Eines Abends wird im Kölner Domhotel die Leiche eines Mannes entdeckt. Man findet den Toten in seinem Badezimmer auf – ermordet durch einen Schuss ins Genick. Bei dem Opfer handelt es sich um R. A. Kröber, einen weltberühmten Schriftsteller auf dem Gipfel seiner Popularität.
Als Brasch die Ermittlungen aufnimmt, stellt er schnell fest, dass in der Familie des Autors nicht alles zum Besten steht: in seinem Sohn Thomas sah Kröber einen erfolglosen Versager und auch seine zweite Frau Madeleine erweist sich als eine undurchschaubare Person, die Brasch einige Rätsel aufgibt.
Da kommt dem Kommissar eine Zeugenaussage des Zimmermädchens Theresa zur Hilfe, die zur Tatzeit eine blonde junge Frau in der Nähe von Kröbers Zimmer beobachtet hat. Doch während Brasch dieser Spur noch nachgeht, verschwindet Theresa. Was es damit auf sich hat, findet Brasch durch einen überraschenden Zufall heraus – einen Zufall, der ihn allerdings fast das Leben kostet …
Der 2. Band der großen Köln-Krimi Reihe mit Kommissar Matthias Brasch.
Über Reinhard Rohn
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman »Rote Frauen«, der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über »Matthias Brasch«. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Der glückliche Tote
Roman
Inhaltsübersicht
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Prolog
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zweiter Teil
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Danksagung
Impressum
Handlung und Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Auch bei der Ausgestaltung einiger Schauplätze, die real existieren, habe ich mir einige kleinere Freiheiten erlaubt.
Ich bin ein glücklicher Mensch, dachte er, ich werde bald sterben.
Er stand vor dem Spiegel und blickte sich in die Augen. Die tiefe Ruhe, die er bei diesem Gedanken empfand, gefiel ihm und überraschte ihn nicht mehr. Er war müde, zum Sterben müde. Vielleicht würde er mit der richtigen Therapie noch ein paar Monate leben können, aber das wollte er gar nicht. Sein Leben war zu Ende, nun galt es nur noch, ein paar Dinge richtig zu stellen.
In den letzten Tagen, seit sein Entschluss feststand, hatte er sogar eine heitere Stille gespürt. Er hatte in seinem Stuhl gesessen und der Stille gelauscht, als wäre diese Stille Musik, eine Musik, die er noch nie zuvor gehört hatte, und keine Worte waren wirklich zu ihm gedrungen.
Alles lag für einen festlichen Abend bereit, sein Anzug, seine Krawatte, die Bücher. Seit er von seinem Tod wusste, erlebte er seine Tage vollkommen anders. Er hatte beschlossen, sich keine Heimlichkeiten mehr zu erlauben; mit sämtlichen Lügen würde er aufräumen. Er war nie der gewesen, für den ihn jedermann gehalten hatte. Der frühe, unverdiente Erfolg hatte ihn zum Schreiben angetrieben. Er war kein großer Schriftsteller, sondern jemand, der sich immer vor Buchstaben auf weißem Papier gefürchtet hatte, wie große, unzusammenhängende Zeichen waren sie ihm oft erschienen, Zeichen, die gar keine Bedeutung hatten. Manchmal war er, um sich abzulenken, zu schönen, schweigsamen Huren gegangen, oder er hatte sich eine Hotelbar gesucht und sich gepflegt betrunken, und eine Zeit lang hatte er sogar eine winzige, geheime Dachwohnung in der Altstadt besessen, die er nie bewohnte, in der er lediglich eine Stunde am Tag verbrachte, die heilige Zeit zwischen vierzehn und fünfzehn Uhr. Er hatte sich ausgezogen, hatte sich nackt auf das Bett gelegt und Musik gehört, Opern von Wagner zumeist, die er in seinem Haus nicht hören durfte, und sich ausgeruht, fernab von aller Welt. Dabei war er nie unvorsichtig geworden und hatte immer der Versuchung widerstanden, länger zu bleiben oder die Wohnung auch über Nacht zu nutzen. So hatte niemand je von seinem Versteck erfahren.
Er stellte sich die Gesichter seiner Zuhörer vor, wenn er ihnen von seinen triumphalen Lügen erzählte. Von seinem ersten Buch, wie er das Manuskript in einem Karton mit alten Schallplatten und Schulheften gefunden und es als sein eigenes ausgegeben hatte, ohne zu ahnen, welche Wendung sein Leben dadurch nehmen würde. Nie hätte er vermutet, dass er mit diesem gestohlenen Manuskript zu einem Bestsellerautor avancieren würde. Das Leben hatte es gut mit ihm gemeint, und nun würde er einiges zurückzahlen, weil der Tod keine Lügen duldete. Er war kein gläubiger Mann, erwartete nicht, dass sich ein Himmelstor golden vor ihm öffnen würde, und doch musste man auf der Hut sein. Es starb sich besser mit einem reinen Gewissen – er hatte Fehler gemacht, aber er hatte immerhin keinen Mord begangen oder jemanden ins Grab gestoßen.
Langsam band er sich die Krawatte um und lächelte in den Spiegel hinein; er war kein guter Lächler; meistens sah es zu künstlich und gequält aus, doch plötzlich, in dieser Sekunde, gefiel ihm sein Lachen. Er hatte gelernt zu lächeln; er hatte vieles gelernt, besonders in den glücklichen letzten Jahren, und vielleicht wusste er nun auch, wie man mit Würde starb, ohne eine Klage auf den Lippen.
Er blickte auf seine Uhr, in einer Stunde würde alles ans Licht kommen. Er würde die Lügen abstreifen und wiedergeboren werden – wiedergeboren, um dann in Frieden zu sterben.
Als es an der Tür klopfte, registrierte er es nicht sofort. Lass es klopfen, dachte er, diese letzten Momente deines verlogenen Lebens gehören nur dir. Doch dann pochte es erneut, und jemand rief mit drängender Stimme seinen Namen. Wer wusste, dass er hier war und sich auf seinen letzten großen Auftritt vorbereitete?
