cover.jpg

V E R L A S S E N

 

(EIN RILEY PAIGE KRIMI – BAND #7)

 

 

 

B L A K E   P I E R C E

 

Blake Pierce

 

Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller RILEY PAIGE Krimi Serie, die bisher sieben Bücher umfasst. Blake Pierce ist außerdem die Autorin der MACKENZIE WHITE Krimi Serie, bestehend aus bisher fünf Büchern; von der AVERY BLACK Krimi Serie, bestehend aus bisher vier Büchern; und der neuen KERI LOCKE Krimi Serie.

Blake Pierce ist eine begeisterte Leserin und schon ihr ganzes Leben lang ein Fan des Krimi und Thriller Genres. Blake liebt es von Ihnen zu hören, also besuchen Sie www.blakepierceauthor.com und bleiben Sie in Kontakt!

 

Copyright © 2017 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagbild Pholon, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

 

RILEY PAIGE KRIMI SERIE

VERSCHWUNDEN (Band #1)

GEFESSELT (Band #2)

ERSEHNT (Band #3)

GEKÖDERT (Band #4)

GEJAGT (Band #5)

VERZEHRT (Band #6)

VERLASSEN (Band #7)

ERKALTET (Band #8)

 

MACKENZIE WHITE KRIMI SERIE

BEVOR ER TÖTET (Band #1)

BEVOR ER SIEHT (Band #2)

BEVOR ER BEGEHRT (Band #3)

BEVOR ER NIMMT (Band #4)

BEVOR ER BRAUCHT (Band #5)

 

AVERY BLACK KRIMI SERIE

GRUND ZU TÖTEN (Band #1)

GRUND ZU FLÜCHTEN (Band #2)

GRUND ZU VERSTECKEN (Band #3)

GRUND ZU FÜRCHTEN (Band #4)

 

KERI LOCKE KRIMI SERIE

EINE SPUR VON TOD (Band #1)

EINE SPUR VON MORD (Band #2)

EINE SPUR VON LASTER (Band #3)

Inhalt

 

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIẞIG

KAPITEL EINUNDDREIẞIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIẞIG

KAPITEL DREIUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERUNDDREIẞIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIẞIG

KAPITEL SECHSUNDDREIẞIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIẞIG

KAPITEL ACHTUNDDREIẞIG

KAPITEL NEUNUNDDREIẞIG

KAPITEL VIERZIG

 

 

PROLOG

 

Tiffany war bereits angezogen, als ihre Mutter sie von unten rief.

"Tiffany! Bist du fertig für die Kirche?"

"Fast, Mom", rief Tiffany zurück. "Noch ein paar Minuten."

"Beeil dich. Wir müssen in fünf Minuten los."

"Okay."

Tiffany hatte sich schon vor einigen Minuten angezogen, gleich nach dem leckeren Waffelfrühstück mit ihren Eltern. Sie war nur noch nicht bereit irgendwo hinzugehen. Sie hatte zu viel Spaß daran, sich lustige Tiervideos auf ihrem Handy anzusehen.

Bis jetzt hatte sie einen Skateboard fahrenden Pekinesen gesehen, eine Bulldogge, die auf eine Leiter kletterte, eine Katze, die versuchte Gitarre zu spielen, ein Hund, der anfing seinen Schwanz zu jagen, sobald jemand "Pop Goes the Weasel" sang, und eine Herde von niedlichen Kaninchen.

Jetzt gerade sah sie eines, das sie wirklich zum Lachen brachte. Ein Eichhörnchen versuchte in eine eichhörnchensichere Vogelfutterstelle zu gelangen. Egal aus welcher Richtung es darauf sprang, die Futterstelle drehte sich und ließ es in hohem Bogen davon segeln. Aber das Eichhörnchen gab nicht auf.

Das Video ließ sie weiter kichern, bis ihre Mutter wieder rief.

"Tiffany! Kommt deine Schwester mit uns mit?"

"Ich glaube nicht, Mom."

"Geh sie doch bitte fragen."

