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Über den Autor:

Lucian Caligo, 1985 in München geboren, gehört zu den neuen aufstrebenden Phantastikautoren. Nach seiner Schulzeit stolperte er in eine Bauzeichnerlehre, von der er sich zur Krankenpflege weiterhangelte. Fantastische und vor allem düstere Geschichten zu ersinnen, war in dieser Zeit nicht mehr als eine heimliche Leidenschaft. Erst im November 2014 beschloss er all seine Bedenken, wegen seiner Legasthenie und tausend anderen Gründen, über Bord zu werfen und seine Werke zu veröffentlichen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2021 Lucian Caligo

Illustration: Rudolf Eizenhöfer

Lektorat: Christina Reichel u. Svenja Dilger

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7534-6791-7

Für dich

Vorwort

Zu einer Kurzgeschichtensammlung muss ich vielleicht ein paar Worte voranstellen. Als Autor verbringe ich die meiste Zeit mit dem Überarbeiten meiner Texte. Eine langwierige und manchmal zermürbende Tätigkeit. Deshalb nehme ich mir gelegentlich die Freiheit, in diesen Überarbeitungsphasen Kurzgeschichten zu schreiben, um meiner Sucht nach Neuem nachzukommen. Als kleine Auflockerungsübung sozusagen.

Außerdem ermöglichen mir kürzere Geschichten, zu experimentieren. Beispielsweise versuche ich mich gerne an anderen Erzählstilen oder schreibe auch mal eine alberne Geschichte. Hier bietet sich mir bisweilen sogar die Gelegenheit, eine Handlung zu keinem guten Ende finden zu lassen. Normalerweise klammere ich diese Möglichkeit komplett aus. Als Autor fände ich es unanständig, dich ein dreihundert Seiten langes Buch lesen zu lassen, nur damit du am Ende erfährst, dass die Helden aller Anstrengung zum Trotz scheitern oder gar sterben. Solch eine Leseerfahrung will ich dir nicht bieten.

In Kurzgeschichten sieht die Sache jedoch anders aus.

Lange Rede, wenig Sinn. Jetzt wünsche ich dir viel Freude bei meinen Geschichten,

dein Lucian

Inhaltsverzeichnis

Geisterherz

In Windeseile leckten die Flammen bis zum Giebel empor. Sie fraßen sich rasend schnell in das Holzhaus. Zufrieden beobachtete Dracus sein Werk. Obwohl das Feuer hoch brannte, würde es hier draußen in den verschneiten Bergen wohl kaum einer beachten. Das nächste Dorf lag in einem Tal, vom Wald verdeckt und die schwarze Nacht verschluckte die Rauchsäule am Himmel. Und sollte es doch gesehen werden, nahm bestimmt keiner den beschwerlichen Aufstieg durch den tiefen Schnee in der klirrenden Kälte auf sich, nur um ein Feuer zu löschen, das nicht die geringste Gefahr für den umliegenden Wald darstellte. Zu hoch lag der Schnee auf den Tannen, als dass sie in Brand geraten würden.

Dracus schlug seinen Mantel zurück und fasste den Griff seines geschwungenen Schwertes. Eine Rune am Knauf glomm auf.

Vor Begeisterung knisternd fraßen sich die Flammen weiter durch das Holz. Mit einem Lächeln quittierte Dracus die ersten Schreie im Haus. Natürlich war das Feuer von dem Bewohner bemerkt worden. Schon rannte sein Opfer im Inneren polternd gegen die Tür. Sie öffnete sich nur einen kleinen Spalt, dann griffen die Keile, die Dracus in die Fugen geschoben hatte. Verzweifelte Schreie klangen dumpf durch die Tür. Schritte trampelten hörbar über den Holzfußboden und sogleich rüttelte es an den Fensterläden. Vergebens. Auch diese waren von Dracus verkeilt worden. Zwar etwas notdürftig, aber sie hielten zumindest so lange, bis sein Opfer die Versuche aufgab, die Läden zu öffnen. Stattdessen rannte es wieder zur Tür und warf sich mit aller Macht dagegen. Die Tür gab jedoch nur noch einen Fingerbreit nach.

Polternd fiel der mittlere Teil des Daches in sich zusammen. Kampfbereit zog Dracus die Klinge aus der Scheide, fasste den Griff mit beiden Händen und hob sie über den Kopf. Gleich war es soweit.

»Bitte, hilf uns«, erklang das Flehen eines Kindes.

Die Stimme ging ihm durch Mark und Bein. Für einen Moment war er tatsächlich versucht, nach vorne zu preschen und die Tür zu entriegeln. Er schüttelte sich.

»Nein«, verbot er sich selbst.

»Bitte, das Feuer, es wird uns holen«, klagte die Kinderstimme, die zu einem Mädchen gehören konnte.

Hatte es ein Opfer da drinnen? Zweifel stiegen in Dracus auf. Die Flammen schlugen ihm entgegen und die Wärme brannte ihm im Gesicht, als er einen Schritt näher heranging. Um ihn herum herrschte schwarze Nacht und die Stille des verschneiten Winters, gebrochen vom Tosen des Feuers. Dracus schüttelte sich, er durfte dem Flehen nicht nachgeben.

»Bitte, habt Gnade! Ich flehe Euch ...«

Der vordere Teil des Daches stürzte krachend zusammen. In dem Getöse ging der Schrei gänzlich unter.