Er lächelte sich noch einmal im Spiegel an. Zum ersten Mal in seinem über siebzigjährigen Leben kam ihm sein Spiegelbild nicht fremd vor. Nein, er hatte nichts mehr zu verlieren; er würde sich vor niemandem mehr verstecken und die Tür öffnen, selbst wenn da der Tod leibhaftig mit seiner Sense vor ihm stehen würde.
Brasch sah sie lächeln. Sie saß ihm schräg gegenüber an einem schmalen Tisch und schaute ihn über ein Buch hinweg an. Er wusste zuerst nicht, ob das Lächelm ihm galt oder ob sie sich über etwas in ihrem Buch amüsiert hatte, doch dann traf ihn ihr Blick, und er verstand, dass sie ihn meinte. Hatte sie ihn schon lange beobachtet, wie er unruhig wartend dasaß? Sie war blond, ihr Haar war so modisch geschnitten, dass ihr immer zwei lange Strähnen ins Gesicht fielen, die sie dann mit einer anmutigen Handbewegung zurückschob. Besonders auffällig waren ihre Augen. Sie waren hellblau, wie das Meer bei strahlendem Sonnenschein oder wie zwei kostbare Diamanten. Vielleicht aber trug sie auch teure Kontaktlinsen. So ein Blau gab es eigentlich gar nicht wirklich, jedenfalls nicht im Gesicht einer Frau.
Außer ihm war sie der einzige Gast im Restaurant, der allein an seinem Tisch saß, aber sie schien sich nicht unwohl zu fühlen, tat auch nicht so, als würde sie auf jemanden warten, wie er es schon oft bei Frauen beobachtet hatte, die allein in einem Lokal oder in einem Kino saßen und denen ihre Einsamkeit so peinlich war, dass sie in jeder Sekunde glaubten, sie verbergen zu müssen.
Als ihn ihr klarer, blauer Blick erneut traf, lächelte Brasch zurück. Er spürte selbst, wie unsicher und zaghaft sein Lächeln wirken musste. Wollte die Frau mit ihm flirten? Wollte sie, dass er seinen Cappuccino nahm und sich zu einer charmanten Plauderei an ihren Tisch setzte? Sie legte ihr Buch beiseite und rührte nachdenklich in ihrem Kaffee. Vor ihr lagen eine Schachtel Zigaretten und ein größerer Notizblock, auf dem sie aber noch nichts notiert hatte.
Brasch schaute auf die Uhr. Es war zwanzig vor acht. Die meisten Tische waren schon besetzt. Für seinen Geschmack war das Restaurant ein wenig zu vornehm und gediegen. Vielleicht hatte Leonie das »Lorenzo« ausgesucht, weil sie hier noch nie gewesen waren. Seit acht Wochen hatte er sie nicht gesehen. Brasch wollte noch immer, dass sie zu ihm zurückkehrte, dass alles so wurde wie früher, aber insgeheim wusste er auch, dass dieser dumpfe Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Zwei unglückliche Telefonate hatten sie geführt; Leonie war einsilbig gewesen und hatte seine Fragen nach dem, was sie machte, wie sie sich fühlte, nur äußerst unwillig beantwortet. Sie tat nicht viel, war immer noch damit beschäftigt, ihr neues Haus einzurichten, und genoss die Sommerferien, die vor einer Woche begonnen hatten. »Niemand macht mir Vorschriften«, hatte sie am Telefon erklärt, beinahe vorwurfsvoll, als hätte er ihr immer gesagt, was sie tun sollte. Erst von Hedwig, Leonies Schwester, hatte er erfahren, dass sie sich einen Hund angeschafft hatte. Vielleicht war sie einsam und fürchtete sich nachts allein.
Manchmal, aus heiterem Himmel, wenn er morgens allein Kaffee trank oder im Wagen saß, spürte er, dass er noch immer wütend auf sie war; sein Zorn war nicht verflogen, trotz vieler Worte nicht. Warum saß sie in ihrem neuen Haus und er in ihrem alten, das er sich bald nicht mehr würde leisten können?
Die Frau vom Nebentisch schaute ihn wieder an und lächelte. Diesmal lag eine eindeutige Aufforderung in ihrem Lächeln. Als sein Handy klingelte, war Brasch sicher, dass Leonie am Apparat sein würde. Sie kam wieder zu spät und würde ihm ein paar phantasievolle Entschuldigungen präsentieren.
»Hallo«, sagte Pia mit forschender Stimme, als müsste sie erkunden, ob ihr Anruf ungelegen kam. »Ich hoffe, ich störe dich nicht.«
Pia Krull gehörte zu Braschs Kommissariat. In den letzten Wochen war sie ihm wegen ihrer kühlen, unaufdringlichen Art die liebste Kollegin gewesen. Von ihr hatte er auch nie einen dummen Vorschlag gehört, wie er Leonie zurückgewinnen konnte.
»Es gibt Arbeit.« Sie wartete gar nicht darauf, dass Brasch etwas entgegnete. »Im Domhotel ist vor fünfzehn Minuten eine Leiche gefunden worden. R. A. Kröber, der berühmte Schriftsteller, ist tot. Genickschuss. Sieht beinahe wie eine Hinrichtung aus.«
Während er Pia noch zuhörte, erhob Brasch sich schon und legte einen Geldschein auf den Tisch, um seinen Cappuccino zu bezahlen.
»Ich bin in zwei Minuten da«, sagte er und unterbrach die Verbindung.
Als er zur Tür ging, spürte er, dass die blonde Frau ihm mit den Augen folgte. Er schob sein Telefon in die Jacke und drehte sich noch einmal um. Sie schaute ihn an und nickte ihm zu. Wie ein Versprechen war dieser Blick. Wir werden uns wiedersehen, sagte er, und bis dahin wirst du mich nicht vergessen. Brasch hatte plötzlich das Gefühl, dass die Frau keine Deutsche war; vielleicht war sie eine hübsche Amerikanerin auf der Durchreise und spielte ein kleines Verwirrspiel mit ihm.
