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Die Geschichte

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Danke

Fünfundzwanzig

Viel zu schnell hetzten sie über die Spielstraße der Siedlung. Vorneweg Manfred Hanraths, der in bester Stimmung seine wöchentliche Radtour anführte.

Noch.

Manfred fragte sich bisweilen, warum ausgerechnet er sich das jeden Mittwoch antat. Immerhin war er mit 49 durchweg einer der ältesten Teilnehmer. Seine offiziellen 103 Kilo sah man ihm zwar auf den ersten Blick nicht an, aber sein Übergewicht machte ihm trotzdem keine Freude. Vor allem brachte er meist echte 108 Kilogramm auf die Waage und mit denen fuhr er ohne große Probleme vorneweg. Aber die wenigen Hügel am Niederrhein und so mancher lange Brückenaufstieg ließen ihn ganz schön keuchen und jedes mal nahm er sich aufs Neue vor, bald mindestens zehn Kilo abzunehmen.

Heute waren sie zu acht unterwegs. Vier Stammgäste, zwei gelegentliche Mitfahrer und der achte, Erwin, Eugen oder Egon war zum ersten Mal dabei. Manfred verfluchte sein schlechtes Namensgedächtnis und nahm sich vor, beim ersten Zwischenstopp in die Teilnehmerliste zu schauen, damit er den Neuen bei nächster Gelegenheit mit seinem richtigen Vornamen ansprechen konnte.

Der Neue redete einfach pausenlos. Seit Minuten schon war Manfred das Opfer und erfuhr gerade, wie viel schöner es doch wäre, in die andere Richtung zu fahren. »Ich kenn’ hier jeden Regenwurm mit Vornamen. Da drüben führt eine wunderschöne Strecke durch den Wald. Sollen wir nicht da mal lang?«

Manfred dachte sich seinen Teil. »Der Kerl nervt langsam. Der ist ja nicht zu stoppen in seinem Redefluss.«

Manfred erhöhte sein Tempo und setzte sich wieder allein an die Spitze der Gruppe. Seine Touren plante er in einem Internetportal, übertrug die ausgearbeitete Route auf sein Smartphone und ließ sich unterwegs von einer App führen. Das klappte meistens hervorragend, nur manchmal, wenn er gerade in Gedanken woanders war, verpasste er einen Abzweig. Das merkten seine Mitfahrer selten, denn mit einem Blick auf sein Handy am Lenker konnte er sie unauffällig wieder auf die vorgesehene Strecke führen.

»Mist!« Manfred ärgerte sich. Jetzt war genau das passiert. Eigentlich hätte er rechts abbiegen müssen, aber er hatte nicht aufgepasst und war geradeaus weitergefahren. Die Sieben waren ihm blind gefolgt und hintereinander her waren sie in hoher Geschwindigkeit von fast 30 Stundenkilometer in die Sackgasse mitten in der Tannengrund-Siedlung gerauscht.

»Weeenden!« Manfred hatte keine Chance seinen Fehler unbemerkt zu korrigieren, bremste abrupt ab und drehte sein Rad danach um 180 Grad.

Ihr neuer Mitfahrer meldete sich wieder zu Wort. »Ja, die Tourennavigation üben wir noch mal.«

Die anderen lachten und Manfred stimmte notgedrungen ein. Sie machten kehrt und plötzlich fuhr der Neue vorneweg und übernahm ungefragt die Führung.

Manfred dachte sich seinen Teil. »Den lass ich jetzt mal, der wird uns schon nicht auf die A36 führen.«

Nicht auf die nahe Autobahn, aber in den Heyderwald lotste der Neue jetzt die Gruppe und genau diesen Weg hätte auch Manfred eingeschlagen. Es hatte seit Tagen nicht einen Tropfen geregnet und der schmale Weg durch den herbstlichen Mischwald war staubtrocken.

Manfred sorgte sich um ihre Sicherheit. Sie waren trotz der Enge auf dem abschüssigen Pfad mit fast 25 Stundenkilometer unterwegs. Darum wies Manfred seine Mitfahrer lauthals darauf hin. »Mehr Abstand!«

Wie gewohnt hatte er vor dem Tourstart die wichtigsten Regeln vorgetragen. »Jeder fährt auf eigenes Risiko. An Kreuzungen niemals „frei“ rufen. In Kurven nie nebeneinander fahren.«

Eigentlich nervten ihn diese Regularien, aber ein Minimum musste sein, vor allem wenn Neue erstmals mitfuhren. Am wichtigsten war die Kurvenregel und die betonte Manfred immer wieder. »Wenn einer mal alleine abschmiert, ist das blöd und der hat dann vielleicht ein paar Schrammen. Wenn ihr aber beim Sturz in einer Kurve jemanden mitreißt, dann kann das richtig richtig weh tun.«

Der Pfad wurde immer schmaler, der Wald immer dichter und dunkler. Ihr neuer Führungsfahrer, gerade wohl in seinem Element, war vier, fünf Meter vor Manfred unterwegs.

»Jetzt übertreibt er es aber. Da kommt gleich das Loch zwischen den beiden Eichen, wenn der weiter so schnell fährt, kann das eng werden.«

Manfreds Bedenken verstärkten sich, er hob kurz die rechte Hand zum Zeichen für die nachfolgenden Fahrer und bremste ein wenig ab. Die kannten das und achteten darauf. Viele laute Kommandos wie „Poller“, „Hund“ oder „Gegen“, letzteres bedeutete „da kommt uns jemand entgegen“, vermied Manfred möglichst. Die Schreierei ging irgendwann eh allen auf die Nerven.

