Wolf Shadow
Verlockende Gefahr
Magische Versuchung
Wolf Shadow – Verlockende Gefahr
Lili Yu ist Spezialistin für übernatürliche Verbrechen bei der Polizei von San Diego. Sie wird mit den Ermittlungen in einem Mordfall betraut, der scheinbar das Werk eines Werwolfs ist. Um den Mörder aufzuspüren, muss sie Zugang zu den Werwolfclans finden. Dies ist ihr nur mit der Hilfe von Rule Turner möglich, dem Prinzen des Nokolai-Clans. Doch sie kann Rule nicht vertrauen, denn er ist einer der Hauptverdächtigen und verfolgt seine eigenen Ziele. Lili versucht, auf Distanz zu bleiben, doch es fordert ihre gesamte Willenskraft, der magischen Anziehungskraft des charismatischen Werwolfs zu widerstehen.
Wolf Shadow – Magische Versuchung
In ihrem neuen Job als Agentin in einer Spezialeinheit des FBI zur Aufklärung von magischen Verbrechen hat Lili Yu alle Hände voll zu tun. Sie soll den charismatischen Anführer eines Kults aufspüren, der eine uralte böse Macht beschwören will. Als dieser Lili in eine Falle lockt, gerät ihre ganze Welt aus den Fugen. Ihre einzige Hoffnung ist Rule Turner, mit dem sie eine besondere Magie verbindet. Trotz der Leidenschaft, die beide füreinander empfinden, weiß Lili nur wenig über den gut aussehenden Werwolf. Doch ihr bleibt keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, wenn sie ihr Leben retten und den Fall lösen will.
Wolf Shadow
Verlockende Gefahr
Ins Deutsche übertragen
von Antje Görnig
Dieses Buch ist meiner Agentin Eileen Fallon gewidmet, die mit mir durch dick und dünn ging und immer bei der Stange blieb – und am Telefonhörer. Ich wollte nur sagen: »Hi, Eileen – hier ist Eileen. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«
Viel war von seinem Gesicht nicht mehr übrig. Lily blieb auf Abstand und achtete darauf, dass ihre neuen schwarzen Stöckelschuhe nicht mit der Blutlache in Berührung kamen, die an den Rändern bereits eingetrocknet, um die Leiche herum jedoch noch feucht war. In den Jahren bei der Verkehrspolizei hatte sie allerdings schon Schlimmeres gesehen.
Es war jedoch etwas anderes, wenn jemandem solche Verletzungen vorsätzlich zugefügt worden waren.
In der warmen Luft hingen Nebelschwaden, die im Licht der Polizeischeinwerfer sichtbar wurden, und sie spürte den feuchten Dunst im Gesicht. Der Geruch von Blut war deutlich wahrnehmbar. Blitzlichter zuckten durch die Nacht, während der Kollege Fotos vom Tatort machte.
»Hallo Yu! Juhu!«, rief der Officer mit der Kamera, ein etwas zu klein geratener Mann mit Backenhörnchen-Gesicht und rotem, kurz geschnittenem Haar, das wie der Flaum eines Pfirsichs anmutete.
Lily verzog das Gesicht. O’Brien wurde das alte Witzchen einfach nie leid. Wenn sie sich eines Tages im stolzen Alter von hundert Jahren im Pflegeheim über den Weg laufen sollten, dann wäre das Erste, was er zu ihr sagen würde: »Hallo Yu, juhu!«
Natürlich nur, falls sie ihren Mädchennamen in den nächsten zweiundsiebzig Jahren behielt. Doch angesichts des Trauerspiels, das sie augenzwinkernd als ihr Privatleben bezeichnete, war dies sehr wahrscheinlich. »Was ist, kleiner irischer Mann?«
»Sieht aus, als hättest du heute Abend ein heißes Date gehabt.«
»Nein. Mein Kater und ich machen uns immer fürs Abendessen schick. Dirty Harry sieht im Smoking großartig aus.«
O’Brien schnaubte und drehte ab, um den Tatort aus einer anderen Perspektive abzulichten. Lily schenkte ihm keine Beachtung mehr und ignorierte auch den anderen S. O. C.-Beamten, die Schaulustigen hinter dem Maschendrahtzaun und die Uniformierten, die diese in Schach hielten.
