Eines Morgens bemerkt Kommissar Matthias Brasch eine hilflose alte Dame am Straßenrand. Sie kann sich weder an ihren Namen noch an ihren Wohnort erinnern, und so bleibt Brasch nichts anderes übrig, als sie der Obhut des nächsten Polizeireviers zu übergeben. Da sieht er plötzlich einen zerknüllten Zettel in ihren Händen, versehen mit einer Kölner Anschrift. Brasch begibt sich gemeinsam mit ihr zu der angegebenen Adresse – und macht dort eine schauerliche Entdeckung:
Durch die Balkontüre des Hauses erblickt er nämlich auf einem Stuhl die Leiche eines Mannes, eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt. Braschs Ermittlungen ergeben, dass es sich bei dem Toten um Robert Schmoll handelt, den Sohn der alten Dame.
Zunächst scheint es, als habe er sich das Leben genommen, doch Brasch will nicht an Selbstmord glauben, und auch Schmolls letzte Geliebte Franziska ist überzeugt, dass Robert ermordet wurde.
Als wenig später Braschs Assistentin nur knapp einem Attentat entgeht, ist Brasch klar, dass er in ein Wespennest gestochen hat. Ist es möglich, dass die rätselhafte junge Sängerin, der Brasch kurz vorher begegnet ist, ihre Hände im Spiel hat? Ihre Rolle bleibt Brasch lange Zeit verborgen, doch als er die Zusammenhänge endlich zu erahnen beginnt, sieht es so aus, als müsse er dafür mit seinem Leben bezahlen …
Der 3. Band der großen Köln-Krimi Reihe mit Kommissar Matthias Brasch.
Über Reinhard Rohn
Reinhard Rohn wurde 1959 in Osnabrück geboren und ist Schriftsteller, Übersetzer, Lektor und Verlagsleiter. Seit 1999 ist er auch schriftstellerisch tätig und veröffentlichte seinen Debütroman »Rote Frauen«, der ebenfalls bei Aufbau Digital erhältlich ist.
Die Liebe zu seiner Heimatstadt Köln inspirierte ihn zur seiner spannenden Kriminalroman-Reihe über »Matthias Brasch«. Reinhard Rohn lebt in Berlin und Köln und geht in seiner Freizeit gerne mit seinen beiden Hunden am Rhein spazieren.
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Die weiße Sängerin
Roman
Inhaltsübersicht
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Prolog
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Zweiter Teil
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Danksagung
Impressum
Handlung und Personen in diesem Roman sind frei erfunden.
Die Handlung spielt in Köln;
jedoch habe ich mir bei der Schilderung einiger Orte ein paar kleinere Freiheiten gestattet.
Atme, dachte er, tue einen letzten, wunderbaren Atemzug.
Dann fiel ihm trotz all der bleiernen Müdigkeit, die ihn gefangen hielt, die kleine, hungrige Katze ein. Seit über dreißig Jahren hatte er nicht mehr an die Katze am Rhein gedacht. Sie hockte auf einem kahlen Geäst, dem einzigen Baum weit und breit, und schrie kläglich vor sich hin. Andere Kinder hätten die Katze wahrscheinlich mit Steinen von dem Baum heruntergetrieben, aber er und sein Bruder redeten ihr gut zu, und dann, als alles Locken und Reden nichts half, lief Rainer zur Tankstelle und kaufte einen Liter Milch. Am Ufer fanden sie einen flachen Stein mit einer Vertiefung, den sie wie eine Schale benutzen und mit etwas Milch füllen konnten. Dann legten sie sich auf die Lauer und warteten. Nach einer Weile sprang die Katze von ihrem Baum und näherte sich ängstlich geduckt dem Stein. Gierig schleckte sie mit ihrer rosafarbenen Zunge die Milch auf. Man musste Geduld haben, viel Geduld, das hatte er schon damals geahnt.
Die Katze wurde zutraulich, und er konnte sie sogar auf den Arm nehmen, ohne dass sie ihn kratzte. Sie hatte struppiges weißes Fell und fühlte sich ganz warm an. Er spürte, wie schnell ihr Herz schlug. Sein Bruder und er einigten sich auf einen Namen: »Schneeflocke«, weil es Winter war und sie wie eine Schneeflocke vom Himmel auf den Baum gefallen war. Sie hegten wenig Hoffnung, dass ihre Mutter Schneeflocke in ihrer engen Wohnung dulden würde. Trotzdem nahmen sie das Tier mit. Sie versprachen ihrer Mutter alles: Zimmer aufräumen, Geschirr abwaschen, Schulaufgaben machen, Katze füttern, Katzenklo sauber machen, doch es half nichts. Nach drei Tagen war die Katze verschwunden. »Sie ist abgehauen, als ich für einen Moment die Balkontür aufgemacht habe«, sagte seine Mutter. Er wusste, dass sie log. Die erste Lüge in seinem Leben, die er als solche durchschaute.
Seltsam, dass er in der Sekunde seines Todes an eine schneeweiße Katze und an seinen Bruder dachte.
Er spürte, dass er nun endgültig keine Luft mehr bekam. Seinen letzten Atemzug hatte er der hungrigen kleinen Katze geschenkt. Er war erfüllt von einer düsteren, schweren Müdigkeit. Seine Kehle tat ihm weh. Alles zog sich in ihm zusammen. Er glaubte, sich erbrechen zu müssen, aber wahrscheinlich war er dazu bereits viel zu schwach. Seine Gedanken verwirrten sich, stiegen auf und schienen seinen Körper schon verlassen zu wollen, als noch ein Rest Leben in ihm war. So war es also, zu sterben – einfach keine Luft mehr zu bekommen. Wie ein Fisch, der auf dem Land zappelte und dem die Sonne mörderisch in die Augen schien. Kein Kampf mehr, keine neue Liebe. Er versuchte, sich noch einmal vergeblich aufzubäumen, und spürte so etwas wie Bedauern. Es war ein feiger, kraftloser Tod. Man hatte ihn hereingelegt.
