Verdammt!“ Branntwein hieb mit der Faust auf den Kühlschrank, der – außer des Cola-Vorrats seiner Assistentin und ein paar Flaschen Sprudel – nur Kondenswasser und einen muffigen Geruch zu bieten hatte. „Wer ist mit Milch holen dran gewesen?“, raunzte er ungehalten. Seine gute Laune war schneller verflogen, als ein VW-Mitarbeiter „Dieselskandal“ sagen konnte.
„Wir waren letztes Mal an der Reihe, nicht wahr?“, wehrte Daniel ab.
„Jepp“, bestätigte Schorsch. „Melde gehorsamst: Milchschleppdienst ordnungsgemäß erfüllt!“
„Na, super!“
„Vielleicht ist Mausi ja grad welche holen?“, mutmaßte Susi.
„Was bin ich?“, keuchte der Computerexperte außer Atem, während er sich just in diesem Moment und wie aufs Stichwort ächzend durch die Tür schob und einen Karton mit zwölf Litern H-Milch auf das Sideboard wuchtete.
„Die Rettung!“, rief Branntwein euphorisch und schnappte sich ein Tetra Pak.
Im Büro standen den fünf Mitarbeitern der Abteilung sechs Schreibtische zur Verfügung, die sie zu drei Rechtecken aneinandergeschoben hatten. An einem saßen sich im Arbeitsalltag Branntwein und Susi, am anderen Daniel und Schorsch gegenüber. Mausi hatte einen Doppelplatz für sich allein; beziehungsweise für sich, mehrere PCs, vier Monitore und jede Menge technischen Krimskrams, von dem niemand so genau wusste, wozu er ihn eigentlich brauchte. Außer ihm selbst.
Ein neu angeschaffter „Bürogarten“, wie er im Ankündigungsschreiben des Polizeipräsidenten bezeichnet worden war, sollte nicht nur das Raumklima verbessern, sondern auch den Schallpegel eindämmen und eine positive Arbeitsatmosphäre schaffen. Das Bio-Wunder in Hydrokultur umfasste eine circa zwei Meter lange und fünfzig Zentimeter breite Kunststoffwanne, in der zwei Yuccapalmen, ein Ficus benjamini und mehrere Alpenveilchen einen langsamen Dürretod starben. Ein Plastikfrosch mit Sonnenbrille sah ihnen vom Liegestuhl aus dabei zu.
Dahinter stand ein großer Besprechungstisch, an dem die Teammitglieder nun Platz nahmen, um ihre bisherigen Erkenntnisse zum „Mordfall Josefina Gerhaupt“ auszutauschen.
„Ich hol‘ mir nur schnell ‘ne Cola“, sagte Susi und sprang nochmals auf. „Bin gleich bei euch!“
„Bringst du mir ein Wasser mit?“, bat Mausi. „Ist im Kühlschrank.“
„Klar, gerne!“
„Könntest du vielleicht auch…?“, wandte sich Daniel fragend an Schorsch, woraufhin der ebenfalls aufstand, um eine Flasche der selbst gemachten Johannisbeerschorle zu bringen, die Daniels Mutter extra aus Schleswig-Holstein schickte.
Branntwein verdrehte ungeduldig die Augen und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. „Seid ihr dann endlich mal soweit? Wir sind hier nicht beim Picknick!“
„Klar!“ Der Computerexperte drückte auf eine Taste des Laptops, der vor ihm stand. Umgehend erschienen auf einem großen Flachbildschirm an der Wand die Fotos, die Conrad Fleischmann vorhin aufgenommen hatte. Sie wechselten automatisch im Zehn-Sekunden-Takt und zeigten sowohl den Tatort als auch die Leiche. Daniel und Schorsch sahen beides zum ersten Mal.
„Conni hat inzwischen mitgeteilt, dass es weder auf dem Klebeband, mit dem das Opfer gefesselt und geknebelt wurde, noch auf dem Laptop Fingerabdrücke gibt. Der oder die Täter haben also Handschuhe getragen. Die einzigen frischeren Fingerabdrücke, die nicht von Josefina Gerhaupt selbst stammen, hat der Nachbar Herbert Urban hinterlassen. Allerdings nur an der Außenseite der Wohnzimmertür“, kommentierte Mausi die Bilder. „Das Klebeband ist Alltagsware. Gibt es überall zu kaufen und wurde vermutlich mitgebracht. Zumindest hat Conni keins in der Wohnung des Opfers gefunden.“
„Das ging fix“, lobte Branntwein.