Eine Blutlache lockt immer Neugierige scharenweise an – wie ein Marmeladenklecks die Fliegen. Die Leute, die sich an diesem Tatort versammelt hatten, kamen jedoch nicht aus der Nachbarschaft. Die Bewohner dieses Viertels wussten ganz genau, dass Neugier sie unter Umständen teuer zu stehen kam. Sie wussten auch, wie sich eine Schießerei anhörte und wie Drogenhandel aussah. Bei den Menschen, die sich hier den Hals verrenkten, um einen Blick auf die blutige Szene zu erhaschen, handelte es sich vermutlich um Besucher des Nachtclubs am oberen Ende der Straße. Der Club Hell zog eine ganz spezielle Kundschaft an.
Auch der Tote sah nicht so aus, als käme er aus dieser Gegend.
Er lag auf dem Rücken. Zu seinen Füßen befand sich ein platt getretener Kaffeebecher, unter seinem Gesäß ein Fetzen Zeitungspapier und neben ihm eine zerbrochene Bierflasche. Was immer ihm die Kehle herausgerissen und das Gesicht verunstaltet hatte, hatte ein Auge und die rechte Wangenpartie unversehrt gelassen. Das braune Auge starrte entsetzt ins Leere, und der glatte Teint hatte die Farbe des Rattansessels auf der Veranda ihrer Mutter. Markenjeans, stellte sie fest, wie man sie in teuren Kaufhäusern fand. Schwarze Sportschuhe, ebenfalls von einer teuren Marke. Ein rotes Seidenhemd.
Der rechte Ärmel des Hemds war zerfetzt, der Unterarm wies drei tiefe Wunden auf – Abwehrverletzungen. Der Arm war ausgestreckt, die Hand lag mit dem Handteller nach oben, und die Finger waren nach innen gebogen wie bei einem schlafenden Kind.
Die andere Hand lag ungefähr vier Meter von der Leiche entfernt, unmittelbar neben dem Gestell einer Schaukel.
Himmelherrgott noch mal, jemand hatte diesen Kerl mitten auf einem Spielplatz so zugerichtet! Der Gedanke schnürte Lily die Kehle zu, und ihre Schultern zogen sich zusammen. Sie hatte schon viele Tote gesehen, seit sie ins Morddezernat versetzt worden war. Ihr drehte sich längst nicht mehr der Magen um, aber das Bedauern, die Betrübnis über die Vergeudung von Menschenleben war ihr geblieben.
Der Tote war nicht mehr jung genug gewesen, um Spaß am Schaukeln zu haben – Mitte zwanzig vielleicht. Sie schätzte ihn auf etwa eins achtzig bei einem Gewicht von neunzig Kilo. Er hatte Schultern und Arme wie ein Gewichtheber und beeindruckende Schenkel. Er war sehr stark gewesen und vielleicht auch ein wenig draufgängerisch.
Aber seine Kraft hatte ihm an diesem Abend nicht viel genützt. Auch die 22er-Pistole nicht, die er offenbar bei sich gehabt hatte. Sie lag neben der abgetrennten Hand und schien den gekrümmten Fingern in dem Augenblick entglitten zu sein, als das Leben sie verlassen hatte.
»Vorsicht, Detective! Machen Sie sich nicht Ihr hübsches Kleid schmutzig!«
Lily schaute nicht von der Leiche auf. Sie kannte die Stimme, denn der Mann hatte ihr Bericht erstattet, als sie eingetroffen war. »Tatorte werden häufiger von Polizeibeamten mit Fremdspuren kontaminiert als von Zivilisten. Haben Sie einen Grund, mit Ihren großen Füßen hier herumzutrampeln, Phillips?«
»Um Himmels willen, ich bin drei Meter von der Leiche entfernt!«
Nun sah sie ihn an. Officer Larry Phillips war die eine Hälfte des Teams, das zuerst am Tatort gewesen war. Lily hatte bisher noch nicht mit ihm zu tun gehabt, aber sie wusste, zu welcher Sorte er gehörte. Er war über vierzig, tat immer noch Streifendienst und war dementsprechend verbittert. Sie war eine Frau von achtundzwanzig Jahren und bereits Detective.
