Über das Buch

Als Hauptkommissar Matthias Brasch von der Beerdigung seines Vaters in einem kleinen Dorf in der Eifel zurückkehrt, wartet schon wieder ein neuer Fall für ihn: In einem Vorort von Köln sind zwei Kinder spurlos verschwunden.

Eine erste Spur führt in die Villa von Marlene Brühl, einer einstmals legendären und sehr exzentrischen Schauspielerin, bei der die Zwillinge Tobias und Thea häufig zu Besuch waren. Doch nur wenige Stunden, nachdem Brasch ihr seinen ersten Besuch abgestattet hat, wird die alte Dame ermordet.

Wie sich herausstellt, war die steinreiche alte Dame eine geheime Herrscherin über den Ort, indem sie Geld verliehen hat. Einige ihrer Nachbarn hatten beträchtliche Schulden bei ihr, und auch ihre Enkelin Alina scheint das allergrößte Interesse am Testament ihrer Großmutter zu haben.

Doch als sich wenig später auf dem weitläufigen Grundstück des Brühl’schen Anwesens ein weiterer mysteriöser Mord ereignet, ist Brasch schnell klar: das war erst der Anfang …

Der 4. Band der großen Köln-Krimi Reihe mit Kommissar Matthias Brasch.

Über Reinhard Rohn

Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman »Rote Frauen«, der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.

Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über »Matthias Brasch«. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.

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Reinhard Rohn

Die falsche Diva

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Zweiter Teil

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Epilog

Impressum

Für Michaela

– as always

Handlung und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Auch bei der Ausgestaltung einiger Schauplätze, die real existieren, habe ich mir einige kleinere Freiheiten erlaubt.

Prolog

Ungeschehen machen – dieser Gedanke war es, der ihm den Kopf zermarterte und ihm nächtelang den Schlaf raubte. Wie konnte er Dinge ungeschehen machen? Man müsste, sagte er sich, wie ein Riese durch die Welt laufen und die Bäume und Pflanzen nicht ausreißen, sondern sie wieder in die Erde stopfen, als wären sie nie da gewesen. Man müsste auch Tiere und Menschen ausradieren können – und sich selbst, ja, sich selbst, die eigene Armseligkeit verschwinden lassen, wie ein guter Zauberer.

Wie oft sah er sich als Kind, das allein in der Wohnung war, sieben Etagen hoch über der Erde, voller Hunger und Durst, aber außer ein paar Zwiebäcken und Wasser aus einem rostigen Hahn hatte er nichts, um sich den knurrenden Bauch zu stopfen. Und auch seine leeren Stunden konnte er mit nichts füllen, nur mit leisen Gesängen, irgendwo in einer Ecke kauernd, bis endlich, wenn es schon lange dunkel war, seine Mutter zurückkehrte, unwirsch und wortkarg. Einmal aber spazierte er am offenen Fenster entlang, balancierte auf dem Sims und sah sich schon fallen, davonsegeln, als eine Hand, die genauso klein war wie seine, ihn zurückriss und er doch nicht in den Himmel flog.

Ungeschehen machen – das war die laute, dröhnende Musik in seinem Kopf, die ihn schier zum Wahnsinn brachte, und dann musste er wieder loslaufen, heimlich, durch die Nacht, auch wenn er dagegen ankämpfte, wenn er sich in die Unterarme biss, seinen Kopf in eiskaltes Wasser hielt und sich eine Flasche Wein einflößte.

Er liebte Tiere; er wollte niemanden quälen. Er hatte die feste Absicht, gut zu sein, aber die Nacht drückte auf seine Schultern, und die Worte »ungeschehen machen« stampften durch seinen Kopf.

Sie wehrten sich nicht, wenn er sie packte, schauten ihn mit ihren großen, fragenden Augen an – Kaninchen, Hasen, Katzen, egal; er war ein guter Fänger. Hinterher war ihm meistens wohler. Er konnte eine Nacht durchschlafen, ohne zu träumen, und richtig atmen, frei, bis tief in den Bauchraum.

Aber die Erlösung währte nie lange. Nach ein paar Tagen kehrte der Druck zurück, und die furchtbare Musik im Kopf begann erneut, wurde immer lauter.

Er hatte nie wirklich daran gedacht, auch einmal einen Menschen zu töten.

Sein großer Traum war es, ein schneeweißes Pferd zu finden, ihm über den Kopf zu streichen, sie würden Freunde werden, und dann würde er ihm mit einem leichten, beinahe schmerzfreien Streich den Bauch öffnen, wie ein exzellenter Chirurg, und hineinklettern, zwischen die Gedärme, in den dunklen, warmen Bauch; da war er zu Hause, da würde er bleiben. Er wäre wieder unschuldig, und niemand würde ihn jemals finden.

Erster Teil

1

Brasch konnte nicht weinen. Während neben ihm sein Bruder Robert hemmungslos schluchzte, spürte er, dass er vollkommen leer war. Keine einzige Träne lief ihm über die Wange. Er fragte sich, ob er seinen Vater je geliebt hatte. Eine Antwort darauf fiel ihm nicht ein. Wenn er ehrlich war, konnte er sich nicht erinnern, wirklich einmal mit seinem Vater gesprochen zu haben. Ihre wenigen Telefonate hatten zumeist nur ein Thema gehabt: Wie war das Wetter in der Eifel? Im Winter hatte es seinem Vater gefallen, vom Schnee zu erzählen. Er war sogar eine Art Experte für Schnee, konnte beinahe wie ein Inuit unterscheiden, ob große, feste oder eher wässrige Flocken vom Himmel fielen. Selbst wie lange der Schnee liegen bleiben würde, wagte er vorherzusagen. Ihr in Köln kennt ja gar keinen Schnee, hatte er jedes Mal erklärt. Bei euch fällt doch nur weißes Wasser vom Himmel.

