3Bee Wilson

Essen lernen

Wo unsere
Ernährungsgewohnheiten herkommen
und wie wir sie ändern können

Aus dem Englischen von
Laura Su Bischoff

Suhrkamp

6Für Emily

7Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1 Vorlieben und Abneigungen
und ein Exkurs über Rote Beete

Kapitel 2 Erinnerungen
und ein Exkurs über Milch

Kapitel 3 Essen für Kinder
und ein Exkurs über Geburtstagskuchen

Kapitel 4 Füttern und Ernähren
und ein Exkurs über die Lunchbox

Kapitel 5 Brüder und Schwestern
und ein Exkurs über Schokolade

Kapitel 6 Hunger
und ein Exkurs über Frühstücksflocken

Kapitel 7 Essstörungen
und ein Exkurs über Chips

Kapitel 8 Veränderungen
und ein Exkurs über Chili

Nachwort Das soll kein Ratgeber sein

Weiterführende Literatur

Bibliografie

Dank

Anmerkungen

9Vorwort

Manchen fällt die Sache mit dem Essen leicht, anderen dagegen schwer. Früher einmal stand ich auf der falschen Seite dieser Kluft, doch glücklicherweise gelang mir recht überraschend der Sprung hinüber. In diesem Buch versuche ich zu ergründen, wie mir dieser Wandel möglich war.

Heutzutage muss man nicht lange suchen, um auf Menschen jeglichen Gewichts zu stoßen, die ein überaus chaotisches Essverhalten pflegen. Dieses kann sich auf verschiedenste Arten und Weisen zeigen, beispielsweise in dem zwanghaften Drang, viel zu viel oder viel zu wenig zu essen oder beim Essen außerordentlich pingelig zu sein. Manche Menschen sind von der Reinheit ihrer Speisen derart besessen, dass sie Essenseinladungen von Freunden nicht annehmen können. Es kann sehr einsam machen, ständig seine Ernährung kontrollieren zu müssen, besonders wenn man bedenkt, dass der moderne Mensch heutzutage mit Nahrung geradezu bombardiert wird, sei sie real oder virtuell. An den Supermarktkassen warten Leckereien auf uns, und von Werbetafeln, in Zeitungen und in Kochsendungen locken traumhafte Schlemmereien.

Ich litt zwar nie an einer ausgewachsenen Essstörung, stand jedoch gefährlich kurz davor. Ich schaffte es, mir wegen meines Gewichts fast zehn Jahre lang – von der Mittelstufe bis ins junge Erwachsenenalter hinein – ein ausgesprochen schlechtes Gewissen einzureden. Wahrscheinlich wirkte es von außen so, als ob mit mir alles in Ordnung wäre: Vielleicht war ich ein wenig übergewichtig, aber mehr nicht. Das Essen war jedoch mein größter Bezug, und 10obwohl mir mein Verhältnis zu ihm manchmal als ebenso aufregend erschien wie eine Affäre – besonders, wenn ich mit einem großen Klumpen süßem Briocheteig in der Küche stand –, war die Liebe doch stets einseitig und zerstörerisch. Oft sprechen wir auf ungesunde Weise davon, dass uns Essen »Trost« spendet; wer jedoch zwanghaft davon besessen ist, empfindet oft alles andere als Trost. An manchen Tagen ergab ich mich meinem Laster und fühlte mich anschließend schuldig. An anderen machte ich das Ganze nur noch schlimmer, indem ich rein gar nichts aß, während ich mich selbstquälerisch mit dem Essen umgab, das ich mir verwehrte.

Mittlerweile ist diese Zeit meines Lebens glücklicherweise lange vorbei. Eine gesunde Ernährung – womit ich nicht Clean Eating oder Saftkuren meine – fällt mir inzwischen nicht mehr schwer. Nun, da ich mich auf der anderen Seite der Kluft befinde, erkenne ich, dass ich im Laufe von Monaten oder Jahren eine Reihe von Fertigkeiten erlernt habe, die mir früher einmal unerreichbar schienen. Ich lernte, dass es vollkommen in Ordnung ist, eine deftige Mahlzeit zu verspeisen, wenn ich Hunger habe, und dass es ebenso kein Problem darstellt, mein Besteck zur Seite zu legen, wenn ich satt bin. Mein Appetit auf Gebäck ließ nach, während mein Hunger auf Gemüse wuchs. Glauben Sie mir, es gibt immer noch vieles, um das ich mich sorge oder in das ich mich hineinsteigere – mein Essverhalten gehört inzwischen allerdings nicht mehr dazu. Mittlerweile ist ein Abendessen nur noch ein Abendessen: nicht mehr und nicht weniger als der Höhepunkt des Tages.

Wie in vielen anderen Familien haben sich auch bei uns zuhause die Kämpfe um das Essen derweil auf den Nachwuchs verlagert. Als eine Mutter, die ihre drei Kinder gesund ernähren möchte, ohne dabei allzu streng zu sein, fühle ich mich manchmal ebenso verloren wie damals in meiner Jugend. Nach dem Abstillen (was schwer genug war) lernten die Kinder das Essen nicht wie von selbst. Wie macht man einem sarkastischen Teenager Gemüse schmackhaft, ohne damit das Gegenteil zu erreichen? Wie reagiert man, wenn 11die eigene Tochter eines Tages nach Hause kommt und verkündet, ihre Freunde würden zukünftig das Mittagessen ausfallen lassen? Wie behält man ein Gefühl für die Menge an Fett und Zucker, die man verzehrt, ohne sich irgendwann den hochgradig verarbeiteten Lebensmitteln zu ergeben, die heute so allgegenwärtig sind?

In der hektischen Zeit nach dem Feierabend und vor dem Zubettgehen stelle ich schnell eine Mahlzeit auf den Tisch, die hoffentlich jedem schmeckt – nur um dann festzustellen, dass sich eines der Kinder über die gegrillten Auberginen darin beschwert, während ein anderes erklärt, das sei ja wohl das Beste am ganzen Gericht, und ein drittes leise vor sich hin weint, weil es Auberginen eigentlich mag, diese aber nun nicht mehr essen kann, weil sie durch das danebenliegende Hühnchen kontaminiert worden sind. Sagte ich etwa, der Höhepunkt des Tages? Trotzdem sind meine Kinder im Vergleich keine schwierigen Esser.