Ihr Vordermann fuhr in unvermindertem Tempo auf die beiden Eichen zu. Plötzlich rutschte sein Mountainbike unter ihm weg und krachte in der Rechtskurve mit erheblicher Wucht in einen Holunderbusch. Der Fahrer selbst hing aufrecht wie fest getackert zwischen den dicken Eichenstämmen.

»Achtung!« Manfred schrie laut auf, versuchte eine Vollbremsung, rutschte aber auch weg, halblinks in die Büsche. Ein paar Holunderbeeren regneten auf ihn herab. Hinter ihm landeten die anderen, jeder für sich, einigermaßen glücklich auf dem Boden. Nur Thorsten erwischte einen spitzen Ast, der sich in seine rechte Wade bohrte. Er versuchte aufzustehen, das klappte erst beim dritten Versuch und er lehnte sich schmerzverzerrt an den nächsten Baum. Der Ast lag nun neben ihm, aber ein abgebrochenes Stück ragte aus seiner Wade. Als er das begriffen hatte, ließ er sich vorsichtig fallen und hockte am Boden wie ein Häufchen Elend.

Werner und Daniel stürzten nach vorne.

»Erich, was um Himmels willen hast du dir dabei gedacht?« Daniel war als erster bei dem Verunglückten, Werner direkt hinter ihm. Dann stoppten beide, schauten sich entsetzt an. Sie konnten das Bild, das sich ihnen bot, kaum fassen.

»Der blutet ja wie ein Schwein, lass mich mal ran.« Werner schob Daniel zur Seite.

»Erich heißt der also.« Manfred hatte gehört, was Daniel rief. Ungläubig versuchte er zu verstehen, was passiert war. Ihr Mitfahrer Erich stand nicht auf seinen Beinen, vielmehr schien es, als klebe er an der rechten Eiche. Sein Kopf hing leicht schräg auf seinem Hals. Blut strömte, nein es spritzte wie mit einer kleinen Wasserpistole geschossen, aus einer Ader.

»Erich! Lass dir helfen!« Werner packte ihn vorsichtig an den Schultern, aber die kleine Bewegung hatte genügt und der scheinbar schwebende Erich brach mit einem gurgelnden Stöhnen unmittelbar vor ihnen zusammen.

»Wir brauchen Hilfe, ich hab kein Handy.« Werner stupste Daniel an. »Ruf die 112. Jetzt!«

Erich lag nun auf dem Rücken, Werner hockte vor ihm und drückte vorsichtig mit seinem Daumen die Wunde zu.

Manfred wusste, Werner war Rettungssanitäter. »Was für ein Glück«, dachte er und sah entsetzt, dass sich auf dem sandigen Boden mehr und mehr rote Flecken bildeten. Ein tiefer Schnitt lag wie eine rubinrote Kette knapp unter dem Kehlkopf um Erichs Hals. Werner schaffte es mühsam den Blutstrom etwas zu lindern. »Ich kann hier am Hals nicht abbinden, wir brauchen meine Kollegen. Und das ganz schnell!«

Daniel hatte mit zittrigen Händen die Verbindung zur Notrufzentrale geschafft und hektisch berichtet, was passiert war. »Wo sind wir? Die wollen wissen wo wir sind.«

Werner meldete sich ruhig aber bestimmt. »Im Wald vor dem Heyder See. Die sehen ja deine Handynummer und können dich per Messenger anstoßen. Dann kannst du unseren Standort senden. Sag denen, dass es auf jede Minute ankommt. Hier besteht Lebensgefahr.«

Daniel führte Werners Anweisung aus, erhielt unmittelbar danach die erbetene Nachricht und sandte ihren Standort an den Mitarbeiter der Notfallzentrale.

Manfred wurde schwarz vor Augen. Er hockte sich hin und legte seinen Kopf nach vorne zwischen die Beine. Das half und langsam konnte er wieder klar denken. Er nahm sein Handy vom Lenker und prüfte ebenfalls ihren Standort. Der blaue Punkt in der Karte zeigte ihm, wo sie gerade waren. Rechts schlängelte sich der Heydbach durchs Gebüsch, wenige 100 Meter nördlich machte er ein großes Anwesen aus, dahinter eine Landstraße, die L197. Er zoomte die Ansicht auf das Anwesen und erkannte eine Beschriftung. Aber die Schrift war zu klein. Manfred wandte sich an Friedel und hielt ihm sein Handy vor die Augen. »Kannst du das lesen? Schau mal!«

Friedel war viel jünger, brauchte noch keine Brille und sah wohin Manfred zeigte. »L197«

»Nein, das Gebäude hier.«

»Ach so. Da steht Kinderheim Sankt Moritz.«

Manfred wählte auch die 112. »Es geht um den Unfall im Heyderwald. Ihre Leute können uns von der L197 über das Kinderheim Sankt Moritz anfahren. Die müssen dann aber ein Stück zu Fuß durch den Wald, so fünfhundert Meter, ich komme Ihnen entgegen.«

Manfred informierte die anderen, lief mit Blick auf seine Handy-Karte den Weg ein paar Meter weiter Richtung See, dann links ab in den fast zugewucherten Pfad zum Kinderheim. Er folgte der gestrichelten braunen Linie auf dem Display und stand wenig später vor dem rostigen Maschendrahtzaun des Kinderheims. Den Zaun überstieg er, ohne zu bemerken, dass seine Sporthose einen langen Riss und sein Oberschenkel eine dicke Schramme davontrug. Keuchend lief er auf das Gebäude zu und dann links an den blassgelben Gemäuern aus dem späten 19. Jahrhundert vorbei.