Nein, er hatte seinen Vater nicht geliebt. Er hatte ihn nicht einmal geachtet, und schon als Kind war er sicher gewesen, dass er davonlaufen, das Eifeldorf hinter sich lassen würde, das stickige, schmucklose Lokal an der Hauptstraße, in Wahrheit eine bessere Imbissbude, in der seine Eltern ihr Leben verbracht hatten.

Sehr weit war er nicht gekommen – bis nach Köln zur Kriminalpolizei.

»Wofür hat man eigentlich gelebt?«, hatte sein Vater gefragt, ein paar Stunden, bevor er gestorben war. Brasch war zusammengezuckt und hatte, statt zu antworten, dem Sterbenden einen Plastikbecher mit stillem Mineralwasser an die Lippen geführt, das Einzige, was er noch zu sich nehmen konnte. Niemals hätte Brasch gedacht, so eine Frage aus dem Mund seines Vaters zu hören, und eine befriedigende Antwort kam ihm auch nicht in den Sinn. Man lebte, um sich ein paar Träume zu erfüllen … Man lebte für ein paar Momente des Glücks – oder weil es irgendwo in einem fernen Winkel des Universums doch einen Sinn gab.

Ach, er war Polizist und kein Philosoph. Wahrscheinlich hätte Leonie eine Antwort gewusst, die Frau, die ihn vor neun Monaten verlassen hatte.

Die Totengräber ließen den Sarg in das düstere Erdloch hinab. Sie machten ernste Gesichter, aber nicht wie Trauernde, eher wie ehrliche Arbeiter, die sich der Bedeutung ihrer Aufgabe bewusst waren. Brasch hätte es geschätzt, wenn man von irgendwoher Musik eingespielt hätte, um die dumpfe Stille zu übertönen, aber daran hatten weder sein Bruder noch seine Mutter gedacht. Der Priester postierte sich am Grab, ein alter, kahlköpfiger Mann, in dem Brasch mit Mühe seinen Religionslehrer aus der Grundschule erkannt hatte. Er segnete das offene Grab und sprach flüsternd ein paar Worte, die Brasch allerdings nicht verstehen konnte, weil irgendwo hinter ihm in der Trauergemeinde ein Mobiltelefon klingelte und sein Bruder plötzlich mit den Füßen zu scharren begann, als würde er es nicht mehr aushalten, still zu stehen. Ein tiefes Schluchzen ließ Roberts Körper erbeben, und für einen Moment schien es, als würde er gleich auf die Knie sinken. Er hatte sich seine langen, bereits ergrauten Haare zu einem Zopf zusammengebunden und sah beinahe wie ein Künstler aus – oder zumindest so, wie die Leute im Dorf sich einen Künstler vorstellten.

Nach dem Pfarrer trat seine Mutter an das Grab. Manchmal hatte Brasch in den letzten Wochen gemeint, sie würde beinahe durchsichtig werden, so sehr hatten sie die Sorge und der Kummer um ihren sterbenden Mann ausgezehrt, doch nun stand sie ganz aufrecht da, mit reglosem Gesicht, als würde sie niemanden um sich wahrnehmen – und ebenfalls ohne eine Träne zu vergießen. Sie war immer ein Ausbund an Pflichtbewusstsein gewesen; die Dinge mussten erledigt werden, und also wurden sie erledigt. Das musste auch für die Bestattung ihres Mannes gelten, mit dem sie über vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war. Manchmal begriff Brasch, dass auch er einiges von diesem Pflichtbewusstsein mit sich herumschleppte. Auch wenn er sich schon seit zehn Tagen in der Eifel befand, hatte er jeden Tag im Präsidium angerufen. Frank Mehler und Pia Krull, seine engsten Kollegen, waren mit dem Mord an einer Chinesin beschäftigt, vermutlich eine illegale Prostituierte, die man in einem Apartment am Ebertplatz in Köln erdrosselt aufgefunden hatte. Bisher wussten sie nicht einmal, wie die Frau hieß und woher sie kam. Eine mühsame, nervenaufreibende Arbeit, insbesondere, wenn sich keine Fortschritte einstellten.

Mit einer kleinen Schaufel warf seine Mutter ein wenig Erde auf den Sarg. Brasch sah, dass ihre Lippen stumm ein paar Worte formten. Wie war das, fragte er sich, wenn man am Morgen aufwachte und derjenige, der vierzig Jahre lang neben einem gelegen hatte, nicht mehr da war? Sein Bruder bewegte sich schleppend nach vorn. Im ersten Moment sah es so aus, als würde er ihre Mutter stützen wollen, doch dann geriet er selbst ins Stolpern und legte den Arm um sie, damit er nicht stürzte. Wie ein großes, altes, unordentliches Kind stand Robert da, nahm die Schaufel entgegen und warf mit zitternder Hand einen Brocken schwarze Erde in die Grube.

Seltsam, dachte Brasch. Robert war immer da gewesen, er hatte sich mit den Eltern gestritten und wieder versöhnt, er hatte ihr Lokal eine Zeit lang übernommen und war gelegentlich bei ihnen eingezogen, wenn er seine Miete nicht bezahlen konnte, doch als sein Vater starb, hatte er in irgendeiner Kneipe gesessen und sich betrunken.

Gegen drei Uhr in der Nacht hatte Brasch die Rufe seines Vaters gehört. »Matthias«, hatte er gerufen, »kleiner Matthias, ich will aufstehen.« Sein Vater lag im Wohnzimmer in einem Pflegebett, das man eigens herangeschafft hatte.

Er zerrte an seinem Bettlaken. »Ich will aufstehen«, keuchte der alte Mann so energisch wie schon lange nicht mehr.