Er schob die elegante Glastür auf und eilte zum Dom hinauf. Leonie würde ihm Vorwürfe machen, keine Frage. Nichts hasste sie mehr, als versetzt zu werden. Seine Arbeit war der eigentliche Grund, warum sie nicht mehr zusammen waren. Zu spät fiel ihm ein, dass er wenigstens eine Nachricht für sie hätte hinterlassen sollen.
Ein Taxi rauschte an ihm vorbei, in dem er Leonies Silhouette zu erkennen glaubte. Er hob die Hand, doch der Wagen fuhr mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Wahrscheinlich hatte er sich getäuscht. Warum sollte Leonie auch mit einem Taxi vorfahren? Brasch würde einen Kollegen vom Streifendienst bitten, in dem Restaurant Bescheid zu sagen, oder er würde Leonie voller Reue eine Entschuldigung auf ihren Anrufbeantworter sprechen.
Majestätisch reckte sich der Dom in den tiefblauen Himmel, als gehörte diese Sphäre ganz allein ihm; in dieser Höhe hatte sonst niemand etwas zu suchen. Keine andere Kirche, die Brasch kannte, strahlte eine solche Ruhe und Erhabenheit aus. Niemand, nicht eine Million Touristen, die um die halbe Welt nach Köln reisten, um einen Blick in den Dom zu werfen, konnte seiner Würde etwas anhaben. Einmal, ein paar Tage, nachdem Leonie ihn verlassen hatte, war Brasch sogar auf die Idee gekommen, sich abends einschließen zu lassen und die ganze Nacht in der Kathedrale zu verbringen. Wie musste es sein, nur mit einigen Kerzen allein in der weiten, heiligen Dunkelheit zu sitzen? Aber wahrscheinlich passte der Wachdienst genau auf, dass sich niemand im Dom versteckte.
Das Domhotel lag direkt gegenüber. Ein paar Skater glitten vorbei, die Hunde von zwei Punkern stritten sich um einen Plastikball, und auf einem Springbrunnen saß ein Liebespaar reglos im letzten Sonnenlicht. Ein idyllisches Bild an einem ruhigen Freitagabend, nur im Hintergrund, vor dem Eingang zum Hotel, standen zwei Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht.
Brasch ärgerte sich über die Nachlässigkeit der Kollegen. Ein eingeschaltetes Blaulicht zog immer die Aufmerksamkeit von neugierigen Passanten auf sich, was die Ermittlung selten beförderte. Keiner der beiden Wagen war abgeschlossen. Brasch beugte sich in den ersten hinein, um das Blaulicht abzustellen. Ein Buch lag auf dem Beifahrersitz. Offensichtlich waren die Kollegen auf einen geruhsamen Abend vorbereitet gewesen. R. A. Kröber, Asiatisches Gold stand in breiten gelben Lettern auf dem Umschlag. Brasch kannte den Roman nicht; wenn er ehrlich war, hatte er auch den Namen R. A. Kröber noch nie gehört, aber den Umschlag kannte er. Die blonde Frau im Restaurant hatte ebenfalls in diesem Buch gelesen.
In der düsteren Hotellobby deutete nichts darauf hin, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen war. Zwei Männer mit schweren Koffern standen vor der Rezeption und füllten einen Anmeldebogen aus. Der Portier, ein älterer, grauhaariger Mann im vornehmen Livree, blickte Brasch freundlich entgegen. Erst als er seinen Ausweis zückte, verschwand seine Freundlichkeit.
»Dritte Etage, das Zimmer am Ende des Flurs«, erklärte er mit rheinischem Zungenschlag und machte ein bekümmertes Gesicht, als müsste er eine ganz eigene Art von Trauer zeigen. »Wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie möglichst wenig Aufhebens machen würden.«
Brasch nickte. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl hinauf.
Das Domhotel galt in Köln immer noch als eine gute Adresse, auch wenn es längst nicht mehr zu den modernsten Häusern am Platz zählte. Die Gänge waren dunkel und sehr schmal. Zwei Polizisten in Uniform hatten sich neben dem Fahrstuhl postiert. Sie grüßten Brasch mit ernstem Gesicht, als er an ihnen vorbei zum Ende des Flurs schritt.
Brasch sah die Spuren des Wassers, noch bevor er das Zimmer betreten hatte. Der Teppich hatte sich dunkel verfärbt, feuchte Fußabdrücke waren über den ganzen Raum verteilt. Müller, der Polizeifotograf, stand mitten im Zimmer und schien wahllos Fotos zu schießen. Als er Brasch bemerkte, setzte er die Kamera ab. »Ein Fest für die Spurensicherung«, sagte er ohne jede Regung. »Die Badewanne ist übergelaufen. Nebenan hat es noch schlimmer ausgesehen.«
Durch die geöffnete Tür sah Brasch, dass im Bad zwei Männer damit beschäftigt waren, mit weißen Tüchern, die sie dann in Plastikbeutel fallen ließen, den Boden aufzuwischen. Geschickt bewegten sie sich in ihren weißen Gummischuhen in dem engen Bad. Entweder war das Wasser von selbst abgelaufen, oder sie hatten schon ganze Arbeit geleistet. Die Leiche war noch nicht abtransportiert.
»Fingerabdrücke werden wir hier kaum finden«, erklärte der jüngere der beiden ohne jede Aufregung. »Ich vermute, dass hier mindestens eine halbe Stunde das Wasser gelaufen ist.«
Der Tote lag zusammengekrümmt vor der Badewanne, als wäre ihm kalt, als hätte er sich zum Sterben mitten in der Antarktis auf eine Eisscholle gelegt. Nur die starren, geöffneten Augen passten nicht ins Bild. Größere Blutspuren waren nicht mehr auszumachen. R. A. Kröber war ganz in Schwarz gekleidet; Jackett, Hose, Hemd, alles war vollkommen durchnässt und sah aus, als hätte er es in einem teuren Designerladen gekauft, um gleich in die Oper oder zu einem festlichen Empfang zu gehen. Unter seinem rechten Schuh klebte noch ein Preisschild. 230 Euro – nicht schlecht.