Tiffany seufzte. Sie wollte fast zurückrufen:

"Frag sie doch selber."

Stattdessen antwortete sie einfach, "Okay."

Tiffanys neunzehn Jahre alte Schwester, Lois, war nicht zum Frühstück gekommen. Tiffany war sich außerdem ziemlich sicher, dass sie keine Absichten hatte, mit zur Kirche zu gehen. Sie hatte Tiffany gestern gesagt, dass sie es nicht wollte.

Seit sie im Herbst mit dem College angefangen hatte, unternahm Lois immer weniger mit der Familie. Sie kam an den meisten Wochenenden, an den Feiertagen und in den Ferien nach Hause, aber blieb für sich alleine oder ging mit Freunden weg, und schlief fast immer bis zum späten Vormittag.

Tiffany konnte ihr keinen Vorwurf machen.

Das Leben im Pennington Haushalt konnte einen Teenager zu Tode langweilen. Und Kirche langweilte Tiffany mehr als alles andere.

Mit einem Seufzen schloss sie das Video und trat in den Flur. Das Schlafzimmer von Lois war über dem von Tiffany, ein luxuriöser Raum, der fast den ganzen Speicher einnahm. Sie hatte ihr eigenes Badezimmer da oben und einen riesigen Kleiderschrank. Tiffany steckte währenddessen in dem kleineren Zimmer fest, so wie es schon immer gewesen war.

Es erschien ihr unfair. Sie hatte gehofft, sie würde das Zimmer ihrer Schwester erben, sobald die zum College ging. Warum brauchte Lois noch so viel Platz, wenn sie doch nur am Wochenende zu Hause war? Konnten sie nicht endlich die Zimmer tauschen?

Sie beschwerte sich oft und laut darüber, aber es schien niemanden zu kümmern.

Sie stand am Ende der Treppe, die zum Speicher führte und rief:

"Hey, Lois! Kommst du mit uns mit?"

Sie bekam keine Antwort. Tiffany rollte mit den Augen. So lief es meistens, wenn sie Lois holen oder sie etwas fragen sollte.

Sie stieg die Stufen nach oben und klopfte an die Zimmertür.

"Hey, Lois", rief sie. "Wir gehen zur Kirche. Kommst du mit?"

Wieder keine Antwort.

Tiffany wurde ungeduldig und klopfte noch einmal.

"Bist du wach?", fragte sie.

Immer noch blieb eine Antwort aus.

Tiffany stöhnte laut. Lois könnte tief und fest schlafen oder ihre Kopfhörer aufhaben. Wahrscheinlicher war allerdings, dass sie Tiffany ignorierte.

"Okay", rief sie. "Ich sage Mom, dass du nicht mitkommst."

Als Tiffany die Stufen wieder nach unten ging, machte sie sich ein wenig Sorgen um ihre große Schwester. Lois war bei ihren letzten Besuchen immer etwas bedrückt gewesen – nicht wirklich depressiv, aber nicht so fröhlich wie sonst. Sie hatte Tiffany erzählt, dass das College schwerer war, als sie erwartet hatte und der Druck ihr zusetzte.

Am Ende der Treppe stand ihr Vater im Flur und sah ungeduldig auf seine Uhr. Er war bereit loszugehen, schon im Mantel, mit Schal, Mütze, und Handschuhen. Mom zog gerade auch ihren Mantel an.

"Kommt Lois?", fragte Dad.

"Sie sagt Nein", log Tiffany. Dad könnte wütend werden, wenn Tiffany ihm erzählte, dass Lois nicht einmal auf das Klopfen reagiert hatte.

"Nun, ich bin nicht überrascht", sagte Mom, die ihre Handschuhe anzog. "Ich habe ihr Auto sehr spät gestern Nacht gehört. Ich bin mir nicht sicher, wann genau das war."

Tiffany fühlte einen weiteren eifersüchtigen Stich, bei der Erwähnung des Autos ihrer Schwester. Lois hatte so viele Freiheiten, seit sie im College war! Niemand kümmerte sich darum, wie spät sie nach Hause kam. Tiffany hatte sie gestern nicht einmal reinkommen gehört.