Seit drei Wochen lag er schon da und hatte es kaum noch vermocht, sich für ein paar Momente auf die Bettkante zu setzen. Sein von Krebs zerstörter Körper war aufgedunsen, die Beine angeschwollen. Seine Nieren funktionierten nicht mehr, und neben der Lunge war nun auch sein Magen voller Metastasen. Er konnte nicht einmal mehr Suppe essen und wurde über eine Kanüle am Arm künstlich ernährt.

Brasch half ihm, sich aufzurichten. Er war müde und zerschlagen, weil er die letzten Nächte kaum geschlafen hatte, und er brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass sein Vater sich anfühlte, als hätte er gar keine Knochen mehr im Leib. Selbst sein Kopf rollte wie bei einem Säugling hin und her.

»Es war alles nichts«, sagte sein Vater. »Nichts.« Dann sank er so kraftlos zurück, dass Brasch Mühe hatte, ihn zu halten. Er bettete seinen Vater, der nach Atem rang wie nach einer viel zu großen Anstrengung, wieder auf die Kissen. Die Augen hatte der alte Mann geöffnet, ohne dass es schien, als würde er noch etwas sehen.

Sein Vater starb. Brasch begriff, dass er Zeuge wurde, wie das Leben aus dem bleichen Körper seines Vaters schwand und er um seine letzten Atemzüge kämpfte. Brasch spürte, wie sich in Sekundenschnelle das Entsetzen in seinem ganzen Körper ausbreitete. Das, was sie seit Wochen erwartet und gefürchtet hatten, trat nun ein, und ausgerechnet ihn, mit dem er seit Jahren nur übers Wetter gesprochen hatte, rief sein Vater zu sich.

Es war alles nichts! War das ein Vermächtnis? Das Begreifen des Todkranken, dass er in einem Leben wie in einer winzigen Zelle gefangen gewesen war?

Ein Fluchtinstinkt erfasste Brasch. Er überlegte, seine Mutter zu wecken. War es nicht ihre Aufgabe, hier zu sitzen? Doch dann sah er, wie schwach sein Vater atmete und dass er seine Hand umklammert hielt, als wäre sie sein letzter Halt in dieser Welt.

Brasch blieb auf der Bettkante sitzen. Eine seltsame Stille hüllte ihn ein, schien sich über ihn und seinen Vater zu legen, als wären sie untrennbar verbunden, als existierte niemand mehr außer ihnen. Auch wenn er gewollt hätte, wäre es Brasch gar nicht mehr möglich gewesen, aufzustehen und zu gehen. Die Stille hielt ihn fest. Er beobachtete, wie sein Vater starr an die Decke blickte und immer flacher atmete. Manchmal setzte seine Atmung sogar für ein paar Sekunden aus, doch wenn Brasch schon glaubte, sein Vater habe aufgehört zu atmen, öffnete sich sein Mund wieder, um kraftlos, mit flatternden Wangen, ein wenig Luft anzusaugen. Ruhig lag die knochige Hand des alten Mannes in seiner, und dann, als ein erster Vogel zu singen begann, obwohl noch kein Lichtstrahl über den Horizont gekrochen war, tat sein Vater keinen Atemzug mehr. Er war tot, gestorben ohne ein Wimmern oder einen letzten Seufzer.

Das Haus schien sich verändert zu haben, als Brasch die Hand seines Vaters losließ und sich erhob. Die Stille war noch dichter geworden, undurchdringlich für jede Art von Geräusch. Es war, als würden die alten Mauern hinaus in den Morgen lauschen, wo irgendwo im zarten Licht ein Leben verhallte. Totenstille, ja, dieses Wort hatte plötzlich eine tiefere Bedeutung.

Vorsichtig weckte Brasch seine Mutter, die sofort den Grund begriff, und führte sie an das Bett ihres toten Mannes. Nur von seinen letzten Worten hatte er ihr nichts erzählt, auch später nicht, als sie gemeinsam über die Beerdigung sprachen.

Er sah sie am Ausgang des Friedhofs stehen.

Die Trauergäste hatten sich zerstreut. Einige sprachen schon wieder mit lauter Stimme, lachten sogar und trafen Verabredungen für das Wochenende. Die Bestattung lag schließlich hinter ihnen. Brasch hatte den Totengräbern jeweils einen Geldschein in die Hand gedrückt. Seine Mutter war bereits mit Robert in ihr Haus zurückgefahren. Fast schien es, als hätte Agnes seinem Bruder zuliebe auf einen frühen Aufbruch gedrängt, weil er immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Robert wurde alt und sentimental, ein Gescheiterter, der anscheinend mit keinen Schicksalsschlägen mehr fertig wurde, selbst wenn sie seinen Vater betrafen, mit dem er sich ein Leben lang gestritten hatte. Brasch hätte es nicht wissen sollen, aber natürlich hatte Agnes ihm verraten, dass sein Bruder wegen eines dilettantisch ausgeführten Versicherungsbetrugs seit kurzem vorbestraft war.

Leonie blickte erwartungsvoll die Straße hinunter. Ihre rechte Hand hatte sie ein wenig erhoben, als meinte sie, gleich einem vorbeifahrenden Taxi winken zu müssen. Wieso hatte er sie vorher nicht gesehen? Früher war er sicher gewesen, dass er es immer spürte, wenn sie sich in seiner Nähe aufhielt, als würde sie gewisse Wellen aussenden, für die er empfänglich war, aber vermutlich war dieser Gedanke romantischer Unsinn gewesen.