Keine Kinder, überhaupt kein Mensch war zu sehen, nur eine weiße Katze schreckte auf und sprang davon.

»Wenigstens keine schwarze.« Manfred durchfuhr eine Spur Galgenhumor.

Dann sah er das schmiedeeiserne Tor mit Doppelflügeln, in der Mitte mit einer mächtigen Edelstahlkette verschlossen. »Hallo, ist hier jemand? Hallooo! Hilfe!«

Aber da war niemand. Die Fenster waren verstaubt, die Türen geschlossen, alles sah aus, als sei das Heim schon vor langer Zeit verlassen worden. Und das war es auch.

Leise, aber langsam lauter werdend, hörte er das Martinshorn des näher kommenden Rettungswagens und erleichtert fand er neben dem großen Tor eine kleine Tür, die nicht verschlossen war. Er sprang auf die Straße, winkte wild dem Fahrer und als der den Wagen in die Einfahrt gelenkt hatte, erklärte er, dass sie zu Fuß zur Unfallstelle laufen müssten.

Die Sanitäter packten ihre Trage und liefen im Laufschritt hinter Manfred her.

Vierundzwanzig

Erich war seit 20 Minuten im OP. Nach der Erstversorgung im Wald und dem Transport auf der Trage im Laufschritt, hatte sich ihm ab der Landstraße der Notarzt angenommen, während der gut ausgestattete Rettungswagen mit hoher Geschwindigkeit zum nächstgelegenen Krankenhaus in Aldenbach gerast war.

Die Sieben hockten nebeneinander im Gang vor der Notaufnahme. Keiner sagte ein Wort. Alle konnten nicht fassen, was passiert war. Sie hatten ihre Räder eingesammelt, waren hinter den Sanitätern mit Erich auf der Trage über den Pfad gelaufen. In den alten Zaun zum Heim hatten sie vorher mit dem Seitenschneider aus Manfreds Rucksack einen Durchgang geschnitten.

»Wohin bringen sie ihn?« Karl war die Frage im letzten Moment noch eingefallen, danach war der Rettungswagen davon gebraust. Auch Thorsten hatten die Sanitäter mitgenommen, seine Verletzung war harmlos, aber schmerzhaft. Er saß nun zwischen ihnen auf der Bank mit einem dicken weißen Verband um die Wade und würde sicher einige Wochen nicht aufs Fahrrad können. Sein teures Edelrad hatten sie an einer sichtgeschützten Stelle am Geländer der Kellertreppe des ehemaligen Kinderheims angeschlossen und hofften, dass es niemand entdecken würde. Erichs Mountainbike lag noch im Wald, das Vorderrad war völlig hin und niemand würde es mitnehmen wollen. Trotzdem hatten sie es an einen Baum abseits des Pfads gekettet.

Sie waren auf dem Radweg neben der L197 hinter dem Rettungswagen hergefahren. Noch lange klang ihnen die Sirene in den Ohren, auch als der Wagen längst außer Hörweite war. Im Krankenhaus „Die drei Apostel“ wollte man sie zuerst gar nicht haben, lediglich Manfred als Tourenleiter wurde zum Empfang gebeten. Erichs Name auf seiner Teilnehmerliste war kaum zu lesen, gemeinsam mit Nachtschwester Änne entzifferte er mühsam das Gekritzel und sie einigten sich auf Normbrecht.

»Nein, eine Versicherungskarte haben wir nicht gefunden.«

Manfred zuckte mit den Schultern. Erich war ohne Tasche unterwegs gewesen. An seinem Fahrrad klemmte nur eine Plastikwasserflasche und auch das Krankenhauspersonal hatte nichts in seinem Sportdress gefunden.

Manfred erinnerte sich an Erichs Erzählung, er komme aus Gelderath, wohne da aber erst seit sieben Monaten. Keiner aus ihrer Gruppe hatte ihn vorher je gesehen, niemand kannte ihn.

Manfred verfluchte die Situation. Erich hatte keine Papiere dabei, nicht mal ein Handy. Nur am Lenker seines Fahrrads hing ein ziemlich neues Garmin, erinnerte er sich, aber das half jetzt auch nicht weiter. Die Schwester wollte wissen, ob er mit dem Verletzen verwandt wäre.

»Nein, ich bin kein Angehöriger, nur der Tourenleiter. Jeder kann zum bekannten Treffpunkt kommen und mitfahren. Niemand muss sich anmelden oder ausweisen.«

Schwester Änne schaute ihn nur an und notierte Manfreds Namen, seine Adresse und Handynummer.

Die Wartezeit im Gang wurde endlos, jeder hatte seine Leute längst informiert, es würde sicher spät werden, keiner wusste wie spät. Werner kannte sich aus.

»Nervt das Personal jetzt nicht, die wissen, dass wir warten und melden sich, wenn sie etwas wissen. Die tun bestimmt ihr Bestes.«

Inzwischen war es fast zehn. Normalerweise wäre die Tour schon kurz nach acht am Juliapark, ihrem Treffund Startpunkt, zu Ende gewesen. Manchmal legten sie kurz vor dem Ziel eine Abschlusspause ein. In irgendeiner Kneipe mit Biergarten, wo sie ihre Räder im Blick hatten und nicht unbedingt sichern mussten. Da gönnten sie sich ein schnelles Radler oder Bier vor den letzten Metern. Sie zahlten stets sofort, damit sie schnell wieder aufbrechen konnten, wenn alle ausgetrunken hatten. Sie waren dann verschwitzt und wollten nicht ausgekühlt weiterfahren. Die kurze Einkehrpause war ganz schön, so lernten sie sich wenigstens einmal kennen. Während ihrer schnellen Fahrt wurde wenig geredet und ansehen konnten sie sich dabei eh nicht. Nur Erich hatten sie nicht kennen gelernt, der war zum ersten Mal dabei und heute war auch kein Tag für Abschlussbiere.

»Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Wir konnten ihn stabilisieren.« Der Oberarzt stand vor ihnen.

Ein Satz wie aus einem Film und wie in einem schlechten Kinofilm kam Manfred sich auch vor.

»Fahren Sie jetzt bitte nach Hause, hier können Sie nichts mehr tun. Gute Nacht.« Weg war der Arzt wieder.

Manfred hatte das Schild am weißen Kittel des Oberarztes abgelesen und tippte dessen Namen in sein Handy, neben den von Schwester Änne und der Telefonnummer der Krankenhauszentrale.

Werner drängte zum Aufbruch. Er hatte wohl recht, auch wenn keiner der Gruppe wirklich weg wollte. Inzwischen war es nach elf. Vor dem Krankenhausportal warteten ihre Räder, sie entriegelten die Schlösser und sahen sich an.

Die Frage „Wie fahren wir jetzt?“ hing unausgesprochen in der Abendluft. Manfred googelte eine sinnvolle Route, nicht ganz ohne Risiko, denn während Google Autorouten längst zuverlässig und verkehrsoptimiert berechnete, funktionierte das für Fahrradstrecken noch höchst fehlerhaft. Man wurde zwar nicht gerade auf Autobahnen geführt, erlebte aber doch immer wieder üble Überraschungen, wenn man blind auf eine Google-Radroute vertraute.

Manfred wählte eine Strecke, die er kannte, über Landstraßen mit Radwegen. Längst war es dunkel und nicht alle hatten die vorgeschriebenen Leuchten dabei. Die ohne Licht nahmen sie in die Mitte und fuhren zügig, aber nicht im gewohnten Tempo, heim. Thorsten und sein kaputtes Bein waren bereits Minuten vorher von seiner Frau abgeholt worden.

Dreiundzwanzig

Die Türglocke weckte Manfred nur mühsam aus seinem Tiefschlaf. Es war halb eins gewesen, als er endlich sein Fahrrad in die Garage gesetzt hatte. Sie waren nicht gemeinsam zurück bis zum Park gefahren, sondern hatten sich vorher im Stadtzentrum getrennt, jeder auf dem kürzesten Weg zu sich nach Hause. Unterwegs war wenig geredet worden, sie hatten nur verabredet, dass Manfred den Kontakt zum Krankenhaus halten würde und sie ihn am nächsten Abend anrufen könnten.

Er hatte noch Stunden auf der Couch gesessen. Normalerweise postete er nach so einer Tour ein paar Bemerkungen, kleine Highlights, manchmal Bilder, selten die Routenkarte. Per Facebook kündigten sie ihre Touren an und da war es ganz nett, im Nachhinein auch etwas davon zu berichten. Diesmal gab es etwas Besonderes, aber wahrlich nichts Nettes. Manfred hatte auf sein Posting verzichtet, aber in aller Kürze per E-Mail Bernd Brachten, den Vorsitzenden des Grawenhorster ADFC informiert.

Ein wenig wackelig ging er die Treppe hinunter, zog sich schnell seine Jeans und das Polohemd vom Vortag an. Britta war längst unterwegs zu ihrem Nebenjob im Haus der Stadtgeschichte. Ihr hatte er noch in der Nacht alles erzählt und sie hatte ihn schlafen lassen, wohl wissend, dass er noch lange wach gewesen war.

Durch das kleine Rundfenster in ihrer Haustür schaute ihn ein Mann an, den er nicht kannte. Ganz gut angezogen, hoffentlich kein Versicherungsvertreter. Manfred öffnete die Tür einen Spalt breit. »Ja bitte?«

In einem schwarzen Trenchcoat vor der Tür wartete ein schlanker Mann und stellte sich vor. »Martin Brockmann, Kriminalhauptkommissar, guten Morgen, darf ich kurz zu Ihnen hereinkommen?«

Manfred erkannte die Metallmarke, die der Besucher ihm entgegenhielt auf den ersten Blick. Nach dem Ausweis des Beamten fragte er gar nicht erst. Sein verstorbener Vater war bei der Kriminalpolizei gewesen und hatte auch dieses Messingoval besessen, das er immer mit einer stabilen Chromkette an einer Gürtelschlaufe befestigt in der Hosentasche getragen hatte. Jedenfalls bis wenige Tage vor seiner Pensionierung, da war die Dienstmarke plötzlich verschwunden.

»Muss ich verloren haben. Aber egal, nächste Woche müsste ich meine Marke ja sowieso abgeben.« Den Ruhestand hatte sein Vater wahrlich nicht herbeigesehnt. Liebend gerne hätte er noch ein paar Jahre verlängert, aber Polizisten wurden zu der Zeit schon mit 60 pensioniert, Ausnahmen von dieser Regelung hatte es nicht gegeben.

Als Manfred nach dem Tod seines Vaters dessen Wohnung aufgelöst hatte, fand er eine blaue Geldkassette hinter einer Bücherreihe im Wohnzimmerschrank. Der Schlüssel dazu hing zusammen mit denen von der Wohnung und dem Fahrrad seines Vaters an dessen Schlüsselbund.

In der Kassette lagen nur ein paar hundert österreichische Schilling, der Ehering von Manfreds Mutter, die bereits vier Jahre früher gestorben war, und die Kriminaldienstmarke seines Vaters mit der Nummer 4287.