Wahrscheinlich habe ich schon tief geschlafen, dachte sie.

Als Tiffany anfing, sich den Mantel anzuziehen, brummelte ihr Vater, "Ihr beiden braucht ja ewig. Wir kommen zu spät zum Gottesdienst."

"Wir haben noch genug Zeit", sagte ihre Mutter ruhig.

"Ich gehe schon mal raus und starte den Wagen", sagte Dad.

Er öffnete die Haustür und stapfte nach draußen. Tiffany und ihre Mutter beeilten sich, ihm zu folgen.

Die kalte Luft traf Tiffany hart. Der Schnee, der vor ein paar Tagen gefallen war, hielt sich hartnäckig. Sie wünschte sich, sie würde noch immer im warmen Bett liegen. Es war ein lausiger Tag, um nach draußen zu gehen.

Plötzlich hörte sie ihre Mom scharf einatmen.

"Lester, was ist los?", rief Mom Dad zu.

Tiffany sah Dad vor der offenen Garagentür stehen. Er starrte in die Garage, seine Augen waren groß und sein Mund hing offen. Er sah benommen und erschüttert aus.

"Was ist los?", rief Mom wieder.

Dad drehte sich zu ihr um. Er schien Probleme zu haben, Worte zu finden.

Schließlich platzte er heraus, "Ruf einen Krankenwagen."

"Warum?", fragte Mom verblüfft.

Dad erklärte es nicht. Er ging in die Garage. Mom eilte nach vorne und als sie die offene Tür erreichte stieß sie einen Schrei aus, der Tiffany vor Angst das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Mom rannte in die Garage.

Für einen langen Moment stand Tiffany wie festgefroren an der Stelle.

"Was ist los?", rief Tiffany.

Sie hörte die schluchzende Stimme ihrer Mutter aus der Garage, "Geh zurück ins Haus, Tiffany."

"Warum?", rief Tiffany zurück.

Mom kam aus er Garage, Sie packte Tiffany am Arm und versuchte sie herumzudrehen, damit sie zurück ins Haus ging.

"Sieh nicht hin", sagte sie. "Geh zurück ins Haus."

Tiffany riss sich los und rannte in die Garage.

Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was sie sah. Alle drei Autos standen dort. Links in der Ecke kämpfte Dad ungeschickt mit einer Leiter.

Etwas hing an einem Seil von einem der Balken.

Es war ein Mensch.

Es war ihre Schwester.

 

KAPITEL EINS

 

Riley Paige hatte sich gerade zum Abendessen hingesetzt, als ihre Tochter etwas sagte, das sie innehalten ließ.

"Sind wir nicht die perfekte Familie?"

Riley starrte April an, deren Gesicht vor Scham rot wurde.

"Wow, habe ich das laut gesagt?", fragte April schüchtern. "Das war ein wenig kitschig, nicht wahr?"

Riley lachte und sah sich am Tisch um. Ihr Exmann, Ryan, saß am anderen Ende. Zu ihrer Linken saß April, ihre fünfzehn Jahre alte Tochter, neben ihr ihre Haushälterin, Gabriela. Auf ihrer Rechten saß die dreizehn Jahre alte Jilly, der Neuankömmling in ihrer Familie.

April und Jilly hatten an diesem Sonntag Gabriela das Kochen abgenommen und Hamburger gemacht.

Ryan nahm einen Bissen von seinem Hamburger und sagte, "Nun, wir sind eine Familie, oder nicht? Ich meine, sieh uns an."

Riley sagte nichts.

Eine Familie, dachte sie. Sind wir das wirklich?

Der Gedanke überraschte sie ein wenig. Schließlich hatten sie und Ryan sich vor fast zwei Jahren getrennt und waren seit einem halben Jahr geschieden. Auch wenn sie wieder Zeit miteinander verbrachten, hatte Riley es vermieden darüber nachzudenken, wohin es führen könnte. Sie hatte die Jahre des Verrats und der Qualen beiseitegeschoben, um die friedliche Gegenwart zu genießen.