Als Brasch sich wieder umwandte, stand Pia Krull neben ihm. »Wir sind seit fünfzehn Minuten hier«, sagte sie. »Mehler spricht mit der Ehefrau des Toten. Sie hat ihn gefunden. Außerdem überprüfen wir gerade, wer sich auf der Etage in seinem Zimmer befindet und etwas gehört haben könnte. Die meisten Gäste scheinen aber ausgeflogen zu sein.«
Brasch schaute sich im Zimmer um. Es war klein und wies außer zwei altmodischen Sesseln das übliche Mobiliar auf: ein Doppelbett, ein Kleiderschrank mit Spiegel und ein schmaler Tisch, auf dem ein Fernsehgerät stand. Unbewohnt sah der Raum aus. Nirgendwo ein Koffer, ein abgelegtes Kleidungsstück oder ein anderer Gegenstand, der dem Toten gehören konnte. Mit einer Ausnahme: Neben dem Fernsehgerät lagen mindestens drei Dutzend Bücher Asiatisches Gold.
»Seit wann hat Kröber hier gewohnt?«, fragte Brasch.
Pia sah ihn an und furchte die Stirn, als hätte er ihr eine besonders schwierige Frage gestellt. »Gar nicht«, sagte sie dann. »Er wohnt nicht im Hotel. Er hatte dieses Zimmer nur für den Abend gemietet. Das war gewissermaßen eine Tradition. Er wohnt in Rodenkirchen, aber immer, bevor sein neues Buch vorgestellt wurde, ging er ins Domhotel, um Journalisten zu treffen. Dann zog er sich für ein, zwei Stunden auf genau dieses Zimmer zurück, signierte Bücher und ruhte sich für den Abend aus.«
»Er hat also hier im Hotel Gäste empfangen.«
Pia nickte. Sie hielt ein schmales, blaues Notizbuch in der Hand. »Er hat mit drei Journalisten gesprochen. Außerdem hat er seinen Verleger und seinen Agenten getroffen.« Sie bemerkte Braschs ratlosen Blick. »Kröbers Frau hat es mir erklärt. Manche Autoren haben heutzutage einen Berater, der Verträge für sie abschließt und alle Abrechnungen überprüft. Diese Leute nennen sich Literaturagenten.«
Brasch ging aus dem Zimmer. Für einen Moment überlegte er, Leonie anzurufen. Wenn er nicht so dumm gewesen wäre, sein Telefon angeschaltet zu lassen, hätten sie vielleicht die Chance auf einen versöhnlichen Abend gehabt. Doch eigentlich wusste Brasch gar nicht, wie er sich eine Versöhnung vorstellen sollte. Viel zu schweigsam und abweisend war Leonie in der letzten Zeit gewesen.
»Mehler spricht im Zimmer des Direktors mit Kröbers Frau. Sie hat bisher ziemlich gefasst reagiert. Der Verleger und der Literaturagent warten in der Bar. Außerdem versuchen wir die beiden Journalisten ausfindig zu machen, die heute Nachmittag im Hotel waren.« Pia griff sich durch ihr kurzes blondes Haar. Sie lächelte verlegen, als sie Braschs müden Blick bemerkte. Wahrscheinlich wusste sie genau, dass sie ihm ein Rendezvous mit Leonie vermasselt hatte.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl wieder hinunter.
»Von der Tatwaffe fehlt wohl jede Spur«, sagte Brasch.
»Wir werden uns jeden Winkel des Hotels vornehmen. Zwanzig Leute sind angefordert und werden in ein paar Minuten hier sein. Nur Leute in Zivil, das habe ich der Direktion versprochen.«
Im Spiegel an der hinteren Wand des Fahrstuhls glaubte Brasch zu sehen, dass sein Haar an den Seiten einen grauen Schatten aufwies, der vor ein paar Tagen noch nicht da gewesen war. Auch bei Leonie war ihm neulich eine graue Strähne aufgefallen. Anscheinend hatte es sie nun erwischt. Als Mittdreißiger kamen sie allmählich in das graue Lebensalter.
Brasch begegnete Pias Blick im Spiegel. »Kanntest du Kröber?«, fragte er. »Hast du schon einmal einen Roman von ihm gelesen?«
»Als ich noch auf der Schule war, habe ich seine Bücher verschlungen. Er schreibt eigentlich immer dasselbe. Agentengeschichten mit einem Helden, der am Ende natürlich die schönste Frau abkriegt. Ziemlich altmodische Männerphantasien, wenn du mich fragst, aber so etwas mögen viele von euch ja immer noch. Dann hat Kröber sich scheiden lassen und war eine Zeit lang eine richtige Berühmtheit. Jeden Tag stand etwas über ihn in der Zeitung. In den letzten Jahren ist es ruhiger um ihn geworden. Ehrlich gesagt, dachte ich, er wäre schon längst tot.«
Pia stieg aus und führte Brasch an der Rezeption vorbei in das Büro des Direktors. Es lag hinter einer dicken, schallisolierten Tür, wie man sie noch aus alten Filmen kannte. Brasch erblickte einen antiken, wuchtigen Schreibtisch, hinter dem niemand saß, dann fiel sein Blick auf zwei schwarze Ledersessel, zwischen denen ein filigraner Glastisch stand. Er zögerte. Seinem Kollegen Mehler gegenüber, mit dem er seit vier Jahren zusammenarbeitete, saß eine Frau, die wie ein exotischer Filmstar aussah.
Frank Mehler sprang auf und gab Brasch förmlich die Hand, was er sonst niemals tat, dann wandte er sich wieder der Frau zu.
»Frau Kröber«, sagte er, »das ist Hauptkommissar Brasch. Er wird die Ermittlungen leiten.«
Die Frau nickte Brasch zu, ohne sich zu erheben. Sie hatte lange schwarze Haare, einen dunklen Teint und war höchstens dreißig Jahre alt, vielleicht sogar noch jünger. Sie war Asiatin. Thailänderin oder Inderin, schätzte Brasch. In ihrem schlichten weißen Kleid, das wahrscheinlich sündhaft teuer war, hätte sie neben dem ganz in Schwarz gekleideten Kröber eine exzellente Figur abgegeben. Der alte reiche Schriftsteller und seine schöne Muse.