Dann sah er die weiße Katze wieder. Sie sprang von dem einsamen Baum am Ufer und verharrte für einen winzigen Moment, um noch einmal in seine Richtung zu blicken, bevor sie in einem Wirbel aus Dunkelheit und Leere verschwand.
Sie sang. »Somewhere over the rainbow«. Irgendwo über dem Regenbogen. Sie bewegte sich gar nicht, stand nur da, leicht vorgebeugt, den Mund nah am Mikrofon, als wäre es eine Kerze, deren zarte Flamme sie hüten und beschützen müsste. Die Musiker, die hinter ihr auf der Bühne ihre Instrumente bearbeiteten, sah man kaum, blasse, unwirkliche Schemen, die sich in den Schatten der Scheinwerfer verloren, aber eigentlich waren die Musiker auch gar nicht wichtig; eigentlich ging es nur um die Sängerin. Einmal, in einer Bewegung, die so anmutig war, dass sie eindeutig in ein anderes Universum gehörte, strich sie sich eine Strähne ihres schneeweißen Haares zurück. Ansonsten waren da nur ihr bleiches Gesicht, ihr schmaler tiefroter Mund und diese helle kristallklare Stimme, die den ganzen Raum erfüllte.
Mehr Wirklichkeit gibt es nicht und wird es nie geben, dachte Brasch.
Die Stimme der Frau warf jeden Zuhörer aus der Bahn, schleuderte ihn in ein unerforschtes Land: Somewhere over the rainbow. Farben waren in ihrer Stimme; nein, ihre Stimme war ein Tor, und wenn man durch dieses Tor hindurchging, hatte man ein Stück von einem riesigen Diamanten vor sich. Schönheit oder ewiges Leben hieß dieser Diamant; man sah ihn fast nie; nur in solchen seltenen Momenten konnte man erahnen, wie riesig und zeitlos er war.
Am Ende, während der letzte Ton noch irgendwo in einer Ecke des Saales verhallte, neigte die Sängerin leicht den Kopf, lächelte verlegen, als wäre nicht ihr Publikum, sondern sie aus einem wunderbaren Traum erwacht.
Brasch beobachtete, wie die Sängerin verschwand. Sie schwebte von der Bühne, zurück in die Dunkelheit, wie ein weißer Engel, der sich eher zufällig in das Scheinwerferlicht verirrt hatte. Frank Mehler, sein Kollege von der Mordkommission, begann neben ihm heftig zu applaudieren. Der ganze Saal schien plötzlich zu toben. Allein Brasch rührte sich nicht. Er hatte noch nie so eine Stimme gehört; schüchtern, zweifelnd, voller Sanftmut, dann wieder voller Kraft und Selbstgewissheit.
»Wer ist diese Frau?«, fragte er Mehler, der ihm die Karte zu diesem Konzert besorgt hatte, doch sein Kollege verstand die Frage in dem ohrenbetäubenden Lärm gar nicht. Er lächelte nur glücklich vor sich hin und applaudierte noch frenetischer.
Zaghaft lächelnd, aber mit geschlossenen Augen kehrte die Sängerin auf die Bühne zurück. Auf magische Weise schien sie ihren Weg zu kennen. Als sie vor ihrem Mikrofon stand, wurde es sofort wieder still. Irgendwo aus dem Nirgendwo hinter ihr erklangen die ersten Takte. Die Musiker trauten sich nun gar nicht mehr aus ihren Schatten heraus. Die Zugabe, das große Finale war allein für ihre Sängerin reserviert. Mit geschlossenen Augen stimmte sie »Fever« an, flüsterte ihre Worte mehr, als dass sie sang. Brasch erkannte plötzlich, was das Besondere an dieser Sängerin war. Es war der Schmerz, ein naiver, beinahe heiterer Schmerz, der all ihre Lieder zusammenhielt. Die Sängerin war dieser Schmerz; und mit jeder Silbe, die sie sang, hauchte sie diesen Schmerz hinaus und machte ein Stück Schönheit aus ihm.
Das Publikum applaudierte noch immer, als das Licht bereits angesprungen war und zwei Männer die Bühne betraten, um die Mikrofonständer und Instrumente abzubauen. Der Traum war zu Ende. Unwiderruflich.
Brasch spürte, wie erschöpft er war. Über zwei Stunden hatte die blonde Sängerin auf der Bühne gestanden, und er hatte sich nicht von der Stelle gerührt, sondern sie nur gebannt angeschaut.
»Großartig«, rief Mehler. »Sie ist einfach großartig, und wenn sie wollte, könnte sie ein echter Star werden.« Er klang ganz gegen seine Gewohnheit wie ein Angeber, als wäre er mit der Sängerin vertraut und würde eine Menge über sie wissen. Abrupt wandte er sich dann ab und schritt auf die Bühne zu.
Brasch zögerte. Wohin ging Mehler? Der Ausgang lag eindeutig in der anderen Richtung, auch die anderen Besucher drängten in den Vorraum, wo sich außerdem die Bar befand.