»Bitte!«, hob die Kinderstimme erneut an, doch mitten im Flehen wandelte sie sich in ein unmenschliches Kreischen, von dem Dracus der Schädel schmerzte. Er widerstand nur schwer dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. Stattdessen behielt er das Schwert in beiden Händen.

In den Flammen bildete sich ein grauenerregender Schatten, den man im ersten Moment für eine bucklige Frau halten mochte. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte man das viel zu große Maul und die klauenartigen Finger. Der Schatten streckte seine Hände nach dem Brandstifter aus. Dracus versuchte, nicht zu blinzeln, obwohl ihm das Feuer seine Augen austrocknete. Der bizarre Schatten verlosch. Im selben Augenblick begann die Klinge alarmierend zu singen. Schnell wechselte der Ton von einem hohen Summen zu einem schrillen Kreischen. Dracus schlug zu. Die Schneide glitt durch die Luft und traf auf einen unsichtbaren Widerstand. Nahe der Klinge glomm ein silberner Schein auf. Das Blut des Geistwesens. Mit einer fließenden Bewegung machte Dracus einen Schritt zurück und zog gleichzeitig die Schneide durch seinen Gegner, um die Wunde zu vergrößern. Bevor er jedoch noch einmal zuschlagen konnte, war sein Gegner zur Seite gehuscht. Er kam nur nicht weit. Das Blut des Wesens hatte sich mit der mystischen Klinge verbunden, die es wie einen Fisch an einer Angel hielt. Dracus spürte den Zug an der Klinge und riss sie zurück, dabei kreischte das Metall, als würde es über Stein gezogen. Mit einem Fauchen kam die unsichtbare Kreatur auf ihn zugeschossen. Dracus ließ sich fallen, hob die Schneide der Kreatur entgegen und sah, wie die Klinge durch deren Leib schnitt. Wieder entstand ein heftiger Zug an seinem Schwert, als das Geistwesen zu fliehen versuchte. Beim Aufstehen wäre Dracus beinahe der Schwertgriff entglitten.

Die Klinge bog sich unter der Anstrengung, die das Wesen aufbrachte, um ihm zu entkommen. Nur anhand seines Schwertes konnte er erkennen, was die Kreatur tat und wo sie sich befand. Das Geistwesen gab den Fluchtversuch auf und kam ihm erneut entgegengeschossen. Aus der Nähe sah Dracus die silbernen Blutrinnsale aus dem unsichtbaren Leib seines Gegners fließen.

»Dein Körper«, zischte die Kreatur. Mit ihrer Stimme drang sie ihm direkt in den Schädel. »Überlass ihn mir!«

Dracus preschte nach vorne, rutschte im Schnee aus und stürzte. Im Fallen hieb er nach dem Geist. Er spürte die Klinge einschlagen, als er im Schnee landete. Eine unsichtbare Klaue schloss sich von hinten um seinen Hals und zog ihn mit einem Ruck hoch. Er hörte, wie sein Genick knackend brach.

»Nicht schon wieder«, kommentierte er jene Verletzung, die jedem anderen das Leben gekostet hätte. Ihm hingegen würde der Genickbruch lediglich wochenlang mit Kopfschmerzen quälen.

Er packte sein Schwert fester und stieß es unter seinem rechten Arm hindurch in den Leib seines Gegners. Ein markerschütterndes Kreischen aus der Zwischenwelt erklang und brachte die Tannen ringsum zum Zittern, als erschauderten sie über das Verenden des Geistwesens. Nass und schwer fiel der Schnee von den Ästen.

Dracus landete auf allen vieren, das Schwert in der Linken. Die übernatürliche Präsenz war verloschen. Erleichtert seufzend stand er auf und klopfte sich den Mantel ab. Dabei ertastete er in sich hineinfluchend das Loch, das er durch den Stoff gestoßen hatte. Noch einmal schwang er die Geisterklinge durch die Luft. Sie reagierte nicht, also gab es hier keine weitere Präsenz aus der Zwischenwelt. Zufrieden schob er seine Klinge zurück in die Scheide. Prüfend betastete er anschließend sein Genick. Doch es stand kein Wirbel heraus. Der Bruch schien stabil, dennoch meldeten sich bereits die ersten Kopfschmerzen in seiner Stirn.

Begleitet von einem Krachen, brachen die brennenden Wände des Hauses zusammen.

Dracus hatte, wie es ihm seine Lebensaufgabe gebot, einen weiteren Geist aus der Welt der Lebenden getilgt.

»He, du da, was machst du hier?«, donnerte eine Stimme.

Dracus fluchte in sich hinein. Natürlich entsprang der Gedanke, niemand würde sich um das Feuer scheren, seinem Wunschdenken. Dafür lag die Hütte dann doch zu nahe an der kleinen Ortschaft. Allerdings wunderte es ihn dennoch, dass sich jemand trotz des hohen Schnees hier herauf gekämpft hatte.

»Dumme Frage, er hat Tara umgebracht!«, meldete eine andere Stimme.

Damit sein Genick keinen weiteren Schaden nahm, drehte sich Dracus nur ganz langsam um. Da standen sie, die Dörfler, acht an der Zahl. Ganz wie es die Tradition verlangte, waren sie mit Fackeln und Mistgabeln bewaffnet.

»Leg deine Waffen ab, Fremder. Du wirst dich vor dem Dorfrichter zu verantworten haben.« Der Sprecher, ein breitschultriger Bauer, richtete die rostigen Zinken seiner Heugabel auf Dracus, aber aus einer Entfernung, die keine Gefahr für den erfahrenen Krieger darstellte.

