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EINS

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Es war kein alltägliches Ereignis, das sich im südöstlichen Sektor von Kaledron abspielte, es war aber auch nicht so außergewöhnlich, als dass die Menschen dafür stehenblieben. Im Gegenteil, die meisten von ihnen wandten den Kopf ab und hasteten weiter, vorüber an dem jungen Mann, der urplötzlich tot zusammengebrochen war.

Saycia schätzte ihn auf neunzehn, zwanzig Jahre, kaum älter als sie selbst. Seine leblosen Augen schienen sie bestürzt anzustarren und kündeten von einem tiefen Unverständnis über die ausgeführte Eliminierung.

Warum? Wütend und traurig zugleich drehten sich Saycias Gedanken immer wieder um die gleichen Fragen. Was hat dieser arme Kerl getan? Welcher Fehler ist ihm unterlaufen, um ein solches Schicksal zu verdienen?

Ein Alarmton erklang und das schreckte die Bewohner von Kaledron weitaus mehr auf als der Tote in ihrer Mitte.

»Kleines, verschwinde endlich.« Ein müde aussehender Greis, der genau wie sie einen uniformen, grauen Arbeitsanzug trug, zupfte Saycia am Arm. »Die Sektorpatrouille wird gleich hier sein. Und du willst bestimmt nicht die Aufmerksamkeit der Kenai erregen, oder?«

Saycia wollte gerade antworten, dass sich die gefürchtete Eliteeinheit der kaledronischen Sicherheitsgarde sowieso mit ihr befassen würde, doch der alte Mann war bereits weitergeschlurft.

Widerstrebend setzte sich Saycia ebenfalls in Bewegung, denn eine Gefangennahme wegen öffentlicher Unruhestiftung passte keinesfalls in ihren Plan für den heutigen Abend.

Sie warf einen kurzen Blick zum Himmel empor und gewahrte das Flimmern des durchscheinenden Schutzschilds, jenes halbkugelförmige, energetische Feld, das ihre gesamte Heimat umgab. Eine Heimat, die aus einer einzigen, gigantischen Stadt bestand und die Saycia aus tiefstem Herzen verabscheute.

Rasch durchquerte sie eine schmale Gasse zwischen fünfstöckigen, fensterlosen Wohnquartieren, an deren Eingängen Datenterminals akribisch jedes Betreten oder Verlassen aufzeichneten. Die Gebäude waren allesamt aus Plastkristall errichtet, einem faktisch unzerstörbaren Gemisch aus Kunststoff und geschmolzenem, weißen Mineraliensand, der in einem der unzähligen unterirdischen Rohstofflager gewonnen wurde. Sogar der Boden unter Saycias Füßen war mit dem glitzernden Material überzogen worden und ebenso die hohe Stadtmauer, die nun in wenigen Schritten Entfernung vor ihr aufragte.

Saycia hielt inne und sah sich aufmerksam nach möglichen Beobachtern um. Als sie niemanden entdeckte, passierte sie hastig den südöstlichen Ausgang von Kaledron, der von zwei sogenannten Wächtern – sensorgespickten Metallsäulen – flankiert wurde. Die beiden Wächter ignorierten sie, lösten keinen Alarm aus, was ansonsten bereits geschah, wenn sich ihnen ein Kaledronier – die königliche Herrscherfamilie eingeschlossen – bis auf etwa vier Meter Abstand näherte. Nur die Kenai und die Sicherheitspatrouillen durften die Stadt regelmäßig verlassen, um ihre Umgebung im Auge zu behalten und die wenigen benötigten Güter, die nicht innerhalb von Kaledron erzeugt werden konnten, aus benachbarten Nationen zu importieren.

Nachdem Saycia vor ein paar Jahren aufgrund eines kindischen Trotzanfalls klargeworden war, wie ungewöhnlich sich die Wächter ihr gegenüber verhielten – denn wider Erwarten war kein Gardist erschienen, um sie für ihre Tritte gegen die Metallsäulen zu bestrafen –, hatte sie sich so manches Mal gewundert, warum das irrtümlich einprogrammierte Ausgangsrecht einer Arbeiterin bislang niemandem aufgefallen war. Und eine Weile hatte sie sich sogar geärgert, dass sie niemals zuvor ausgetestet hatte, der vermeintlichen Perfektion und Schönheit Kaledrons zu entkommen – aufgrund all der erhaltenen Indoktrinationen war ihr eine Flucht jedoch als völlig abwegig erschienen.

Heutzutage empfand Saycia ausschließlich Dankbarkeit für die wenigen Momente, die allein ihr gehörten, für die Illusion von Freiheit, so kurz diese auch immer währte. Nach wie vor achtsam, aber mit weitaus beschwingteren Schritten, legte Saycia die Distanz von der Stadtmauer zum Schutzschild zurück und als sie durch ihn hindurchtrat, rief der energetische Kontakt ein kurzes Schwindelgefühl in ihr hervor.

Dann, endlich, hatte sie den Wald erreicht und schnell schlüpfte Saycia durch das belaubte Dickicht an ihren Lieblingsort, eine kleine, mit bunten Blumen bewachsene Lichtung. Dort setzte sie sich ins weiche Gras, strich sich die langen, kupferblonden Haare aus der Stirn und schloss die Augen. Voller Ehrfurcht lauschte sie dem klaren Gesang der Vögel und dem säuselnden Blätterspiel des Windes.

Innerhalb von Kaledron gab es nichts dergleichen. Tiere waren nicht erwünscht, Bäume genauso wenig. Und selbst der Wind hatte als absolut chaotisches und unberechenbares Naturelement innerhalb des kaledronischen Schutzschildes nichts verloren. Nur hier draußen, in der verbotenen Welt, existierten all diese Wunder.

Saycias Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln, als sie die Wärme eines letzten Sonnenstrahls auf ihrem Gesicht spürte. Sie atmete ein paar Mal tief ein und aus und wartete auf die gewohnte Ruhe, darauf, dass sich die Finsternis in ihr ein Stück weit zurückzog. An diesem Abend wartete sie allerdings umsonst. Irgendetwas war anders.

Verwundert sah Saycia auf, fand jedoch nichts, das zu diesem merkwürdigen Gefühl in ihr passen wollte. Für einen winzigen Moment, weniger als die Dauer eines Herzschlags, hatte sie geglaubt, da wäre etwas. Ein Schatten, wo kein Schatten sein sollte. Aber jetzt – nichts.