Alle Eltern hegen irgendwann einmal wenigstens kurz den Verdacht, es sei einfach unmöglich, einem Kind ein gesundes Essverhalten beizubringen – zumindest dem eigenen Kind. Oft sind Erwachsene sogar noch pessimistischer, wenn es um ihre Ernährung geht. Die Arbeit an diesem Buch hat mir jedoch gezeigt, dass es sehr viele Möglichkeiten gibt, gesündere Essgewohnheiten auszubilden. Manche mögen dafür länger brauchen als andere; dennoch kann jeder lernen, wie man sich ausgewogener ernährt – was letztlich etwas vollkommen anderes ist, als auf Diät zu sein. Das überzeugendste Argument für ein neues Essverhalten ist wohl der Genuss. Das Essen sollte uns täglich erfreuen; auf keinen Fall sollten wir uns Tag für Tag damit quälen. Es ist schön hier auf der anderen Seite der Kluft. Ich hoffe, Sie werden mir folgen.

13Einleitung

»Ich mag Marmelade, weil sie nicht immer vom Löffel rutscht.«

Russel Hoban, Fränzi mag gern Marmelade

Um unsere Ernährung machen wir uns ständig Sorgen, und die meisten davon schlagen sich in unserer endlosen Suche nach dem vermeintlich perfekten Lebensmittel nieder, das all unsere Gebrechen zu heilen vermag. Iss das! Iss das nicht! Zwanghaft beschäftigen wir uns mit dem Nährstoffgehalt unserer Mahlzeiten: Wie viel Mineralstoffe und wie viel Eiweiß enthält diese Zutat? Wie viel ungesättigte Fettsäuren jene? Wir überfordern uns damit. Nährstoffe sind nur dann von Belang, wenn wir sie tatsächlich zu uns nehmen. Letztlich zählt, wie wir essen und wie wir an das Essen herangehen. Möchten wir unser Essverhalten ändern, müssen wir zunächst die Kunst des Essens selbst neu erlernen, was gleichermaßen eine Sache der Psychologie wie der Ernährungswissenschaft ist. Wir müssen Mittel und Wege finden, um Dinge verspeisen zu wollen, die uns guttun.

Unsere geschmacklichen Vorlieben folgen uns wie tröstliche Schatten. Sie scheinen uns zu sagen, wer wir sind. Vielleicht tun wir deshalb auch so, als wäre unser Geschmack in Stein gemeißelt. Immer wieder versuchen wir mehr oder weniger halbherzig, unsere Essgewohnheiten zu ändern; wir probieren jedoch so gut wie nie, unseren Zugang zum Essen selbst zu überdenken: wie gut wir mit Hunger klarkommen; wie sehr wir dem Zucker verfallen sind; wie wir uns fühlen, wenn man uns nur eine kleine Portion serviert. 14Wir bemühen uns zwar, mehr Gemüse zu essen, versuchen aber nicht, ebendieses Gemüse auch mehr zu schätzen, vielleicht weil fast jeder der Meinung zu sein scheint, dass es einfach unmöglich sei, einen neuen Geschmack auszubilden und alte Gewohnheiten abzulegen. Tatsächlich wäre nichts weiter von der Wahrheit entfernt.

Den Verzehr aller Lebensmittel, die wir regelmäßig verspeisen, haben wir irgendwann erlernt. Zu Beginn unseres Lebens trinken wir alle Milch, aber danach ist alles offen. Bei den Jagdvölkern Tansanias gilt das Knochenmark von Wild als geeignetste erste Kost nach dem Abstillen.1 Kommt man dagegen in Laos im Fernen Osten zur Welt, wird der erste feste Bissen wohl ein von der Mutter vorgekauter und von Mund zu Mund verabreichter Klebereis sein (auf Englisch nennt man das manchmal kiss feeding).2 Der erste Happen westlicher Kinder mag dagegen angerührtes Getreidebreipulver aus dem Karton, pürierte Babynahrung aus dem Glas, gedämpfter und durchpassierter Bio-Kürbis, mit einem hypoallergenen Löffel verabreicht, oder die eine oder andere Gabel vom elterlichen Teller sein. Bis auf Milch gibt es kein Nahrungsmittel für alle – noch nicht einmal für Babys.*

15Vom ersten Lebensjahr an ist der menschliche Geschmack erstaunlich vielfältig. Als Omnivoren fehlt uns das instinktive Wissen, welche Nahrungsmittel sicher und gut für uns sind. Jeder einzelne muss seine Sinne nutzen, um selbst herauszufinden, was genießbar ist und was nicht. In vielerlei Hinsicht ist das ein überaus erfreuliches Unterfangen und außerdem der Grund dafür, warum es auf der Welt so wunderbar unterschiedliche Küchen gibt.

Einer weiteren Konsequenz unseres Allesfresser-Daseins schenken wir jedoch bei weitem nicht genug Beachtung: Anders als beispielsweise das Atmen beherrschen wir das Essen nicht von Geburt an. Wir müssen es erst erlernen. Füttern Eltern ihr Kind, bringen sie ihm gleichzeitig bei, wie etwas zu schmecken hat. Auf grundlegendster Ebene bedeutet das: Wir müssen das Wissen darüber, was essbar und was giftig ist, erst erwerben. Wir müssen lernen, wie wir unseren Hunger stillen und wann wir mit dem Essen aufhören sollten. Im Gegensatz zum Ameisenbär, der nur die winzigsten Insekten frisst, verfügen wir kaum über natürliche Instinkte, auf die wir uns verlassen könnten. Aus all den Wahlmöglichkeiten, die wir als Omnivoren haben, müssen wir die herauspicken, die gut, die hervorragend und die überhaupt nicht schmecken. Aus diesen Vorlieben und Abneigungen erstellen wir dann ein ganz persönliches Geschmacksprofil, so einzigartig wie eine Handschrift.