»Nennen Sie mich Madeleine«, sagte die Frau mit sanfter, geflüsterter Stimme, ohne jeden Akzent. »Wenn jemand mich als Frau Kröber anspricht, fühle ich mich gleich zwanzig Jahre älter. Außerdem wäre ich nur Frau Kröber Nummer zwei, wie Sie sicher wissen.« Sie lächelte. Auch ihre Zähne funkelten in perfektem Weiß.
Brasch zog sich vom Schreibtisch einen Stuhl heran und setzte sich, während Pia sich neben der Tür postierte und in ihrem winzigen Notizblock blätterte. Ein kleiner Recorder auf dem Tisch lief leise surrend mit.
Mehler schaute Brasch an. »Frau Kröber sollte ihren Mann gegen Viertel nach sieben hier im Hotel abholen. So war es verabredet. Sie wollten dann zusammen zum Neumarkt in die Mayersche Buchhandlung gehen. Dort sollte um acht Uhr vor Publikum die Buchpremiere von Kröbers neuem Roman stattfinden. Frau Kröber hat in der Lobby gewartet. Als ihr Mann nicht herunterkam, hat sie den Portier anrufen lassen. Das war genau um neunzehn Uhr achtzehn. Schließlich, weil niemand sich meldete, ist Frau Kröber selbst hinaufgegangen. Sie hat das Wasser gesehen, das unter der Tür hervordrang, und das Zimmer sofort öffnen lassen.«
Madeleine Kröber saß da und blickte an ihnen vorbei in ein fernes Nirgendwo, wie jemand, der die Sprache, die da gerade gesprochen wurde, nicht verstand. Brasch fiel auf, wie seltsam sie atmete, ganz flach und schnell, aber vielleicht gehörte diese Art zu atmen zu einer fernöstlichen Meditation, um eine gewisse Aufregung in den Griff zu bekommen. Noch etwas fiel ihm auf: ein breites Pflaster, das über den Rücken ihrer rechten Hand lief.
»Madeleine«, sagte Brasch. Anders als Mehler hatte er keine Schwierigkeiten, sie so anzusprechen. »Wie lange sind Sie schon verheiratet?«
»Drei Jahre«, erwiderte sie. »Im August wären es vier geworden.« Sie griff zu der Zigarettenpackung, die vor ihr lag, und steckte sich eine Zigarette an, die fünfte. Im Aschenbecher befanden sich bereits vier Zigaretten, die sie nur halb geraucht hatte.
»Wie lange haben Sie sich in dem Hotelzimmer aufgehalten? Haben Sie von dort aus die Polizei verständigt?«
Madeleine schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal schaute sie Brasch offen an. Ihre Pupillen wirkten geweitet und zitterten ein wenig. Also schien ihr die Aufregung doch etwas auszumachen.
»Ich habe genug Bücher meines Mannes gelesen. Daher weiß ich, dass man am Tatort nichts verändern darf. Mehr als dreißig Sekunden bin ich gewiss nicht im Zimmer gewesen, und die Polizei hat der Portier angerufen.«
»Haben Sie das Wasser abgestellt?«
»Nein, das hat auch der Portier gemacht. Ich habe nur einen kurzen Blick in das Bad geworfen, und dann ist mir schlecht geworden.« Sie schluckte und wandte ihr Gesicht ab. Im Profil sah sie noch schöner aus; wie eine Frau, die nur dazu da war, in teuren Cafés zu sitzen und sich fotografieren zu lassen. »Als ich das Wasser unter der Tür sah, habe ich gewusst, dass etwas nicht stimmte. Ich habe gedacht, R. A. habe einen Herzinfarkt erlitten …«
Plötzlich klingelte ein Telefon. Zielsicher zog Madeleine einen winzigen Apparat aus einer schwarzen Handtasche neben sich. Sie warf einen flüchtigen Blick auf das Display und schaltete das Gerät dann aus.
»Erwartet Sie jemand?«, fragte Brasch.
Madeleine atmete tief ein. »Mein Bruder … Er sitzt in unserem Haus und macht sich Sorgen. Er weiß noch nicht genau, was passiert ist.«
»Wenn Sie gestatten, wird meine Kollegin Sie gleich nach Hause fahren und sich ein wenig umsehen. Briefe, Dokumente, Unterlagen, alles, mit dem sich Ihr Mann in der letzten Zeit beschäftigt hat, interessiert uns und kann bei der Polizeiarbeit weiterhelfen.« Brasch hatte das Gefühl, dass Madeleine Kröber ihn zwar ansah, aber mit ihren Gedanken weit entfernt in einer ganz anderen Welt weilte. Eine bestimmte Frage schien sie zu bedrängen, die mit ihren Ermittlungen nichts zu tun hatte. »Gibt es jemanden, der mit Ihrem Mann Streit gehabt hatte? Jemanden, der auch vor Gewalt nicht zurückschrecken würde.«
Bekümmert schüttelte Madeleine wieder den Kopf. Mit der verletzten Hand rieb sie sich über die Augen. »Es gibt niemanden auf der Welt, der R. A. nicht mochte«, sagte sie. »Mit einer Ausnahme. Seine erste Frau, die er verlassen hat, um mich zu heiraten. Aber sie ist alt und verbittert.«
Nachdem Pia das Hotel mit Madeleine Kröber verlassen hatte, gönnte sich Brasch fünf Minuten Stille. Er setzte sich in die Lobby und schloss für ein paar Momente die Augen, um nach den richtigen Worten zu suchen, die er Leonie auf ihren Anrufbeantworter sprechen konnte. Aber wie schon früher so häufig fiel ihm nicht die richtige Entschuldigung ein. Wahrscheinlich war es ohnehin zu spät. Leonie hätte sich nur mit ihm versöhnt, wenn er endlich seinen Beruf an den Nagel gehängt hätte. Nach einer Fehlgeburt hatte sie ihn von einem Tag auf den anderen verlassen, weil er nicht bei ihr gewesen war, die Tragödie nicht einmal bemerkt hatte. Wochenlang hatte er damals an einem rätselhaften Parkhausmord gearbeitet.