Eine Welle des Schmerzes durchzuckte Saycias Körper, hervorgerufen von dem in ihrem Nacken implantierten Neurotransmitter, als Mahnung, dass sie sich außerhalb ihrer zugewiesenen Sektion aufhielt. Zwar versagte der in ihrem rechten Handgelenk implantierte Ortungschips jedes Mal, sobald sie sich dem Südostausgang näherte – wohl eine automatische Abschaltung, welche die fehlerhaft programmierten Wächter vornahmen –, dieser Bindemechanismus an ihren zugewiesenen Bereich funktionierte jedoch einwandfrei.

Angehörige der Oberklasse, die zahlreichen Mitglieder der Herrscherfamilie und natürlich die Sicherheitsgarde durften sich, so lange sie wollten, in jedem beliebigen

Sektor der Stadt aufhalten, den Kaledroniern der Unterschicht blieb dieses Privileg jedoch versagt. Trotzdem waren viele der gezüchteten Arbeiter dankbar für das

Leben, das sie führten, empfanden es als ein Geschenk. Immerhin mussten sie nicht hungern, nicht frieren und – wenn sie nicht gerade das Lieblingsziel der Kenai

abgaben – nicht leiden.

Gerüchte von fremden Ländern und Nationen machten immer wieder die Runde, trotz der eingeschränkten Informationsweitergabe der Obrigkeit. Gerüchte von Tod und Krieg und noch mehr Tod. Von einem qualvollen, blutigen Sterben, nicht nur von der nüchternen Beendigung eines Lebens.

Der angemahnte Impuls ihres Neurotransmitters verstärkte sich um eine Stufe und Saycia keuchte laut auf. Mit schmerzverzogenem Gesicht warf sie einen letzten Blick auf die Blumen ihres Zufluchtsorts und schritt zurück in ihr glitzerndes Gefängnis.

Hinter der losen Schaltfläche eines Terminals, welches sich an der Außenwand eines derzeit unbewohnten Quartiers ganz in der Nähe der Stadtmauer befand, platzierte Saycia einen kleinen Datenstift. Anschließend verschwand sie umgehend in einer Seitengasse, obwohl sie nur zu gerne einen Blick auf ihren anonymen Auftraggeber geworfen hätte, für den sie bereits Dutzende gesetzeswidriger Programmcodes geschrieben hatte. Doch das Risiko erwischt zu werden war zu groß.

Und tatsächlich verstrich nur eine knappe Minute, bis Saycia ein breitschultriger Mann in der dunkelblauen Uniform der Sektorpatrouille entgegentrat.

»Da bist du ja«, knurrte er und bevor Saycia zurückweichen konnte, wurde sie bereits grob am Arm gepackt.

Obwohl es ihr ausgesprochen schwerfiel, unterdrückte sie den Reflex sich zu wehren, denn ein solches Verhalten würde alles nur noch verschlimmern.

Drei weitere Mitglieder der Patrouille bogen um die Ecke und einer von ihnen strich sich nachdenklich über das Kinn. »Ich wüsste nur zu gerne, wie sie uns immer wieder entwischen kann …«, murmelte er.

»Nicht nur du«, entgegnete der Anführer der kleinen Gruppe barsch. »Die Kleine wird bereits im Octentum erwartet.« Er wies die anderen mit einem Nicken an loszumarschieren und riss Saycia rücksichtslos mit sich.

Kein einziger Protestlaut drang über ihre Lippen, ihre braunen Augen blitzten jedoch wütend auf. Allerdings wich Saycias Zorn einer immer stärker werdenden Furcht, je näher sie dem achteckigen, auf äußerste Effizienz angelegten Bau kamen, der für alle Kaledronier gut sichtbar auf einer erhöhten Plattform im Zentrum der Stadt thronte.

Als Saycia schließlich in ein Zimmer gestoßen wurde, in dessen Mitte ein dunkelhaariger, hochgewachsener Mann kritisch die Anzeigetafel seines Datenterminals musterte, bemühte sie sich tapfer um eine aufrechte Haltung. Und als ihr das nicht so recht gelingen wollte, verschränkte sie die Arme vor der Brust. So fiel ihr Zittern wenigstens nicht ganz so sehr auf.

»Saycia.« Der Kenai, der über ihren offensichtlichen Gesetzesverstoß entscheiden sollte, erachtete es nicht einmal für nötig den Blick zu heben. Die beiden Wachen, die ihn rechts und links flankierten, fixierten sie dafür überaus genau.

Saycia konnte sich nicht erinnern, ihrem Gegenüber bereits zuvor begegnet zu sein, und da sich kein Kenai jemals bei jemandem wie ihr vorstellen würde, nannte sie ihn insgeheim schlicht Nummer 131. Die goldenen, dreieckigen Abzeichen, die seine nachtschwarze Uniform schmückten, verrieten den hohen Rang des Kenais innerhalb der kaledonischen Sicherheitsgarde. Anstatt eine einzelne Patrouille zu befehligen, wie es für einen unerfahrenen Kenai üblich war, hielt dieser hier die Ordnung von gleich drei Stadtsektoren aufrecht.

»Möchtest du uns heute verraten, wo du gewesen bist und wie du entkommen konntest?«, erkundigte sich Nummer 131 ungehalten.

Saycia schwieg und das war wohl Antwort genug.

Zwölf Stunden Psychojustierung lautete das Urteil und als sie aus dem Zimmer geführt wurde, sah der Kenai doch noch von der Schaltfläche seines Terminals auf. Fast meinte Saycia so etwas wie Mitleid in der Miene von Nummer 131 zu lesen – was natürlich ausgeschlossen war. Denn die Elite der Sicherheitsgarde wurde sorgfältig darauf trainiert, dass sie solche Gefühlsregungen vollständig ablegten.

Saycia hatte sich fest vorgenommen, den Weg in den Straftrakt des Octentum in aller Würde zu beschreiten, trotzdem wurde sie langsamer und langsamer. Nach kaum der Hälfte der Strecke schlossen sich die Finger des Patrouillenführers brutal um ihren Arm und sowohl in Saycias echten als auch in ihren künstlich eingefügten Nervensträngen breitete sich ein unangenehmes Taubheitsgefühl aus.