»Der Pitt hat seine Marke einfach nicht abgeben wollen.« Manfred dachte an seinen Vater, hatte sie in die Hand genommen und mit Tränen in den Augen lange im Sessel neben dem Schrank gesessen. Wie früher als Kind, wenn ihm sein Vater nach dessen Feierabend gelegentlich erlaubt hatte, die ovale Marke in den kleinen Händen zu halten.

Er ließ den unerwarteten Besucher herein und bat ihn Platz zu nehmen, sah nach, ob seine Frau Kaffee aufgeschüttet hatte und war froh, dass er seine Lebensgeister mit einer heißen Tasse beleben konnte. Sein Gast winkte dankend ab und bevor Manfred den ersten Schluck getrunken hatte, legte der Kripomann los. »Sie sind Manfred Hanraths und waren gestern bei dem Fahrradunfall im Heyderwald dabei?«

Manfred nickte, setzte an zu einer Gegenfrage, kam aber nicht zu Wort.

»Dann muss ich Ihnen leider sagen, dass der Verunglückte noch in der Nacht an seiner Verletzung verstorben ist.«

Die Nachricht kam wie aus einer Nebelwand in Manfreds Hirn gekrochen. Unverständlich. Langsam aber unerbittlich. Manfred schloss die Augen, konnte keinen klaren Gedanken fassen und musste urplötzlich zur Toilette. »Tschuldigung.« Er stürzte in ihre Gästetoilette, erleichterte sich und bliebt danach erst einmal auf der Schüssel sitzen.

»Herr Hanraths?« Aus Brockmanns Stimme klang eine gewisse Sorge. Manfred säuberte sich, nahm schwer atmend wieder Platz am Tisch und erkannte, dass er sich zusammenreißen musste. »Bitte, was ist passiert?«

KHK Brockmann erklärte in ruhigem Tonfall wie es dazu gekommen war. »Der Verunfallte hatte einen tiefen Schnitt über die volle vordere Halsfront. Zum erheblichen Blutverlust kam eine überraschende Infektion. Das gab ihm den Rest.«

Brockmann räusperte sich verlegen, ihm war die laxe Bemerkung nun wohl peinlich. Manfred versuchte sich zu konzentrieren, irgendwas stimmte nicht. »Stopp, Sie haben Schnitt gesagt? Wieso ein Schnitt? Der Erich ist doch an der Eiche angeschlagen, da war nichts Scharfes, nur Holz.«

»Leider doch Herr Hanraths.« Brockmann machte eine bewusste Pause. »Da muss so etwas wie ein Seil gewesen sein. Das hat ihn zwar nicht geköpft, aber fast.«

»Ein Seil? Da war ein Seil? Ein Irrer hat ein Seil gespannt?« Manfred war fassungslos. Der Albtraum jedes Fahrradfahrers, der im Wald unterwegs ist. Immer wieder werden solche lebensgefährlichen Fallen entdeckt, zuletzt hatte er von einem Fall im Sauerland gelesen.

»Die Schnittwunde Ihres toten Freundes stammt mit hoher Sicherheit von einem gespannten Seil. Haben Sie denn kein Seil gesehen, Herr Hanraths?«

»Ein Seil? Da war kein Seil!«

Manfred überlegte, darauf hatten sie nicht geachtet, keinen Gedanken an ein Seil verschwendet. Die Situation auf dem engen Waldweg war so hektisch gewesen. Das viele Blut, die Telefonate mit der Notrufzentrale. Ein Seil oder Teile eines Seils, hätten sie das überhaupt wahrgenommen?

»Ich weiß nicht, Herr Bockmann, ich habe kein Seil gesehen. Aber wenn es zerrissen war, kann ich auch nicht ausschließen, dass da eins gelegen hat.«

»Brockmann, ich heiße Brockmann.«

Manfred Gedanken rasten.»Jetzt lässt der den Beamten raus. Als wenn es denn wichtig ist, ob er Brockmann oder Bockmann heißt. Der Erich ist tot. Unfassbar. Tot! Durch ein Seil?«

Entsetzt schaute er dem Kriminalbeamten direkt in die Augen. »Dann war das ja kein Unfall, sondern … Mord?«

»Das müssen dann die Gerichte entscheiden. Auf jeden Fall ermitteln wir jetzt in einer Verdachtslage zu einem Kapitalverbrechen. Und erst müssen wir den Täter finden. Werden wir den Täter finden! Ich muss Sie bitten, heute Nachmittag ins Polizeipräsidium zu kommen, wir müssen Ihre Zeugenaussage protokollieren. Außerdem brauche ich eine Liste, wer dabei war. Sie haben mit sieben Personen im Krankenhaus gewartet?«

»Ja, kein Problem, wäre 15 Uhr ok? Und die Teilnehmerliste kann ich Ihnen gerne kopieren.«

Manfred stand auf, aber Brockmann hielt ihn zurück.

»Es gibt eine Teilnehmerliste? Wieso?«

Manfred erklärte ihm, dass es eine ADFC-Tour gewesen war, von ihm geleitet, wie jeden Mittwoch, pünktlich um 18 Uhr mit Start am Südeingang des Juliaparks. »ADFC, mit F wie Fahrrad. Das ist der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club.«

»Dann konnte jeder vorher wissen, dass diese Tour gestern stattfand?« Brockmann betonte das »jeder« wie eine Mordanklage.