So ist es jedenfalls einmal gewesen. In der heutigen Esskultur entwickeln bedeutend mehr Menschen als früher einen beunruhigend gleichförmigen Geschmack. Zwei Verbraucherwissenschaftler erklärten 2010, dass die Geschmackspräferenzen der Kindheit einen neuen Einblick in die Entwicklung von Übergewicht gewährten. Sie wiesen auf einen »Teufelskreis« hin: Unternehmen forcierten die Produktion von Nahrungsmitteln mit einem hohen Salz-, Zucker- und Fettgehalt. Kinder gewöhnten sich an diesen 16Geschmack, weshalb die Firmen mehr und mehr Produkte dieser Art auf den Markt werfen, »die eine ungesunde Ernährung begünstigen«.3 Den größten Einfluss auf den Geschmack eines Kindes haben mittlerweile nicht mehr die Eltern, sondern Lebensmittelkonzerne, deren Erzeugnisse trotz der Illusion endloser Auswahlmöglichkeiten tatsächlich eher eintönig schmecken, besonders im Vergleich zu den abwechslungsreichen Aromen der traditionellen Kochkunst.

Kürzlich war ich mit einem meiner Kinder im Kino. Wir gingen zum Eisstand, und ich erkannte mit Schrecken, dass abgesehen vom Vanilleeis so gut wie alle Sorten auf die eine oder andere Weise Schokolade enthielten. Wollten wir lieber Minze mit Schokoladenstückchen, Kirsche mit Schokoladenstückchen, Schokolade mit Schokokeksstückchen oder Karamell mit Karamellschokoladenstückchen? Das Gefährliche an einer Kindheit umgeben von all diesen süßen und salzigen Leckereien ist nicht etwa, dass wir von Natur aus nicht widerstehen könnten, sondern dass wir uns mehr und mehr an diese Aromen gewöhnen, je öfter wir etwas Ähnliches verzehren, und irgendwann davon ausgehen, alles hätte so zu schmecken.

Sobald man allerdings verstanden hat, dass geschmackliche Vorlieben erlernt werden, scheinen viele der Verhaltensweisen, mit denen wir uns dem Essen nähern, auf einmal recht merkwürdig zu sein. Um ein Beispiel zu nennen: Denken Sie nur an all die Eltern, die sich die größte Mühe geben, Gemüse in den Mahlzeiten ihrer Kinder zu »verstecken«. Ist Brokkoli wirklich so schrecklich, dass er vor unschuldigen Kinderaugen verborgen werden müsste? Ganze Kochbücher widmen sich diesem Thema. Alles beginnt mit der Annahme, Kinder würden von Natur aus kein Gemüse mögen und äßen es nur, wenn sie sich dessen nicht bewusst wären, beispielsweise wenn man es ihnen püriert in einer Pasta-Sauce oder eingebacken in einer Süßspeise serviert. Niemals könnten sie lernen, eine Zucchini einfach nur um ihrer selbst willen zu mögen. In unserem 17gehetzten, übermüdeten Zustand fällt es uns Eltern oft schwer, auf Langfristigkeit zu setzen. Wir halten uns für clever, weil es uns gelingt, ein wenig Rote Beete in einen Kuchen zu schmuggeln. »Ha, reingelegt!«, denken wir dann. Weil das Kind aber gar nicht weiß, dass es das Wurzelgemüse gerade verspeist, erreichen wir mit solchen Methoden häufig nur das Gegenteil, denn wir steigern die kindliche Lust auf Süßes. Es wäre dagegen sehr viel klüger, dem Nachwuchs dabei zu helfen, zu Menschen zu werden, die Gemüse gerne und freiwillig essen.

Weil wir nicht erkennen, dass unser Essverhalten erlernt ist, missverstehen wir die Natur der derzeitigen Ernährungskrise. Mit prophetischen, den drohenden Untergang ankündigenden Worten erinnert man uns in regelmäßigen Abständen daran, dass unsere Ernährung in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Wandel zum Schlechten durchgemacht hat. Im Jahr 2010 gingen zehn Prozent aller Todes- und Krankheitsfälle weltweit auf unzureichende Bewegung und schlechte Ernährung zurück – mehr als dem Rauchen oder der Luftverschmutzung durch offene Feuerstellen in geschlossenen Räumen zum Opfer fielen (6,3 Prozent gegenüber 4,3 Prozent).4 Etwa zwei Drittel der Bevölkerung wohlhabender Länder sind übergewichtig oder gar adipös, wobei der Rest der Welt schnell aufholt. Üblicherweise folgern die Menschen daraus, dass wir dem süßen, salzigen und fettigen Essen, für das die Nahrungsmittelindustrie so unablässig wirbt, einfach nicht widerstehen könnten. Alles schmeckt besser mit Speck. Wie der Journalist Michael Moss 2013 enthüllte, entwickeln die großen Lebensmittelkonzerne Speisen mit einem chemisch austarierten »Glückspunkt«, der uns süchtig macht.5 Die Medien sagen uns manchmal eine Zukunft voraus, in der das Übergewicht in der Bevölkerung immer weiter zunehmen wird, bis schließlich jeder Mensch auf der Welt davon betroffen ist.

Eine Sache bleibt jedoch meist unerkannt: Nicht jeder ist gleichermaßen anfällig für die Tücken unseres Lebensmittelangebots. 18Manchen gelingt es, Fett, Salz und Zucker in moderaten Mengen zu sich zu nehmen und dann einfach aufzuhören. Andere halten die angeblich so unwiderstehlichen Speisen für alles andere als appetitlich. Wenn zwei Drittel der Bevölkerung übergewichtig sind, bedeutet das im Umkehrschluss auch, dass es ein ganzes Drittel nicht ist. Das ist schon erstaunlich, denkt man an die vielen Möglichkeiten, die es heutzutage gibt, einen Doughnut aufzutreiben. Obwohl diese Glückspilze denselben Nahrungsmitteln ausgesetzt sind, denen wir uns heute nahezu überall gegenübersehen, haben sie einen anderen Umgang damit gefunden. Herauszufinden, wie ihnen das gelungen ist, sollte in unser aller Interesse sein.