Dracus sah dem Bauer in die Augen und knurrte nur. Der muskulöse Kerl, der Dracus um fast einen Kopf überragte, wich erschrocken zurück.

»Ein Geisterherz«, keuchte der Mann.

Natürlich war den Dorfbewohnern die Legende seiner Art bekannt. Dracus war einer jener Menschen, deren Existenz mit der Geisterwelt verwoben worden waren. Man erkannte sie nur zu leicht an ihren schwarzen Augen, in deren Iris ein weißes Feuer brannte. Ihre Legende ging auf einen Krieger zurück, dem angeblich das Herz durch das eines Geistes ausgetauscht worden war. Ein Mythos, an den Dracus nicht glauben wollte. Seine Wandlung hatte mit etwa zehn Jahren stattgefunden. Damals war er an Fieber erkrankt und als der Tod seine kalte Hand nach ihm ausstreckte, hatten seine Eltern einen Mystiker zu Hilfe gerufen. Dieser hatte Dracus´ Leben mit der Geisterwelt verflochten; ein überaus wirksames Mittel gegen den Tod. Gleichsam öffnete sich Dracus´ Gespür für eine Welt hinter dieser.

»Auch wenn du ein Geisterherz bist«, meldete sich ein älterer Mann neben dem Muskelberg zu Wort, »hast du kein Recht mordend durch das Land zu ziehen und unsere Kräuterfrau zu verbrennen.«

Dracus schüttelte unwillkürlich den Kopf und bereute es sogleich, als es in seinen Ohren knirschte.

»Das war keine Kräuterfrau«, entgegnete er. »Zumindest nicht mehr. In ihren Körper hatte sich ein böser Geist eingenistet. Wie euch wohl aufgefallen sein sollte, spätestens als sie angefangen hat, Kinderblut zu trinken.«

Dem Alten verschlug es die Sprache, allerdings nicht aus Fassungslosigkeit. Es war mehr der Ausdruck eines Mannes, der sich seiner Schuld bewusst war.

»Sag mir, war der Geist noch mit wenigen Tropfen zufrieden oder musstet ihr einem Kind die Kehle durchschneiden und es ausbluten lassen, damit ihr ihn zufriedenstellen konntet?«, fragte Dracus, seine Wut darüber konnte er kaum verhehlen.

Die Männer sahen sich schuldbewusst an.

»Sie hat nie mehr als wenige Tropfen gefordert«, sagte der alte Mann schließlich. »Und wir haben sie ihr gern gegeben, dafür hat sie alles Übel von unserem Dorf ferngehalten. Tara hat niemals mehr gewollt, ich habe ihren Durst als Kind selbst gestillt.«

Jetzt wurde Dracus stutzig. Der Mann war sicherlich über sechzig Jahre alt. Hatte der Geist das Dorf wirklich nur beschützt? Um sich in dieser Welt zu halten, benötigte ein Geistwesen, welches einen Menschenkörper besetzt hielt, das Blut der Lebenden. Zeit seines unnatürlichen Lebens wuchs deren Gier danach ins Unermessliche. Dracus hatte jedoch von Geistern gehört, die diesen Durst zügeln konnten.

»Ergreift ihn«, riss der Alte ihn aus den Gedanken.

In einer fließenden Bewegung zog das Geisterherz die Klinge und stieß die Spitze den Angreifern entgegen. Wie erwartet wichen sie vor der scharfen Schneide zurück. Allerdings beließen sie es nicht dabei, sondern begannen ihn einzukreisen. Würden sie von allen Seiten gleichzeitig auf ihn eindringen, hätte Dracus keine Chance, heil davonzukommen. Doch gerade, weil Dracus nicht zu töten war, graute ihm bei der Vorstellung, sein Leben in einem von Dreschflegeln zermahlenen Körper zuzubringen.

»Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht«, überlegte Dracus laut.

»Du bist also geständig? Dann senke deine Waffe«, verlangte der alte Anführer, »und stelle dich dem Gericht! Vielleicht knüpfen wir dich nur auf und vierteilen dich nicht.«

»Geisterherzen muss man verbrennen«, meldete sich der breitschultrige Kerl zu Wort, der dem Alten nicht von der Seite wich. »Ein gebrochenes Genick hält sie nicht auf.«

Dracus wandte sich dem Redner zu. Der Mann war in den Dreißigern und eine Ausgeburt an Kraft. Seine Waffe, eine Heugabel mit rostigen Zinken, wies ihn nicht als einen wohlhabenden Mann aus, der sich besondere Bildung leisten konnte. Dieses Gesamtbild machte Dracus misstrauisch. Für einen einfachen Bauern wusste der Kerl zu gut über die Geisterherzen Bescheid.

Dracus achtete auf jedes Geräusch um ihn herum. Immer wieder knirschte der Schnee unter den Füßen der Menschen, die ihn umringt hatten. Doch keiner wagte es, ihn anzugreifen.

»Wohnst du schon immer hier?«, fragte Dracus den breitschultrigen Redner.

»Was geht´s dich an?«

»Also nicht.«

»Packt ihn!«, befahl der alte Anführer und fuchtelte mit seiner Fackel.