Er konnte sie nicht leiden. »Ob Sie es glauben oder nicht«, sagte Lily, »es wurde schon in mehr als drei Metern Entfernung von Leichen Beweismaterial gefunden. Was wollen Sie?«
»Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass keiner der hilfsbereiten Bürger hinter dem Zaun etwas gesehen hat. Sie haben im Club gefeiert und ihn gemeinsam verlassen und sahen dann die Streifenwagen mit dem hübschen Blaulicht. Also sind sie hergekommen, um nachzusehen, was los ist.«
»Im Hell, meinen Sie?«
»Dort werden Sie nach dem Mörder suchen müssen. Das Labor wird in diesem Fall keine Hilfe sein.«
»Es gibt ja auch noch andere Beweismittel.«
Er schnaubte. »Ja, vielleicht hat der Täter seine Visitenkarte dagelassen. Oder Sie schließen sich der Meinung meines Partners an. Er glaubt, es sei das Werk eines Straßenköters.«
Lily schaute zu dem Loch in dem Maschendrahtzaun hinüber, das als Zugang zum Tatort diente. Dort stand Phillips’ Partner, ein junger Hispano-Amerikaner, der zusammen mit den anderen Beamten die Menge im Zaum hielt und sich Namen und Adressen notierte. »Ihr Partner ist wohl neu hier?«
»Ja.« Phillips kramte einen verpackten Zahnstocher aus seiner Tasche, zog ihn aus der Zellophanhülle und klemmte ihn sich zwischen die Lippen. »Ich habe ihm schon erklärt, dass Hunde einem Menschen für gewöhnlich nicht mit einem Happs die Hand abbeißen.«
Phillips war nicht blöd, das musste sie zugeben, nur nervig. Sie nickte. »Ein halbwegs kräftiger Mann kann einen Hund in der Regel abwehren. Aber es gibt kaum Kampfspuren, und dann ist da noch die Pistole …« Die das Opfer vermutlich bei sich getragen hatte, doch es bestand auch die Möglichkeit, dass eine dritte Person am Tatort gewesen war. Lily schüttelte den Kopf. »Das Biest muss ihn ziemlich schnell erledigt haben.«
»Schnell sind sie, das stimmt. Dem armen Kerl blieb vermutlich nicht mal genug Zeit, um festzustellen, dass seine Hand weg war.«
»Aber er hatte den richtigen Instinkt. Er hat versucht, den Kopf zu senken und so seinen Hals zu schützen. Dabei hat er den Großteil seines Gesichts verloren. Dann hat es ihm die Kehle herausgerissen.«
»Na, na, na. Sie sollen doch nicht ›es‹ sagen. Wir müssen jetzt ›er‹ sagen und sie wie Menschen behandeln. Sie genießen jetzt den Schutz des Gesetzes.«
»Ich kenne das Gesetz.« Lily sah zu Phillips auf. Das musste sie notgedrungen, denn er war ein drahtiger Kerl von gut eins neunzig. Eigentlich musste Lily zu fast jedem aufsehen, doch sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr darüber zu ärgern. »Das hier ist Ihr Revier, Officer. Können Sie den Toten identifizieren?«
»Er ist nicht aus diesem Viertel.«
»Ja, das dachte ich mir. Vielleicht war er auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer – Drogen oder Sex –, oder ihm stand der Sinn nach den etwas legaleren Vergnügungen im Hell. Wenn er dort Stammkunde war, haben Sie ihn vielleicht schon mal hier gesehen.«
Phillips schüttelte den Kopf. Der Zahnstocher schien regelrecht an seiner Unterlippe festzukleben. »Das ist kein Tötungsdelikt im Zusammenhang mit Drogen, und das war auch kein Zuhälter, der einen zahlungsunwilligen Freier bestraft hat. Das ist eigentlich gar kein richtiger Mordfall.«
Drei Jahre zuvor wäre ein solcher Fall noch an die X-Einheit gegangen. Nun war das Morddezernat dafür zuständig. »Die Gerichte sehen das anders.«