Viele, die sich für eine ausgewogene Ernährung engagieren, meinen, selbst den Kochlöffel zu schwingen, sei die Antwort. Wenn man den Kindern nur beibringen würde, wie man ein Essen zubereitet und das Gemüse dafür im eigenen Garten anbaut, würden sie sich bald ganz von allein gesünder ernähren. Das klingt überzeugend, denn Schulgärten sind in der Tat etwas sehr Schönes. Sie allein reichen jedoch nicht aus, um ein Kind an ausgewogene Mahlzeiten heranzuführen. Das Problem ist nämlich nicht nur, dass wir nicht wissen, wie man Nahrung anbaut und kocht – so wichtig das auch sein mag –, sondern auch, dass wir nicht gelernt haben, wie man sich gesund ernährt, um glücklicher und zufriedener zu sein. Die traditionellen Küchen dieser Welt basieren auf ausbalancierten Aromen und Nährwerten und kennen Normen und Konventionen dazu, welche Speisen zusammenpassen und wie viel jemand zu bestimmten Tageszeiten verzehren sollte. Die meisten Menschen kochen mittlerweile aber nicht mehr so. Nach meiner Erfahrung als Gastro-Journalistin neigen Köche und Food-Autoren tatsächlich eher zu maßlosem Essen und anderen Essstörungen als die restliche Bevölkerung. Damit das Kochen selbst zur Lösung unseres Ernährungsproblems werden kann, müssen wir erst unsere Herangehensweise an das Essen selbst überdenken. Wenn man am liebsten doppelt frittiertes Hähnchen, Baba au rhum (mit ge19schmolzenem Zucker und Rum getränkter Napfkuchen) oder typisch französisches Aligot (Kartoffelpüree mit Unmengen an Käse) zubereitet, dann ist das Kochen allein kein Garant für Gesundheit.

Eine gesunde Ernährung fällt vielen von uns so schwer, weil wir es nie gelernt haben. Wie Kinder essen die meisten von uns nur das, was sie mögen, und mögen nur das, was sie kennen. Niemals gab es so viele Menschen auf der Welt, die das Essen in einer Zeit erlernt (oder verlernt) haben, in der kalorienreiche Mahlzeiten derart allgegenwärtig sind, während gleichzeitig kaum Regeln zu Portionsgrößen und Essenszeiten existieren. Ebenso wenig ist maßloses Essen das einzige Problem unserer modernen Wohlstandsgesellschaft. Laut Statistiken sind rund 0,3 Prozent aller jungen Frauen magersüchtig; ein weiteres Prozent leidet an Bulimie. Die Zahl der essgestörten Männer steigt ebenfalls.6 Die Statistiken verraten uns jedoch nicht, wie groß der Anteil der Menschen ist, die sich unabhängig von ihrem tatsächlichen Gewicht ständig um das Essen sorgen, sich vor Kohlenhydraten oder Fetten fürchten und nicht mehr in der Lage dazu sind, eine Mahlzeit einfach nur zu genießen. Laut den Ergebnissen einer im Jahr 2003 durchgeführten Studie, an der 2200 amerikanische Hochschulstudenten teilnahmen, sind Ängste um das eigene Gewicht weit verbreitet: 43 Prozent der befragten Studenten beiderlei Geschlechts machten sich unablässig Gedanken um ihr Essverhalten; 29 Prozent der Probandinnen gaben an, sie seien »besessen« von ihrem Gewicht.7 Oft tun die Leute so, als wäre unsere Ernährungskrise gottgegeben und unser Appetit auf Hamburger unumstößlich: Diäten funktionieren nicht; Zucker macht süchtig usw. Wir vergessen dabei, dass wir als Omnivoren sehr wohl dazu in der Lage sind, unser Essverhalten zu ändern, um uns verschiedenen Umweltbedingungen anzupassen. Zugegebenermaßen hat kein Mensch zuvor sich jemals einem Angebot gegenübergesehen, das unserer heutigen, von billigen Kalorien in trügerischen Verpackungen überschwemmten Auswahl auch nur 20im Entferntesten ähnlich gewesen wäre. Um heutzutage überleben zu können, bedarf es ganz anderer Fertigkeiten als derer der steinzeitlichen Jäger und Sammler. Dennoch gibt es allen Grund zur Annahme, dass wir uns die nötigen Fähigkeiten aneignen können, wenn wir uns nur die Chance dazu geben.

Wenn unser Essverhalten erworben ist, dann lässt es sich auch neu erlernen. Stellen Sie sich vor, Sie wären als Kind von Menschen adoptiert worden, die in einem abgelegenen Dorf am anderen Ende der Welt leben. Ihr Geschmack sähe vollkommen anders aus als Ihr jetziger. Wir alle kommen mit einer Vorliebe für Süßes und einer Abneigung gegen Bitteres zur Welt, doch das bedeutet physiologisch gesehen nicht automatisch, dass wir in ständiger Furcht vor Gemüse und mit riesigem Appetit auf Karamell heranwachsen müssten. Leider erkennen wir das oft aber nicht.

Meine These in Essen lernen lautet daher: Die Lösung des Rätsels, warum die Ernährung so vieler Menschen dermaßen aus dem Ruder gerät, liegt in unserem Essverhalten, ob individuell oder kollektiv. Das moderne Gesundheitswesen muss die überaus schwierige Frage lösen, wie die Menschen davon überzeugt werden können, bei den Mahlzeiten eine klügere Wahl zu treffen. Bislang haben wir an den falschen Stellen nach einer Antwort gesucht.