Sie drehte sich nicht nach ihm um, als er sich ihr näherte. Noch immer behielt sie die Straße im Auge. Ihr schwarzes Haar trug sie kürzer, an einem Ohr leuchtete ein bernsteinfarbener Ohrring, den er nicht kannte. Brasch hatte keine Ahnung, wann sie sich zuletzt gesehen hatten. Leonie hatte ihn verlassen, hatte das Haus von einem Tag auf den anderen ausgeräumt, weil er nicht da gewesen war, als sie eine Fehlgeburt gehabt hatte. Stattdessen hatte er einen Parkhausmörder gejagt und nicht einmal registriert, wie schlecht es ihr ging. Seitdem lebte er allein in seinem Haus im Norden Kölns.

Erst als er sie an der Schulter berührte, wandte sie sich um, doch an ihren dunklen Augen, in denen keine Überraschung zu lesen war, erkannte er, dass sie ihn längst wahrgenommen hatte.

Sie sah sehr gut aus, ihre Lippen waren dunkelrot, und um ihre Augen lag ein matter bronzefarbener Ton, ein besonders elegantes Make-up, das eigentlich gar nicht zu einer Beerdigung passte.

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du kommst?«, fragte er und spürte sofort, wie unpassend vorwurfsvoll seine Worte klangen.

Sie gab ihm die Hand, ganz förmlich, als wären sie entfernte Verwandte.

»Herzliches Beileid«, sagte sie und neigte leicht den Kopf. »Ich habe mich erst heute Morgen entschlossen zu kommen. Auch wenn er ein wortkarger Kauz war, habe ich deinen Vater immer gemocht, und als deine Mutter mich angerufen hat und …« Sie unterbrach sich, als hätte sie nun ein Geheimnis verraten. Agnes hatte ihr Bescheid gesagt. Vielleicht hatte seine Mutter eine bestimmte Absicht verfolgt; vielleicht dachte sie, ihre Beziehung wäre in Wahrheit noch nicht zu Ende.

Leonie taxierte ihn mit einem Funkeln in den Augen, dann blickte sie wieder die Straße hinunter. Die meisten Trauergäste saßen bereits in ihren Autos und fuhren ins Dorf hinunter.

»Hedwig wollte mich abholen. Sie hat hier in der Gegend zu tun. Irgendein Künstler hat hier sein Atelier. Mein Wagen ist in der Werkstatt«, sagte sie, als müsse sie ihm ihre Unruhe erklären.

Brasch wunderte sich, dass Leonie sich auf ihre Schwester verlassen hatte. Hedwig hatte die Angewohnheit, immer zu spät zu kommen oder dann unangemeldet aufzutauchen, wenn man sie absolut nicht gebrauchen konnte.

Hinter ihm begann ein kleiner Bagger den Weg hinunterzurumpeln. Einer der Totengräber, der nun einen blauen Overall trug, saß hinter dem Steuer und winkte ihm lässig zu. Sie begannen das Grab zuzuschütten. Das Motorengeräusch störte ihn, und er musste sich unweigerlich ausmalen, wie nun die feuchte, schwere Erde auf den Sarg seines Vaters fiel.

»Ich kann dich mitnehmen, wenn du willst«, sagte er. »Ich fahre auch nach Köln.«

Sie hielt den Kopf schief, als wüsste sie genau, dass er sie anlog und keineswegs vorgehabt hatte, schon nach Hause zu fahren. Dann sagte sie lächelnd: »Gern. Wahrscheinlich hat Hedwig mich wieder vergessen.«

Ganz flüchtig kam ihm der Gedanke, dass Leonie alles arrangiert hatte. Sie hatte sich mit ihm treffen und mit ihm reden wollen, aber wie sie da saß, fremd und stumm, wirkte sie eher ein wenig gelangweilt und müde.

Brasch begann von seinem Vater zu sprechen, von der Krankheit, die ihn so weit veränderte, dass er zuletzt sogar in der Bibel gelesen hatte, obschon er nie zur Kirche gegangen war. Sogar den Satz seiner Mutter, der ihn erschreckt hatte und ihm die Augen öffnete, weil er ihm zeigte, wie die Dinge standen, erwähnte Brasch. »Dein Vater hat nie das Meer gesehen«, hatte sie eines Morgens ohne jeden Zusammenhang gesagt, und für ihn war dieser Satz wie ein Todesurteil für den alten Mann gewesen.

»Du hast dir Urlaub genommen, um deinem Vater beizustehen?« Er erkannte das Erstaunen in Leonies Stimme. Wenn er ihr vor ein paar Monaten beigestanden hätte, wäre vielleicht alles anders geworden; ihr Kind wäre längst auf der Welt, würde sie Tag und Nacht wach halten; stolze, ängstliche Eltern wären sie.

Eine Sehnsucht überfiel ihn, die ihm schier die Sprache nahm. Eigentlich hatte er gedacht, das alles hinter sich gelassen zu haben. Er hatte härter denn je gearbeitet, hatte sein Haus renoviert, hatte manchmal sogar mit Erfolg versucht, nicht an Leonie zu denken, doch nun stürzte alles wieder auf ihn ein.

»Er ist gestorben, während ich seine Hand gehalten habe«, sagte Brasch. Beinahe hätte er sogar den letzten, furchtbaren Satz seines Vaters erwähnt, der irgendwo in seinem Kopf tiefe dunkle Kreise zog.

Leonie schaute ihn an, forschend, mit ihrem Sozialarbeiterblick, den er noch nie an ihr gemocht hatte. Dann klingelte ihr Handy. Hedwig war am Apparat, entschuldigte sich für ihre Verspätung, und Leonies Stimmung veränderte sich mit einem Schlag, wurde gelöster, unverfänglicher.

»Ich sitze bei Matthias im Auto«, antwortete Leonie auf eine Frage ihrer Schwester, deren genauen Wortlaut Brasch nicht verstehen konnte. Das Zögern, das diesen Worten folgte, verriet, wie überrascht Hedwig augenscheinlich reagierte.