Als zwei Männer den Sarg mit dem toten Kröber vorbeitrugen, öffnete Brasch seine Augen wieder und ging in die Bar hinüber. Die Atmosphäre im Hotel hatte sich vollkommen verwandelt. Dreizehn Beamte waren eingetroffen, die Mehler eingeteilt hatte, um das Personal sowie die anwesenden Gäste zu befragen. Es war unwahrscheinlich, dass der Täter sich noch im Haus aufhielt, doch musste er jemandem begegnet sein. Kröbers Terminplan war recht eng gewesen. Viel Zeit hatte der Täter nicht gehabt, ihn in seinem Zimmer anzutreffen.
Die Bar war fast leer. An einem Tisch saßen drei Geschäftsleute, die sich ihre gute Laune offensichtlich auch durch einen Mord nicht verderben ließen. Ein junges Paar hatte sich in die dunkelste Ecke gedrückt, um sich ungestört unterhalten zu können. Zwei Männer lehnten schweigend an der Bar, vor sich ein Getränk, das selbst aus der Entfernung hochprozentig aussah. Sie schienen zusammenzugehören, aber nicht gerade die besten Freunde zu sein.
Mehler hatte ihn vorbereitet. Der ältere der beiden, ein untersetzter Mann in einem grauen, schlecht sitzenden Anzug, hieß Böhler und war Kröbers Verleger. Der andere musste Marchow sein, der Literaturagent. Er war mindestens dreißig Jahre jünger, bestenfalls Anfang dreißig, und hatte sich den Kopf vollkommen kahl geschoren, was sein Gesicht seltsam kindlich und altklug wirken ließ. Nicht ein winziges Härchen war auf seinem Schädel auszumachen.
Brasch stellte sich vor, was aber lediglich Marchow aus seinem Schweigen erlöste.
»Wir sind alle fassungslos«, erklärte er, ohne genau zu sagen, wen er mit »wir« meinte. »War das ein Verrückter? Oder hat jemandem Kröbers letztes Buch nicht gefallen?« Wie ein Süchtiger zog Marchow an einem Zigarillo.
Brasch schaute Böhler an. »Worum ging es in Kröbers letztem Roman?«
Doch statt auf seine Frage zu antworten, schüttelte der alte Verleger traurig den Kopf. »Ich habe seinen ersten Roman herausgebracht. Es hat Zeiten gegeben, da waren wir wie Brüder. Jede neue Idee hat er mit mir durchgesprochen. Damals brauchte er noch keine Agenten und Vermögensberater.«
Marchow blies den Rauch seines Zigarillos in Böhlers Richtung, als wollte er ihn mit dieser Unhöflichkeit zum Schweigen bringen. »Kröber war vielleicht kein großer Stilist, aber er hat in seinen Büchern immer heiße Eisen angepackt. Die Story war ihm wichtig. Wenn die Story ihn nicht selbst fesselte, hat er sie sofort in den Papierkorb geworfen.«
»Was wissen Sie schon von R. A.?«, fragte Böhler. Er war einen halben Kopf kleiner als Marchow, hatte die Figur eines alt gewordenen Boxers und schaute verächtlich zu dem Literaturagenten auf.
Marchow überhörte die Frage. »Kommissar«, sagte er zu Brasch, als würde er eine wichtige Mitteilung machen, »Kröber hat über alle Top-Themen geschrieben: Korruption, Spionage, Abtreibung, Parteienskandale. Er war ein großartiger Rechercheur. Sein letztes Buch spielt zu einem gewichtigen Teil in Asien. Es geht um eine neue Art von Mafia, die in Europa einen schwunghaften Handel mit Kopien von Markenartikeln betreibt.«
»Und Sie glauben, Kröbers Buch könnte diese Mafia auf den Plan gerufen haben?«
Marchow drückte sein Zigarillo aus. »Den Schlitzaugen ist alles zuzutrauen. Ich komme aus Berlin. Da geht es nicht so friedlich zu wie hier. Da tragen die Vietnamesen mitten auf der Straße ihre Streitigkeiten aus. Ein Menschenleben zählt bei ihnen nicht viel.«
»Sie reden Unsinn, Marchow, totalen Unsinn.« Böhler kippte seinen Drink hinunter. Dann winkte er den Barkeeper heran und ließ sich das Glas noch einmal füllen. »Es ist vollkommen klar, dass nicht irgendein Vietnamese oder Koreaner hier hereinspaziert ist und R. A. erschossen hat.«
Eigentlich hätte Brasch mit beiden Männern einzeln sprechen müssen, aber ihn reizte es zu sehen, wohin ihre offenkundige Abneigung sie noch trieb.
»Wer hätte dann ein Motiv gehabt?«, fragte Brasch. »Wem nützt Kröbers Tod?«
Marchow rieb sich über seinen kahlen Schädel. Irgendwie schien ihn Böhlers Angriff doch eingeschüchtert zu haben, oder er hatte plötzlich das Interesse an ihrem Gespräch verloren.
»Mir«, sagte Böhler plötzlich, er klang rau und heiser. »Mir nützt sein Tod. Wissen Sie, was mir gerade passiert ist? Eine halbe Stunde, nachdem Kröber tot ist, hat mich mein Vertriebsleiter angerufen und gefragt, ob wir nicht sofort nachdrucken sollten. Morgen wird alle Welt nach Kröbers letztem Roman schreien. ›Asiatisches Gold‹ wird sein größter Bestseller werden. Ich habe eine viertel Million für das Buch bezahlt, viel zu viel eigentlich, doch nun werde ich ein Vermögen damit machen.«
Marchow stieß ein kurzes, hohles Lachen aus, während der alte Verleger wieder an seinem Drink nippte. Böhler sah eindeutig nicht glücklich aus, als wäre der Reichtum, der ihm nun drohte, etwas, dem er gerne aus dem Weg gegangen wäre.
»Wie lange kennen Sie R. A. Kröber schon?«, fragte Brasch, ohne sich präzise an einen der Männer zu wenden.
»Seit ungefähr vier Jahren«, erwiderte Marchow leise. Wie eine Art Geständnis klang seine zaghafte Antwort.