In unseren Debatten zur gesunden Ernährung geht es normalerweise um eine bessere Versorgung mit Informationen. In unendlich vielen Artikeln und Büchern heißt es, das Übergewicht nehme vor allem deshalb zu, weil man uns die falschen Ratschläge erteilt: Fett sollten wir tunlichst meiden, obwohl Zucker der wahre Übeltäter sei.8 Da ist etwas dran. Mit Sicherheit war es nicht sonderlich hilfreich, dass viele der sogenannten »Light«-Produkte, die im Laufe der letzten Jahrzehnte als besonders gesund vermarktet wurden, in Wirklichkeit eine große Menge Kohlenhydrate enthielten, weshalb sie letztlich dicker machten als die Fette, vor deren Verzehr wir so dringend gewarnt wurden.9 Während dieser Zeit ermahn21ten uns die Ernährungswissenschaftler, auf gesättigte Fette, wie sie beispielsweise in Butter, Sahne oder Fleisch enthalten sind, möglichst zu verzichten; dennoch nahmen die Menschen ständig zu. Tag für Tag wird deutlicher, dass Fett allein nicht zur Ausbildung von Übergewicht oder zur Entwicklung einer Herzkrankheit führt.

Bevor wir jedoch dazu übergehen, der verwirrenden Empfehlung, möglichst wenig Fett zu uns zu nehmen, die Schuld für unseren schlechten Gesundheitszustand in die Schuhe zu schieben, mag es sinnvoll sein, einmal darüber nachzudenken, inwieweit wir diesen Warnungen vor fettreichem Essen tatsächlich Folge leisteten. Die meisten Leute hörten die Worte der »Ernährungspolizei« zwar, entschieden sich jedoch dafür, sie lieber zu ignorieren. Im Jahr 1998, auf dem Höhepunkt der Low-Fat-Bewegung, verfassten einige der weltweit führenden Ernährungswissenschaftler einen Bericht, in dem sie den Umstand beklagten, dass die meisten Menschen ihre Ratschläge nicht beachteten. Die Forscher entdeckten zu ihrer großen Sorge, dass die Leute auch nach zwei Jahrzehnten der Empfehlungen immer noch »in etwa dieselbe Menge« Fett zu sich nahmen. Der Prozentsatz an Kalorien, der in Form von Fett aufgenommen wurde, sank in der amerikanischen Bevölkerung zwischen 1965 und 1991 zwar leicht (von 36-37 Prozent im Jahr 1965 auf 34 Prozent im Jahr 1991), das lag jedoch vor allem daran, dass die Zahl der verzehrten Gesamtkalorien im selben Zeitraum insgesamt stieg. Absolut gesehen blieb der Anteil an Fett in der Ernährung also ungefähr gleich.10

David L. Katz vom Yale University Prevention Center gehört zu den wenigen vernünftigen Stimmen in der lärmenden Welt der Ernährung. Er stellt sich der weit verbreiteten Ansicht entgegen, laut der wir gerade deshalb nicht gesünder essen, weil zu viel Verwirrung über die tatsächlich »beste Ernährungsform« herrscht. Katz weist darauf hin, dass die Grundpfeiler einer gesunden Lebensweise – angemessene Portionen möglichst unterschiedlicher, naturbelassener Produkte und regelmäßige sportliche Aktivität – seit Jahrzehn22ten wohl bekannt seien. Medizinische Befunde deuten darauf hin, dass es unerheblich ist, ob wir diesen Punkt durch fett- oder kohlenhydratarme Kost erreichen (oder mit Hilfe einer veganen Ernährung, einer Paleo-Diät oder der guten alten Hausmannskost).11 Unabhängig davon, welchen Weg man letztlich geht, gibt es laut Katz eine »hohe Beweisdichte« dafür, dass die gesündeste Ernährung aus möglichst unbehandelten, größtenteils pflanzlichen Nahrungsmitteln besteht. »Unser Problem«, schreibt Katz, »ist nicht etwa mangelndes Wissen über die Bedürfnisse des Homo Sapiens, sondern ein gleichermaßen erstaunlicher wie tragischer kultureller Widerwillen, dieses Wissen auch umzusetzen.«12

Nehmen wir zum Beispiel das Gemüse. Die Empfehlung, mehr Gemüse zu essen, weil es gesünder ist, könnte deutlicher nicht sein. Diese Botschaft wurde uns viele Male auf unterschiedlichste Weisen mitgeteilt. Anders als bei Zucker oder Fett gibt es bei Gemüse keine Kehrtwenden und keine Kontroversen. Und dennoch ist die Kalorienaufnahme über den Gemüseverzehr seit den 1930er Jahren in den Vereinigten Staaten von Amerika um drei Prozent gesunken, was in Wirklichkeit sogar einen noch größeren Rückgang bedeutet, als auf den ersten Blick ersichtlich, weil Gemüse im Vergleich zu anderen Lebensmitteln bedeutend weniger Kalorien enthält.13 Dieser Rückgang ereignete sich zu einer Zeit, als mehr verführerische Gemüsesorten auf den Märkten erhältlich waren als jemals zuvor, von leuchtend organgefarbenen Butternusskürbissen bis hin zu blassgrünem Romanesco. Viele hatten jedoch die Lektionen ihrer Kindheit verinnerlicht, laut denen Gemüse und Genuss – oder allgemeiner formuliert: gesundes Essen und Genuss – einfach nicht zusammenpassten. Denken Sie nur an die Wellen der Empörung, die über Personen des öffentlichen Lebens wie Michelle Obama hereinbrechen, wenn sie den Vorschlag zu machen wagen, mehr Gemüse zu verzehren. Laut den Erkenntnissen von Verbraucherwissenschaftlern lässt sich ein Produkt besser vermarkten, wenn es als »neu« und nicht als »gesund« tituliert wird.14