Mehler winkte ihm zu. »Ich kenne den Bassisten der Band. Wir können vielleicht hinter der Bühne noch etwas trinken, und wenn wir Glück haben, sehen wir die schöne Blonde noch einmal.«
Sie stiegen eine schmale Treppe an der rechten Seite der Bühne hinauf. Einer der beiden Männer, der sich nun an einem Verstärker zu schaffen machte, schaute mit unfreundlicher Miene zu ihnen herüber, aber Mehler ignorierte ihn und schritt an einem Keyboard vorbei auf den dunklen Vorhang im Hintergrund zu. Als er den Vorhang beiseite schob, konnten sie in einen hell erleuchteten Raum blicken, der unmittelbar hinter der Bühne lag. Es sah aus wie in einer heruntergekommenen Cocktailbar. Zerschlissene schwarze Sofas standen neben kleinen Holztischen. An der hinteren Wand hatte man ein üppiges Büfett aufgebaut. Noch verloren sich allerdings nur eine Hand voll Leute im Raum. Von der schneeblonden Sängerin war nichts zu sehen.
Ein Glatzkopf in einem schwarzen T-Shirt mit der leuchtend gelben Aufschrift »Security« trat ihnen in den Weg. »Tut mir Leid, Leute«, sagte er in einem lässigen Tonfall. »Ihr habt euch in der Tür geirrt. Für diese Backstage-Party braucht man eine VIP-Karte.«
»Wir sind eingeladen«, erwiderte Mehler, ohne dem Security-Mann groß Beachtung zu schenken. Suchend blickte er in den Raum. Plötzlich hellte sich seine Miene auf. Anscheinend hatte er seinen Bekannten, den Bassisten, entdeckt.
»Bedauere.« Der Glatzkopf legte einen merklich schärferen Klang in seine Stimme. »Ich habe Anweisung, niemanden ohne eine Einladung hereinzulassen.«
Mehler warf einen kurzen Blick auf die muskulösen, tätowierten Oberarme des Mannes und lächelte ihn an. Ich bin im Training, sagte sein gefährlich mildes Lächeln. Mit so einem Wichtigtuer wie dir werde ich spielend fertig. »Ist schon in Ordnung, dass Sie Ihren Job so ernst nehmen, aber der Bassist der Band hat mich und meinen Freund eingeladen, nach dem Konzert mit ihm zu feiern.«
Brasch wusste, dass Mehler keinen Streit wollte, doch wenn er in einer gewissen Stimmung war, würde er sich nicht von irgendeinem vorlauten Wachmann abweisen lassen.
»Frank«, sagte Brasch besänftigend, »du kannst dein Bier auch vorne an der Bar trinken.«
Mehler nickte, offenbar zum geordneten Rückzug bereit, dann aber beugte der Glatzkopf sich zu ihm vor und packte ihn ziemlich grob und unvermittelt am Kragen seines dunkelroten Hemdes. Brasch ahnte, wie Mehler reagieren würde. Eine halbe Sekunde später verlor der Security-Mann sein Gleichgewicht, als hätte ihn ein Blitz getroffen, und dann stürzte er ziemlich unsanft auf den Rücken. Brasch bemerkte den jähen Schrecken und die Überraschung in dem Gesicht des Glatzkopfs; so sahen Leute aus, die sich für unverwundbar hielten und plötzlich gegen einen scheinbar ungefährlichen Gegner den Kürzeren zogen. Dabei hatte Mehler keine Zaubertricks auf Lager, aber er war sehr athletisch, verstand seine Füße einzusetzen und beherrschte ein paar ansatzlose Schläge.
Hastig sprang die Glatze wieder auf die Beine und machte einen Schritt auf Mehler zu.
»Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst«, sagte Mehler. Es klang, als wollte er den lässigen Tonfall des Security-Typen imitieren.
Der Wachmann starrte ihn wütend an. Mit einer schnellen Bewegung hatte er einen Schlagring aus der Tasche gezogen, doch auch damit konnte er Mehler nicht beeindrucken.
Brasch fühlte sich zusehends unbehaglicher. Er sah, dass die anderen Gäste im Raum sich zu ihnen umgewandt hatten und zwei weitere Security-Leute auf sie zumarschierten. Es wurde Zeit, den Rückwärtsgang einzulegen.
Dem ersten Schwinger des Glatzkopfs wich Mehler geschickt aus. Er verteilte einen kurzen Schlag, der spielerisch aussah, als wollte er sich seinen Gegner nur vom Hals halten und ihm keinen wirklichen Schaden zufügen. Vielleicht hat er sich überlegt, dass wir hier als Polizisten keine Schlägerei anzetteln sollten, dachte Brasch. Doch im nächsten Moment hatte der zweite Security-Mann Mehler erreicht und verpasste ihm einen harten Hieb, mit dem er nicht gerechnet hatte. Er ging kurz in die Knie und drehte sich dann überrascht herum. Der zweite Wachmann war ein Walross auf zwei Beinen; er mochte gut und gerne drei Zentner auf die Waage bringen. Mehler stieß ihm seine rechte Faust vor die Brust, kein schlechter Schlag, aber bei weitem nicht kräftig genug, um das Walross in die Flucht zu schlagen. Auch der Glatzkopf mischte sich nun wieder ein, doch diesmal war Mehler auf der Hut. Er verpasste ihm eine krachende Rechte, die den Glatzkopf heftig ins Trudeln brachte, ehe ihm die Knie weich wurden und er tapsig zu Boden fiel.