Dracus vernahm schnelle Schritte von hinten. Er wich nach links aus und ein Dreschflegel streifte seine rechte Schulter. Begleitet von einem Streich seiner Klinge fuhr er herum, schlug dem Bauern in die Seite und brachte ihn ins Taumeln. Mit einem Tritt gegen das Schienbein warf Dracus ihn nieder. Sofort stieg er auf den Dreschflegel und entwaffnete so den Angreifer, der entsetzt durch den Schnee davon robbte, wobei er sich unter Schmerzen die Flanke hielt.

»Bis auf ein paar blaue Flecke wird ihm nichts bleiben«, urteilte Dracus. Er hatte den Mann absichtlich nur mit der stumpfen Seite der Klinge geschlagen.

Einer der Bauern bückte sich zu dem niedergegangenen Angreifer hinunter und tastete ihn ab.

»Kein Blut«, teilte er seine Beurteilung mit.

»Ich will euch nichts tun«, versicherte Dracus und drehte sich wieder zum Dorfältesten und dessen breitschultrigen Begleiter um. »Aber eine Frage habe ich: Wie viele Kinder verschwinden im Jahr in deinem Dorf?«

»Das tut nichts zur Sache«, urteilte der Jüngere. »Der Wald ist gefährlich, Kinder verlaufen sich und werden von den Wölfen geholt. Da konnte selbst Tara nichts machen.«

»Es ist jedes Jahr ganz genau eines, oder?«, riet Dracus.

»Greift ihn, worauf wartet ihr!?«, rief der Kerl mit Mistgabel.

Niemand folgte seinem Befehl.

»Oder sind es jedes Jahr zwei?«, bohrte Dracus weiter nach. »Oder sogar drei?«, fragte er in die Stille. »Um ihre sterbliche Hülle zu erhalten, brauchen Geister das Blut von Lebenden, am besten von Kindern, das weiß jeder! Ihre Gier danach wächst mit jedem Tropfen, den sie zu sich nehmen. Wie viele Kinder verschwinden also im Jahr?«

»Sechs«, meldete sich einer der Bauern links neben Dracus zögerlich. »Jeden zweiten Monat eines.«

»Ihr alle habt davon gewusst und weggesehen«, verurteilte Dracus die Dorfbewohner. Unmöglich konnten sie eine derartige Anzahl selbst aufbringen. Ihm schauderte allein bei der Ahnung, was die Dörfler unternommen hatten, um den Blutdurst ihrer Kräuterfrau zu stillen.

»Ein kleiner Preis«, sagte der muskulöse Mann. »Dafür stirbt bei uns niemand an Krankheiten, jede gebärende Mutter überlebt und die Ernte ist sicher.«

»Das hat er euch eingeredet«, wandte sich Dracus an die übrigen Bauern, »immer, wenn Zweifel aufkamen und es waren ja nur Kinder, ihr persönlich wart ja nicht in Gefahr. Menschen wie ihr widern mich an.« Dracus stieß blitzschnell mit dem Schwert nach vorn und schnitt dem breitschultrigen Mann in die Wange. Sofort zog er sich wieder zurück. Dem überrumpelten Kerl blieb keine Gelegenheit mit der Mistgabel zuzustechen. Ein leichtes Blutrinnsal lief aus der Schnittwunde. Zu Dracus´ Überraschung reagierte das Blut des Mannes nicht mit seiner Geisterklinge. Es rann rot über die glimmende Schneide.

Völlig übertölpelt ließ der Mann seine Mistgabel mit einer Hand los, tastete erschrocken nach der Wunde und sah Dracus an. »Er hat mich angegriffen.«

»Ein Test«, erklärte Dracus und wischte die Klinge ab. »Geister haben oft Diener unter den Menschen, die den Leuten einreden, dass alles nicht so schlimm und jedes Opfer gerechtfertigt ist, für den Wohlstand, den sie bringen. Ich nahm an, dies ist deine Rolle. Aber du bist nur ein verblendeter Trottel, mehr nicht. Und jetzt geht mir aus dem Weg.«

Dracus ging auf den alten Mann und dessen Begleiter zu, die Klinge gesenkt und doch kampfbereit. Zumindest waren sie klug genug, beiseitezutreten und ihn gehen zu lassen.

Dracus kam jedoch nicht weit. Hinter ihm erklangen Schritte und noch bevor er sich umdrehen konnte, bekam er einen Schlag in den Rücken und drei blutbenetzte Zinken stachen durch seinen Brustkorb. Mit einer Kraft, die jene eines Menschen weit überstieg, wurde er gegen einen Baum gerammt. Die Zinken der Heugabel vergruben sich in der Rinde und hefteten ihn an den Stamm. Erst als Dracus auf die Rinde schlug, bemerkte er, dass ihm sein Schwert entglitten war.

»Du glaubst doch nicht, dass wir dich fortkommen lassen«, fauchte jemand hinter ihm. Obwohl die Stimme verzerrt klang, erkannte Dracus sie dennoch. Der Alte! Aber natürlich!

»David«, schrie ein anderer entsetzt auf. »Was tust du?«

Ein Schlag erklang und etwas Schweres fiel zu Boden.

»Er ist wütend, weil ich seinen Herrn vernichtet habe«, presste Dracus heraus, seine Lunge war durchstochen, weshalb ihm der Atem zum Sprechen fehlte. Raue Hände legten sich um seinen Kopf. »Ist doch so, du hast deinen Meister mit Kinderblut genährt und dabei hat sein Wesen von dir Besitz ergriffen.«

»David, hör auf!«, verlangte ausgerechnet der breitschultrige Fürsprecher des Geistes. »Wir stellen ihn vor Gericht, er wird sicher verant-«

»Halt den Rand, Franzis!«

Verzweifelt stemmte sich Dracus vom Baumstamm ab und stieß sich zurück. Die Zinken der Gabel brachen aus dem Stamm. Er prallte gegen den Mann hinter sich und brachte diesen ins Taumeln, sodass dieser endgültig losließ.