23Geht es um unser Essverhalten, klafft eine riesige Lücke zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissen und Tun. »Essen Sie nicht zu viel und nehmen Sie größtenteils pflanzliche Nahrung zu sich«, rät Michael Pollan.15 Dieses eigentlich kluge und einfache Mantra wurde oft wiederholt; dennoch scheint die Umsetzung im Alltag für viele alles andere als einfach zu sein. Damit das trotzdem gelingt, ist Folgendes zu beachten: »Man sollte sich an echtem Essen erfreuen, aber nicht an dem Gefühl eines zu vollen Magens. Gemüse sollte man ebenfalls mögen.« Diese Fähigkeiten haben viele noch nicht erworben, ganz egal, wie alt oder intelligent sie auch sein mögen. Außerdem steht ein weiteres Hindernis im Weg. Der erste Teil von Pollans Ratschlag, in dem es darum geht, nicht zu viel zu essen, sollte insofern ergänzt werden, dass auch all jene Essgewohnheiten darunterfallen, bei denen zu wenig oder zu wenig vom Richtigen verzehrt wird. Damit meine ich nicht nur Untergewicht. »Mangelernährung« kann heutzutage bei Über- wie Untergewichtigen auftreten, und es gibt Hinweise, dass Übergewichtige auf der ganzen Welt besonders oft an Nährstoffmangel leiden, vor allem wenn es um Vitamin A und D sowie Eisen und Zink geht.16 Eine bessere Ernährung bedeutet also nicht, allgemein weniger zu essen. Während wir von manchen Dingen zweifellos weniger vertragen könnten – man denke nur an den Zucker –, sollten wir von anderen dagegen deutlich mehr verzehren. Neben weiteren traditionellen Weisheiten, beispielsweise »sich nicht den Appetit zu verderben« oder »das Essen nicht herunterzuschlingen«, scheinen wir das altmodische Konzept verlernt zu haben, uns mit unserem Essen »zu hegen und zu pflegen«.

Geht es um Übergewicht, schleicht sich oft eine abweisende Ungeduld in das Gespräch mit ein. »Das ist doch keine Atomphysik«, heißt es oft in den Internet-Kommentarspalten der Zeitungen, und besonders häufig stammen solche Aussagen von den paar Glücklichen, die nie mit einer Ernährungsumstellung zu kämpfen hatten. Gern folgt dann der Hinweis, dass man doch nur »weniger essen 24und sich mehr bewegen« müsse. Dabei wird impliziert, dass all jene, denen ebendies nicht gelingt, nicht stark oder klug genug wären, um es zu schaffen. Denken Sie jedoch einmal über Folgendes nach: Amerikanische Feuerwehrmänner, denen es generell nicht an Mut oder Intelligenz mangeln sollte, sind mit einem Anteil von 70 Prozent bedeutend häufiger leicht bis stark übergewichtig als der Rest der US-amerikanischen Bevölkerung.17 Die Art und Weise, wie wir essen, spiegelt nicht etwa unseren Wert wider, sondern geht auf die Gewohnheiten und Vorlieben zurück, die wir uns im Laufe unseres Lebens aneignen. Wie der Philosoph Caspar Hare bereits sagte: »Es ist nicht so einfach, alte Gewohnheiten abzulegen.«18

Sobald wir die Tatsache akzeptieren, dass wir unser Essverhalten erlernen, erkennen wir, dass die Herausforderung nicht etwa aus der Verarbeitung von Informationen, sondern aus dem Erwerb neuer Essgewohnheiten besteht. Die Behörden versuchen der zunehmenden Fettleibigkeit mit immer neuen, gut gemeinten Ratschlägen Herr zu werden. Ein guter Rat allein hat einem Kind aber noch nie zu einer besseren Ernährung verholfen. (»Ich empfehle dir dringend, deinen Kohl aufzuessen und danach ein Glas Milch zu trinken.«) Es ist schon erstaunlich, dass wir trotzdem glauben, dieselbe Methode funktioniere bei Erwachsenen. Ein Kind macht sich ein gesundes Essverhalten vor allem dadurch zu eigen, dass die Eltern mit gutem Beispiel vorangehen, Begeisterung zeigen und ihrem Nachwuchs geduldig eine große Auswahl gesunder Speisen anbieten. Sollte das nicht genügen, behilft man sich eben mit einer Lüge. In Ungarn werden Kindern Karotten mit der Behauptung schmackhaft gemacht, nach dem Verzehr könnten sie besser pfeifen. Der Punkt ist der: Bevor man zum Möhrenliebhaber wird, muss man das Gemüse aber überhaupt erstmal essen.

Als das vorliegende Buch nach und nach in meinem Kopf Gestalt anzunehmen begann, dachte ich noch, es würde darin um die Ernährung von Kindern gehen. Langsam, aber sicher erkannte ich 25jedoch, dass die Freuden und die Leiden, die in unserer Kindheit unsere Mahlzeiten bestimmen, oft auch unser Leben als Erwachsene prägen. Als erwachsener Mensch belohnen wir uns vielleicht weiterhin mit Süßigkeiten, so wie es einst unsere Eltern taten, und »essen unseren Teller leer«, obwohl niemand mehr da ist, um uns darauf hinzuweisen. Wir vermeiden weiterhin alles, wovor wir uns ekeln, obwohl wir immerhin mittlerweile wissen, dass wir Essen nicht so einfach unter den Tisch fallen lassen dürfen, sobald keiner hinschaut. Man stelle einen Geburtstagskuchen mit angezündeten Kerzen auf den Tisch, und sofort werden alle wieder zum Kind.

Eine der Fragen, mit denen ich mich beschäftigen wollte, lautete, ob der Mensch mit bestimmten, festgefügten Vorlieben und Abneigungen zur Welt kommt. Während ich mich in der Bibliothek durch eine nicht enden wollende Zahl wissenschaftlicher Texte wühlte, erwartete ich eigentlich, auf enorme Meinungsverschiedenheiten zwischen denen zu stoßen, die davon ausgingen, gewisse Geschmäcker seien von Geburt an vorhanden, und denen, die der Meinung waren, Geschmackspräferenzen seien erlernt: Natur gegen Erziehung. Zu meiner großen Überraschung entdeckte ich jedoch, dass dies nicht der Fall war. Stattdessen herrschte unter Psychologen, Neurowissenschaftlern, Anthropologen und Biologen die fast einhellige Meinung vor, dass unser Appetit auf bestimmte Lebensmittel erworben sei.19 Wie man sich vorstellen kann, existiert abgesehen von dieser recht allgemeinen Übereinkunft jedoch einige wissenschaftliche Diskrepanz, beispielsweise sobald es darum geht, ob unsere Hassliebe zu bitterem Gemüse wie Rosenkohl Veranlagung ist oder nicht. Außerdem ist man sich uneins, inwieweit unsere Essgewohnheiten von bestimmten Genen, Hormonen und Neurotransmittern abhängen. Die grundlegende Erkenntnis, nach der menschliches Essverhalten erlernt ist, steht jedoch nicht zur Debatte.