Dann war da April, deren Jugend alles andere als einfach gewesen war. Würde ihr Wunsch nach Zusammensein überdauern?

Riley war sich noch unsicherer bei Jilly. Sie hatte Jilly an einem Rastplatz in Phoenix gefunden, wo sie versucht hatte, sich an Trucker zu verkaufen. Riley hatte Jilly vor einem schrecklichen Leben und einem gewalttätigen Vater gerettet und hoffte nun, sie zu adoptieren. Aber Jilly hatte ihre Probleme und die Dinge waren immer unsicher mit ihr.

Die eine Person, um die Riley sich keine Probleme machen musste, war Gabriela. Die stämmige Frau aus Guatemala hatte schon lange vor ihrer Scheidung für die Familie gearbeitet. Gabriela war immer verantwortungsvoll, bodenständig und liebevoll.

"Was denkst du, Gabriela?", fragte Riley.

Gabriela lächelte.

"Eine Familie kann man sich aussuchen, sie wird nicht nur vererbt", sagte sie. "Blut ist nicht alles. Liebe ist das Wichtige."

Riley spürte plötzlich Wärme in sich aufsteigen. Sie konnte sich immer darauf verlassen, dass Gabriela die richtigen Worte fand. Mit einem neuen Gefühl von Zufriedenheit sah sie auf die Menschen an dem Tisch.

Nachdem sie nun schon etwa einen Monat vom BAU Urlaub hatte, genoss sie es einfach, hier in ihrem Stadthaus zu sein.

Und ich genieße meine Familie, dachte sie.

Dann sagte April etwas, das sie überraschte.

"Daddy, wann ziehst du bei uns ein?"

Ryan sah sie verblüfft an. Wie so oft fragte Riley sich, ob sein neu gefundenes Engagement zu gut war, um lange anzuhalten.

"Das ist ein großes Thema, um es gleich anzugehen", sagte Ryan.

"Wieso?", hakte April nach. "Du könntest genauso gut hier wohnen. Ich meine, du und Mom, ihr schlaft wieder zusammen und du bist auch sonst fast jeden Tag da."

Riley spürte, wie sie rot anlief. Geschockt gab Gabriela April einen scharfen Ellbogenstoß in die Seite.

"¡Chica! ¡Silencio!", sagte sie.

Jilly sah sich mit einem Grinsen um.

"Hey, das ist eine tolle Idee", sagte sie. "Dann würde ich bestimmt nur noch gute Noten kriegen."

Es stimmte – Ryan hatte Jilly geholfen, die Materialien für ihre neue Schule aufzuholen, vor allem für Sozialkunde. Er hatte sie in den letzten Monaten wirklich alle unterstützt.

Rileys Augen trafen Ryans. Sie sah, dass er ebenfalls rot war.

Sie wusste selber nicht, was sie sagen sollte. Sie musste zugeben, dass ihr die Idee gefiel. Es war angenehm, Ryan die meisten Nächte hier zu haben. Alles war so einfach an seinen Platz gefallen – vielleicht zu einfach. Vielleicht stammte ein Teil der Bequemlichkeit daher, dass sie keine Entscheidung darüber treffen musste.

Sie erinnerte sich an das, was April gerade gesagt hatte.

"Eine perfekte Familie."

Sie alle hatten sich in dem Moment wohl gefühlt. Aber Riley konnte ein leichtes Unbehagen nicht unterdrücken. War diese Perfektion nur eine Illusion? Als würde man ein gutes Buch lesen oder einen schönen Film sehen?

Riley war sich nur zu bewusst, dass die Welt dort draußen voller Monster war. Sie hatte ihr Leben der Jagd nach ihnen gewidmet. Aber im letzten Monat war sie fast in der Lage gewesen, so zu tun, als gäbe es sie nicht.

Ein Lächeln breitete sich langsam auf Ryans Gesicht aus.