»Ja, wir kündigen alle Touren frühzeitig an, auf unserer Website und bei Facebook. Außerdem hat sich meine Sporttour herumgesprochen. Es fahren zwar oft weniger als zehn mit, aber es gibt einen Stamm von Teilnehmern, die immer mal wieder mitfahren. Das wechselt aber. Mal hat der eine Spätschicht, mal hat einer Urlaub, mal ist es dem einen zu warm, dem anderen zu regnerisch. Oder die Kinder haben Zahnweh. Also ich meine, es gibt 1.000 Gründe nicht mitzufahren.«

»Und der Getötete? Wie oft ist der dabei gewesen?« Brockmann sah nun aus, als hätte er schon eine Spur, aber sein Gesicht entspannte sich schnell wieder, als Manfred ihm erklärte, dass Erich zum ersten Mal dabei gewesen war, niemand ihn kennen würde und er nicht mal sicher wüsste, ob dessen Nachname wirklich Normbrecht sei.

Brockmann hakte nach. »Mal zum Mitschreiben. Jeder konnte wissen, dass es diese Tour an diesem Mittwoch gab und wo sie lang führt?«

»Jein.« Manfred schaute seinen Gast an. »Jeder konnte wissen, wann und wo die Tour startet, aber nur ich kannte die Route. Ich arbeite immer eine andere Route aus. Für jeden Mittwoch neu. Keiner konnte wissen, dass wir gestern durch den Heyderwald fahren würden. Niemand kannte die Strecke!«

Zweiundzwanzig

Manfred saß wieder an seinem Wohnzimmertisch, der Kaffee, den er vorhin so dringend gebraucht hatte, war längst kalt geworden. Nur einen kleinen Schluck hatte er genommen, dann war Brockmann über ihm hereingebrochen.

Nun war der Kripomann endlich weg, dafür nervte ihn der chaotische Spanier. Penetrant, aber mit seinem südländischen Charme, schaffte es die importierte Edelmischung immer wieder, dass sie alles stehen und liegen ließen, um den Hunger ihres Lieblings zu stillen. Heute machte Manfred mal keine Dose auf, sondern servierte seinem Pakko die liegengebliebene Wurst vom Sonntag. Hunde fressen auch abgelaufene Lebensmittel, Mindesthaltbarkeitsdaten interessierten sie nicht. Hauptsache sie waren nicht vegan, die Lebensmittel.

»Keiner konnte wissen, dass wir diesen Weg durch den Heyderwald fahren. Niemand kannte die Strecke! Außer mir.« Manfred wurde ganz übel bei dem Gedanken und plötzlich wurde ihm klar, dass normalerweise er vorneweg gefahren wäre. Wenn ihn dieser Erich mit seinem Gerede nicht so genervt und er den Abzweig im Tannengrund nicht verpasst hätte.

»Niemand kannte die Strecke! Oder?« Ihm fiel etwas ein und hektisch ging er die Treppe hinunter in sein Büro. Der großzügige helle Souterrain bot ausreichend Platz für drei Arbeitsplätze, mehr brauchten sie nicht. Bisher eingerichtet hatten sie erst zwei.

Manfred startete den Computer unter seinem Schreibtisch, meldete sich an und kontrollierte die gestrige Route. »Bingo!«

Er hatte die Strecke gespeichert, aber nicht geblockt. Jeder der seinen Nickname kannte oder zufällig über die Route gestolpert war, hätte sie sehen können. Seit Montag, da hatte er die Tour im Portal vorbereitet, gespeichert und vergessen sie für Jedermann zu sperren.

»So ein Mist.« Manfred ärgerte sich. Normalerweise vergaß er das nicht, weil es nervig werden konnte, wenn ein Mitfahrer die Daten der Route heruntergeladen hatte und dann während der Tour kontrollierte, ob er denn auch exakt nach Plan unterwegs war. Deswegen hatte Manfred sogar schon einmal Streit mit einem Teilnehmer bekommen. Aber bei seinen Mittwochstouren kannten sich fast alle, waren locker und wollten nur Spaß und Sport genießen. Außer Erich, den kannte keiner und dem war der Spaß endgültig vergangen.

»Wenn Erich mich nicht so genervt hätte, wäre ich als erster gefahren. Dann wäre ich jetzt tot, wegen des verdammten Seils.«

Britta war zurück, hörte ihm zu und wusste nicht, wie sie ihm widersprechen und damit aufmuntern konnte.

»Du kannst doch nichts dafür, Manni. Du hast nur die Tour organisiert, wie immer. Und passieren kann immer mal etwas.«

»Ja, immer mal was, aber nicht so etwas.«

Die Teilnehmerliste fiel ihm ein, die hatte Brockmann dann doch vergessen. Manfred scannte sie, nahm die Visitenkarte des Kriminalbeamten zur Hand und tippte die Mailadresse ab.

Manfred hing die PDF-Datei an und drückte auf „Senden“. Mit dem Versand der E-Mail wurden gleich sechs neue Mails abgerufen.

Manfred sah auf einen Blick, nur Spam, drei eindeutig sexuelle Angebote, zwei Offerten von Krankenversicherungen und eine für besonders preiswerte Druckerpatronen.

Sein Telefon klingelte, Bernd war am anderen Ende der Leitung. »Hey, alles gut bei dir?«

Nichts war gut. Manfred brauchte ein paar Minuten, bis er dem Vorsitzenden ihres Ortsverbands die Situation erklärt hatte. Ein Toter. Kein Unfall. Bernd war sprachlos.