„Schaut euch mal die süßen Hausschuhe an!“, rief Daniel entzückt, als das entsprechende Bild erschien.
„Scheint Jagdsaison gewesen zu sein“, kommentierte Mausi die Blutlache drumherum.
Branntwein bat sich „den nötigen Ernst“ aus. Mittlerweile war eine Serie mit Großaufnahmen der Stichwunde zu sehen. Nach dem letzten drückte Mausi die Pausentaste.
„Wissen wir schon etwas über die Tatwaffe?“, fragte Daniel.
„Nein, bis jetzt nicht. Die Schneiderin hat noch nichts von sich hören lassen“, antwortete Mausi.
„Die Wohnung erscheint mir auffallend aufgeräumt und sauber zu sein, nicht wahr?“, bemerkte Daniel. „War das das Opfer selbst, oder waren das die Täter?“
„Laut Conni wurde außer dem Schreibtischstuhl nichts verändert. – Lass‘ weiterlaufen, Mausi“, bat Branntwein. Auf dem Flatscreen erschien das nächste Foto.
„Die Tarotkarte ‚Gerechtigkeit‘, die hier auf dem Notebook der Toten zu sehen ist, wurde um zwanzig Uhr siebenundzwanzig über die Bildersuche im Internet aufgerufen“, informierte Mausi.
„Moment!“ unterbrach Branntwein. „Wann ist der anonyme Anruf bei der Gerhaupt eingegangen?“
„Kurz nach zwanzig Uhr, hat Conni gesagt“, antwortete Susi.
„Zwischen dem Anruf und der Platzierung der Karte auf dem Bildschirm sind also rund fünfundzwanzig Minuten vergangen“, folgerte der Kommissar nachdenklich. „Das ist eine ganz schön lange Zeit – vor allem, wenn wir von mehr als einem Täter ausgehen. Und vorausgesetzt, dass der Anruf tatsächlich als Lockmittel zum Öffnen der Türe gedient hat.“
„Hm, anrufen, reingehen, überwältigen, fesseln, knebeln, umbringen, Karte im Internet suchen und anklicken. Kein Kampf, keine Gegenwehr, keine Spuren“, dachte Daniel laut nach. „Ich bin kein Profiler – aber das hört sich für mich sehr organisiert und kaltblütig an, nicht wahr?“
Die Ermittler blickten schweigend auf den Kartenkönig.
„Ich vermute, dass es sich um eine Botschaft handelt“, sagte Branntwein schließlich.
„Für wen?“, fragte Susi.
„Für uns, für die Presse, für weitere Beteiligte… Das kann eine Drohung sein, eine Rechtfertigung, eine Erklärung – such‘ dir was aus!“
„Die Insignien sind die gleichen wie bei der Göttin Justitia, nicht wahr?“, bemerkte Daniel. „Schwert und Waage“.
„Jepp!“, stimmte Schorsch zu. „Aber der König auf dem Bild trägt keine Augenbinde. Er kann alles sehen.“
„Vielleicht hilft euch das ja weiter“, sagte Mausi. „Ganz allgemein steht die XI im Tarot für Fairness, Gerechtigkeit, Vernunft und Objektivität. Aber auch für einen Richter als Person oder für einen Richterspruch“, las er aus seinen Notizen vor.
„Dann teilt also jemand durch die Karte mit, dass er objektiv entschieden hat, dass es fair und vernünftig ist, Josefina Gerhaupt ihrem gerechten Todesurteil zuzuführen?“, fasste Susi zusammen. „Hört sich für mich nach Megalomanie an.“
„Jedenfalls nicht nach ‚Mord im Affekt‘“, stimmte Daniel trocken zu.
„Megalo – was?“, fragte Branntwein.
„Größenwahn“, antwortete Susi.