"Hey, warum zieht ihr nicht alle bei mir ein?", sagte er. "Da gibt es mehr als genug Platz für uns alle."

Riley unterdrückte ein alarmiertes Keuchen.

Das Letzte was sie wollte, war wieder zurück in das große Vorstadthaus zu ziehen, das sie jahrelang mit Ryan geteilt hatte. Es gab zu viele unschöne Erinnerungen darin.

"Ich könnte das Haus nicht aufgeben", sagte sie. "Es gefällt mir hier zu gut."

April sah ihren Vater gespannt an.

"Es liegt an dir, Daddy", sagte sie. "Ziehst du bei uns ein oder nicht?"

Riley betrachtete aufmerksam Ryans Gesicht. Sie konnte sehen, dass er mit der Entscheidung haderte. Sie verstand gut, warum. Er gehörte zu einer Anwaltskanzlei in DC, aber er arbeitete oft von zu Hause. Es würde hier keinen Platz für ihn geben, um das zu tun.

Schließlich sagte Ryan, "Ich müsste das Haus behalten. Es könnte mein Büro sein."

April sprang fast auf und ab vor Begeisterung.

"Also sagst du ja?", fragte sie.

Ryan lächelte einen Moment still vor sich hin.

"Ja, ich denke, das tue ich", sagte er dann.

April quietschte begeistert auf. Jilly klatschte in die Hände und lachte.

"Das ist super!", rief Jilly. "Kannst du mir bitte den Ketchup geben – Dad?"

Ryan, April, Gabriela, und Jilly plauderten munter weiter, während sie sich über das Essen hermachten.

Riley sagte sich, dass sie dieses Glück genießen sollte, solange sie konnte. Früher oder später würde sie gerufen werden, um ein weiteres Monster zu stoppen. Der Gedanke sandte einen Schauer über ihren Rücken. Wartete das Böse bereits irgendwo auf sie?

 

*

 

Am nächsten Tag hatte April einen verkürzten Stundenplan, da die Lehrer sich zu einer Besprechung versammelten, und Riley gab dem Betteln ihrer Tochter nach, den ganzen Tag freimachen zu können. Sie entschieden sich, einkaufen zu gehen, während Jilly in der Schule war.

Die Reihen von Läden in der Shopping-Mall kamen Riley endlos vor und viele sahen sich zudem sehr ähnlich. Dürre Schaufensterpuppen in stylischen Outfits zeigten in jedem Fenster unmögliche Posen. Die Figuren, an denen sie vorbeikamen, hatten keinen Kopf, was Rileys Eindruck der Austauschbarkeit noch verstärkte. Aber April erzählte ihr unentwegt, was jeder Laden bereithielt und welche Outfits sie gerne tragen würde. April schien Unterschiede zu sehen, wo Riley nur Uniformität wahrnahm.

Eine Teenagersache, nehme ich an, dachte Riley.

Wenigstens war es heute nicht so voll.

April zeigte auf ein Schild vor einem Laden namens Towne Shoppe.

"Oh, guck mal!", sagte sie. "'Erschwinglicher Luxus'! Lass uns da mal hingehen!"

In dem Laden stürzte April sich auf einen Ständer mit Jeans und Jacken und zog Dinge heraus, um sie anzuprobieren.

"Ich nehme an, ich könnte auch eine neue Jeans gebrauchen", sagte Riley.

April rollte mit den Augen.

"Nur keine Mom Jeans, bitte!"

"Nun, nicht jeder kann tragen, was du trägst. Ich muss in der Lage sein, mich zu bewegen, ohne mir Sorgen zu machen, dass meine Anziehsachen platzen. Keine Kleiderunfälle für mich, vielen Dank auch."

April lachte. "Freizeithosen also. Viel Glück dabei hier welche zu finden."

Riley sah sich die Auswahl der Jeans an. Sie waren alle extrem schmal geschnitten, auf Hüfte, und künstlich zerrissen.