Als Brasch auf den Kölner Autobahnring einbog, schwiegen sie. Er stellte sich vor, wie Leonie sich von ihm verabschieden würde, wenn er vor ihrem Haus hielt: ein leiser Gruß und ein flüchtiger Kuss auf die Wange.

Er hatte eine Gelegenheit verpasst. Statt von seinem Vater zu sprechen, hätte er sich nach ihr erkundigen sollen: Wie ging es ihr in ihrem Haus hinter dem Deich? Hatte sie sich nicht neuerdings einen Hund zugelegt? Arbeitete sie noch immer in derselben Schule in Ehrenfeld? Aber in Wahrheit hätte hinter all seinen scheinbar belanglosen, freundlichen Erkundigungen nur eine einzige riesengroße, wie in Fels gehauene Frage gelauert: Gibt es jemanden in deinem Leben?

»Ich schlafe schlecht in letzter Zeit«, sagte Leonie plötzlich. »Ich wache gegen zwei Uhr nachts auf, sitze in meinem Wohnzimmer und starre aus dem Fenster. Zu viele Gedanken!«

Sie betonte ihre Worte, als würde sie ihm ein Geständnis machen. Mit reglosem Gesicht blickte sie vor sich hin. Die ersten Spuren ihres Alters waren zu sehen: ein paar härtere Linien um den Mund, Fältchen um die Augen. Als Brasch sie zum ersten Mal gesehen hatte, war sie ihm wie eine schöne Schauspielerin vorgekommen. Sie hatte an einem Klavier gesessen und Lieder gespielt, eine Art Wunschkonzert für die Gäste einer kleinen Party gegeben.

»Ich träume von dem Kind«, sagte sie weiter. »Es schreit in seiner Wiege, doch wenn ich aufstehe und in sein Zimmer laufe, ist die Wiege leer. Nur ein Kissen liegt da, das nicht einmal bezogen ist. Es sieht alles sehr provisorisch aus. Ich glaube, in dem Zimmer in meinem Traum gibt es nicht einmal Tapeten an den Wänden.«

Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. »Es tut mir leid« war alles, was er über die Lippen brachte. In seiner Jackentasche vibrierte sein Mobiltelefon. Zum Glück hatte er während der Beerdigung den Klingelton abgeschaltet. Seine Mutter würde sich fragen, wo er abgeblieben war.

»Ich weiß, dass niemand schuld ist«, fuhr Leonie fort. »Niemand kann aus seiner Haut heraus.« Sie sagte das wie eine endgültige, bittere Wahrheit.

Brasch verließ die Autobahn. Er verstand nicht genau, was sie meinte. Sprach sie von ihm? Wollte sie ihm sagen, dass er im Grunde keine Schuld daran trug, dass sie sich getrennt hatten? »Wenn du magst, können wir noch irgendwo einen Kaffee trinken. Ich kenne eine neue Pizzeria …«

Sie beugte sich vor und legte ihm eine Hand auf den Arm. Schon diese müde Geste verriet, dass sie ablehnen würde. »Ich bin nicht in der Stimmung«, sagte sie. »Vielleicht hat mich auch die Beerdigung ein wenig mitgenommen. Ich hätte gar nicht kommen dürfen.«

Es war bereits dunkel, als er in ihre Straße hineinfuhr. Die Laternen warfen ein mattes gelbliches Licht auf den Asphalt. Am Himmel ballten sich ein paar graue Regenwolken zusammen. Es war Herbst geworden. Leonie wohnte in der Nähe des Rheins in einer alten Hofanlage, die man zu schmalen, modischen Einfamilienhäusern umgebaut hatte. Keine Luxusgegend, aber auch nichts für Kleinverdiener.

»Wenn ich noch etwas für dich tun kann …«, sagte er und schaltete den Motor aus, bereute es aber sogleich, weil die Stille, die abrupt eintrat, jedem Wort eine besondere Bedeutung verlieh. Verlegen blickte er hinaus. Irgendeine Art Kunstwerk stand da: eine Frau aus weißem Stein, die sich so verrenkte, dass sie beinahe wie ein Schlangenmensch wirkte, ohne Anfang und ohne Ende. Dahinter waren ein paar Fenster der Häuser erleuchtet; Schatten bewegten sich hin und her.

»Danke, dass du mich gebracht hast«, sagte Leonie und öffnete die Tür. »Aber nun solltest du zurückfahren und Agnes nicht länger warten lassen. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.«

Brasch lächelte sie an. Manche Dinge änderten sich also nicht: Leonie hatte seine Lüge von Anfang an durchschaut.

Sie warf ihm einen letzten Blick zu, flüsterte einen kurzen Gruß, bevor sie sich hastig abwandte und die Wagentür zuschlug. Er sah ihr nach. Wenn er nun einen Wunsch frei gehabt hätte, dann hätte er sich gewünscht, sie am Klavier zu sehen, wie sie gedankenverloren vor sich hin klimperte und eine Melodie suchte.

Eine Frau, die einen schwarzen Labrador an der Leine hielt, tauchte plötzlich zwischen den Häusern auf, als hätte sie auf Leonie gewartet, und eilte ihr entgegen. Die Art, wie sie sich bewegte, alarmierte Brasch. Erregung und Anspannung lagen in ihren Schritten, als könnte von ihr eine Gefahr ausgehen. Der Hund sprang freudig an ihr hoch, doch Leonie beachtete ihn kaum, tätschelte ihm lediglich den Kopf, während sie der Frau zuhörte, die mit besorgter Miene auf sie einredete. Brasch beobachtete, wie Leonie heftig den Kopf schüttelte, dann nahm sie der Frau die Leine ab und drehte sich fragend zu ihm um.