„Jedenfalls hat dieser König da ein Schwert und unser Opfer eine Stichverletzung. – Ich bin wirklich auf den Obduktionsbericht gespannt!“, sagte Branntwein und wechselte das Thema. „Lasst uns mit den Ergebnissen der Anwohnerbefragung weitermachen.“
„Die hat leider nicht wirklich etwas ergeben“, sagte Daniel, „obwohl wir Glück hatten und alle drei Parteien angetroffen haben, nicht wahr?“
„Drei?“, hakte Susi nach.
„Ja. Die Hubers aus dem Erdgeschoss und die Bewohner der beiden Wohnungen im ersten Stock. Bei den Urbans wart ihr, und die zweite Parterrewohnung steht leer. Dort soll irgendwann einmal vielleicht die Tochter des Eigentümers einziehen – sagt Adolf Huber. Den habt ihr ja kurz kennengelernt, nicht wahr? Das sind im Übrigen alles Eigentumswohnungen in dem Haus. Auch die der Gerhaupt.“
„Ich finde, das gehört verboten! Bei der Wohnungslage in München! Einfach leer stehen lassen!“, ereiferte sich Susi.
„Sie war selbst die Eigentümerin?“, fragte Branntwein nach.
„Jepp!“ Schorsch nickte.
„Wow! Sicher nicht billig gewesen. – Mausi, mach‘ dir doch bitte eine Notiz und fordere nachher über Haller die Bankdaten der Gerhaupt an. Und am besten auch die Verbindungsnachweise von Festnetz und Handy.“
Günter Haller war der Erste Kriminalhauptkommissar und somit auch Branntweins direkter Vorgesetzter. Er hatte gute Verbindungen zur Staatsanwaltschaft und auch zu einigen Richtern.
„Ich dachte, das Handy haben wir? Da sind die Anruferlisten doch drauf gespeichert“, wandte Mausi ein.
„Schon, aber die kann der Täter ja manipuliert haben“, erinnerte der Kommissar.
„Also doch ein männlicher Einzeltäter?“, fragte Daniel verwirrt nach.
„Ihr mit eurem generischen Maskulinum-GenderSchmarrn!“, erregte sich Branntwein. „Aber gut, fürs Protokoll: Der oder die Täter – beziehungsweise die Täterin oder die Täterinnen oder die Täterin gemeinsam mit einem Täter – oder auch ein gemischtes Doppel – könnte beziehungsweise könnten die Anruferliste manipuliert haben. – War das jetzt klar genug, Zefix?!“ Daniel schwieg beleidigt.
Der Kommissar räusperte sich. „Hatte die Gerhaupt bei einer der anderen Parteien im Haus einen Schlüssel hinterlegt? Für Notfälle? Oder wenn sie ihren eigenen mal vergessen haben sollte? Bei den Urbans jedenfalls nicht“, fügte er hinzu.
„Nein.“
„Also, dann fassen wir zusammen: Niemand hat etwas gesehen oder gehört – wie so oft“, zog Mausi ein erstes Resümee. „Aber ich hab‘ trotzdem noch etwas Interessantes für euch: Das Opfer hat eine Website betrieben. Nicht direkt eine eigene, aber als Teil eines Trios.“ Er drückte die entsprechenden Tasten auf seinem Notebook. Kurz darauf erschien auf dem Wandbildschirm eine Internetseite.
„JoPhiEl – mediale Lebensberatung – von Münchnern für Münchner – positive Energien aus der Region“, las Susi den Text auf der Startseite laut vor. „Man könnte fast meinen, der letzte Satz wäre von den Stadtwerken gesponsert, gell?“, versuchte sie die angespannte Stimmung durch einen kleinen Witz zu lockern. Erfolglos.
„Am besten klicken wir uns einfach der Reihe nach durch“, beschloss Branntwein. „Und mach‘ die scheiß Hintergrundmusik aus. Das hört sich an, als würde jemand ‘ner Katze über den Schwanz fahren!“
Mausi betätigte die Lautsprechertaste, und die leise Meditationsmelodie verstummte. Dann öffnete er die Seite „Über uns“.
„Sakra!“, entfuhr es Schorsch.
Auf dem halbtransparenten Hintergrundbild eines in Schwarzweiß gehaltenen Engels mit weiblichen Gesichtszügen prangten über den Namen auch Portraits der drei Lebensberater. Die Anfangsbuchstaben ihrer Vornamen waren durch drei weiße, fliegende Tauben strahlenförmig mit dem Titel der Seite verbunden. Sie erinnerten die Ermittler wahlweise an den Heiligen Geist, ein Symbol des Friedens, den Markusplatz in Venedig oder an die Kühlerhaube ihres Autos.