»Gleich bin ich erst mal bei den Bullen. Die ermitteln tatsächlich wegen Mord oder so. Stell dir das vor. Da hat jemand ein Seil gespannt, ein Seil. Was für eine unfassbare Scheiße. Und was soll ich zu dem Erich sagen? Noch nie gesehen, den kennt keiner, nur seinen Namen. Und den Nachnamen noch nicht mal sicher, weil das Gekrakel kaum zu lesen ist.«

Ein paar Minuten später hatte Bernd aufgelegt, er würde das Gehörte nun erst mal sortieren müssen.

Manfred grinste. »Und ich hab Bullen gesagt.«

Sein Vater würde sich im Grabe umdrehen, aber vor Lachen. Weil er ihn auch immer mal wieder „Bulle“ genannt hatte. Ihn und seine Kollegen, damals in der Kaserne, wie das Präsidium früher genannt wurde. Aufgewachsen war er da, hatte viele erste Jahre auf der angrenzenden Bolundstraße gewohnt. Die Kaserne war sein Spielplatz gewesen. Unvorstellbar heute, dass jeder in ein Polizeipräsidium spazieren konnte, wie er wollte, vor allem Kinder. Damals gab es den hässlichen Schotterparkplatz in der Mitte der denkmalgeschützten Gebäudegruppe noch nicht. Stattdessen war da ein Riesensportplatz für den PSV gewesen, den Polizeisportverein, und auch die Kinder und Jugendlichen aus dem ganzen Stadtteil nutzten den wunderbar gepflegten Rasenplatz zum Kicken. Aber in der alten Turnhalle wurde noch gespielt, das hatte er in der Zeitung gelesen. Auch die Umkleide in der Halle war sicher noch da, auf die man herauf klettern, heimlich Zigaretten rauchen konnte und natürlich erwischt wurde. Was weder Manfred noch der damalige Kriminalhauptmeister Peter Hanraths lustig gefunden hatte. Wobei der Pitt wahrscheinlich heimlich schallend gelacht hatte, war sich Manfred heute sicher.

Einundzwanzig

Wieder so ein Gang wie im Krankenhaus, ging es Manfred durch den Kopf. Nur diesmal saß er allein auf der Bank und wartete ungeduldig, dass ihn endlich jemand aufrief und befragen würde. Er war im Polizeipräsidium, pünktlich um 15 Uhr war er angekommen. Mit zwanzig Minuten Verspätung erschien Kriminalhauptkommissar Brockmann, begrüßte Manfred und führte ihn in die zweite Etage durch eine Tür, neben der auf einem kleinen weißen Schild „Vernehmung 1“ stand.

»Vernehmung?« Manfred fragte sich, was denn das bedeuten sollte. Wurde er jetzt befragt oder vernommen?

»Nehmen sie Platz. Bitte Herr Hanraths.« Brockmann schaltete ein Aufnahmegerät ein und leierte ohne abzulesen einen Satz herunter, den er wohl schon viele Male vorgetragen hatte.

»Herr Hanraths erscheint heute als Zeuge in der Tötungssache Normbracht. Herr Hanraths, bitte beachten Sie, dass Sie sich strafbar machen können, wenn Sie wissentlich die Unwahrheit sagen und damit eine andere Person beoder entlasten. Und Sie müssen sich selbst nicht belasten. Sind Sie mit dem Opfer verwandt oder verschwägert?« Brockmann schaute ihn auffordernd an, Manfred schüttelte den Kopf.

»Bitte, Sie müssen laut und deutlich antworten.« Der Kriminalbeamte klang ungeduldig.

»Nein, ich war nicht mit dem Toten verwandt oder verschwägert.«

Dabei dachte Manfred wieder daran, dass er Erich nicht mal richtig kennen gelernt hatte und der nun schon im Leichenschauhaus lag.

»Herr Hanraths, ich stelle Ihnen jetzt einige Fragen, die Sie wahrheitsgemäß beantworten müssen.«

Zuerst wiederholte Brockmann die ganzen Fragen vom Vortag, wo und wann sie losgefahren waren, wer dabei war und Manfred beantwortete fürs Protokoll geduldig die vielen, aus seiner Sicht unwichtigen, Details. Danach beschrieb er ausführlich die Route über Beven, Lottern und den Tannenbusch bis zum Unglück auf dem Pfad im Heyderwald. Bevor er weiter reden konnte, unterbrach ihn sein Gegenüber.

»Sie sind also die ganze Strecke mit acht Teilnehmern gefahren?«

»Ja genau, wir waren acht. Sie haben ja die Teilnehmerliste.«

Manfred fragte sich unwillkürlich, ob sein Vater zu seiner Kripozeit auch so blöde Fragen gestellt hatte.

Brockmann griff in eine grüne Aktenmappe, holte ein Blatt heraus und legte es vor Manfred auf den Tisch. Seine Teilnehmerliste, nicht das Original, sondern ein Ausdruck des Scans, den er seinem Gegenüber gesandt hatte. Mit allen Namen in der zweiten Spalte, davor in der ersten die vorgedruckte aufsteigende Nummerierung, so dass man auf einen Blick die Anzahl der Mitfahrer sah. Vor dem letzten Eintrag stand die Neun.

Auch Manfred sah das nun, denn Brockmann hatte seinen rechten Zeigefinger genau neben diese Neun gesetzt.

»Neun? Acht?« Brockmann betonte jede Zahl, wie sonst Ringrichter das Auszählen beim Boxen.