Er überlegte, ob er aussteigen oder den Wagen starten sollte. Was hatte ihr Blick zu bedeuten? Auch die Frau sah neugierig zu ihm herüber. Anscheinend hatte Leonie ihr etwas gesagt, das ihr besonderes Interesse erweckt hatte.

Ohne die beiden Frauen aus den Augen zu lassen, drehte Brasch den Zündschlüssel herum. Der Motor sprang sofort an, aber als wäre das ein Signal gewesen, winkte die Frau ihm zu, und Leonie lief um den Wagen herum zur Fahrertür. Brasch öffnete das Fenster.

»Das ist Barbara Lind. Sie hat eine Gärtnerei und kümmert sich manchmal um meinen Hund«, sagte sie mit ernster Stimme. »Ihre beiden Kinder sind verschwunden.«

2

Kinder verdrückten sich manchmal, suchten sich einen geheimen Ort, wo sie niemand finden konnte, besonders Zwölfjährige, bei denen die Pubertät vielleicht ein wenig zu heftig einsetzte. Brasch versuchte zu beruhigen. Es war kaum halb acht, die Kinder hatten zwar versprochen, pünktlich um sechs zu Hause zu sein, und nun waren sie nicht einmal zwei Stunden überfällig.

»Meine Zwillinge sind nicht so«, sagte Barbara Lind. »Außerdem hat Tobias eigentlich Stubenarrest. Er hat eine Fünf in Französisch geschrieben und darf nicht einmal zum Reiterhof.«

»Sehen Sie«, erwiderte Brasch. »Vermutlich hat er Sorgen und ist deshalb mit seiner Schwester zum Rhein gelaufen. Sie hocken da am Wasser, rauchen vielleicht heimlich eine Zigarette und versuchen, auf andere Gedanken zu kommen.« Er musste daran denken, wie oft er sich als Kind in den Wald davongestohlen hatte.

»Thea ist Vegetarierin und achtet auf ihre Gesundheit«, sagte Barbara Lind vorwurfsvoll. »Sie würde niemals auch nur eine Zigarette anfassen. Außerdem bin ich schon unten am Rhein gewesen. Da ist niemand.«

»Vielleicht haben sie zufällig Freunde getroffen.« Brasch spürte, wie Leonie ihn anschaute, mit dunklem, tadelndem Blick. Sie hatte mehr Verständnis von ihm erwartet, aber er konnte schlecht eine große Suchaktion in Gang setzen, nur weil zwei Kinder ihre besorgte Mutter ein wenig warten ließen.

Die Frau schüttelte entschieden den Kopf. »Wir haben schon alle ihre Klassenkameraden angerufen, mit denen sie sich gelegentlich verabreden.«

»Ich glaube, du bist nicht im Bilde, was hier im Ort passiert ist«, sagte Leonie. »Nachts traut sich keiner mehr allein auf die Straße. Vor drei Tagen ist auf der Wiese am Reiterhof ein Pferd getötet worden. Jemand hat ihm den Hals aufgeschlitzt. Es ist qualvoll verblutet, und vier Wochen zuvor hat jemand, wahrscheinlich derselbe Täter, eine Katze getötet. Sie lag vor dem Eingang der Kirche, vollkommen ausgeblutet.«

Barbara Lind schien bei jedem Wort, das Leonie sagte, zusammenzuzucken. »Wer garantiert uns, dass dieser Verrückte jetzt nicht auch Kinder überfällt?« Ihre Stimme klang nun schwach und weinerlich.

»Hat die Polizei etwas unternommen?«, fragte Brasch.

»Sie haben behauptet, dass sie nun häufiger Streife fahren würden, aber so richtig mitbekommen hat das niemand«, antwortete Leonie voller Zweifel. Ihr Hund hatte sich brav zu ihren Füßen hingelegt. Ihn schien die ganze Aufregung nichts anzugehen.

Brasch bemerkte, wie die Frau sich über die Augen strich, als würde sie tatsächlich gleich in Tränen ausbrechen. Ihre Hände waren schmutzig, als hätte sie in schwarzer Erde gewühlt, um ihre Kinder zu finden.

»Gut«, sagte er nach einem Moment des Zögerns. »Ich kenne die meisten Kollegen von der Wache in Chorweiler. Ich werde sie bitten, uns einen Wagen zu schicken. Dann suchen wir gemeinsam die Uferwege ab.«

Er zog sein Mobiltelefon hervor und ließ sich mit dem Revier in Köln-Chorweiler verbinden. Eine kurze Schilderung genügte, und der Wachhabende versprach, einen Streifenwagen zu benachrichtigen, der sich ohnehin in der Nähe befand. Der Tod des Pferdes auf dem Reiterhof hatte alle entsetzt. Sogar das Landeskriminalamt war eingeschaltet worden, aber selbst die Spezialisten hatten bisher keine einzige brauchbare Spur gefunden.

Barbara Lind lächelte ihm dankbar zu, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

»Es kommt gelegentlich vor, dass sich ein Verrückter an Tieren vergeht«, sagte Brasch, »aber in der Regel interessieren sich solche Täter nicht für Menschen; sie bleiben Tierquäler. Ich glaube nicht, dass Ihre Zwillinge in Gefahr sind.«

In der Ferne hörten sie schon ein Martinshorn. Die Kollegen schienen es wirklich eilig zu haben.

»Haben Ihre Kinder einen Lieblingsplatz?«, fragte Brasch. »Irgendeinen Ort, wo sich die beiden vielleicht früher schon einmal versteckt haben?«

»Hinter den Uferwiesen gibt es einen kleinen Sandstrand«, erklärte Barbara Lind, »da haben wir im Sommer, als mein Mann noch lebte, manchmal am Lagerfeuer gesessen, aber dort habe ich zuerst nachgesehen. Auch auf dem Reiterhof bin ich schon gewesen.«

Brasch kramte sein Notizbuch hervor und schrieb sich die Namen der Kinder und die Telefonnummer von Barbara Lind auf.