»Und wir wissen ja, wie clever unsere gefühlsduseligen Richter sind! Ihretwegen müssen wir die Bestien jetzt wie Menschen behandeln. Die Schweinerei zu Ihren Füßen zeigt ja, was für eine großartige Idee das ist!«
»Ich habe schon schlimmere Dinge gesehen, die Menschen anderen Menschen angetan haben. Und wie dem auch sei, der Tatort darf auf keinen Fall verunreinigt werden!«
»Klar doch, Detective.« Phillips grinste spöttisch und wandte sich zum Gehen. Dann hielt er jedoch noch einmal inne und nahm den Zahnstocher aus dem Mund. Als er Lily in die Augen sah, waren Spott und Verärgerung aus seinem Blick verschwunden. »Noch ein Rat von jemandem, der fünfzehn Jahre bei der X-Einheit war: Nennen Sie sie, wie Sie wollen, aber setzen Sie Lupi nicht mit Menschen gleich. Man kann ihnen kaum etwas anhaben, sie sind schneller als wir, sie sind stärker, und wir scheinen ihnen ziemlich gut zu schmecken.«
»Dieser hier hat sich offenbar nicht viel Zeit zum Genießen gelassen.«
Phillips zuckte mit den Schultern. »Er wurde gestört. Und denken Sie immer daran, dass Lupi rechtlich gesehen nur dann Menschen sind, wenn sie auf zwei Beinen herumlaufen. Wenn Sie auf einen Vierbeiner treffen, nehmen Sie ihn nicht fest. Erschießen Sie ihn auf der Stelle!« Er schnippte seinen Zahnstocher auf den Boden. »Und zielen Sie auf das Gehirn!«
»Ich werde es mir merken. Heben Sie den Zahnstocher auf!«
»Was?«
»Der Zahnstocher! Er hat nichts am Tatort verloren. Heben Sie ihn auf!«
Phillips bückte sich mürrisch, schnappte sich den Zahnstocher und murmelte im Weggehen etwas von »Haare auf den Zähnen«.
»Einen Freund hast du da aber nicht gerade gewonnen«, bemerkte O’Brien fröhlich.
»Ich bin auch ganz unglücklich darüber.« Lily sah zur Straße. Das Auto, das hinter dem Krankenwagen angehalten hatte, war vom Büro des Coroners.
Sie musste sich beeilen. »Wie es aussieht, wird das Opfer schon bald offiziell für tot erklärt. Bist du mit den Fotos fertig?«
»Willst du es dir noch genauer ansehen?«
Seine Frage klang ganz harmlos und beiläufig, aber es war klar, was er meinte. O’Brien arbeitete schon lange genug mit ihr zusammen, um zu wissen, dass es bei ihr nicht auf das Sehen ankam, doch das sagte er natürlich nicht. Sensitive waren zwar bei der Polizei nicht verboten, aber es konnte durch sie zu Komplikationen kommen. Offiziell praktizierte die Behörde im Umgang mit diesen Dingen eine Politik des stillschweigenden Einverständnisses.
Dabei ging es nicht allein um Vorurteile. Nicht reproduzierbare Erkenntnisse waren vor Gericht als Beweismaterial nicht zulässig, und ein guter Strafverteidiger konnte die Zeugenaussage eines Polizeibeamten in Fetzen reißen, wenn den Ermittlungen auch nur ein Hauch des Übernatürlichen anhaftete.
Aber Cops waren in der Regel pragmatisch. Inoffiziell galt die Devise, dass man tat, was immer nötig war, um einen Übeltäter zu fassen, auch wenn man es unter der Hand tun musste. Und genau aus diesem Grund war Lily nun in diesem Elendsviertel und musste eine Leiche untersuchen, statt auf der Verlobungsparty ihrer Schwester die Annäherungsversuche von Henry Chen abzuwehren. Was wiederum bewies, dass man allem etwas Positives abgewinnen konnte, wenn man nur wollte. Lily sah O’Brien in die Augen und nickte.