»Das reicht jetzt!«, rief der Breitschultrige.

Dracus wich umständlich zurück und versuchte, die Heugabel zu ergreifen, die ihm immer noch im Leib steckte und ihn kampfunfähig machte.

Franzis hatte das Schwert ergriffen und richtete die Klinge unbeholfen auf den alten Mann. Dieser schlug mit bloßer Hand die Schneide beiseite. Es zischte laut, als er sich daran schnitt. Dennoch entglitt Franzis das Schwert und flog ins Unterholz. Der Alte fuhr auf den Bauern zu, packte ihn am Hals, hob ihn hoch, als wöge er nichts, und brach ihm das Genick. Den leblosen Körper warf er den anderen Bauern vor die Füße. Panisch wichen die Männer zurück und suchten ihr Heil in der Flucht.

Indes stolperte Dracus in den Wald, wobei er versuchte, sich die Heugabel aus seinem Rücken zu ziehen. Im Schein des erlöschenden Feuers sah er seine Klinge im Schnee blitzen. Ungelenk bückte er sich danach und erneut packte jemand die Heugabel. Dracus unternahm einen unbeholfenen Satz nach vorn und rutschte von den Zinken. Mit dem Schwert in Händen fuhr er herum. Die Waffe war ungewöhnlich schwer. Nein, seine Kräfte schwanden lediglich. Zwar war er weit robuster als ein Mensch und kaum zu töten, doch auch ihm setzten die drei Löcher in seiner Lunge zu. Es gelang ihm gerade noch, einen Stich der Mistgabel abzufangen. Die Wucht des Angriffs trieb ihn jedoch nach hinten und die dicke Schneedecke über dem Unterholz ließ ihn straucheln.

»Du hast deinen letzten Fehler gemacht«, fauchte der alte Mann.

»Es war ein Fehler, sich mit einem Geist einzulassen«, spie Dracus seinem Widersacher entgegen. Er hasste es, mit einem Gegner zu schwatzen. Denn was gab es schon anderes zu hören, außer Rechtfertigungen und das Geschwafel über übermenschlicher Kraft? So war es immer, doch auf diese Weise gewann er vielleicht Zeit, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen.

»Wieso Fehler?«, fragte der Alte und es ging los. »Ich bin stärker als jeder Mann, werde niemals krank und nach meinem Tod werde ich unsterblich sein.«

»Nur wenn es dir gelingt, dich im Körper einer unschuldigen Kräuterfrau einzunisten und Kinderblut zu trinken«, entgegnete Dracus. Vorsichtig tat er einen Schritt nach dem anderen zur Seite und tatsächlich gelangte er auf den Weg. Hier war der Schnee plattgetreten und behinderte seine Bewegungen nicht mehr.

Für seine Umgebung interessierte sich der alte Bauer hingegen nicht im Geringsten, er hielt sich selbst für absolut unbezwingbar.

»Wenn du so stark bist, dann komm doch!«, provozierte Dracus, als er wieder festen Stand gefunden hatte. »Du Kindermörder!«

Mit einem wütenden Schrei stürmte der Bauer auf Dracus zu und stieß mit der Mistgabel nach ihm. Dracus wich vor den Eisenzinken zur Seite, nahm die linke Hand vom Schwertgriff, packte die Heugabel und zog den Angreifer zu sich heran. Der Bauer rutschte aus und stürzten neben Dracus in den Schnee. Mit einem einzigen Schlag spaltete er dem Bauern den Schädel. Blut spritzte dampfend in das gefrorene Weiß und zischte an der Klinge. Der Körper erschlaffte augenblicklich. Schnell hob Dracus die Waffe und schlug noch einmal vertikal in die Luft über der Leiche. Getroffen kreischte der neugeborene Wandler zwischen den Welten auf, als ihn die Geisterklinge traf und ihm eine tiefe Wunde beibrachte. Diese Form nicht gewohnt, wich der Geist des Bauern zurück. Dracus hingegen riss ihn mit der Klinge zu sich heran. Nach zwei weiteren Schlägen zerfloss die Existenz des Geistes gänzlich.

Nach Atem ringend, spürte Dracus ihm nach. Seine Verbindung zur Geisterwelt erlaubte ihm, eine Geisterpräsenz zu erfühlen. Doch sein Sinn für das Übernatürliche ging ins Leere. Er nahm lediglich die Kälte des Winterwindes wahr, der ihn am Mantel zog und in seine Glieder fuhr.

Kopfgeldjäger Gekündigt!

Man stelle sich ein verstepptes Land vor, voller schroffer Felsen und einer Mittagshitze, die einem das Fleisch von den Muskeln brennt, eine trostlose Einöde. Hierher verschlägt es nur Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Glücksritter oder verzweifelte Seelen, die hoffen, sich in der ungastlichen Steppe ein neues Leben aufzubauen. Unter diese ehrbaren Menschen mischt sich aber auch übles Gesindel. Der Arm des Gesetzes ist zwar lang, nur an Trappland Ends hat er sich einmal zu oft die Finger verbrannt. Für den Gouverneur ist es leichter, Kopfgelder auszusetzen, als ständig neue Sheriffs zu ernennen. Denn der Verschleiß von Gesetzeshütern ist hoch. Kopfgelder locken jedoch einen ganz anderen Menschenschlag an. Jene, die ohne zu zögern einen Mord begehen, wenn sie einen Vorteil daraus ziehen können. Dabei auf Seiten des Gesetzes zu stehen, macht es den zwielichtigen Gesellen nur einfacher. Wenige Kopfgeldjäger sind ehrbar zu nennen. Unter den Aufrechten dieses Handwerks sticht keiner so heraus wie Serena.