»Sobald es dunkel wird, gibt es nun Wachen auf dem Reiterhof«, sagte Leonie. »Ich werde nachher auch mit hinübergehen. Ich bin zur ersten Wache bis Mitternacht eingeteilt.« Sie sah ihn an, als läge ein Geheimnis hinter ihren Worten oder vielleicht sogar eine Einladung, sie dort aufzusuchen. Der ganze Stadtteil, der eher den Charakter eines kleinen Dorfes hatte, schien in der Tat in Aufruhr zu sein – offensichtlich gehörte Leonie schon fest zu der Gemeinschaft dazu, etwas, das ihm nie gelungen war, gleichgültig, wo er wohnte.

»Reitest du neuerdings?«, fragte Brasch. Wieder musste er sich eingestehen, dass er lauernd und argwöhnisch klang.

»Manchmal«, erwiderte Leonie und tätschelte ihrem Hund den Kopf. »Benny mag Pferde. Er liebt es, wenn ich unten auf den Wiesen entlangreite.«

Als der Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht in den Hof bog, sprang der Hund auf und begann loszukläffen. Eine Polizistin stieg aus, die allenfalls Anfang zwanzig sein konnte. Sie hatte ihre langen hellblonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden.

»Sind Sie allein?«, fragte Brasch überrascht.

Die Frau nickte. »Mein Kollege nimmt drüben in Worringen noch einen Wohnungseinbruch auf. Dann lässt er sich von einem anderen Wagen abholen. Sie sind doch auch Polizist, oder nicht?«

Brasch zeigte ihr seine Dienstmarke und erklärte ihr kurz die Lage. »Wir werden uns gemeinsam ein wenig umsehen, während Frau Lind zu Hause auf ihre Kinder wartet. Vielleicht kommen sie ja von allein zurück.« Dann ließen sie sich ein Foto, das zwei harmlose Kinder auf einer Terrasse bei einer Art Kaffeekränzchen zeigte, und eine aktuelle Beschreibung der Zwillinge geben: Tobias und Thea, beide blond, zirka einen Meter sechzig groß. Thea trug eine orangefarbene Jacke.

Brasch reichte Leonie die Hand, bevor er zu der Polizistin in den Wagen stieg.

»Hoffentlich findet ihr die Kinder«, sagte sie.

Zuerst fuhren sie zum Reiterhof, dann bis zum Campingplatz am Rhein. Das Lokal dort war geschlossen. Im Oktober verirrten sich zu selten Gäste hierher. Hin und wieder befragte Brasch einen der wenigen Passanten, denen sie begegneten, oder er leuchtete mit einer starken Taschenlampe, die zum Inventar des Streifenwagens gehörte, das Gebüsch am Straßenrand ab. Die Kinder waren nirgends zu sehen. Dabei drohte der Abend ungemütlich zu werden. Ein kalter Wind war aufgekommen. Gelegentlich hörten sie einen Hund bellen und ganz in der Ferne das Rauschen, das von der Autobahn durch die Dunkelheit wehte. Bei diesem Wetter hielt sich niemand gerne im Freien auf.

Brasch begann sich Sorgen zu machen. Er überlegte, ob sie nicht weitere Streifenwagen rufen sollten. Seit zwei Jahren trieb in der Gegend bis Dormagen und Monheim ein Tierquäler sein Unwesen, erfuhr er von der Polizistin.

»Am Anfang waren es nur ein paar ausgeblutete Kaninchen, die wir unten am Rheinufer fanden. Bis es letztes Jahr zwei Hunde und eine Katze erwischte. Dass nun zum ersten Mal ein Pferd getötet worden ist, hat die Leute besonders erschreckt. Haben Sie die Leserbriefe in der Zeitung gesehen? Da wird die Polizei als unfähig dargestellt, und man redet schon davon, einen privaten Wachdienst beauftragen zu müssen. Wenn nun auch noch Kinder verschwinden, wird hier bald der Teufel los sein.«

Brasch beugte sich aus dem Fenster. Der Strahl seiner Taschenlampe erfasste ein rostiges Fahrrad an einer Böschung. Ein Stück weiter leuchteten die Augen einer Katze auf. »Ich glaube nicht, dass das eine mit dem anderen zu tun hat«, sagte er. »Es sei denn, die Kinder haben den Tierquäler beobachtet. Dann könnten sie ernsthaft in Gefahr geraten sein.« Der Gedanke gefiel ihm nicht. Auch die Polizistin begriff sofort, was es bedeuten konnte, wenn die Zwillinge dem Tierquäler in die Quere gekommen waren. Sie verzog das Gesicht, als spürte sie plötzlich Schmerzen.

Als sie langsam einen Feldweg hinunterrollten, der zum Rhein führte, klingelte sein Handy. Leonie war am Apparat.

»Habt ihr die Zwillinge gesehen?«, fragte sie ein wenig atemlos.

»Nein. Wir sind unten am Rhein. Leider ist es schon ziemlich dunkel, aber wir werden noch eine Weile weitersuchen.«

»Barbara ist etwas eingefallen. Manchmal hat die alte Marlene Brühl die Kinder in ihr Haus gelockt. Vielleicht sind sie bei ihr.«

»Klingt, als würdest du von einer Hexe sprechen, die kleine Kinder verspeist«, sagte Brasch ein wenig spöttisch, doch Leonie hatte keinen Sinn für seinen Spott.