Der Patrouillenführer zog sie weiter durch den Gang und schob sie schließlich in einen kleinen Raum. Ein grüngekleideter Arzt trat auf sie zu und nur einen Moment später spürte Saycia den Stich des Justierungsstifts in ihrem Nacken. Ein so harmloser Piks und trotzdem verfügte ihr Neurotransmitter nun über ein neues Programm. Ein Programm, das augenblicklich ihr Gehirn zu beeinflussen begann und sie in eine virtuelle Umgebung versetzte, ein Szenario bestehend aus Folter, Vergewaltigung und Tod.

Die beiden Männer drückten Saycia zu Boden, aktivierten einen blauen Schutzschild, der den Ausgang versiegelte, und ließen sie allein. Allein mit den Bildern, die in ihrem Innersten aufleuchteten, allein mit den Stimmen, die nur sie hören konnte. Diene deiner Stadt! Erfülle deine Pflichten! Gehorche den Kenai, der oberen Klasse und der Herrscherfamilie!

Wie ein endloses Mantra wiederholten sich diese und ähnliche Anweisungen, begleitet von einer immer intensiver werdenden Stimulierung ihrer Schmerzrezeptoren. Saycia schrie voller Qual, so lange, bis ihr die Kraft dafür fehlte. Dann lag sie da, das Gesicht in Richtung der makellosen Plastkristall-Decke gewandt, die ihre weit geöffneten Augen schon längst nicht mehr wahrnahmen. Und mit ihrem letzten zusammenhängenden Gedanken hoffte Saycia auf ein schnelles Ende der Strafe, die für die Verweigerung ihres Gehorsams verhängt worden war.

Sie hoffte vergebens.

***

Im Morgengrauen brachte ein Gardist Saycia in ihr Quartier im Südostsektor zurück, ohne Hilfe hätte sie die Strecke niemals geschafft.

Ein kleines, rotes Blütenblatt wurde von ihrem Begleiter unbemerkt unter seinem Stiefelabsatz zertreten und trotz ihres erbärmlichen, körperlichen Zustands musste Saycia lächeln – bedeutete dieses absichtlich platzierte Zeichen doch nichts anderes, als dass sich zumindest ein Angehöriger der Oberklasse über die ausbleibende Eliminierung seiner vermeintlich fehlerhaften Untergebenen wundern würde. Für den toten, jungen Mann des gestrigen Abends kam diese Hilfe freilich zu spät.

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ZWEI

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Die Tage flossen in einer dumpfen Monotonie dahin. Saycia stand auf, wenn das Terminal sie in ihrem funktionalen, kaum acht Quadratmeter großen Zimmer weckte. Sie duschte in einer winzigen, integrierten Nasszelle und aß die synthetisch erzeugten und geschmacksneutralen Mahlzeiten, die auf dem Gang für sie und die anderen Hausbewohner abgestellt wurden. Anschließend eilte Saycia an ihren Arbeitsplatz und erledigte alles, was für sie vorgesehen war.

Meistens ging es um irgendwelche Weiterentwicklungen der Stadt – neue Überwachungssensoren, Detektoren, die auf seltsame Störmuster in der Atmosphäre geprägt wurden, effizientere Schildgeneratoren. Oder es galt, die Speichermodule zu optimieren, welche die Energieadern anzapften, die tief in der Erde unterhalb von Kaledron verliefen und ohne die keine einzige ihrer Technologien funktionieren würde.

Irgendein hochgelobtes Programm hatte festgestellt, dass Saycia ausgesprochen intelligent war, und so war sie am Ende ihrer Ausbildungszeit vor fünf Jahren zur Technikerin berufen worden. Natürlich erfuhr Saycia nie die Hintergründe ihrer Arbeit und es wurde sorgfältig darauf geachtet, sie von allen sicherheitskritischen Bereichen fernzuhalten. Doch trotz aller Widrigkeiten konnte sie die strengen Leistungsvorgaben von Kaledron erfüllen und das war vermutlich der einzige Grund, warum man sie noch nicht endgültig eliminiert hatte.

Saycia kannte niemanden, der so viele Strafen vorzuweisen hatte wie sie und seit Jahren musste sie sich in regelmäßigen Abständen vor den Anführern der kaledronischen Sicherheitsgarde verantworten. Eines war jedoch merkwürdig. Ein Kenai benötigte zwar keinen wichtigen Grund, um jemanden in die Hölle zu schicken, aber willkürlich handelten sie ebenfalls nicht. Saycias Verhöre hatten jedoch lange vor ihrem ersten, geringfügigen Gesetzesverstoß – einer Missachtung der nächtlichen Ausgangsperre – begonnen.

Ein paar Mal hatte Saycia versucht, mit anderen Arbeitern des Südost-Sektors darüber zu sprechen, sie hatte es allerdings bald wieder aufgegeben. Wenn auch nicht ausdrücklich verboten, so wurde es doch geächtet, die Kenai und das Octentum zu erwähnen, von den dort stattfindenden Unterredungen ganz zu schweigen.

Eine Familie oder enge Freunde besaß Saycia nicht, denn kaledronische Arbeitskinder wurden anhand genoptimierter Paarungspläne gezeugt und direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt, um in einem der zahlreichen städtischen Erziehungslager aufzuwachsen. Und Freundschaften waren durch die häufigen Wechsel der zugewiesenen Arbeitsstätte und des Wohnquartiers generell schwer zu entwickeln, selbst für diejenigen Menschen, die ihre wenige Freizeit auf legalere Art verbrachten als sie.

Somit gab es niemanden, der Saycia gegen die Anklagen der Kenai zur Seite stand, und niemanden, der wusste, welche eliminierungswürdige Verbrechen sie tatsächlich beging. Wenn sie sowieso für die kleinsten Vergehen drakonisch bestraft wurde, warum sollte sie sich dann nicht für das einsetzen, was ihr richtig erschien?

Mit gerunzelter Stirn betrachtete Saycia den neuen Datencode, den sie gerade in ihr Terminal eingetippt hatte. Zugegeben, das war nun definitiv nicht nur ein kleiner Verrat. Aber so aussichtslos es auch war, dass sie, eine einfache kaledronische Technikerin, je etwas an einem jahrhundertealten Machtsystem zweier rigoros getrennter Gesellschaftsklassen ändern konnte, es war für Saycia unmöglich, sich mit dem momentanen Zustand ihrer Heimatstadt abzufinden. Manchmal hasste sie allerdings dieses Gefühl tief in ihrem Inneren, das ihr andauernd suggerieren wollte, es gäbe da noch mehr. Mehr für Kaledron.