»Mach nur«, sagte er und ging, während er an seiner Kamera herumhantierte, ein paar Schritte zur Seite, um sich zwischen sie und die Schaulustigen hinter dem Zaun zu stellen.
Er war zwar nicht stämmig genug, um den Leuten vollständig die Sicht zu versperren, aber er erschwerte es ihnen, genau zu erkennen, was sie tat. Dafür war Lily ihm dankbar. Sie stellte ihren Rucksack ab und kniete sich vor die Leiche, wobei sie darauf achtete, dass ihr Rock nicht zu weit hochrutschte. Dann ergriff sie die Hand des Toten.
Sie war schlaff. Noch keine Totenstarre. Wächserne Haut. Die Hand war blau angelaufen, und das Gesicht hatte eine leicht violette Färbung. Kaum Leichenflecken sichtbar. Alles nur Anhaltspunkte, aber sie deuteten darauf hin, dass der Mann noch nicht lange tot gewesen war, als die Leitstelle um 23:04 Uhr den anonymen Hinweis erhalten hatte.
Er hatte kurz geschnittene, saubere Nägel. Sie waren rechteckig und die Finger im Verhältnis zu den großen Handtellern eher kurz. Teilweise verheilte Kratzer auf den Fingerknöcheln … Er hatte sich offenbar ein paar Tage zuvor geprügelt. Die Nagelbetten waren blass. Keine Ringe an den Fingern.
Und keine Reaktion in ihrem Inneren.
Blut war in die Handfläche gelaufen und zu einem schwärzlich-braunen Fleck getrocknet, der kleine Risse bekam, als sie die Hand etwas drehte, um besser sehen zu können. In dem Blutfleck klebte ein Büschel melierte Haare. Lily fuhr mit den Fingern darüber.
Es war, als ob sie eine Wand berührte und die in ihr gespeicherte Wärme spürte, nachdem die Sonne längst untergegangen war. Oder wie das Gefühl, wenn man eine Bohrmaschine zur Seite legt, die Hände aber immer noch zu vibrieren scheinen.
Aber eigentlich waren es weder Wärme noch Vibration, die sie nun wahrnahm. Lily hatte noch kein Wort gefunden, um das unverkennbare Gefühl zu beschreiben, das sie verspürte, wenn sie etwas anfasste, dem Magie anhaftete.
Einmal hatte sie versucht, es ihrer Schwester zu erklären – Beth, der jüngeren, nicht ihrer perfekten älteren Schwester: Wenn alles, was man tagtäglich berührte, glatt und weich war, dann merkte man sofort, wenn man auf etwas Raues stieß – auch wenn es sich nur ein ganz kleines bisschen rau anfühlte wie an diesem Abend.
Nein, dachte Lily und legte die Hand des Toten vorsichtig ab. Das Labor würde über den Mörder tatsächlich nicht viel in Erfahrung bringen. Nicht mehr, als sie durch die Berührung der Haare erfahren hatte, die in der blutigen Hand des Opfers klebten. Sie erhob sich.
»Und? Hatte der Bestienjäger recht?«, fragte O’Brien. »Verschwende ich nur meine Zeit, wenn ich Proben sammle?«
Lily sah ihn scharf an. »Du wirst ganz vorschriftsmäßig vorgehen!«
Er verdrehte die Augen. »Ja doch! Als müsstest du mir sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe!«
»Tut mir leid.« Sie atmete tief durch, um wieder klar denken zu können. »Ja, Phillips hatte recht. Das Opfer ist ein Mensch, aber der Mörder ist ein Werwolf.«
»Ein Lupus, meinst du.« O’Brien wackelte mit den Augenbrauen. »Dazu haben wir doch ein Memo bekommen. Lupus ist der Singular, Lupi der Plural.«
»Wie auch immer, ein Mörder ist er auf jeden Fall …« Enerviert von so viel Political Correctness zuckte sie mit den Schultern und warf den Neugierigen hinter dem Zaun einen Blick zu. »Dann werde ich dem Club Hell wohl heute noch einen Besuch abstatten.«
Fünfzehn Minuten später hatte der Assistent des Coroners das Opfer für tot erklärt, und Lily wusste, um wen es sich handelte: Carlos Fuentes, fünfundzwanzig. Die Adresse im Führerschein lautete: 4410 West Thomason, Apartment 33C. Phillips überprüfte die Angaben, und Lily machte sich daran, die hilfsbereiten Mitbürger hinter dem Zaun zu befragen.