Jo-sefina Gerhaupt
Phi-llipp Landt
El-ina Bernstein
JoPhiEl
„Das bedeutet so viel wie ‚Gottes Schönheit‘ oder auch ‚Wahrheit Gottes‘ und ist der Name eines der sieben Erzengel“, zitierte Mausi erneut aus seinen Notizen. „Er steht für Erleuchtung und Weisheit.“
„Und was, bitte schön, ist daran ‚Sakra‘?“, verlangte Daniel zu wissen.
Schorsch schwieg.
„Dieser Phillipp vielleicht?“, bohrte der Schleswig-Holsteiner nach und musterte das Foto genauer: „Ende zwanzig, Holzfällertyp“, lautete sein stilles Urteil. Obwohl Phillipp Landt auf dem Bild weder verschwitzt war noch Sägespäne in seinen zurückgegelten Haaren klebten. Er trug auch keine orange Schutzweste oder einen gelben Helm, sondern ein rotschwarz kariertes Hemd und einen perfekt getrimmten Vollbart, dessen tägliche Pflege, neben viel kostbarer Lebenszeit, wohl eine erhebliche Menge an Styling-Produkten verbrauchte, wie Daniel zynisch dachte. Er schnaubte.
Josefina Gerhaupt hatte sich mit ihrem Mikrofon-Headset ablichten lassen und strahlte so unverbindlich-freundlich in die Kamera, dass sich Susi an ein Werbeplakat von „Willkommen bei Eat-and-Drive – Ihre Bestellung bitte!“ erinnert fühlte.
Elina Bernstein hielt die Augen geschlossen, den Kopf leicht gesenkt. Sie schien zu beten. Die Spitzen der Zeigefinger berührten ihre Nase. Von außen. Branntwein schätzte sie auf Mitte vierzig – und somit mindestens zehn Jahre älter als ihre Kollegen.
„Jedenfalls ein ganz schön arroganter Name, dieses ‚Jo-PhiEl‘, nicht wahr?“, lästerte Daniel.
„Nicht, wenn du das mal mit den Nachnamen machst“, grinste Mausi. „Ge-rhaupt, La-ndt und Ber-nstein: Gelaber!“
„Der war nicht schlecht!“, rief Branntwein amüsiert.
Das gemeinsame Lachen tat allen gut. Der Kommissar stand auf und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein.
„Und was machen die da jetzt genau?“, fragte er mit einem Blick über die Schulter.
„Gerhaupt hat Karten gelegt, aber das wisst ihr ja schon. Landt pendelt und Bernstein channelt.“
„Die tun was?“
„Die Gerhaupt hat Karten gelegt, der Landt pendelt und die Bernstein channelt“, wiederholte Mausi.
„Ich glaube, der Chef will wissen, was das bedeutet“, vermutete Daniel. „Pendeln ist das Hin- und Herfahren zwischen Wohn- und Arbeitsort, nicht wahr? – Aber es gibt auch Pendeluhren, soweit ich weiß.“
Der Kommissar setzte sich wieder an den großen Tisch und rührte stumm in seiner Tasse.
„Ach Schmarrn!“, grantelte Schorsch. „Hin- und Herfahren… Als ob der Phillipp den ganzen Tag hin- und herfährt! Du kannst manchmal so ein Depp sein!“
„Aha! Jetzt ist es also schon ‚der Phillipp‘!“, ereiferte sich Daniel.
„Ähm – alles gut im Paradies?“, fragte Mausi.
Branntwein trank zunächst seine Tasse mit einem Schluck halb leer, dann hieb er mit der Faust auf den Tisch, dass es schepperte. Mausi umklammerte seinen Sprudel, Susi hielt ihre Coladose fest, Daniel und Schorsch griffen gleichzeitig nach der Schorle.
„So. Und jetzt lüften wir hier mal kurz durch und regen uns endgültig ab“, erklärte ihr Chef und stand auf. „Versager!“, flüsterte er den Grünpflanzen auf dem Weg zum Fenster verächtlich zu.