Mehr für mich selbst … Saycias Finger verkrampften sich und am liebsten hätte sie auf irgendetwas eingeschlagen.

Natürlich tat sie es nicht. Stattdessen schlüpfte sie in der Dämmerung des Abends durch den südöstlichen Stadtausgang.

Gewissenhaft sah Saycia sich um, bevor sie sich unter die Bäume am Rande ihrer Lieblingslichtung zurückzog. Sie setzte sich, vergrub ihr Gesicht an den Knien und weinte. Weinte um das, was sie verloren hatte, und um alles, was sie niemals bekommen würde.

Ein plötzlicher Windstoß raschelte in den belaubten Zweigen und strich ihr durch die langen Haare. Seltsamerweise tröstete es Saycia und nach einer Weile versiegten die Tränen.

Dafür erwachte ein dumpfer Schmerz in ihrem Körper und mit einem wehmütigen Seufzen eilte Saycia zurück in die Stadt. Sie versteckte den Datenstift am üblichen Übergabeort und betrat einen weiter innenliegenden Bereich von Kaledron, in dem sie anhand ihres wieder aktiven Ortungschips aufgespürt werden konnte. Die Patrouille fand sie und erneut wurde Saycia ins Octentum geführt.

Es war derselbe Kenai wie bei ihrer letzten Festnahme und der Mann sah sie nachdenklich an. Die Linien in seinem Gesicht schienen sich vertieft zu haben und Saycia überlegte, was Nummer 131 seit ihrem letzten Aufeinandertreffen wohl getan hatte. Wie viele Menschen er bestraft, wie viele er eliminiert hatte.

»Lasst uns allein!«, befahl der Kenai.

Nach einem kurzen Zögern gehorchten seine beiden Wachen und der Patrouillenführer, der sie hierhergebracht hatte.

Nummer 131 stand auf und bewegte sich langsam auf sie zu. Saycia kam nicht umhin den kraftvollen Gang seiner Schritte zu bewundern, den muskulösen Körper, der auf ein jahrelanges Training schließen ließ. Wäre nicht dieser grausame Zug in seinem Gesicht gewesen, hätte der Mann tatsächlich gut ausgesehen.

»Saycia, warum tust du das? Du weißt, dass wir dich niemals in Ruhe lassen werden, bevor du uns nicht alles gesagt hast, was wir wissen wollen.«

Die Frage verwirrte Saycia, noch nie hatte einer der Kenai Interesse an ihrem Schicksal gezeigt. Aber keinesfalls würde sie die fehlerhafte Programmierung der Wächter verraten oder welche Eliminierungsanordnungen und Strafmaße sie heimlich manipulierte. Nicht, solange sie die Hoffnung hegte, auch nur einem einzigen Kaledronier jene psychische Folter ersparen zu können, die sie selbst bereits Dutzende Male durchlitten hatte. Also tat Saycia das, was sie immer tat. Sie schwieg.

Die grauen Augen des Kenais verdunkelten sich. Er zog einen Dolch aus der kostbar verzierten Scheide, die am Gürtel seiner Uniform befestigt war. Unabhängig von den goldenen Abzeichen an seiner Brust wies ihn diese Klinge als Zugehörigen der kaledronischen Sicherheits-Eliteeinheit aus. Warum in einem Zeitalter von hochtechnologisierten Waffen ausgerechnet ein altmodischer Dolch als Erkennungszeichen diente, war Saycia ein Rätsel, aber vielleicht konnten die Kenai mit Dolchen einfach noch besser umgehen, als einen simplen Befehl in ein Terminal einzutippen.

Nummer 131 wendete den Dolch und streckte ihn ihr mit dem Griff voran entgegen. »Wenn du so viel Wert darauf legst, unbedingt zu sterben, dann tue es jetzt gleich.«

Irritiert starrte Saycia die Klinge an. Menschen der unteren Klasse war es nicht erlaubt, Waffen zu tragen, egal ob altmodische oder technologisierte.

»Nimm ihn!« Der Kenai trat einen weiteren Schritt auf Saycia zu. »Ansonsten wirst du es bereuen.«

Die jahrelangen Erfahrungen hatten Saycia gelehrt, dass sie niemandem trauen konnte und einem Kenai schon mal gar nicht. Also rührte sie sich nicht von der Stelle. Der Mann wartete einen Augenblick, dann steckte er den Dolch wieder in die Scheide an seiner Hüfte.

»Falsche Entscheidung«, bemerkte Nummer 131 knapp. Er trat an sein Terminal, drückte einen Knopf und der Patrouillenführer kehrte ins Zimmer zurück.

»Eine Stunde Psychojustierung auf der allerhöchsten Stufe«, erklärte Nummer 131 in dessen Richtung, während er gleichzeitig etwas in sein Terminal eintippte. »Abführen!«

Bevor sie gepackt werden konnte, schlüpfte Saycia bereits aus der Tür und wandte sich in Richtung des Straftrakts. Heute fielen ihr die Schritte durch die Gänge des Octentums allerdings noch weitaus schwerer als beim letzten Mal und selbst der Arzt schien in Anbetracht des harten Urteils zu zögern. Er wechselte einen Blick mit ihrem Bewacher und zückte dann doch den metallischen Stift. Und Saycia tat etwas, das sie bisher nie getan hatte, weil sie wusste, wie sinnlos es war.

Sie wehrte sich, sträubte sich, sie schrie, sie kämpfte. Natürlich dauerte es nur wenige Sekunden, bis der Patrouillenführer über das an seinem Oberarm befestigte Kontrollmodul ein Signal an sie aussandte, auf welches ihr Neurotransmitter umgehend mit der völligen Lähmung ihres Körpers reagierte. Saycia stürzte zu Boden und zur Bewegungslosigkeit verdammt, musste sie es ertragen, wie sie auf die Seite gerollt wurde und sich der Justierungsstift tief in ihren Nacken bohrte.

Noch bevor das erste Bild erschien, noch bevor der erste Laut erklang, wusste Saycia, dass der Kenai Nummer 131 recht behalten würde. Jetzt war es allerdings zu spät.