Böhler schaute Brasch müde an. »Ich habe seinen ersten Roman herausgebracht. Im Jahr 1959 habe ich R. A. entdeckt und ihn von der ›Rundschau‹ weggeholt. Er war damals ein schlecht bezahlter Lokalredakteur, der für andere die Drecksarbeiten erledigen musste. Ich habe als Erster erkannt, dass er viel mehr konnte. Er war ein Trüffelschwein. Er hat gute Geschichten viel früher gewittert als jeder andere.«
»Dann waren Sie seitdem sein Verleger?« Brasch bemerkte, dass es Marchow nicht gefiel, wie sehr sich das Gespräch in Böhlers Richtung verlagerte. Es wurde an der Zeit, ihre Unterredung zu dritt abzubrechen.
»Ja«, erwiderte Böhler und schüttelte den Kopf. »Das heißt, bis vor fünf Jahren. Da haben wir uns getrennt. Wegen ein paar lächerlichen Meinungsverschiedenheiten.«
Wieder stieß Marchow ein hohles Lachen aus. »›Lächerliche Meinungsverschiedenheiten‹ ist eine ziemlich kunstvolle Untertreibung«, sagte er ganz beiläufig vor sich hin, als enthielte sein Satz kein gefährliches Gift. »Sie haben ihn vernichten wollen, Ihren eigenen Autor. So etwas hat es noch nie gegeben.«
Wenn man beide Männer gewähren ließe, dachte Brasch, dann würden sie gleich ihre Jacken ausziehen und sich prügeln. Mit einem Ergebnis, das allerdings ziemlich vorhersehbar war, obwohl Böhler sich gewiss nicht so leicht geschlagen geben würde. Genau so hatte er sich Menschen, die mit Büchern zu tun haben, nicht vorgestellt.
Böhler setzte zu einer Antwort an, die gewiss eindeutig ausgefallen wäre, aber dann hielt er inne und starrte stumm zum Eingang der Bar hinüber.
Brasch wandte den Kopf. Eine Frau stand da, hinter die sich Mehler ins Bild schob. Die Frau machte einen zaghaften, verwirrten Schritt nach vorne, als wüsste sie nicht ganz, ob sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte. Sie mochte um die siebzig sein und gehörte nicht zu den Gästen, die sich für gewöhnlich in einer Hotelbar aufhielten.
»Anna!«, rief Böhler aus und eilte an Brasch vorbei auf die Frau zu. »Was tust du hier? Ich habe dir doch gesagt, dass du besser nicht kommen solltest …« Er umarmte die alte Dame, die noch kleiner war als er, und wiegte sie wie ein Kind, dem jede Art von Trost gut tat.
Mehler blickte über die beiden hinweg und machte eine Geste, dass er die Frau nicht hatte zurückhalten können. Brasch begriff nun endlich, wer sie war. Anna Kröber hatte das Hotel betreten, in dem jemand vor einer guten Stunde ihren Ex-Mann ermordet hatte. Alt und verbittert, wie ihre junge Nachfolgerin sie genannt hatte, sah sie nicht aus, als sie sich aus Böhlers Umarmung löste, eher auf sanfte Weise neugierig, wie eine Schauspielerin, die in ihren Filmen immer die verständnisvolle, gutmütige Großmutter spielen musste. Von der tiefen Trauer, in der Böhler sie offenbar wähnte, war in ihrem Gesicht nichts zu lesen.
Ein wahres Erdbeben musste sich in Kröbers Leben ereignet haben, dass er eine so komplette Wandlung vollzogen hatte: von einer Frau, die ihn an Jahren wahrscheinlich noch übertraf, hin zu einer exotischen Schönheit, die jedes Cover eines Hochglanzmagazins schmücken konnte.
Brasch winkte die alte Dame zu sich. Sie lächelte ihn an und reichte ihm eine blasse, knochige Hand. »Hat es den alten Dreckskerl endlich erwischt«, sagte sie mit verschwörerischer Flüsterstimme. »Eigentlich hätte ich das schon vor ein paar Jahren selbst erledigen wollen, aber da hat mir irgendwie der Mut gefehlt.« Noch nie hatte sich jemand Brasch mit einer solchen Freude als Hauptverdächtige präsentiert.
Das Haus lag im vornehmen Stadtteil Marienburg, am Ende einer Sackgasse. Auch in der zunehmenden Dunkelheit konnte Brasch erkennen, dass es ein altes, stattliches Gemäuer war, an dem sich zumindest an der Seite zur Straße Efeu bis zum Dach emporrankte.
»Wohnen Sie hier allein?«, fragte Brasch.
Anna Kröber schaute ihn unwillig an, während sie die schwere Eingangstür aufschloss. »Ich habe eine Putzfrau, die dreimal in der Woche kommt, und manchmal besucht mich mein Sohn.« Viel Gesellschaft schien sie nicht zu haben.
Brasch folgte ihr in das schweigsame Haus. Sein Blick fiel zuerst auf eine Bauerntruhe, auf der ein Anrufbeantworter stand und blinkte. Anna Kröber beachtete den Apparat nicht. Sie entledigte sich ihres dünnen Sommermantels und ging in die Küche vor. Die Einrichtung in der geräumigen Diele zeugte von Geschmack und einer Vorliebe für dunkle, antike Eichenmöbel. Allein der schwere Spiegelschrank neben der Eingangstür musste ein Vermögen gekostet haben.
In der Küche, die ebenfalls ganz aus dunklem Holz bestand, ließ Anna Kröber Wasser in einen Kessel rauschen. Auf der Fahrt hatte sie sich eigentümlich still verhalten; vielleicht hatte sie sich für die Befragung wappnen wollen, die ihr bevorstand. Brasch hatte ihr im Auto nur eine einfache Frage gestellt: »Haben Sie eine Ahnung, wer Ihren Ex-Mann umgebracht haben könnte?«
»Nein«, hatte sie geantwortet, nun viel einsilbiger und abweisender, »außer mir fällt mir niemand ein, aber wer weiß, wie viele Feinde R. A. sich in den letzten Jahren gemacht hat.«
Brasch trat ans Fenster und blickte in den weitläufigen Garten hinaus. Er hatte Mehler im Hotel zurückgelassen und ihn gebeten, sich Böhler und Marchow einzeln vorzunehmen; er selbst war neugierig, warum sich Anna Kröber so eindeutig über den Mord geäußert hatte. Dunkelheit hatte sich über den Garten gesenkt. Man konnte noch ein Stück Rasen und ein paar Blumenbeete erkennen, aber der Rest des Grundstücks verlor sich in undurchdringlichen Schatten.