Brasch begriff, dass er zu lange gezögert hatte. »Wir sind von der Polizei«, sagte er und wollte gerade seinen Ausweis hervorziehen, als er einen Schlag in den Magen kassierte. Der dritte Kerl von der Security, ein braun gebrannter Muskelprotz mit blond gefärbten, kurzen Haaren, interessierte sich keinen Deut dafür, wen er da vor sich hatte. Er holte sofort wieder aus. Brasch riss seine rechte Hand hoch. Er spürte schmerzhaft, wie Knochen auf Knochen traf, dann wich er zurück, aber der Muskelmann setzte ihm sofort nach. Brasch gelang es, seinen Kopf im letzten Augenblick zurückzuziehen. Eine eiserne Faust wischte an ihm vorbei. Mit einer trockenen Rechten versuchte er, den Hünen zurückzudrängen, was ihm auch für ein paar Momente gelang. Er versuchte noch einmal, sich verständlich zu machen. »Es ist alles ein Missverständnis …«
Ein harter Gegenstand, der aus dem Nichts heranflog, traf ihn an der Schläfe. Brasch spürte, wie seine Knie nachgaben und es ihm auf einmal ganz und gar unmöglich war, überhaupt noch Luft zu holen. In der nächsten langen Sekunde sackte er nach vorn, und während es dunkel um ihn wurde, hörte er die helle, glasklare Stimme einer Frau, aber was genau sie sagte, verstand er nicht mehr.
Es fiel ihm schwer, die Augen zu öffnen. Seine Lider waren aus Blei, und irgendwo durch seinen Kopf zogen pulsierende Wellen eines schrillen, heißen Schmerzes, so als hätte man sein Gehirn mit einem Starkstromkabel verbunden. Das Licht, das in seine Augen stach, tat ihm weh. Er sah auch nicht sofort etwas, allenfalls ein paar vage Schemen, aus denen sich ganz langsam das Gesicht einer Frau mit schneeweißem Haar formte. Die Sängerin tupfte mit einem nassen Tuch über seine Stirn. Brasch versuchte zu lächeln, aber irgendwie hatte er die Muskeln in seinem Gesicht noch nicht unter Kontrolle.
»Man hätte nicht gleich auf mich losgehen dürfen.« Die Stimme neben ihm gehörte Mehler. Er klang ziemlich selbstsicher und hatte anscheinend nicht so viel abgekriegt. »Wenn Ihr komischer Gorilla mich nicht angepackt hätte, wäre das alles nicht passiert.«
»Wir haben die Polizei gerufen«, sagte eine zweite, sehr seriöse Stimme. »Dann wird sich hoffentlich alles klären. Ich bin sicher, meine Leute haben sich vollkommen korrekt verhalten. Sie sind hier in eine private Party eingedrungen.«
Brasch bemerkte, dass er in einem der alten Ledersessel saß. Er schaffte es, sich ein wenig aufzurichten. Sofort wich die Sängerin zurück. Sie hatte dunkle grüne Augen, die ihn forschend wie eine Krankenschwester musterten. Ein eleganter dunkelhaariger Mann mit einem Dreitagebart beugte sich über ihn. »Alles wieder in Ordnung mit Ihnen?«, fragte er besorgt.
»Es geht schon wieder.« Brasch wandte den Kopf. Etliche Leute standen um sie herum und betrachteten sie argwöhnisch; die Leute vom Security-Dienst, die Musiker der Band, ein paar sehr modisch gekleidete Frauen und drei Männer, die Krawatten trugen und wie Geschäftsleute aussahen, die besonders viel Wert auf vordergründige Seriosität legten.
»Ein Krankenwagen wird gleich hier sein.« Der Mann mit dem Dreitagebart, der Brasch vage bekannt vorkam, schaute ihn besorgt an. »Es tut mir Leid, dass meine Leute so hart zugeschlagen haben, aber …« Im nächsten Augenblick war irgendwo eine schrille Sirene zu hören.
»Hören Sie …«, sagte Brasch, dann verstummte er. Die Sängerin reichte ihm ein Glas Wasser. Sie hatte zarte, schlanke Hände mit schwarz lackierten Fingernägeln. Dankbar blickte Brasch sie an und führte das Glas zum Mund, doch sie lächelte nicht, und auch in ihren Augen zeigte sich keine Regung. Das Wasser schmeckte, als hätte sie es mit einem Schuss Zitrone versetzt. Am liebsten hätte er sie nach ihrem Namen gefragt.
Dann sah er, dass zwei uniformierte Polizisten auf sie zuschritten. Mehler hatte sich bereits erhoben und ging ihnen entgegen. Offenbar kannte er die beiden Kollegen vom Streifendienst. Brasch war nur dem größeren der beiden, einem stämmigen grauhaarigen Mann, schon einmal begegnet.
»Keine Panik, Kollegen«, Mehler hob wie ein Priester die Hände, als gäbe es hier irgendjemanden, dem er seinen Segen erteilen müsste, »es hat ein wenig Ärger gegeben. Nichts Ernstes.«
Der größere der beiden Polizisten lächelte und reichte Mehler die Hand. »Wart ihr hier im Einsatz?«, fragte er.
»Darüber dürfen wir nicht sprechen«, erwiderte Mehler und tat besonders geheimnisvoll. Brasch bemerkte zum ersten Mal, dass Mehler doch nicht so ungeschoren davongekommen war. Seine Lippe war aufgeplatzt, und aus einer Wunde unter seinem Auge war ein wenig Blut geronnen.
»Sie kennen die beiden Männer?« Allmählich schien auch der Dreitagebart zu begreifen, mit wem es seine Security-Leute zu tun gehabt hatten. Er streckte dem größeren Polizisten die Hand entgegen. »Doktor Muller«, sagte er. »Ich bin hier der Gastgeber. Die beiden Männer konnten keine Einladung vorweisen, und als meine Wachmänner sie zurückweisen wollten, ist es zu Handgreiflichkeiten gekommen.« Er lächelte routiniert in die Runde.