***

Bereits eine Woche war seit ihrer Bestrafung im Octentum vergangen und trotzdem zitterten Saycias Hände noch. Sie saß an ihrem Arbeitsplatz und musste ihre Dateneingaben wieder und wieder korrigieren, weil es ihr unmöglich war, die richtigen Tasten zu treffen. Es schien sich jedoch keiner daran zu stören, dass sie derzeit kein einziges vernünftiges Programm zustande brachte. Hauptsache, sie rebellierte nicht mehr.

Saycia biss sich auf die Lippe, so fest, dass sie schließlich den metallischen Geschmack von Blut in ihrem Mund wahrnahm. Ihr Terminal begann zu piepsen, aber Saycia hörte es kaum. Sie versuchte, die Erinnerung aus ihrem Kopf zu vertreiben, wie sie von zahlreichen Männern benutzt und anschließend Stück für Stück aufgeschlitzt wurde, auf welche qualvolle Weise sie ihre Fingernägel und ihr Augenlicht verloren hatte. Ein Szenario, das extra für sie ersonnen worden war. Um ihren Willen zu brechen. Um einen Teil ihres Selbst für immer zu zerstören. Es hatte außerordentlich gut funktioniert.

In einer schrillen Kakophonie von zahlreichen Alarmtönen sackte Saycias Kopf zur Seite. Sie spürte, wie jemand sie hochhob und erneut wurde sie ins Octentum gebracht, dieses Mal jedoch in einen Bereich, der für die Ärzte von Kaledron vorbehalten war. Eine dumpfe Stimme murmelte etwas von einer kranken Arbeiterin und kurz darauf wurde Saycia in ein kleines Zimmer getragen und auf einer kalten Metallpritsche abgelegt.

Instinktiv rollte sich Saycia zusammen und verharrte so für mehrere Stunden, während in ihren Gedanken Realität und virtuelle Erlebnisse miteinander verschmolzen. Schmerzen, von denen sie nicht wusste, welchen Ursprung sie hatten, ließen ihren Körper immer wieder erbeben und einige Male keuchte Saycia unbewusst auf.

Gegen Abend trat eine gelangweilt wirkende Frau in einer hellgrünen Uniform an ihre Pritsche und tastete flüchtig über Saycias heiße Stirn, bevor sie ihr eine Spritze in den Oberarm gab. Saycia fühlte sich zu matt, um sich zu wehren und die Ärztin verschwand, ohne ein Wort zu verlieren, wieder aus dem Zimmer.

Die nächsten beiden Tage starrte Saycia hauptsächlich benommen vor sich hin, innerlich gefangen in einer grausamen, verstörenden Welt. Ab und an fiel sie in einen kurzen, unruhigen Schlummer oder einer der Ärzte erschien an ihrer Seite und verabreichte ihr ein Medikament, von dem Saycia nicht wusste, was es bewirken sollte. Dann sank ihr Fieber allmählich und obwohl ihre Erinnerungen sie immer noch quälten, waren diese doch nicht mehr unerträglich.

Jedenfalls, so lange es Saycia vermied, allzu viel zu denken. Denn sobald sich der kleinste Funken eines Widerstands in ihr regte, spürte sie wieder den Stich in ihrem Nacken.

Saycia wurde aus dem Octentum entlassen und zurück an die Arbeit geschickt. Gleichgültig und fast wie in Trance verrichtete sie ihre vorgegebenen Pflichten, doch von Tag zu Tag wich ihre Apathie einem immer stärker werdenden Gefühl von Sehnsucht. Wonach genau, wusste Saycia nicht, aber einen knappen Monat nach der schlimmsten Psychojustierung, die sie jemals erlitten hatte, war sie endlich bereit, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die ihr gesamtes Leben verändern sollte.

Die Wächter am Südostausgang meldeten ihr unerlaubtes Entfernen aus Kaledron auch dieses Mal nicht und nachdem Saycia den flimmernden Schutzschild durchschritten hatte, betrat sie den Wald. Bald erreichte sie die kleine Lichtung, die sie schon so oft besucht und die ihr so viele Qualen bereitet hatte. Statt sich zu setzen, lief Saycia heute allerdings weiter und immer weiter, bis der Schmerz in ihrem Körper sie taumeln ließ. Und trotzdem stoppte Saycia nicht, für ein Zurück war es eh zu spät. Wer sich zu weit von seinem zugewiesenen Sektor in Kaledron entfernte, für den gab es nur das eine Schicksal.

Saycias Blickfeld verschwamm. Sie stolperte und dieses Mal schaffte sie es nicht mehr, sich zu erheben. Der erdige Geruch des Waldbodens drang ihr in die Nase und der Wind streichelte sanft über ihr Gesicht. Saycia lächelte, hatte sie also doch noch etwas von dem gefunden, was sie so lange vermisst hatte. Ein tief empfundenes Gefühl von Frieden senkte sich über sie. Und dann wurde es Nacht.

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DREI

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Schmerz. Eine ganze Welt nur voller Schmerz. Ihr Handgelenk, ihr Nacken, ihr gesamter Körper – es gab keine einzige Stelle, die nicht in Flammen zu stehen schien. Hunderte Male hatte Saycia gefleht, erlöst zu werden, tausende Male. Keiner hatte sie erhört. Nur wenn sich der Wind erhob, wurde es ein wenig erträglicher.

Saycia wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, bis sie endlich wieder in der Lage war, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte und als sich ihr Blick langsam schärfte, wartete eine völlig fremde Umgebung auf sie. Ein Raum, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Es gab kein Datenterminal, keine Sensoren, kein einziges technisches Gerät. Die grob behauenen Steinwände wurden von dem flackernden Licht brennender Kerzen erhellt und nur der blaue Schutzschild, der den Ausgang des Zimmers versperrte, schien identisch mit jenen im Straftrakt des Octentums zu sein.

Auf dem Boden neben ihrem Bett, das über verschwenderisch viele Kissen und Decken verfügte, saß ein schlafender Mann mit kinnlangen, schwarzen Haaren. Statt eines zweckmäßigen Anzugs trug er ein dunkles Cape, dessen Webmuster Saycia äußerst merkwürdig erschien. Seine restliche Kleidung war ebenfalls dunkel gehalten, die langärmelige, durchscheinende Tunika, unter der sich ein muskulöser Oberkörper abzeichnete, eine Hose aus festerem Stoff und die bis an die Knie geschnürten Stiefel, die trotz einiger Abnutzungserscheinungen äußerst robust wirkten. Der Kopf des Mannes war gegen die Wand gesunken und sein markantes, von einem Bartschatten verziertes Gesicht wirkte völlig entspannt.