Jetzt sehen wir sie endlich von Angesicht zu Angesicht. Eine Frau, die bereits Zeit ihres Lebens zur Legende wurde, auf ihrem treuen Pferd Griswold. Als Serena ihren letzten Auftrag erfolgreich abgeschlossen hatte, zog es sie zurück nach Sergtown, ihrem Zuhause. Zumindest, wenn man dem alten Spruch »Heimat ist dort, wo das Herz ist« Glauben schenken darf. Nachdem ihre Familie ermordet wurde, hatte sie in Sergtown echte Freunde gefunden.

Heißer Wind blies ihr auf ihrem Ritt entgegen. Unvermittelt hielt Griswold, ihr Pferd, an.

»Was hast du, mein Freund?« Serena tätschelte den Hals ihres Hengstes.

Griswold schnaubte, wendete langsam und lief nach Osten.

»Muss das jetzt wirklich sein?«, beschwerte sich Serena und schob eine kastanienbraune Haarsträhne zurück unter den Hut. Dabei streiften ihre Finger über eine Narbe, die von einem Streifschuss stammte.

Griswold wieherte entschlossen.

»Ist ja gut«, lenkte Serena ein. »Wenn du meinst.« Sich ihrem Schicksal ergebend, zog sie eine Feldflasche vom Sattel und nahm einen tiefen Schluck. »Sag Bescheid, wenn wir ...« Sie stockte.

Sie überquerten gerade eine Anhöhe. Vielleicht hundert Schritt von ihnen entfernt standen drei Planwagen. Nichts Ungewöhnliches. Gelegentlich zogen ganze Familienklans in den Westen, um sich ein neues Leben aufzubauen. Eine Hoffnung, die auch jene Menschen hergeführt hatte, die nun tot um die Planwagen lagen.

Bedächtig näherte sich Griswold dem Treck. Serena hatte schon viele Tote gesehen, aber nie in solch einem Zustand. Die Menschen waren nicht einfach erschossen, sondern regelrecht zerfetzt worden. Sie zählte zwanzig Leichen. Männer, Frauen und zwei kleine Kinder. Wut kochte in ihr hoch. Dieser Anblick erinnerte sie an ihre ermordete Familie. Der Wunsch, Rache an jenen zu nehmen, die ihre Brüder und Eltern getötet hatten, ließ sie erbarmungslos jeden noch so erbärmlichen Banditen jagen. Irgendwann würde sie an einen geraten, der damals dabei war und dann gab es keine Gnade.

Serena ließ sich aus dem Sattel gleiten und kniete sich zu einem erschossenen Mann hinab. Wie sie trug er einen langen Staubmantel, von dem jedoch nur Fetzen übrig waren. Auch der Männerkörper war kaum noch als ein solcher zu erkennen. Es fehlte nicht viel und der Leib würde ganz auseinanderfallen. Vom Kopf des Mannes war lediglich ein blutiger Klumpen geblieben. Mit seiner rechten Hand hielt er noch ein Gewehr umklammert. Im Stahl der Waffe gab es tiefe und glänzende Schrammen, der hölzerne Kolben war im Kugelhagel zerborsten. Außerdem war das Magazin völlig leergeschossen. Dies galt auch für jedes andere Schießeisen, das Serena überprüfte.

Meistens lagen die Toten dicht an den Planwagen, als hätten sie versucht, dort Deckung zu nehmen. Mit Sicherheit gehörte keiner von ihnen zu den Angreifern.

»Wenn die Siedler aber insgesamt über siebzig Schuss abgegeben haben, hätten sie doch mindestens einen Angreifer aus dem Sattel holen müssen.«

Griswold schüttelte sich.

»Hast ja recht. Wer eine Waffe mit solchem Kaliber benutzt, der reitet nicht. Vielleicht eine Gatling Gun«, überlegte sie. Bisher hatte sie diese Schnellfeuerwaffen nur einmal im Einsatz gesehen. Solche Mordwerkzeuge gehörten zur Standardausrüstung von Soldaten. In Ends gab es glücklicherweise nur fünf Infanteristen. Ein unnützer Haufen, der sich nicht aus dem eigenen Fort hinauswagte.

»Schau dir das an.« Serena schritt zu einem der Wagen. Im Beschuss waren zwei Räder zerbrochen, von der Abdeckplane war kaum noch etwas übriggeblieben und der verladene Hausrat war in Stücke geschossen. Hinter dem Wagen hatte eine Mutter mit ihrem Kind Deckung gesucht. Es hatte ihr nichts genutzt. Den Anblick, wie die Frau schützend ihre Tochter umschlungen hielt ...

Serena musste sich abwenden.

Immer noch schaudernd ging sie nahe einer Kutsche in die Hocke und begann den Boden um ein Einschussloch herum aufzugraben. Als Kopfgeldjägerin wusste sie, wie viel die Munition über einen Schützen aussagte. Und diese Projektile musste sie unbedingt sehen.

Griswold wieherte und stieß den rechten Vorderhuf in den Staub.