Es waren sechs an der Zahl, vier Frauen und zwei Männer. Leder und Piercings schienen derzeit bei beiden Geschlechtern ziemlich angesagt zu sein – und Haut zu zeigen.
Die Frau, die sich gerade den Führerschein ansah, den Lily ihr in einer Plastikhülle hinhielt, trug eine lindgrüne Lederhose und ein Top aus zweieinhalb Zentimeter breiten Lederriemen, die sich über ihren Brüsten kreuzten. In ihrem blonden Haar prangten violette Strähnen. Im linken Ohr trug sie sieben Ringe, im rechten drei, im rechten Nasenflügel einen Rubinstecker und im Bauchnabel eine kleine Kreole.
Sie hieß Stacy Farquhar und hatte eine Piepsstimme wie ein kleines Mädchen. »Ich weiß, dass ich ihn schon mal gesehen habe, aber auf Führerscheinfotos sieht keiner so aus wie in Wirklichkeit.«
Ein knochendürrer Mann mit einem schwarzen Leder-Bodysuit schaute ihr über die Schulter. Das dunkelbraune Haar, glänzend und gepflegt, reichte ihm bis über die Schultern. Er trug einen Ohrring im linken Ohr, entweder einen Diamanten oder eine sehr gute Imitation. »Sieht wie Carlos Fuentes aus.«
»Carlos?«, fuhr die andere Frau auf, eine pummelige Weiße mit gefärbtem schwarzem Haar, das zu Dutzenden kleiner Zöpfchen geflochten war. Sie drängte nach vorn und schaute auf den Führerschein in Lilys Hand. »Oh Gott! Er ist es! Armer Carlos!«
»Sie kennen Carlos Fuentes, Madam?«, fragte Lily.
»Wir alle kennen ihn! Das heißt … er kommt gelegentlich in den Club.« Sie sah die andere Frau beklommen an.
»Ach, um Himmels willen«, fuhr der hagere Mann auf, »das ist doch kein Geheimnis! Sie werden es sowieso herausfinden.«
»Weißt du, was du bist, Theo?«, entgegnete die pummelige Frau. »Du bist eifersüchtig. Total eifersüchtig!«
»Ich und eifersüchtig? Du bist doch diejenige, die …«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass du ihn wirklich verpfeifen würdest!«, rief Stacy. »Du weißt doch, was die Cops dann mit ihm machen!«
Die pummelige Frau nickte. »Die haben den Lupi jahrhundertelang das Leben zur Hölle gemacht …«
»… völlig irre … Du hättest Rachel doch am liebsten etwas in ihren Drink getan, um dein Glück auch mal bei ihm zu versuchen!«
»Brutalität bei der Polizei ist kein Mythos. Erst vergangenes Jahr in New Hampshire …«
»… hast ihn doch letzten Dienstag total angeschmachtet. Das war nun wirklich allzu offensichtlich …«
»Bis vor Kurzem wurden sie noch auf offener Straße von den Cops erschossen – wenn du also glaubst, einem Lupus würde ein fairer Prozess gemacht …«
»Aber er wollte gar nichts von dir, nicht wahr?«
»Du bist doch nur neidisch, weil er nicht auf Männer steht!«
»Wer ist er?«, fragte Lily sanft.
Sie verstummten und wechselten schuldbewusste Blicke.
Einer der Männer – Franklin Booth, mittlere Statur, kahl rasierter Kopf, hautfarbene Lederweste über einem schwarzen Hemd und Jeans mit glänzenden Nieten an den Außennähten – warf seine Zigarette weg. »Arme Rachel!«
Lily sah ihn an. »Rachel?«
»Carlos’ Frau.« Er seufzte. »Sie ist gerade im Club mit …«
»Franklin!«, unterbrach ihn die Pummelige.