Riley seufzte. Sie kannte ein paar Läden an einer anderen Stelle der Mall, in denen sie etwas finden würde, das eher ihrem Stil entsprach. Aber sie würde die Sticheleien von April ertragen müssen.

"Ich schaue ein andermal für mich selber", sagte Riley.

April schnappte sich ein Bündel Jeans und ging in die Umkleidekabine. Als sie herauskam, trug sie die Art von Jeans, die Riley hasste – hauteng, an verschiedenen Stellen zerrissen, mit dem Bauchnabel deutlich sichtbar.

Riley schüttelte den Kopf.

"Vielleicht solltest du selber auch mal Mom Jeans probieren", sagte sie. "Die wären deutlich bequemer. Aber Bequemlichkeit ist wahrscheinlich nicht das Ziel, hm?"

"Nö", sagte April und sah sich die Jeans im Spiegel genauer an. "Die nehme ich mit. Ich probiere die anderen noch an."

April verschwand mehrere Male wieder in der Umkleidekabine. Sie kam jedes Mal mit Jeans zurück, die Riley hasste, aber ihrer Tochter nicht verbieten würde. Es war den Kampf nicht wert und sie wusste, dass sie ihn auf die eine oder andere Weise verlieren würde.

Während April sich vor dem Spiegel drehte, fiel Riley auf, dass ihre Tochter fast so groß war, wie sie selbst und das T-Shirt, das sie trug, einen gut proportionierten Körper zeigte. Mit ihrem dunklen Haar und nussbraunen Augen, war Aprils Ähnlichkeit zu Riley verblüffend. Natürlich zeigten Aprils Haare nicht die grauen Strähnen, die in Rileys Haar zu finden waren. Aber trotzdem …

Sie wird eine Frau, dachte Riley.

Sie konnte ein gewisses Unbehagen nicht unterdrücken.

Wurde April zu schnell erwachsen?

Sie hatte im letzten Jahr viel durchgemacht. Sie war zweimal gefangen genommen worden. Das eine Mal war sie von einem sadistischen Mörder mit einer Propangasfackel im Dunkeln gehalten worden. Sie hatte sich dann in ihrem eigenen Zuhause gegen einen Mörder zur Wehr setzen müssen. Am Schlimmsten war der misshandelnde feste Freund, der sie unter Drogen gesetzt und als Sexsklavin hatte verkaufen wollen.

Riley wusste, dass das alles zu viel für ein fünfzehnjähriges Mädchen war. Sie fühlte sich schuldig, weil ihre eigene Arbeit April und andere Menschen, die sie liebte, in Todesgefahr gebracht hatte.

Und hier war April nun, die trotz ihrer Bemühungen wie ein normaler Teenager auszusehen erstaunlich erwachsen aussah. April schien das Schlimmste der PTBS hinter sich zu haben. Aber welche Art von Ängsten und Sorgen beschäftigten sie tief in sich drin? Würde sie sie jemals verwinden können?

Riley bezahlte Aprils neue Anziehsachen und sie traten wieder in die Mall. Die Sicherheit in Aprils Schritt beruhigte Riley ein wenig. Es wurde schließlich alles besser. Sie wusste, dass Ryan in diesem Moment einige seiner Sachen in ihr Stadthaus räumte. Und sowohl April, als auch Jilly, machten sich gut in der Schule.

Riley wollte gerade vorschlagen, dass sie sich etwas zu Essen suchen, als Aprils Handy summte. April wandte sich abrupt ab, um den Anruf anzunehmen. Riley spürte einen kurzen Stich. Manchmal schien das Handy ein lebendiges Ding zu sein, das die komplette Aufmerksamkeit von April verlangte.

"Hey, was gibt's?", fragte April den Anrufer.

Plötzlich fingen Aprils Knie an zu wackeln und sie setzte sich auf eine Bank. Ihr Gesicht wurde weiß und ihr fröhlicher Gesichtsausdruck verwandelte sich in Schmerz. Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. Sofort eilte Riley zu ihr und setzt sich neben sie.

"Oh mein Gott!", rief April. "Wie konnte– warum– ich kann nicht–"

Riley sah sie beunruhigt an.