»Wir nehmen die beiden jetzt mit«, erklärte der Polizist. »Sie können sich ja noch überlegen, ob Sie eine Anzeige erstatten möchten.«
»Das wird nicht erforderlich sein.« Muller schüttelte auch dem anderen Polizisten beflissen die Hand.
Mühsam richtete sich Brasch auf. Ein leichter Schwindel ergriff ihn, und fast wäre er gestürzt, wenn ihn die Sängerin nicht gestützt hätte. Sie tat es mit einer schnellen, einfachen Bewegung, als wäre sie es gewohnt, gebrechlichen Männern beim Aufstehen zu helfen. Als Brasch sie anschaute, wich sie seinem Blick aus.
Wie zwei müde, geschlagene Boxer verließen Mehler und Brasch den Raum. Kaum hatten ihre beiden Kollegen sie übernommen, eilten die meisten Gäste zum Büfett. Sanfte Musik wurde eingespielt, und Muller klatschte einmal laut in die Hände und setzte zu einer Rede an: »Liebe Freunde, tut mir Leid für die kleine Verzögerung. Wir sind hier zusammengekommen, um eine ganz besondere Sängerin zu feiern. Melancholy …«
Nachdem sie den Vorhang erreicht hatten, drehte sich Brasch noch einmal um. Die blonde Sängerin stand neben Muller. Sie hielt seine Hand und schaute ihn auf eine Art an, die nur einen Schluss zuließ: Sie war sein Geschöpf, und er war ihr Gönner und Geliebter.
In dem hell erleuchteten Saal, der nun leer war und in dem ein paar Frauen Müll zusammenkehrten, eilte ihnen ein Notarzt entgegen.
»Entwarnung«, rief ihm der grauhaarige Polizist zu, »kannst wieder den Abflug machen. War nur eine harmlose Schlägerei.«
Der Notarzt machte ein enttäuschtes Gesicht und drehte wortlos wieder ab.
»Du bist doch in Ordnung, Kollege?« Der Polizist schaute Brasch an. »Oder willst du doch ins Krankenhaus und dich durchchecken lassen?«
Brasch schüttelte den Kopf. »Ich fahre nach Hause. Morgen geht es mir wieder besser.«
Unvermittelt lachte Mehler auf. »Matthias hat mit dem Streit angefangen«, erklärte er den uniformierten Polizisten und deutete auf Brasch. »Er wollte sich unbedingt ein Autogramm von der Sängerin holen. Damit ging der ganze Ärger los.«
Es sollte offenkundig ein Scherz sein, um die peinliche Situation ein wenig aufzulockern, doch nicht einmal ihre beiden uniformierten Kollegen lachten. Brasch ahnte, dass der wahre Ärger über ihren missglückten Auftritt noch kommen würde. Niemandem im Präsidium würde verborgen bleiben, dass sie eine Prügelei angezettelt hatten, und wenn sie besonders viel Glück hatten, würde die Geschichte von den prügelnden Polizisten es sogar auf die Titelseite des Lokalteils der Zeitung schaffen. Seit es auf einer Wache mehrere Übergriffe von Polizisten auf Betrunkene und Randalierer gegeben hatte, war man da in Köln besonders hellhörig.
In der Nacht erwachte er, weil ihm so übel war, dass er glaubte, sich erbrechen zu müssen. Er hatte höllische Kopfschmerzen. Brasch schaute sich im Spiegel an und zitterte am ganzen Körper. Für einen Moment glaubte er zu wissen, dass irgendetwas in seinem Kopf kaputtgegangen war. Seine Augen kamen ihm blutunterlaufen vor. Er schob sich drei Schmerztabletten in den Mund und schluckte sie mit etwas Wasser hinunter. Dann setzte er sich in sein düsteres Wohnzimmer und starrte in die Nacht hinaus. Er war froh, dass dort draußen in der Nähe des Rheins ein Licht flimmerte; vielleicht lag da ein Schiff vor Anker, oder jemand hatte seinen Wagen geparkt und einen Scheinwerfer angelassen.
Ein paar dunkle, ruhelose Gedanken schlichen ihm durch den Kopf. Er dachte an Leonie. Er hätte sie gerne angerufen und ihr von dieser völlig sinnlosen Prügelei erzählt. Leonie hätte gelacht und gewusst, was er gegen seine Kopfschmerzen hätte tun können, aber sie war schon lange nicht mehr da; mit all ihren Möbeln war sie ausgezogen, verschwunden aus seinem Leben, obwohl sie nun nur ein paar Minuten entfernt wohnte. Dann fiel ihm die schneeweiße Sängerin ein, und er glaubte sogar ihre kristallklare Stimme zu hören. Irgendwie, ohne es wahrscheinlich selbst zu ahnen, hatte Mehler Recht gehabt. Brasch hätte gern mit ihr gesprochen und ihren Namen erfahren. Wie hießen solche Sängerinnen? Sie legten sich englische oder französische Namen zu, hießen vielleicht Candy, Margaritte oder Annalena. Er sah das Gesicht der Sängerin vor sich, wie sie mit geschlossenen Augen auf die Bühne zurückgekehrt war, so als würde sie vom Beifall wie von einem Magneten angezogen. Sie schien zu träumen, einen kurzen, glücklichen Traum zu haben, oder ihre Stimme hatte sie selbst so tief berührt, dass sie in eine Art Zauber verfallen war. Brasch stellte sich ihr Gesicht im Schlaf vor. Sah sie da auch so geheimnisvoll und entrückt aus?
Nein, dachte er dann, solche Gedanken sind kompletter Unsinn. Er arbeitete zu viel, und er war zu lange allein gewesen, hatte sich nach Leonies Abgang zu sehr in seinem Haus vergraben.