»Süße, das nützt doch alles nichts«, sagte er leise. »Theo hat recht. Sie werden es herausfinden. Und eigentlich hat er ja ein Alibi. Ich meine, wir haben ihn doch alle dort gesehen, nicht wahr?«
Erleichtertes Gemurmel erhob sich, und Stacy beteuerte, dass er stundenlang dort gewesen sei. Lily wendete sich noch einmal an Booth. »Rachel Fuentes ist jetzt im Hell?«
»Das war sie jedenfalls, als wir gegangen sind.«
»Und mit wem war sie zusammen?«
Der dürre Mann lachte. »Nun, es gibt nur einen, der die Damenwelt derart in Aufregung versetzt. Und, wie ich zugeben muss, auch einige von uns Männern«, erklärte er und machte eine kleine Verbeugung vor der pummeligen Frau, um ihr in diesem Punkt recht zu geben. »Aber leider sind Lupi chronisch hetero.«
»Hat er vielleicht auch einen Namen?«
»Rule Turner, natürlich. Der Prinz pflegt den Club ab und an mit seiner Anwesenheit zu beehren.« Der Dürre grinste. »Und kürzlich hat er Rachel mit noch weit mehr beehrt.«
Lily hatte Anweisung, Captain Randall anzurufen, sobald sie sich am Tatort einen ersten Eindruck verschafft hatte. Sie tat es auf dem Weg zum Hell.
Das Geklapper ihrer Absätze auf dem Gehsteig vermittelte ihr ein Gefühl von Einsamkeit, obwohl sie die Geräusche am Tatort noch hören konnte. Es musste an dem sonderbaren Nebel liegen, der völlig untypisch für San Diego war. Er hing in der Luft wie kalter Schweiß. Sie war froh, dass sie keine Brille trug. Sie wünschte nur, sie hätte auch keine Stöckelschuhe an. Falls sie hinter jemandem herrennen musste, waren sie eine Katastrophe.
Aber eigentlich hätte sie an diesem Abend ja auch frei gehabt. Sie tippte die Nummer des Captains in ihr Handy.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann es den letzten offiziell bestätigten Fall eines Mordes an einem Menschen durch einen Lupus gegeben hatte. In San Diego war so etwas jedenfalls nicht mehr vorgekommen, seit die Lupi durch die Entscheidung des Obersten Bundesgerichts dem Gesetz – seinen Strafen wie auch seinem Schutz – unterstellt waren und nicht mehr erschossen wurden. Man musste kein Hellseher sein, um sich die Schlagzeilen des nächsten Tages auszumalen. Dieser Fall erhitzte alle Gemüter.
Lily war kein Greenhorn mehr, denn sie hatte schon lange bei der Sitte und im Morddezernat gearbeitet, bevor sie zum Detective befördert wurde, doch ihre Marke glänzte noch. Daher wollte sie es mit Gelassenheit ertragen, wenn sie diesen Fall an einen der dienstälteren Kollegen abgeben musste … nachdem sie sich im Hell umgehört hatte.