Dieser wissenschaftliche Konsens ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, dass er vom genauen Gegenteil dessen ausgeht, was 26wir im Alltag so annehmen. Die Grundprämisse, die merkwürdigerweise nicht nur diejenigen teilen, die sich an einer gesünderen Ernährung versuchen, sondern auch die Ernährungsberater, die ebendiesen Menschen zu einem besseren Essverhalten verhelfen sollen, lautet, dass wir aufgrund unserer biologischen Veranlagung einfach dazu verurteilt sind, dem Junkfood zu verfallen. Das Ganze hört sich normalerweise ungefähr so an: Im Laufe tausender Jahre spezialisierte sich unser Gehirn darauf, Süßes herauszuschmecken, damit wir in der Wildnis essbare Früchte von giftigen Pflanzen unterscheiden konnten. In der heutigen Zeit, in der Zucker im Überfluss vorhanden ist, sind wir aufgrund unserer biologischen Disposition vollkommen machtlos, wenn es um die Versuchungen solch »unwiderstehlicher« Speisen geht – so sagt man jedenfalls. Wir wissen, dass beim Verzehr einer Süßspeise die Bereiche im Gehirn angeregt werden, die für das Genussempfinden zuständig sind, und dass Zucker ähnlich wie Alkohol und andere Drogen als Schmerzmittel wirkt. Steinzeitgehirn + moderne Nahrung = Katastrophe.

Es fehlt jedoch folgender Hinweis: Ungeachtet dessen, dass die Vorliebe für Süßes allen Menschen und Kulturen gemein ist, zeigen wir bei Süßigkeiten und anderen stark verarbeiteten Lebensmitteln sehr unterschiedliche Reaktionen. In einer Studie aus dem Jahr 2012, in der es um geschmackliche Vorlieben ging, findet sich der Hinweis, dass wir »bezüglich der Wahrnehmung von, der Vorliebe für, dem Wunsch nach und der Menge der verzehrten Süßigkeiten« voneinander abweichen.20 Verschiedene Menschen mögen Süßes in unterschiedlicher Form. »Etwas Süßes« kann einen ganzen Maiskolben im Hochsommer ebenso umfassen wie einen Teller milchig-weißer Mozzarella oder eine bei niedriger Temperatur langsam karamellisierte Fenchelknolle. Wir alle mögen den Appetit auf Süßes gemein haben; der große Unterschied liegt jedoch darin, wie wir diesen zu stillen lernen. Anders formuliert: Nicht jeder wünscht sich seinen Zuckerkick in Form von Froot Loops.

Ernährungswissenschaftler benutzen den Begriff »wohlschme27ckend« für Lebensmittel mit einem hohen Zucker-, Salz- oder Fettgehalt, als wäre es vollkommen unmöglich, einen Teller knackigen grünen Gemüses, angemacht mit einem Dressing aus Tahini-Paste, lieber zu mögen als eine Familienpackung Schokolade. Und dennoch schafft es ein Drittel der Bevölkerung trotz seines Steinzeitgehirns, sich wunderbar in der modernen Welt zurechtzufinden und aus den verfügbaren Lebensmitteln einen ausgewogenen Speiseplan zusammenzustellen.

Damit möchte ich nicht sagen, dass ein dünner Körper zwangsläufig gesünder wäre. Manche scheinbar normalgewichtigen Menschen leiden vielleicht an Magersucht oder Bulimie. Andere unterdrücken ihren Hunger mit Kaffee und Zigaretten oder verbrennen die durch Junkfood angefutterten Kalorien durch maßlose sportliche Aktivität. Sprechen wir von der »Epidemie Fettsucht« und reden daraufhin allen, die abzunehmen versuchen, ein noch schlechteres Gewissen ein, übersehen wir, dass die Dinge viel komplizierter sind, als die Gleichung dünn = gut, dick = schlecht erahnen ließe. Professor Robert Lustig, führender Experte für die Auswirkungen von Zucker auf den menschlichen Organismus, weist darauf hin, dass 40 Prozent aller Normalgewichtigen unter denselben Stoffwechselstörungen leiden wie Übergewichtige: Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Demenz. Gleichzeitig bleiben 20 Prozent aller Übergewichtigen von diesen Krankheiten verschont und haben eine normale Lebenserwartung.21

Wir können also nicht davon ausgehen, dass jeder »Normalgewichtige« einen gesunden Umgang mit dem Essen pflegt. (Nebenbei bemerkt sind diese Menschen mittlerweile in der Minderheit, weshalb wir vielleicht aufhören sollten, sie als »normal« zu bezeichnen. Wie wäre es stattdessen mit »ungewöhnlich«?) Die Sache ist komplizierter, als ein bloßer Blick auf die Zahlen offenbart. Dennoch wage ich die Prognose, dass uns dieses ungewöhnliche Drittel der Bevölkerung etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Viele Millionen 28Menschen schwimmen gegen den Strom, wehren sich gegen das schlechte Lebensmittelangebot der heutigen Zeit und wissen sich recht gut zu ernähren. Es gibt Leute, die essen an einem heißen Tag ein Eis, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben; lehnen ein Sandwich automatisch ab, weil noch nicht Mittagspause ist; essen, wenn sie hungrig sind, und hören auf, wenn sie satt sind; oder finden, dass ein Gericht ohne Gemüse keine richtige Mahlzeit ist. Diese Menschen haben das Essen auf eine Weise erlernt, die sie in unserer modernen Überflussgesellschaft zu schützen vermag.