Manfred war ratlos, suchte zunächst eine übersprungene leere Zeile, fand aber keine, las dann von oben nach unten die Namen nacheinander laut vor. »Ach ja, der hier, Ger… Gernot Bal…, Bel..., keine Ahnung, kann ich nicht lesen. Der war beim Start dabei. Richtig, da waren wir neun. Ich habe noch gesagt, weil zwei Neue dabei sind, dass ich nach zwei, drei Kilometern frage, ob alles gut ist.«

Manfred schaute Brockmann an, der verstand ihn offensichtlich nicht und er erklärte es dem Kriminalbeamten. »Wenn jemand nach wenigen Kilometern merkt, dass unser Tempo zu schnell ist, dann empfehle ich demjenigen, abzubrechen. Macht ja keinen Sinn für die Truppe. Die wollen alle Sport machen und keinen gemütlichen Ausflug. Genau so ist die Tour angekündigt und das halten wir dann auch ein. Wissen Sie, Herr Blockmann, nach 30 Kilometern kann jeder mal Konditionsprobleme haben, das ist mir auch schon passiert. Dann passen wir uns halt an und fahren ein paar Takte langsamer. Aber 30 Kilometer muss man schon mithalten können, sonst ist das blöd für die Tour.«

»Brockmann, mein Name ist Brockmann, nicht Blockmann! - Sie korrigieren also Ihre Aussage, dass sie nur acht Personen waren?«

»Ja. Nein. Ja … also. Am Anfang waren wir neun, das stimmt, aber der eine, der Ger …, der Gernot, war plötzlich weg, aber schon früh. Der war schon nicht mehr dabei, als ich am Kriegerdenkmal gefragt habe, ob alles klar ist. Da war der schon weg. Wir haben uns noch umgeschaut und kurz gewartet, aber der kam nicht und dann sind wir weitergefahren.«

»Finden Sie das normal?«

»Was? Dass der weg war? Oder dass wir ohne den weitergefahren sind?«

»Dass der so schnell wieder verschwunden ist. Ist das normal?«

»Tja, was ist schon normal. Dass jemand zu langsam für die Tour ist, kommt öfters vor. Die meisten schaffen aber die ersten Kilometer und sagen dann von selbst, dass sie abbrechen. Das nimmt dann keiner krumm. Vor ein paar Wochen war mal eine Frau dabei, die hat schon vor dem Marienkapellchen gesagt, dass sie abbricht, weil wir ihr zu schnell sind. Wir hatten auch schon mal einen, der kam mit Hundeanhänger, so einem breiten für große Hunde. Dem habe ich sofort gesagt, dass das schwierig werden könnte, weil wir auch mal schmale Wege fahren. Der ist dann zwar doch mitsamt seinem Anhänger mit uns losgefahren, hat sich aber auch schnell wieder verdrückt, ohne sich zu verabschieden.«

Manfred dachte wieder an den schmalen Waldweg zum Heyder See und kam sich plötzlich blöd vor, weil er dem Kommissar diese völlig unwichtige Episode erzählt hatte. »Warum nur der Erich nicht mit Anhänger gekommen ist, dann lebte er vielleicht noch.«

Die Tür ging auf, jemand steckte den Kopf durch. »Marti, hast du wieder dein Handy aus? Deine Ex versucht dich seit Stunden zu erreichen, sagt sie jedenfalls.«

Brockmann griff in seine Tasche und sah auf sein Handy. »Mist. Aus. Der blöde Akku. Kannste mal fragen, ob jemand ein Ladegerät hat, das passt?«

»Ladegerät? Für dein Handy? Schaff dir mal was neues an. Nennt sich Smartphone. Kann man auch E-Mails mit schreiben. Du weißt was eine E-Mail ist?« Brockmann machte mit seinem Handy eine Wurfbewegung Richtung Tür und sein Kollege verzog sich vorsorglich.

»Hmm …« Brockmann, räusperte sich, wohl um die Aufmerksamkeit seines Gastes zurückzuerlangen. »Ich fasse mal zusammen. Sie machen diese Touren jede Woche und wissen gar nicht genau, wer da mit Ihnen durch die Landschaft fährt?«

Manfred wusste nicht was er darauf antworten sollte. Ja, so war es eben üblich. Überall in ganz Deutschland wurden jede Woche Fahrradtouren angeboten. Niemand fragte vor der Tour, wer man sei, es gab diese Listen, die mussten sein, auch wegen der Haftung. Die Unterschrift der Teilnehmer entband den ADFC und den Tourenleiter davon. »Das sind offene Angebote. Sollen wir Ausweise verlangen?«

Brockmann schüttelte den Kopf. »Wenn ich also was über die Grenze schmuggeln will, dann mache ich bei einer Ihrer Touren mit, vielleicht die Maastour nach Venlo am kommenden Sonntag, trage irgendeinen Namen in ihre Liste ein und auf der Rückfahrt sind meine Fahrradtaschen voller Rauschgift. Zurück in Grawenhorst sage ich Tschüss und werde nie mehr gesehen.«

»Ahh, Brockmann hat sich unsere Tourenseite angesehen und Hartmuts Venlotour gefunden«, registrierte Manfred im Kopf. Auf diese Variante mit dem Dope-Import war er noch nicht gekommen. »Interessante Idee«, verkniff sich aber ein Grinsen.

»Das führt zu nichts. Auf jeden Fall brauchen wir die Namen und Adressen aller Teilnehmer.« Brockmann zog mit seinem Kugelschreiber einen dickem Strich quer durch seinen Notizzettel.

»Von den meisten werde ich die Daten zusammenbekommen, die haben sich irgendwann sicher mal mit ihrer E-Mail in eine Teilnehmerliste eingetragen. Die Listen sind zwar längst im Altpapier, aber gescannt, weil wir eine Statistik für den Verband erstellen müssen. Die Scans habe ich alle noch und werde Ihnen eine Liste mit den Mailaddis zusenden.«