Randall hatte bereits auf ihren Anruf gewartet. Sie brauchte nicht lange, um ihre Erkenntnisse für ihn zusammenzufassen. »Nach dem Gespräch mit den Schaulustigen habe ich die Spur des Täters verfolgt. Die sichtbaren Hinweise verloren sich am westlichen Ende des Spielplatzes, aber ich bin noch ein Stück weitergekommen.« Um genau zu sein, hatte sie Schuhe und Strümpfe ausgezogen und mit nackten Füßen die von der Magie hinterlassene Fährte erfühlt. Nun waren ihre Füße zwar schmutzig, aber es hatte geklappt. »Die Spur endete in einer Gasse zwischen Humstead Avenue und North Lee.«
»Weiter konnten Sie ihn nicht verfolgen?«
»Nein, Sir. Ich glaube, hier hat er sich verwandelt, zwischen zwei Müllcontainern.« Die Spuren der Magie auf dem schmutzigen Asphalt waren sehr deutlich gewesen – ungewohnt, aber unverwechselbar. »In menschlicher Gestalt hinterlässt er nicht dieselben Spuren wie in Wolfsgestalt.«
»Hmmm. Haben Sie die Gasse abgeriegelt?«
»Ja, Sir. Die Leute von der Spurensicherung werden sie sich so schnell wie möglich vornehmen. Ich habe O’Brien die Verantwortung am Tatort übertragen.«
»Was zum Teufel soll das heißen? Wo sind Sie?«
»Vor dem Club Hell«, entgegnete Lily, was ein wenig gemogelt war, denn sie war noch einen halben Block von dem Lokal entfernt. »Die Frau des Opfers soll sich da aufhalten. Ich muss sie informieren. Und ich muss mit Rule Turner sprechen.«
Das schnarrende Geräusch an ihrem Ohr erkannte sie nur deshalb als Kichern, weil es ihr vertraut war. »Sie wollten mir wohl ein Schnippchen schlagen, Yu! Entspannen Sie sich! Ich habe Sie doch nicht aus Jux von der großen Party Ihrer Schwester weggeholt!«
»Dann ist es immer noch mein Fall?«
»Sie haben die Leitung. Es sei denn, Sie meinen, dass Sie nicht damit klarkommen.«
»Nein, Sir, das meine ich nicht. Aber ich habe nicht so viel Erfahrung wie einige andere.«
»Ihre … äh … besonderen Fähigkeiten erweisen sich unter Umständen als nützlich. Und das Letzte, was ich brauche, ist ein voreingenommenes Arschloch, das im Umgang mit dem Nokolaiprinzen einen auf Brutalinski macht. Er hat einen guten Draht zur Presse, und die wird uns ab jetzt permanent im Genick sitzen. Der Fall gehört also Ihnen. Aber wenn Sie nicht auf Anhieb ein Geständnis bekommen, werden Sie Unterstützung brauchen.«
Lily war völlig perplex und stimmte mechanisch zu.
»Sie können Meckle oder Brady haben.«
»Mech. Sergeant Meckle meine ich.« Beide waren gute Cops, aber Brady war nicht besonders kollegial eingestellt – vor allem nicht gegenüber jungen Beamtinnen. »Sagen Sie ihm, er soll sich bei O’Brien einen Staubsauger und ein paar Bögen Papier abholen. Wenn die Lupi im Club kooperativ sind, überlassen sie mir vielleicht ihre Schuhe fürs Labor. Mech kann ihre Kleider absaugen.«
»Der Mörder hat aber keine Kleider getragen, als er Fuentes die Kehle herausgerissen hat.«
»Richtig, Sir. Mit dem Tatort können wir ihn nicht in Verbindung bringen, aber vielleicht mit der Gasse, in der er sich verwandelt hat. Er muss viel Blut von Fuentes an sich gehabt haben. Und selbst wenn durch die Verwandlung alle Spuren von seinem Körper entfernt wurden, müssten noch ein paar Blutstropfen auf der Straße zu finden sein. Vielleicht sind seine Schuhe damit in Berührung gekommen, nachdem er sich angezogen hat, oder mit irgendetwas anderem aus der Gasse. Vielleicht haften auch ein paar von seinen Haaren an seiner Kleidung – Wolfshaare meine ich.«
»Gute Idee. Ist einen Versuch wert. Ich werde Mech aus dem Bett klingeln und ihn rüberschicken. Und Sie sind bitte sehr vorsichtig im Umgang mit Turner! Rufen Sie mich an, falls es zu einer Festnahme kommen sollte. Ansonsten erwarte ich Sie morgen früh um neun in meinem Büro.« Ein Klicken, dann das Amtszeichen.
Lily runzelte die Stirn und steckte ihr Handy in die dafür vorgesehene Tasche ihres Rucksacks. Falsche Bescheidenheit war nicht ihre Sache. Sie war ein guter Cop, ein guter Detective – aber sie war nicht der einzige gute Detective im Morddezernat. Die einzige Sensitive zwar, aber der Captain hätte auch von ihren Fähigkeiten profitieren können, ohne ihr die Leitung der Ermittlungen zu übertragen. Sie hatte noch nie so einen großen Fall.
Er dachte offenbar, sie sei der Herausforderung gewachsen, und sie wollte ihm beweisen, dass er recht hatte.