»Dort drüben, hinter den Bäumen, liegt Kölns wichtigster Verlag«, erklärte Anna Kröber. »R. A. hat immer davon geträumt, dort zu veröffentlichen, er hat sogar einmal selbst ein Manuskript bei der Empfangsdame abgegeben, aber er war dem Verleger nicht fein genug. Mit einem billigen Vordruck haben sie ihm seinen Roman nach einem halben Jahr zurückgeschickt. Den Roman hat er dann auch nie veröffentlichen lassen; ich werde ihn nächstes Jahr selbst herausbringen.« Sie seufzte. Brasch sah ihr ernstes Gesicht im Fenster. »Diese Ablehnung hat ihn besonders gekränkt. Vielleicht war das sein größter Fehler; er war nie zufrieden; er wollte immer der sein, der er nicht war.«
Brasch drehte sich um. Anna Kröber hatte zwei Teetassen und eine Dose mit Würfelzucker auf den Tisch gestellt und schob nun eine Schale mit Keksen zurecht. Sie lächelte ihn auffordernd an, wieder ganz die freundliche Großmutter.
»Wie lange waren Sie verheiratet?«, fragte Brasch, während er sich setzte.
»Dreiundvierzig Jahre«, erwiderte sie. »Eines Tages, als es mir zu viel wurde, habe ich ihn vor die Tür gesetzt, habe eigenhändig zwei Koffer für ihn gepackt und sie ihm auf die Straße geworfen. Da konnten alle Nachbarn staunen.«
»Dann haben Sie sich von ihm getrennt?«
Anna Kröber nahm die Kanne und schenkte Brasch und sich ein. Offenbar nahm sie stillschweigend an, dass er auch Tee trank oder zumindest aus Höflichkeit nicht ablehnen würde.
»Ich hatte herausbekommen, dass er zu dieser braunäugigen Schlange ging und sich sogar in irgendwelchen Nachtclubs mit ihr sehen ließ. Da musste er sich entscheiden, und als er das nicht konnte oder wollte, habe ich ihm auf die Sprünge geholfen.«
»Woher wussten Sie, dass Ihr Mann eine Freundin hatte?« Brasch probierte den Tee, der aromatisch nach Wildkräutern schmeckte. Er begann sich zu entspannen, als wäre er lediglich zu einem netten Plauderstündchen hierher gekommen.
»Böhler hat es mir gesagt«, antwortete Anna Kröber. »Er war immer ein guter, ehrlicher Freund.«
So sah also eines der lächerlichen Missverständnisse aus, die der alte Verleger mit Kröber gehabt hatte. Er hatte seinen Autor auffliegen lassen, hatte seinen Betrug publik gemacht. Und er war es auch, der Anna Kröber vom Tod ihres Ex-Mannes unterrichtet hatte.
»Dann ist Ihr Mann zu seiner Freundin gezogen und hat sich von Ihnen scheiden lassen«, fuhr Brasch mit der Geschichte fort, die ihm allzu bekannt vorkam. Wie oft las man in der Zeitung, dass sich reiche, erfolgreiche Männer in einem bestimmten Alter jüngeren Frauen zuwandten; als wäre eine neue Liebe eine Art Jungbrunnen, in den sie bloß zu steigen brauchten, um sich ein Stück ihres längst vergangenen Lebens zurückzuholen.
»So ungefähr«, erwiderte Anna Kröber mit nüchterner Stimme. »Aber vorher habe ich versucht, ihn zu ruinieren. Fast wäre es mir auch gelungen.« Sie lächelte geheimnisvoll. »Immerhin war er nach der Scheidung ziemlich pleite. Das Haus musste er mir auch überlassen.«
Einen Racheengel stellte man sich gemeinhin anders vor, nicht als eine zarte, grauhaarige Frau. Trotzdem war hinter all ihrem freundlichen, kultivierten Gehabe eine stählerne Härte zu spüren.
»Es war aber nicht meine Schuld, dass es eine schmutzige Scheidung wurde.« Langsam, als suche sie Wort für Wort zusammen, sprach Anna Kröber weiter. »Plötzlich schien sich die ganze Welt für R. A. zu interessieren. Reporter lauerten vor dem Haus, liefen mir nach, wenn ich einkaufen ging, und fragten mich nach der braunäugigen Schlange aus. Wissen Sie, dass dieses Weib fast vierzig Jahre jünger ist als er? Kann eine so junge Frau ehrlichen Herzens einen Mann wie R. A. lieben, dessen Lungen kaputt sind und der abends so geschwollene Beine hat, dass er kaum noch laufen kann?« Sie schaute Brasch entrüstet an, als erwartete sie tatsächlich eine Antwort von ihm. »Ich war nach der Scheidung so wütend, dass ich mir sogar eine Pistole besorgt habe. Ohne Waffenschein, wie ich gestehen muss.«
Brasch hörte zu, ohne einen Recorder laufen zu lassen. Er verstand ihr Spiel nicht ganz. Tat sie alles, um verdächtig zu erscheinen? Oder legte sie einfach ihre Karten auf den Tisch, weil er das, was sie ihm zu sagen hatte, ohnehin bald herausfinden würde?
»Haben Sie die Pistole noch?«, fragte er.
Sie nickte. »Nebenan im Wohnzimmer. In einer Schublade. Ich habe sie in ein Album mit Fotos von R. A. gelegt.« Plötzlich stockte sie, und zum ersten Mal entdeckte Brasch einen Hauch von Trauer in ihrem Gesicht; als würde sie allmählich begreifen, dass genau das, was sie sich immer vorgestellt hatte, nun wirklich geschehen war. Ihr geschiedener Mann war tot, lag irgendwo in einem Leichenschauhaus oder schon auf dem Seziertisch eines eifrigen Pathologen.