Dann, als es allmählich hell wurde und die Vögel erwachten, kochte Brasch sich einen Kaffee und rasierte sich. Die Kopfschmerzen hatten ein wenig nachgelassen. Ich sollte mir einen neuen Job suchen, dachte er, irgendetwas, das nichts mit der Polizei zu tun hat, oder vielleicht müsste ich mich wieder verlieben.
Als er in seinem Wagen saß, fuhr er nicht ins Präsidium, sondern schlug den Weg Richtung Südstadt ein. Er würde bei Rosa, der Hüterin eines wunderbaren Stehcafés am Chlodwigplatz, einen guten, schwarzen Kaffee trinken und dann eine Reise buchen – in die Karibik, oder nein, er würde sich für eine Fahrt mit dem Jeep durch die Wüste entscheiden. In der Wüste würden sich die Gedanken klären, und er würde wissen, was er ohne Leonie mit dem Rest seines Lebens anfangen sollte.
Die alte Frau stand mitten auf dem Grünstreifen. Sie trug einen bunten Kittel und sah aus, als hätte sie sich über zwei viel befahrene Fahrspuren gerettet und wüsste nun nicht mehr weiter. Eine Hand hatte sie leicht erhoben, vielleicht wollte sie jemandem zuwinken, aber dann war dieser Jemand verschwunden, hatte sich vor ihren Augen in Luft aufgelöst. Niemand kümmerte sich um die alte Frau. Brasch erkannte sofort, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Er bremste abrupt, schaltete seine Warnblinkanlage ein und hielt an. Zwei Autos hupten, als er ausstieg und auf die Frau zulief. Sie bewegte sich nicht, hatte es anscheinend aufgegeben, die andere Straßenseite erreichen zu wollen, sondern schlang die Arme um sich, als würde sie trotz der frühen Morgenhitze frieren. Ihr Anblick rührte ihn. Für einen kurzen Augenblick dachte er, seine Mutter stehe da. Sie war aus ihrem kleinen Dorf in der Eifel gekommen und hatte sich in der lauten, hektischen Großstadt verlaufen. Auch seine Mutter trug bei der Hausarbeit noch solche unmodernen bunten Kittel.
»Was tun Sie hier?«, rief Brasch der Greisin zu, während er sich auf sie zubewegte.
Statt sich nach ihm umzudrehen, riss sie die Hände hoch und drückte sie sich auf die Ohren, als könnte sie seine Stimme nicht ertragen, aber vielleicht hatte sie sich auch vor einem großen Lastwagen erschreckt, der auf der anderen Seite an ihr vorbeigerauscht war. Doch dann, als Brasch einen letzten Schritt auf sie zumachen wollte, schien sie seine Nähe wie eine Gefahr zu spüren. Taumelnd setzte sie einen Fuß langsam vor den anderen. Brasch bekam sie an einem Arm zu fassen, bevor sie auf die Straße laufen konnte. Ein roter Mercedes bremste quietschend ab. Hinter der Windschutzscheibe sah man das wütende Gesicht des Fahrers.
»Machen Sie keine Dummheiten«, sagte Brasch zu der Frau. »Sie können nicht einfach auf die Straße laufen.«
Die Frau wand sich in seinem Griff und gab dabei leise, schrille Laute von sich. Wie eine Katze, die man in die Enge getrieben hat, dachte Brasch. Dann bemerkte er, dass sie nicht einmal richtige Schuhe trug. Sie hatte rote, schmutzige Pantoffeln an den Füßen. Wieder dröhnte ein Lastwagen an ihnen vorbei, und die alte Frau begann heftig zu zittern.
»Kommen Sie«, sagte er und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, »ich bringe Sie zu meinem Wagen, und dann erzählen Sie mir, wo Sie wohnen.« Er wollte sie an der Hand zurück über die Straße führen, doch sie wand sich nur zornig und abweisend hin und her. Schließlich nahm Brasch sie kurz entschlossen auf den Arm und trug sie wie ein Kind über die Straße. Unvermittelt begann die Frau zu kichern. Statt sich weiter zu wehren, wiegte sie sich wie in einem Tanz hin und her. Brasch sah, dass sie keine Zähne im Mund hatte, und in ihren braunen Augen lag eine vollkommene Leere, das schiere, glückliche Nicht-Begreifen. So mochte ein schwachsinniges Kind in die Welt blicken. Kein Wunder, dass die Frau sich verirrt hatte und nicht mehr weiterwusste. Sie musste irgendwo aus einem Altenheim geflüchtet sein oder war ihren Angehörigen davongelaufen.
Brasch setzte sie auf dem Beifahrersitz ab. Sofort veränderte sich der Gesichtsausdruck der alten Frau wieder. Sie starrte ihn erzürnt an, stieß erneut einen schrillen Laut aus und fuchtelte mit ihrer rechten Hand. Vielleicht war das eine Art Sprache. Vielleicht bedeutete das »Lass mich in Ruhe!« oder »Trag mich ein Stück weiter!«
Vorsichtig schnallte Brasch der Alten den Sicherheitsgurt um. »Können Sie mir Ihren Namen nennen?«, fragte er langsam und jedes Wort betonend. »Wie heißen Sie?«
Die Greisin öffnete ihren dunklen zahnlosen Mund, ohne jedoch ein Wort zu sagen, dann strich sie sich eine Haarsträhne zurück. Eine anmutige Bewegung, wie Brasch sie zuletzt bei einem jungen Mädchen gesehen hatte. Diese Geste verriet, dass die Alte einmal eine ganz andere Frau gewesen war, keine zahnlose Verwirrte, die nicht einmal mehr eine Straße überqueren konnte.