Aus verhaltensbiologischer Sicht gehört das Essen zu den klassischen Beispielen für erlerntes Verhalten: Es gibt einen Reiz, beispielsweise einen mit Aprikosenmarmelade glasierten Apfelkuchen. Darauf folgt eine Reaktion: Appetit. Schließlich kommt es aufgrund des sinnlichen Vergnügens und der körperlichen Befriedigung, die sich beim Verzehr des Kuchens einstellt, zur Verstärkung des Reizes. Aufgrund dieser Verstärkung greift man zu mehr Apfelkuchen, sobald sich die Gelegenheit dafür ergibt. Je nachdem, wie gut man sich außerdem nach dem Verzehr des Kuchens fühlt, wird man das Gebäck in Zukunft gegenüber anderen Speisen bevorzugen. Es ist durchaus möglich, Laborratten beizubringen, weniger süßes Futter zu mögen, wenn es energiereicher und der Verzehr deshalb befriedigender ist. Das nennt man Konditionierung durch Nahrung.22

Wir wissen, dass vieles bei unserer Suche nach Essbarem vom Dopamin abhängt, einem Neurotransmitter, der oft auch als »Glückshormon« bezeichnet wird.23 Es kommt zur Ausschüttung dieses Stoffs, sobald man etwas Zufriedenstellendes tut, beispielsweise etwas Gutes isst, einen Brandy trinkt oder einen geliebten Menschen küsst. Dopamin gehört zu den Botenstoffen, die dem Gehirn sagen, dass man gerade Spaß hat. Die Dopamin-Ausschüttung ist also einer der Mechanismen, mit denen unsere geschmacklichen Vorlieben in unser Gehirn »gebrannt« und so zu einer Gewohn29heit werden. Bei Versuchstieren, denen eine gewisse Vorliebe für bestimmtes Futter antrainiert wurde, reicht oft schon der Anblick der jeweiligen Speise aus, um das Dopamin im Körper freizusetzen. Affen reagieren bereits mit einem erhöhten Dopamin-Spiegel, wenn sie eine glücksverheißende Banane nur sehen. Die zu erwartende Hormonausschüttung bringt Ratten im Labor dazu, den Hebel zu drücken, um an das gewünschte Futter zu gelangen.

Nun sind Menschen natürlich keine Laborratten.* Bei uns ist das Reiz-Reaktions-Schema der Nahrungsmittelaufnahme ebenso komplex wie unser soziales Umfeld, in dem wir zu essen lernen. Laut Berechnungen machen wir bis zu unserem 18. Geburtstag 33 000 unterschiedliche Lernerfahrungen mit dem Essen (ausgehend von fünf Mahlzeiten am Tag). Das menschliche Verhalten wird nicht allein von Ursache und Wirkung bestimmt, denn Menschen sind keine passiven Objekte, sondern außergewöhnlich soziale Wesen. Unsere Konditionierung erfolgt oft indirekt. Wir lernen nicht allein dadurch, dass wir essen, sondern auch dadurch, dass wir anderen beim Essen zuschauen, sei es in unserer Familie, in der Schule oder im Fernsehen.

Während Kinder ihre Beobachtungen machen und sich so ihr Wissen aneignen, erwerben sie neben einem eigenen Geschmack viele andere Erkenntnisse über das Essen. Eine Laborratte vermag einen Hebel zu betätigen, um eine süße Belohnung zu erhalten, doch bedarf es eines so merkwürdigen und komplizierten Wesens wie des Menschen, um die Nahrungsaufnahme mit Gefühlen wie Scham oder Schuld zu belegen. Bevor wir den ersten Bissen einer Speise zu uns nehmen, sind wir das Ganze im Geiste wahrscheinlich schon Dutzende Male durchgegangen. Die Entscheidung, wann, was und wie viel wir essen, geht über bloße Reize wie Hunger und Hormone hinaus und erstreckt sich in Bereiche des Ritu30als (Eier zum Frühstück), der Kultur (Hotdogs bei einem Baseballspiel) und der Religion (Geflügel zur christlichen Weihnacht, Lamm zum islamischen Opferfest).

Ich erkannte schnell, dass ich die Antworten auf die Frage, wie wir zu essen lernen, nicht finden würde, wenn ich nicht auch unser allgemeines Essverhalten untersuchte, das von unseren Mahlzeiten, unserer Küchenkultur, unseren Eltern, unserem Geschlecht und gewissen Eigenschaften unseres Gehirns abhängt.

Unsere modernen Essgewohnheiten sind voller Widersprüche. Die Last religiöser Schuld, die uns in unserem Privatleben nach und nach von den Schultern genommen wurde, hat sich merkwürdigerweise in sehr viel stärkerem Ausmaß auf die Ernährung übertragen. Wie die heuchlerischen Prediger der Abstinenzbewegung dämonisieren wir viele der Speisen, die wir am häufigsten verzehren, und hadern deshalb mit unserem Appetit. Unzählige Gerichte, von Fleisch bis Süßigkeiten, die früher einmal den Festtagen vorbehalten waren, sind mittlerweile alltäglich geworden. Das bedeutet nicht nur, dass wir zu viel davon zu uns nehmen, sondern auch, dass sie einen Großteil ihres besonderen Charakters verloren haben.24 Der Gedanke, zwischen den Mahlzeiten nichts zu essen, erscheint heutzutage als ebenso altmodisch wie die Gepflogenheit, das Haus nicht ohne Hut zu verlassen.

Während sich der Nährstoffgehalt unserer Lebensmittel in den letzten 50 Jahren stark veränderte, passten sich unsere Essgewohnheiten nicht schnell genug an diese neuen Umstände an. Geht es um die Ernährung von Kindern, greifen Eltern weiterhin auf eine Vielzahl traditioneller Weisheiten zurück – beispielsweise, wenn sie den Nachwuchs dazu ermahnen, ihren Teller leerzuessen –, obwohl diese Gebräuche aus Zeiten stammen, als der Hunger ein ständiger Begleiter war. Wie wir sehen werden, tragen solche von China bis Kuwait üblichen Methoden indirekt zum steigenden Übergewicht von Kindern bei.

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