»Dort meinst du?« Serena kam zu ihm und nahm ein Messer zu Hilfe, um den trockenen Boden aufzulockern. Tatsächlich! Nachdem sie eine halbe Elle tief gegraben hatte, fand sie eine Kugel.

»Ach du Scheiße.«

Griswold wieherte empört.

»Ist mir egal, dass du nicht leiden kannst, wenn ich fluche. Schau dir lieber das Kaliber an!« Mit dem Messer hebelte sie eine Kugel aus dem Boden. Diese besaß den Durchmesser von Serenas oberem Daumenglied.

»Das war keine Gatling, zumindest keine herkömmliche. Ich kenne keine Waffe, die solche Kugeln abschießt, das ist ...« Serena fehlten die Worte. »Eine Gatling hat fünfzig

Schuss im Magazin. Wenn ich mich hier so umschaue, müssen es mindestens drei dieser Waffen gewesen sein. Aber die bindet man sich nicht einfach an den Sattel, schon gar nicht, wenn sie dieses Kaliber abfeuern.«

Serena steckte die Kugel in ihren viel zu großen Mantel, den sie von ihrem Vater geerbt hatte. Langsam schritt sie den Kampfplatz ab, den Blick immer auf den Boden gerichtet.

»Die Toten liegen alle in diese Richtung, also müssen die Angreifer von ... aha!«

Im Boden vor ihr befanden sich tatsächlich Spuren von Wagenrädern. »So haben sie die Kanonen hergefahren. Aber das ergibt doch keinen Sinn. Die Radspuren sind viel zu dicht beisammen, so als hätten drei Pferdefuhrwerke ineinander gestanden.«

Griswold schnaubte.

»Ich weiß auch, dass das nicht geht«, entgegnete sie. »Die Spuren sind alle gleich tief und breit. Bei verschiedenen Wagen müsste es doch zumindest in der Spurentiefe Unterschiede geben.«

Ratlos suchte Serena nach weiteren Fährten der Angreifer. Vergebens. Die einzigen anderen Wagenspuren gehörten zu den drei Pferdefuhrwerken der Siedler. Also blieb ihr nur eine Möglichkeit, wenn sie herausfinden wollte, was hier geschehen war. Serena schwang sich in den Sattel und lenkte Griswold zu den Spuren der Angreifer. Ihr Hengst scheute und wieherte.

»Natürlich ist das keine gute Idee, aber ich will wissen, wer das war.«

Griswold stieß Luft durch die Nüstern aus.

»Ich kann niemanden entkommen lassen, nachdem er zweiundzwanzig Menschen umgebracht hat!«, beharrte Serena auf ihrem Vorhaben. »Außerdem passt du doch auf mich auf.«

Griswold schüttelte den Kopf.

»Natürlich gebe ich dir die Schuld, wenn was schief geht«, grinste Serena. Zu scherzen half ihr, die entsetzlichen Bilder hinter ihr zu vergessen. Die Schrecken von Ends hatten damit ihren Höhepunkt erreicht. Für gewöhnlich setzten bei den meisten Verbrechern Skrupel ein, wenn es um Frauen und Kinder ging. Sie derart abzuschlachten ... Serena wollte darüber nicht weiter nachdenken. Jetzt konnte sie nur noch eines tun: Die Mörder zur Strecke bringen!

Dennoch hatte Griswold recht. Es war keine gute Idee, einem Verbrecher, der über solcherlei Feuerkraft verfügte, planlos nachzusetzen.

Zehn Waffen hatten die Siedler auf den Angreifer leergeschossen, ohne diesem Verluste beigebracht zu haben. Vielleicht gab es nur deshalb keine Spuren von den Mördern, weil sie ihre Verwundeten und auch Toten mitgenommen hatten. Auf ihren Wagen wäre dafür sicher Platz gewesen.

Die Radspuren verliefen auffällig parallel und gleichzeitig so eng versetzt ineinander, dass Serena nach einer Weile zu dem Schluss kam, dass es sich um einen einzigen Wagen handeln musste. Allerdings besaß er eigentümlich angeordnete Räder. In der Mitte des Gefährts lagen zwei dicht beieinander, vorne wie hinten. Außerdem hatte der Wagen an jeder Seite vier Räder. Was Serena jedoch am meisten erstaunte war, dass es nirgends Hufspuren zu sehen gab.

»Ein Wagen mit zwölf Rädern und keinem Zugtier«, wunderte sie sich.

Nick, ein enger Freund von Serena, hatte ihr von Wagen erzählt, die einen »Motor« besaßen, wie er es nannte. Dieser wurde von Chemikalien in Gang gesetzt. Angeblich waren es ähnliche Mechanismen wie in den Gatling Guns der Soldaten. Allerdings setzten diese Waffen bei Betrieb giftige Dämpfe frei, weshalb Armeeangehörige allesamt Atemschutzmasken trugen. Von deren Schutz war Serena jedoch nicht wirklich überzeugt. Jeder Soldat, den sie bisher getroffen hatte, besaß entzündete Augen, war jähzornig und schießwütig. Sie brannten mit Sicherheit nur deshalb darauf, ihre Waffen abzufeuern, weil diese dabei mehr Gas freisetzten. Wie ein Alkoholiker, der zitternd nach einer Schnapsflasche greift. Deswegen glaubte Serena nicht, dass jemand bei Verstand seinen Wagen mit diesem Gas in Gang setzte, wenn es doch Pferde gab. Zwar sonderten die Tiere auch manchmal etwas Stinkendes ab, darüber verfiel man jedoch nicht dem Wahnsinn.