Brasch versuchte es noch einmal. »Haben Sie einen Namen? Wo wohnen Sie?« Aber er wusste, dass es sinnlos war. Die Frau musterte ihn mit ihren leeren Augen, und dann, als wollte sie ihm ihre Verachtung zeigen, verzog sie den Mund und leckte sich über die Lippen.
»Gibt es einen Ort, wo ich Sie hinbringen kann?« Brasch blickte der Frau in die Augen und sprach so beruhigend auf sie ein, wie er konnte. Vielleicht wurde sie vermisst, und es lag eine Anzeige vor. Er überlegte, ob er im Präsidium nachfragen sollte, dann fiel ihm ein, dass den Bewohnern von Altenheimen ihre Namen in die Kleider eingenäht wurden, damit die Wäsche nicht durcheinander geriet.
Wieder gab die Alte ein paar hohe Töne von sich, die nun eher erschreckt als zornig klangen.
»Wenn Sie erlauben«, sagte Brasch, »würde ich gerne nachsehen, ob Sie irgendwo in Ihren Kleidern ein Zeichen haben.« Er strich der Frau über die Schultern und kam sich für einen Moment ganz hilflos vor, dann führte er seine rechte Hand zum Kragen des Kittels. Möglicherweise stand da ein Name oder eine Angabe, die ihm weiterhelfen konnte.
Die Alte schien zu erraten, was er vorhatte. Ihr Kopf ruckte zurück, ihrem Mund entfuhr ein zischendes Geräusch, und dann schlug sie nach ihm, klopfte ihm mit der Faust dreimal gegen die Brust.
»Beruhigen Sie sich«, sagte er. »Ich will Ihnen nichts tun.« Eine Frau auf dem Gehsteig war stehen geblieben und beobachtete Brasch. Als er ihren Blick erwiderte, ging sie schnell weiter. Es würde ihm nichts übrig bleiben, als mit der verwirrten Alten zum nächsten Polizeirevier zu fahren. Brasch schloss die Beifahrertür. Er bemerkte, dass die Frau erneut zusammenzuckte; sie verhielt sich beinahe, als wäre sie misshandelt worden. Jedes laute Geräusch schien sie zu erschrecken. Mit ihren leeren braunen Augen verfolgte die Frau, wie er um den Wagen herumging. Er stieg ein, und dann, während er nach dem Zündschlüssel griff, um ihn herumzudrehen, sah er, dass in ihrem Schoß, auf dem Kittel mit dem bunten Blumenmuster, ein weißer zerknüllter Zettel lag. Wo kam der Zettel her? Die Alte musste ihn die ganze Zeit in der Hand gehalten haben.
Brasch tat so, als würde er den Wagen starten; einen Moment später jedoch schnellte seine linke Hand vor, ohne dass die Alte es bemerkte. Sie starrte ihn weiter an und registrierte gar nicht, dass er den Zettel an sich genommen hatte.
Das Papier war vollkommen zerknittert und fühlte sich ganz warm an. Eine Adresse stand da, ordentlich in einer schwungvollen, selbstbewussten Handschrift notiert. Robert Schmoll, Höfestraße 5, Erdgeschoss, rechts.
Die Höfestraße lag in Kalk, einem alten Arbeiterviertel von Köln, das in der Stadt keinen besonders guten Ruf genoss. Die Fabriken waren nach und nach alle dichtgemacht worden, und wer konnte, war weggezogen. Nirgendwo in Köln lebten mehr Arbeitslose. Dass man ein Theater aufgemacht und das Polizeipräsidium hierher verlegt hatte, hatte auch nicht viel geändert. Nicht einmal die Zahl der Wohnungseinbrüche war gesunken.
Die alte Frau neben Brasch gab durch nichts zu erkennen, ob ihr die Gegend bekannt vorkam. Wie ein neugieriger Vogel wandte sie manchmal den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, das er nicht verstehen konnte.
»Wohnen Sie hier?«, fragte Brasch. »Ist das Ihre Straße?« Er erwartete nicht wirklich eine Antwort, sondern hoffte, dass seine Stimme sie weiter beruhigte. Als er vor dem Haus Nummer fünf einparkte, schaute sie ihn kurz an, in ihren Augen stand ein kurzes, unsicheres Flackern, und dann kicherte sie wieder, als hätte er sich einen Scherz mit ihr erlaubt.
Er half ihr beim Aussteigen. Mühsam kletterte sie aus dem Wagen und hielt sich sogar an ihm fest. Eine Art Vertrauensbeweis, dachte Brasch. Langsam gingen sie auf das Haus zu. Die Adresse auf dem Zettel stimmte. An dem Klingelbrett fand Brasch den Namen »Schmoll«. Er klingelte, doch nichts geschah. Die Frau schaute ihn entgeistert an, als würde sie auch nicht verstehen, warum ihnen niemand öffnete. Robert Schmoll war nicht zu Hause, vielleicht war er ihr Mann oder ihr Sohn und fuhr in diesem Moment durch die Stadt, um seine Mutter zu finden. Brasch drückte auf den Klingelknopf für die andere Wohnung im Erdgeschoss. Nach dem zweiten Klingeln wurde ihm geöffnet. Brasch nahm die alte Frau an die Hand und trat ein. Im Treppenhaus war es dunkel und kalt. Ein ramponierter Kinderwagen stand darin, in dem jemand eine leere Bierkiste deponiert hatte. Ein junge schwarzhaarige Frau spähte misstrauisch aus ihrer Wohnungstür.