Saycia versuchte sich aufzurichten, sank allerdings sofort wieder zurück. Ein Stöhnen entschlüpfte ihrer Kehle und nur einen Moment später spürte sie, wie sich jemand über sie beugte.

»Du bist ja wach.«

Saycia wollte etwas erwidern, doch der Mann legte ihr sofort einen Finger auf die Lippen. »Nicht sprechen.«

Seine Stimme klang ruhig und angenehm, aber ebenfalls so, als wenn er es gewohnt wäre, Anweisungen zu erteilen. »Ich heiße Ajun. Und den Daten deines Transmitters nach lautet dein Name Saycia, stimmt das?«

Saycia deutete ein Nicken an und der Mann zog seine Hand wieder zurück. »In Ordnung. Ich bin gleich wieder da. Nicht weglaufen, ja?« Ajun lächelte flüchtig, dann wandte er sich ab und durchschritt den Schutzschild des Ausgangs. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis er in Begleitung einer Frau zurückkehrte, die ebenfalls ein dunkles Cape trug. Die Fäden des Stoffs schienen jedoch auf eine andere Art und Weise miteinander verknüpft zu sein als jene von Ajuns Umhang.

»Hallo, Saycia. Ich bin Noreen«, stellte sich die Frau vor und trat dicht an ihr Bett heran. Sie und Ajun mussten ungefähr gleich alt sein – Saycia schätzte beide auf Anfang dreißig. Noreens braune Haare waren zu einem Zopf geflochten, der ihr bis knapp über die Schulter reichte, und ihre Augen wiesen eine irritierende, hellgrüne Farbe auf. Für einen Moment intensivierte sich das Grün sogar, dann verschwand das Leuchten und Noreen nickte nachdenklich. »Ich gebe dir etwas gegen deine Schmerzen, ja?«

In Noreens Fingern erschien wie aus dem Nichts ein metallischer Stift und Saycia konnte gar nicht anders, als panisch aufzukeuchen. Das Feuer, das in ihrem Körper wütete, rückte vollkommen in den Hintergrund und mit einer Kraft, von der sie selbst nicht so genau wusste, woher sie auf einmal kam, warf sich Saycia auf die Seite und aus ihrem Bett heraus.

Der Fußboden schnellte ihr entgegen, doch bevor sie darauf aufschlagen konnte, wurde ihr Sturz gebremst. Zwei Arme schlangen sich um sie und hielten sie fest, allerdings sehr behutsam statt brutal und gnadenlos. Verblüfft starrte Saycia zu Ajun auf und als Noreen sich ihnen langsam näherte, war Ajuns unerwartet sanfte Berührung der Grund, warum sie sich nicht von ihm losriss, sondern vielmehr enger an seine Brust presste.

»Was ist los mit ihr?«, erkundigte sich Ajun leise bei seiner Begleiterin und die seufzte. »Ich vermute, ich erinnere sie an einen Aufenthalt im Octentum …«

Saycia erschauderte bei der Erwähnung dieses verhassten Orts und augenblicklich erhöhte Ajun den Druck seiner Arme. Sogar der Wind war plötzlich wieder da.

»Beruhige dich, Saycia! Es kann dir hier nichts passieren. Niemand tut dir etwas. Es ist alles gut.«

Saycia wusste nicht, warum sie diesem Fremden glauben, ihm vertrauen sollte, aber nachdem Ajun seine Worte mindestens ein Dutzend Mal wiederholt hatte, ließ ihr Zittern tatsächlich nach. Dafür kehrte allerdings der Schmerz zurück und Saycia hatte das Gefühl, als wenn sie gleich explodieren würde.

»Kann -?«, vernahm sie Ajuns fragende Stimme, er wurde jedoch sofort von einem energischen »Nein!« unterbrochen.

»Es muss sein«, ergänzte Noreen und noch bevor sich Saycia über die Bedeutung dieser Worte klarwerden konnte, spürte sie eine Berührung in ihrem Nacken. Und erneut versank sie in der Finsternis.

***

Sie schrie. Sie wollte diese virtuellen Bilder nicht mehr sehen, konnte sie keinen einzigen Moment länger ertragen.

»Saycia.« Jemand berührte sie, zog sie eng an sich. »Es ist alles in Ordnung. Beruhige dich.« Wie durch ein Wunder verblassten die Bilder von gebrochenen Knochen und Strömen von Blut und wurden durch Ajuns sorgenvolle, dunkle Augen ersetzt. »Du hast geträumt. Es war bloß ein Traum.«

Saycia schluchzte auf und fuhr sich über die tränennassen Wangen. Ajun hielt sie noch eine Weile fest und tröstete sie stumm. Dann senkte er die Arme. Er wollte sich von ihrem Bett erheben, doch Saycia griff nach seiner Hand. Sie kannte diesen Mann kaum und hätte allen Grund gehabt, ihm zu misstrauen. Sein ungewöhnliches, freundliches Verhalten vermittelte ihr allerdings den seltsamen Eindruck, ihr Wohlergehen sei ihm wirklich wichtig. Und so wie sie sich momentan fühlte, mit ihrem brummenden Schädel, den schmerzenden Gliedern und ihrem jüngsten Albtraum vor Augen, sehnte sie sich geradezu verzweifelt nach der Gegenwart von jemandem, der ihr nicht schaden, sie nicht verletzen wollte.

»Bleib. Bleib bitte hier.« Ihre Stimme klang furchtbar, es war ein einziges, unverständliches Gekrächze.

Ajun erkannte wohl trotzdem, was sie wollte, und setzte sich wieder. »Ist ja schon gut«, murmelte er und erwiderte sachte den Druck ihrer Hand.

Für eine oder zwei Minuten verharrten sie so, dann trat Noreen durch den Schutzschild des Raums und bedachte sie mit einem aufmerksamen Blick. Eine instinktive Furcht breitete sich in Saycias Innerstem aus und ihr Herzschlag und ihre Atmung beschleunigten sich.