Was war passiert?

War jemand verletzt oder in Gefahr?

War es Jilly, Ryan, Gabriela?

Nein, dann hätte man sicher Riley angerufen, nicht April.

"Es tut mir so, so leid", sagte April wieder und wieder.

Schließlich beendete sie den Anruf.

"Wer war das?", fragte Riley besorgt.

"Tiffany", sagte April wie betäubt.

Riley erkannte den Namen. Tiffany Pennington war dieser Tage Aprils beste Freundin. Riley hatte sie einige Male getroffen.

"Was ist passiert?", fragte Riley.

April sah mit einem Ausdruck von Trauer und Entsetzen zu Riley.

"Tiffanys Schwester ist tot", sagte sie.

April sah aus, als könnte sie ihre eigenen Worte nicht glauben.

Dann fügte sie mit erstickter Stimme hinzu, "Sie sagen, es war Selbstmord."

 

KAPITEL ZWEI

 

Beim Abendessen versuchte April ihrer Familie das Wenige zu erzählen, das sie über Lois' Tod wusste. Aber ihre eigenen Worte klangen fremd und seltsam in ihren Ohren.

Das kann einfach nicht wahr sein, dachte sie immer wieder.

April hatte Lois einige Male getroffen, als sie Tiffany besuchte. Sie erinnerte sich noch gut an das letzte Mal. Lois war fröhlich und aufgedreht gewesen, voller Geschichten von ihrer Zeit am College. Es war einfach nicht möglich, dass sie tot war.

Der Tod war April nicht völlig fremd. Sie wusste, dass ihre Mutter ihm mehr als einmal ins Gesicht gesehen und während ihrer Arbeit als FBI Agentin auch Menschen getötet hatte. Aber das waren Verbrecher gewesen, die man aufhalten musste. April hatte ihrer Mutter sogar geholfen, einen sadistischen Mörder zu töten, nachdem der sie gekidnappt hatte. Sie wusste auch, dass ihr Großvater vor einigen Monaten gestorben war, aber sie hatte ihn lange nicht gesehen und sie waren sich nie nahe gewesen.

Dieser Tod war weitaus realer für sie – und er ergab keinen Sinn. Es erschien ihr nicht einmal möglich zu sein.

Während April sprach, sah sie, dass ihre Familie ebenfalls verwirrt und erschüttert war. Ihre Mutter griff über den Tisch und nahm ihre Hand. Gabriela bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet auf Spanisch. Jilly stand vor Schock der Mund offen.

April versuchte, sich an alles zu erinnern, was Tiffany ihr am Nachmittag erzählt hatte. Sie hatte erklärt, dass Tiffany und ihre Eltern am vergangenen Morgen die Leiche in der Garage hängen gefunden hatten. Die Polizei hielt es für einen Selbstmord. Tatsächlich schien jeder zu glauben, es sei Selbstmord gewesen. Als wäre das schon entschieden.

Jeder außer Tiffany, die immer wieder sagte, dass sie nicht daran glaubte.

Aprils Vater schauderte, als sie ihnen alles erzählt hatte, an das sie sich erinnern konnte.

"Ich kenne die Penningtons", sagte er. "Lester ist der Finanzmanager für eine Baufirma. Nicht gerade reich, aber recht komfortabel. Sie schienen mir immer eine stabile, glückliche Familie zu sein. Warum hat Lois nur so etwas getan?"

April hatte sich diese Frage den ganzen Tag über gestellt.

"Tiffany sagt, keiner weiß es", sagte April. "Lois war in ihrem ersten Jahr am Byars College. Sie war zwar gestresst deswegen, aber …"

Dad schüttelte mitfühlend den Kopf.

"Nun, das könnte es erklären", sagte er. "Byars ist eine harte Schule. Noch schwerer reinzukommen als Georgetown. Und sehr teuer. Ich bin überrascht, dass die Familie sich das leisten konnte."