»Verzeihen Sie«, sagte Brasch. »Ich suche Herrn Schmoll.«
Die junge Frau machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich wissen nicht«, sagte sie mit schwerem Akzent. Wahrscheinlich war sie Türkin, jedenfalls schien sie sich noch nicht lange in Deutschland aufzuhalten. Aus der Wohnung hinter ihr drang der Schrei eines Kindes. Brasch spürte, wie die alte Frau wieder zusammenzuckte. Jedes laute, neue Geräusch schien sie zu ängstigen und in Unruhe zu versetzen. Leise begann sie etwas vor sich hin zu brabbeln.
»Wissen Sie, wo ich Herrn Schmoll finden kann?«, fragte Brasch. Als die Türkin hastig den Kopf schüttelte, deutete er auf die Alte neben ihm. »Kennen Sie diese Frau?«
Die Türkin runzelte die Stirn und musterte die Greisin einen Moment lang. Dann schüttelte sie erneut den Kopf und schloss die Tür. Brasch hörte, wie sie ihrem Kind etwas zurief, das klang, als würde es sich reimen.
Die Tür zu Robert Schmolls Wohnung war fest verschlossen. Kein Laut drang aus der Wohnung. Als Brasch gegen das Holz pochte, begann die alte Frau wieder zu zittern. »Tut mir Leid«, sagte er entschuldigend zu ihr. »Niemand zu Hause.«
Er würde sie mit ins nahe Präsidium nehmen und den Kollegen übergeben. Wenn man keinen Angehörigen ausfindig machen konnte, würde man die Frau in ein Pflegeheim einweisen müssen.
Brasch wandte sich von der Tür ab und ging auf die Haustür zu. Doch damit erregte er den Unwillen der Alten. Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, und rührte sich nicht von der Stelle, als wären ihre Beine mit einem Schlag gelähmt. Also hat sie doch noch einen Funken Verstand in ihrem Kopf, dachte Brasch. Sie wohnt hier oder hat hier gewohnt und will nicht so einfach wieder gehen.
»Sie können hier nicht bleiben«, sagte er mit sanfter Stimme, die aber ihre Wirkung verfehlte. »Es ist niemand da, der sich um Sie kümmern kann.« Dann fiel ihm der zerschrammte Blechbriefkasten mit der Aufschrift »Schmoll« auf, der hinter der Eingangstür hing. Zwei dicke bunte Kataloge steckten da. Werbung. Robert Schmoll war offenbar schon seit einiger Zeit nicht mehr zu Hause gewesen.
Mit der widerspenstigen Alten im Schlepptau ging Brasch an dem Briefkasten vorbei in den Hinterhof des Hauses. Mülltonnen standen neben der Tür, zwei nicht verschlossene Fahrräder und seltsamerweise ein altes Klavier, das noch einigermaßen intakt aussah. Hinter einer schmalen asphaltierten Fläche war ein kleiner privater Kinderspielplatz angelegt worden. Auf einer Rasenfläche, die etwa zwanzig Meter bis zu einer hohen Backsteinmauer reichte, hatte man einen Sandkasten, eine alte Holzwippe und ein Klettergerüst aufgestellt.
»Bitte bleiben Sie hier sitzen.« Brasch lächelte die alte Frau an und drückte sie auf den Hocker, der vor dem Klavier stand, als würde hier tatsächlich jemand spielen. Die Alte musterte ihn verständnislos, dann gehorchte sie und setzte sich, aber voller Unruhe, als würde sie jeden Moment wieder aufspringen wollen. Brasch eilte zu dem ebenerdigen Balkon, der zu Schmolls Wohnung gehören musste. Die gemauerte Brüstung zu überwinden bereitete ihm keine Mühe, auch wenn ihm seine Kopfschmerzen noch immer zu schaffen machten.
Robert Schmoll gehörte nicht zu den Menschen, die ihren Balkon als eine Art idyllischen Vorgarten auffassten. Keine Pflanzen waren hier zu finden, nichts außer einem Plastikstuhl, einem zerbeulten Farbeimer und einem ausrangierten Hometrainer. Auf der Brüstung stand eine Untertasse mit ein paar Zigarettenkippen. Vor dem Fenster und der Balkontür hingen keine Gardinen.
Brasch warf der Alten auf dem Klavierhocker einen Blick zu. Sie schien ihn vergessen zu haben. Irgendetwas an ihren roten Pantoffeln hatte ihr Interesse erregt. Vielleicht hatte sie bemerkt, wie schmutzig sie waren. Mit beiden Händen wischte sie fahrig an ihnen herum. Brasch war es recht, so jedenfalls bestand keine Gefahr, dass sie wieder weglief.
Auch von dieser Seite machte die Wohnung einen verlassenen Eindruck. Brasch legte beide Hände gegen das Glas und versuchte hineinzuspähen. Es war nicht viel zu sehen: ein brauner, einfacher Couchtisch, ein kariertes altmodisches Sofa, über dem die große Fotografie eines Boxers hing, ein ausladender Ohrensessel und eine Standuhr, die aber nicht mehr funktionierte; das messingfarbene Pendel bewegte sich nicht. Hinter ihm wimmerte die Alte plötzlich auf. Brasch war schon im Begriff, sich abzuwenden, als er etwas entdeckte, das ihm den Atem stocken ließ. Er sah Füße, zwei nackte, bläuliche Füße. Kein Zweifel, in dem Ohrensessel hockte jemand.
Brasch zog sich Plastikhandschuhe über, und dann klopfte er heftig gegen das Glas, obschon er ahnte, dass dieser Jemand im Sessel sich nicht rühren würde. Die Alte hatte sich