»Marlene Brühl war eine berühmte Schauspielerin. Jeder hat früher ihre Filme gesehen. Sie wohnt in einem Bungalow an der Dorfstraße zur Fähre. Aber ihr müsst aufpassen! Sie lässt niemanden, den sie nicht sehen will, auf ihr Grundstück. Nachts schaltet sie angeblich eine Alarmanlage an.«

3

Das Haus lag ein Stück abseits der Straße hinter hohen Tannen verborgen. Ein schmiedeeisernes Tor, in das man die Initialen M und B hineingearbeitet hatte, versperrte ihnen den Weg. Eine Klingel war auf den ersten Blick nirgends zu entdecken. Ratlos schaute Brasch die junge Polizistin an. Sie hob suchend den Blick. Ja, dachte Brasch, man erwartet, irgendwo in den Tannen eine Kamera zu sehen.

Dann leuchtete plötzlich eine winzige Lampe neben dem Tor auf, und eine Stimme meldete sich.

»Was treiben Sie auf meinem Grundstück?«, schnarrte es aus einem Lautsprecher, den Brasch nun neben einem Briefkasten bemerkte.

Er beugte sich über den Lautsprecher. »Entschuldigen Sie die Störung. Wir sind von der Polizei und würden Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Es geht um Kinder, die verschwunden sind.«

»Halten Sie Ihren Ausweis hoch!«, drang die Stimme aus dem Lautsprecher.

Brasch zog seinen Ausweis hervor und hielt ihn vor sich hin. Noch immer hatte er keine Ahnung, wo sich eine Kamera befinden konnte. Anscheinend aber hatte man ihn bestens im Blick. Nach einem Moment war ein Summen zu hören, und die Tür schwang nach innen auf. Gleichzeitig wurde ein Weg vor ihnen, der wie in einen dichten Wald hineinführte, in grelles Licht getaucht.

Die Polizistin zuckte die Achseln und ging voran. Brasch beobachtete, wie sich die Tür hinter ihnen wieder schloss. Auch die einzelnen Lampen erloschen eine nach der anderen, sobald sie an ihnen vorbeigekommen waren.

»Wie in einem Film kommt man sich vor«, flüsterte die Polizistin vor sich hin. »Als hätte ein wahnsinniger Forscher sich irgendwo verbarrikadiert.«

Vogelstimmen wurden laut, als sie sich einem weiß verputzten Bungalow mit Flachdach näherten. Entweder wurde der Gesang der Vögel durch ein Tonband eingespielt, oder irgendwo am Haus befand sich eine Voliere, die sie nicht einsehen konnten. Der Weg endete abrupt vor einer grünen Holztür, in die ein viereckiges Fenster eingelassen war.

Brasch betätigte einen goldenen Klopfer. Eine Bogenlampe über ihnen brannte noch. Ansonsten war der Weg hinter ihnen wieder in völlige Dunkelheit getaucht.

»Haben Sie gewusst, dass hier im Ort eine berühmte Schauspielerin wohnt?«, fragte Brasch die Polizistin.

Sie schüttelte stumm den Kopf, ihre schmale Hand lag auf ihrer Waffe.

Brasch bemerkte, dass an dem einzigen Fenster, das er vom Haus sehen konnte, die Jalousien heruntergelassen waren. Die Vögel zwitscherten immer aufgeregter; offenbar schien es sich doch um lebendige Wesen zu handeln, die irgendwo in den Bäumen hockten. Eine seltsam feuchte Kühle lag in der Luft, als würden sie sich nah am Wasser aufhalten.

»Glauben Sie wirklich, die Kinder könnten sich hierher verirrt haben?«, fragte die Polizistin.

Vielleicht sieht es hier bei Tage nicht so unheimlich aus, dachte Brasch, doch bevor er antworten konnte, wurde die Tür geöffnet. Lautlos glitt sie nach innen. Für einen Moment fürchtete er, ein scharfer Hund könnte sich auf sie stürzen, aber alles, was er sah, war ein bleiches, schemenhaftes Gesicht.

»Ich bin Marlene Brühl«, hörten sie eine ältliche Frauenstimme. »Kommen Sie herein.«

Sie betraten eine weiße Halle, die nur von ein paar matten Leuchten an den Wänden erhellt wurde. Brasch hielt noch immer seine Dienstmarke in der Hand. Vor ihm stand eine schmale, zarte Frau in einem schwarzen Kimono. Sie hatte ihr weißes Haar mit einem breiten schwarzen Samtband zurückgebunden. In der rechten Hand hielt sie eine brennende Zigarette.

»Verzeihen Sie die Störung«, sagte Brasch. »Wir suchen zwei Kinder, die Zwillinge Thea und Tobias Lind. Sie werden seit heute Abend vermisst.«

»Wie alt sind Sie?«, fragte Marlene Brühl die Polizistin, als wäre Brasch gar nicht da. »Wenn ich jungen, schönen Frauen begegne, interessiere ich mich immer dafür, wie alt sie sind.«

Die Polizistin schaute sich unbehaglich um. »Nächsten Monat werde ich siebenundzwanzig«, erwiderte sie dann.

»Mit siebenundzwanzig habe ich schon in dreizehn Filmen mitgespielt«, sagte Marlene Brühl, »aber heute verrate ich niemandem mehr mein Alter. Ich bin sozusagen alterslos.« Sie lachte heiser und warf auch Brasch einen kurzen Blick zu, als müsste er sie für diese Aussage loben.

Brasch machte einen Schritt in die Halle hinein. Kein Laut drang aus dem Haus, nur die singenden Vögel waren zu hören. Ein paar kunstvolle weiße Plastiken standen in der Halle, und an den Wänden hingen Schwarzweißfotos. Allerdings konnte er nicht genau erkennen, was sie zeigten.

»Kennen Sie die Kinder?«, fragte Brasch. »Sind die beiden vielleicht heute Abend bei Ihnen gewesen?«