»Saycia, Noreen ist eine Freundin«, versuchte Ajun sie zu beschwichtigen. »Sie tut dir nichts.«

»Ist sie eine Ärztin?« Das war das Einzige, was Saycia interessierte.

»Ja.« Ajuns Stimme schwankte nicht, als er ihr antwortete. »Noreen ist so etwas wie eine Ärztin. Eine Heilerin. Sie hat dir das Leben gerettet.«

Nun, Tote zu foltern macht auch gewiss nicht halb so viel Spaß. Saycias Finger krallten sich zusammen und sie ließ Noreen nicht aus den Augen.

»Ajun, du wirst draußen verlangt«, sagte diese.

»Danke. Hab ich mir schon gedacht.« Ajun hob die Hand und strich Saycia eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich komme so schnell wie möglich zurück, Saycia. Es wird dir hier nichts geschehen, versprochen.« Und dann wich zum ersten Mal jede Form der Sanftheit aus Ajuns Miene und machte einer allumfassenden Strenge Platz. »Du wirst das tun, was Noreen dir sagt!«

Saycia war so verblüfft über diesen offenkundigen Befehl, dass sie die Gelegenheit versäumte, Ajun auch weiterhin festzuhalten. Er stand auf und verließ den Raum.

Jetzt war sie allein, allein mit einem Arzt. Das hatte noch nie ein gutes Ende genommen.

Noreen trat auf sie zu und wieder erschien urplötzlich etwas in ihrer Hand. Keine metallische Spitze, sondern ein Glas, mit einer trüben Flüssigkeit gefüllt. »Trink das. Es wird dir helfen.«

Saycia ignorierte die Frau und starrte auf den blauen Schild, der den Ausgang blockierte.

»Du kannst jetzt nicht raus«, bemerkte Noreen. Offenbar war sie ihrem Blick gefolgt. »Saycia, du bist krank und du hast Schmerzen. Du kannst dieses Zimmer momentan nicht verlassen.« Erneut streckte die Frau ihr das Glas entgegen. »Bitte, trink. Das ist wichtig für dich.«

Saycia wandte den Kopf ab und presste die Lippen fest zusammen. Die Ärztin würde sie schon dazu zwingen müssen.

Noreen seufzte, aber seltsamerweise beharrte sie nicht auf ihrer Forderung. »Wie du meinst. Probieren wir zuerst etwas anderes.« Noreen beugte sich über sie, legte ihre Hand an Saycias Kinn und brachte sie mit sachtem Druck dazu, zu ihr aufzusehen. Das Leuchten in ihren Augen verstärkte sich und dieses Mal war sich Saycia sicher, dass es keine Einbildung war.

Noreens Finger schlossen sich um ihr Handgelenk, danach berührte sie Saycias Stirn. Die Hitze in ihrem Inneren schien ein wenig zu schrumpfen und vollkommen überrascht riss sich Saycia los. »Wie hast du das gemacht?«

»Ich bin eine Heilerin«, entgegnete Noreen schlicht. »Es ist meine Aufgabe, dir zu helfen.«

In ihrem gesamten neunzehnjährigen Leben hatte Saycia von keinem einzigen Arzt der Welt gehört, dessen Aufgabe es war, jemand anderem zu helfen. Sie zog sich so weit von der Frau zurück, wie sie nur konnte, ohne aus dem Bett zu fallen.

»Du warst sehr oft im Octentum, nicht wahr?« Der Ausdruck in Noreens Miene wurde unendlich sanft.

Saycia schwieg. Was hätte sie schon sagen sollen?

»Das wird nie wieder passieren!« Jetzt klang Noreens Stimme voll unterdrückter Wut. »Niemand wird dich jemals wieder mit diesen grauenhaften, unmenschlichen Psychojustierungen quälen. Die Art der Folter ist für dich für immer vorbei.«

Saycia fiel nichts Besseres ein, als »Warum?« zu fragen.

Das Grün in Noreens Augen änderte sich erneut, wurde dunkler und dunkler, bis es beinahe schwarz wirkte. »Weil ich sie entfernt habe. Weil ich diesen verdammten Neurotransmitter, jeden Chip und jeden künstlichen Nervenstrang und alles, was da nicht hingehört, aus deinem Körper entfernt habe.«

Saycia wurde schlecht und irgendetwas schien sich den Weg aus ihrem Magen nach oben bahnen zu wollen.

»Trink«, sagte Noreen und Saycia tat es, ohne zu widersprechen. Kaum hatte sie das Glas geleert, breitete sich eine dumpfe Mattigkeit in ihr aus und sie konnte kaum noch die Augen offen halten. »Was … was passiert mit mir?«

»Nichts Schlimmes.« Vorsichtig nahm Noreen ihr das Glas aus der Hand. »Um dich zu erholen, musst du in erster Linie viel schlafen. Deswegen habe ich ein starkes Betäubungsserum in deine Medizin gemischt.«

Es war gut möglich, dass Noreen noch etwas zu den anderen Bestandteilen der verabreichten Flüssigkeit erzählte, doch das bekam Saycia schon gar nicht mehr mit.

***

Als sie das nächste Mal erwachte, musste eine Menge Zeit verstrichen sein, denn die Kerzen im Raum waren um ein gutes Stück heruntergebrannt und einige waren durch neue ersetzt worden. Die Haare klebten Saycia nass an der Stirn und ihre Kehle fühlte sich rau und spröde an. Finger tasteten behutsam über ihr Gesicht und das schlimmste Feuer in ihrem Inneren verlosch.

»Hier.« Noreen streckte ihr ein Glas entgegen, aber Saycia weigerte sich beharrlich es anzunehmen. Die Ärztin – oder Heilerin, oder wie auch immer – schnaubte belustigt auf. »Es ist nur Wasser«, behauptete sie. So sah die klare Flüssigkeit tatsächlich aus, trotzdem zögerte Saycia. Warum sie dann doch nach dem Glas griff, lag vor allem daran, dass sie sich weitaus besser fühlte als nach ihrem letzten Erwachen. Und an ihrem entsetzlichen Durst.

In gierigen Schlucken trank sie und ob es nun Wasser war oder nicht, es schmeckte unglaublich köstlich.

»Besser?« Noreen lächelte und Saycia nickte zaghaft. Sie reichte das Glas zurück und erhielt im Gegenzug eine Schale mit Suppe.