Während ihres Ritts achtete Serena genau auf ihre Umgebung, aber außer einer weiten Steppe mit blattlosen, ausgedörrten Sträuchern gab es hier nicht viel. Erst in der Ferne zeichnete sich eine Felsengruppe ab. Umso größer war ihre Verwunderung, als die Spuren plötzlich abrissen.

»Das gibt es doch nicht! Wo sind die hin?«

In Ends war der Boden oft unterschiedlich beschaffen, manchmal gab es Felsen nah unter dem staubigen Erdboden, dort verschwanden Spuren schon einmal. Hier gab es jedoch keine Anzeichen dafür. Selbst wenn der Untergrund zu hart für Abdrücke gewesen wäre, würden die Fährten nicht alle gleichzeitig abreißen.

»Vom Staub verschluckt.«

Nachdem Serena den Boden geprüft hatte und zu dem Schluss gelangt war, dass dieser sich nicht verändert hatte, suchte sie die Spuren in jeglicher Himmelsrichtung. Doch sie blieben verschwunden.

»Verdammte ...«

Griswold wieherte empört.

***

»Wenn ich es dir doch sage, sie waren einfach weg!«, beteuerte Serena.

»Unfug«, wischte Nick ihren Bericht mit einem ungläubigen Grinsen vom Tisch. »Serena, ich mag dich ja, aber Geschichten erfinden, das überlass Schriftstellern. Solchen wie ... wie heißt der Kerl noch? Irgendwas mit C.« Belustigt spülte der Barkeeper ein Glas aus und stellte es zum Trocknen kopfüber auf ein Gitter.

Gerade als Serena zu einer gepfefferten Erwiderung ansetzte, schwang quietschend die Tür zum Saloon auf. Kühle Nachtluft drang herein.

»Wir haben geschlossen!«, rief Nick und sah auf. »Ach du bist es, komm rein! Für dich ist die Tür immer offen.«

Serena drehte sich zu dem Gast um, den Nick so herzlich willkommen hieß und blickte in das strahlende Lächeln von Bella, der Krankenschwester. Sie arbeitete in der Klinik gegenüber und war eine der schönsten Frauen, die Serena je gesehen hatte. Für gewöhnlich machte sie sich nichts aus Schönheit, umso mehr irritierte sie die Tatsache, dass die Attraktivität von Bella ihr so deutlich ins Auge sprang. Doch das war bei weitem nicht alles, was sie in Bellas Gegenwart durcheinanderbrachte. Immer wenn Serena sie sah, erwachte ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend, ihr Hals schnürte sich zu und sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Hallo Serena!«, strahlte Bella sie an. »Guten Abend Nick. Ich hoffe, ich störe nicht.«

»Niemals! Setz dich doch! Willst du was trinken?«, fragte Nick, der bereits ein Glas in der Hand hielt.

»Danke, gerne, ein Wasser bitte.« Bella ließ sich neben Serena auf einen Barhocker sinken.

»Worum geht es?«

Nick machte sich daran, klares Wasser über die Pumpe in seiner Theke nach oben zu hebeln.

»Serena versucht sich gerade an spannenden Geschichten, von Gatlingkanonen, die sich in Luft auflösen.«

»Klingt magisch«, freute sich Bella und lächelte Serena an. »Erzähl doch mal.«

»Ich ...«, sprach Serena gegen den Kloß im Hals an und räusperte sich. Nachdem sie den Kampf gewonnen hatte, erzählte sie erneut, was sie gesehen hatte.

»Das mit dem ›magisch‹ ziehe ich zurück«, kommentierte Bella und nippte an ihrem Wasser. »Was du erzählst, ist schrecklich. Müssen alle deine Geschichten immer so grausam sein?«

»Es ist keine Geschichte, sondern mein Ernst«, erwiderte Serena resignierend. »Äh Moment, ich hab da was.« Sie tastete nach der Tasche ihres Mantels, der über dem Barhocker neben ihr hing.

»Bitte sehr.« Sie legte die Kugel auf den Tresen.

»Was´n das?«, fragte Nick die Stirn in tiefe Falten gelegt.

»Eine Kugel aus einer Gatling«, erklärte Serena triumphierend. »Von den Kanonen, die das Massaker angerichtet haben.«

»Unsinn, so etwas passt durch keinen Lauf.« Prüfend wog Nick die Kugel in der Hand. »Die ist zu schwer und zu groß. Eine Waffe, die so ein Teil ausspuckt, würde dem Schützen den Arm abreißen. Den Rückstoß könnte keiner halten.«

»Was soll es sonst gewesen sein?«, fragte Serena. Vielleicht hatte sie Nick jetzt endlich soweit, ihr zu glauben.

»Hm.« Ratlosigkeit machte sich auf seinem runden Gesicht breit. Als Barkeeper kannte Nick zahllose Legenden über besondere Menschen oder einzigartige Waffen. Angestrengt kratzte er sich an der Glatze und zwirbelte seinen Schnurrbart.

»Wenn es da so viele Tote gab, hast du wenigstens die Soldaten informiert?«, fragte Bella.

»Den unnützen Haufen?«, entgegnete Serena. »Als ich das letzte Mal ein Verbrechen anzeigen wollte, haben sie mich festgenommen. Keine Chance! Mit denen spreche ich nie wieder.«

»Aber du ...«