»Ich hoffe, sie ist genießbar – in dieser Woche bin nämlich ich mit Kochen dran und das ist nicht gerade meine Stärke.« Die Heilerin zwinkerte ihr zu und argwöhnisch stippte Saycia ihren Löffel in die Suppe und kostete. Ihre Vorsicht war allerdings vollkommen unnötig – sie hatte noch nie etwas Besseres gegessen. Aus was auch immer diese Suppe bestand, es waren gewiss keine synthetischen Zutaten. Saycia fehlten die Worte, um den köstlichen Geschmack, der auf ihrer Zunge lag, zu beschreiben, aber sie wollte – nein, sie musste! – unbedingt mehr davon haben. Im Nu hatte sie die Schale geleert und als Noreen ihr diese wieder abnahm, murmelte sie: »Danke – das war sehr lecker.«

Die Heilerin reagierte mit einem solch glücklichen Strahlen auf das Lob, dass nun auch Saycia flüchtig lächeln musste. Anschließend wandte sie den Kopf, um den blauen Schutzschild des Ausgangs zu fixieren. »Ich möchte raus«, sagte sie leise.

Noreen schien zu überlegen. »Warte kurz.«

Sie verließ das Zimmer, dafür trat einige Minuten später Ajun ein und in seiner Miene zeichneten sich sowohl Sorge, als auch Belustigung ab. »Saycia, du bist noch nicht gesund«, hielt er mit mildem Tadel in der Stimme fest.

»Ist mir egal. Ich will jetzt hier raus!« Die Worte waren ihr trotziger entschlüpft, als sie das beabsichtigt hatte, und rasch ergänzte Saycia ein »Bitte«.

»Na dann geh doch.« Ajun wich demonstrativ zur Seite. »Ich halte dich nicht auf.«

Saycia starrte erst ihn und danach das blaue Flimmern des Schutzschilds an. Wie sollte sie bitte ohne ein Implantat oder das entsprechende externe Kontrollmodul ein energetisches Feld durchqueren?

»Ach so, das.« Ajun schnippte mit den Fingern und das blaue Leuchten erlosch. »Das war nicht dafür gedacht, dich hier drinnen einzusperren. Eher, um einige etwas zu neugierige Menschen draußen zu halten. Es ist jetzt weg, du kannst gehen.«

Ungläubig musterte Saycia die nun freie Öffnung in der Wand. Trotz ihrer technischen Affinität entzog sich die Funktionsweise dieses Schilds völlig ihrem Verständnis. Aber egal. Saycia sprang auf und stürzte auf den Ausgang zu. Und stürzen traf es ganz genau, denn irgendwie wollten ihre Beine nicht dasselbe, was sie wollte.

»Hm, vielleicht ein bisschen langsamer«, empfahl Ajun, der sie wieder einmal aufgefangen hatte. Seine Arme lagen warm an ihrem Körper und er grinste ungeniert. »Darf ich?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, hob Ajun sie hoch und trat mit ihr in einen schwach erleuchteten Gang hinaus. Nach einigen Metern durchschritten sie einen steinernen Torbogen und Saycia blinzelte gegen das grelle Licht der späten Nachmittagssonne.

Als sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, entdeckte sie zwei Männer in dunklen Umhängen, die dicht an ihnen vorbeigingen. Sie streiften Saycia mit einem knappen Blick und wandten sich wieder ab. Ajun strebte eine Gruppe von Bäumen an und als er dort angekommen war, ließ er Saycia langsam zu Boden gleiten. Es war recht kühl und in der schlichten, hellen Tunika und der schwarzen Hose, die sie statt ihres früheren, grauen Arbeitsanzugs trug, fror Saycia. Sie zog die Knie eng an ihre Brust.

Ajun setzte sich neben sie, streckte die Hand in ihre Richtung aus und die Temperatur stieg merklich an. Ein weiteres Rätsel, das Saycia nicht zu entschlüsseln vermochte.

»Wie machst du das?« Fragend sah sie zu Ajun hinüber, doch er lächelte bloß und schwieg. Im Gegensatz zu Noreens hellgrünen Augen besaßen seine kein ungewöhnliches Leuchten, sie waren einfach nur schwarz. Noch während Saycia diesen Gedanken hatte, erkannte sie, wie falsch sie lag. Mitternachtsblaue Sprenkel zeichneten sich in der Dunkelheit ab und es wurden mehr, je länger sie Ajuns Augen betrachtete. Verwirrend …

Nur mit Mühe schaffte Saycia es, den Blick in eine andere Richtung zu wenden. »Was sind das für Gebäude?« Sie deutete auf eine Vielzahl von bunten, zwei- und dreistöckigen Häusern, die etwa hundert Meter von ihr entfernt standen und von denen kein einziges aus glitzerndem, weißen Plastkristall bestand.

»Alles Mögliche«, erläuterte Ajun. »Wohnquartiere, Unterrichtsräume und dort hinten befinden sich verschiedene Trainingsplätze und Ställe für unsere Pferde. Im Wesentlichen ist dies hier eine Ausbildungsstätte.«

»Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Staunend musterte Saycia ihre Umgebung bis ins kleinste Detail. Verschiedene Pfade verliefen auf der festgestampften Erde, kreuzten sich oder endeten außerhalb ihres Blickfeldes. Hier und da gab es eine Ansammlung von Bäumen und Büschen und hinter den Gebäuden erhob sich ein sanfter Hügel. Kein Muster war in dieser Anordnung zu erkennen, es war ein einziges Chaos, eine Platzverschwendung. Die eiserne Ordnung, die in Kaledron herrschte, verbot so etwas von selbst, die Fläche unterhalb des Schutzschildes war schließlich begrenzt.

»Und wo genau befinden wir uns? In Kaledron ja definitiv nicht«, erkundigte sich Saycia stirnrunzelnd.

»Das stimmt.« Ajun bedachte sie mit einem amüsierten Blick. »Unsere Nation heißt El-Sosash und diesen Ort hier nennen wir Clentale. In El-Sosash leben die Menschen nicht in einer einzelnen Megastadt, sondern in vielen, weit verstreuten und wesentlich kleineren Gemeinschaften.«

Saycia hatte noch nie etwas von El-Sosash oder von Clentale gehört. Die kaledronische Obrigkeit schätzte es schließlich nicht sonderlich, wenn man zu viele Fragen stellte. Oder auch nur eine einzige Frage.