April seufzte tief, sagte aber nichts. Sie dachte, dass Lois ein Stipendium bekommen hatte, behielt das aber für sich. Sie wollte nicht darüber reden. Sie wollte auch nichts essen. Gabriela hatte eine ihrer Spezialitäten gemacht, eine Suppe mit Meeresfrüchten, tapado, die April normalerweise liebte. Aber bisher hatte sie keinen Bissen genommen.

Alle schwiegen einen Augenblick.

Dann sagte Jilly, "Sie hat sich nicht selbst umgebracht."

Erschrocken sah April zu Jilly. Auch alle anderen hatten sich ihr zugewandt. Das junge Mädchen verschränkte die Arme und sah sehr ernst aus.

"Was?", fragte April.

"Lois hat sich nicht umgebracht", sagte Jilly.

"Woher weißt du das?", fragte April.

"Ich habe sie getroffen, weißt du nicht mehr? Das konnte ich sehen. Sie war nicht die Art von Mädchen, die das tun würde. Sie wollte nicht sterben."

Jilly hielt einen Moment inne.

Dann sagte sie, "Ich weiß wie es ist, wenn man sterben will. Sie wollte es nicht. Das konnte ich sehen."

Aprils Herz klopfte ihr wild im Hals.

Sie wusste, dass Jilly ihre ganz persönliche Hölle durchlebt hatte. Jilly hatte ihr von ihrem Vater erzählt, der sie in einer eiskalten Nacht ausgesperrt hatte. Jilly hatte in einem Abwasserrohr geschlafen und war dann zu dem Rastplatz gegangen, wo sie geplant hatte, eine Prostituierte zu werden. Dort hatte Mom sie gefunden.

Wenn jemand wusste, wie es war sterben zu wollen, dann sicherlich Jilly.

April spürte, wie der Damm in ihr kurz davor war zu brechen. Konnte Jilly falsch liegen? Hatte Lois sich elend gefühlt?

"Entschuldigt mich", sagte sie. "Ich denke, ich kann gerade nichts essen."

April stand auf und lief nach oben in ihr Zimmer. Sie schloss die Tür, warf sich aufs Bett und fing an zu weinen.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Aber nach einer Weile hörte sie ein Klopfen an der Tür.

"April, kann ich reinkommen?", fragte ihre Mutter.

"Ja", antwortete April mit erstickter Stimme.

April setzte sich auf, und Mom kam mit einem Käsesandwich auf einem Teller in den Raum. Mom lächelte mitfühlend.

"Gabriela dachte, dass du das vielleicht eher runter kriegst, als die tapado", sagte sie. "Sie macht sich Sorgen, dass du krank wirst, wenn du nichts isst. Ich mache mir auch Sorgen."

April lächelte durch ihre Tränen. Das war lieb von Gabriela und Mom.

"Danke", sagte sie.

Sie wischte sich die Augen und biss von dem Sandwich ab. Mom setzte sich neben ihr aufs Bett und nahm ihre Hand.

"Willst du darüber reden?", fragte Mom.

April schluckte hart. Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich plötzlich daran, wie ihre beste Freundin, Crystal, vor kurzem weggezogen war. Ihr Vater, Blaine, war hier in diesem Haus brutal geschlagen worden. Auch wenn er und Mom Interesse aneinander gehabt hatten, war er so erschüttert gewesen, dass er weggezogen war.

"Ich habe so ein komisches Gefühl", sagte April. "Als wäre das irgendwie meine Schuld. Schreckliche Dinge passieren uns immer wieder und es ist fast so, als wären sie ansteckend. Ich weiß, das macht keinen Sinn, aber …"

"Ich verstehe, wie du dich fühlst", sagte Mom.

April war überrascht. "Das tust du?"

Das Gesicht ihrer Mutter wurde traurig.

"Ich fühle mich oft selbst so", sagte sie. "Meine Arbeit ist gefährlich. Und sie bringt die in Gefahr, die ich liebe. Ich fühle mich schuldig deswegen. Sehr oft."

"Aber das ist nicht deine Schuld", sagte April.

"Warum denkst du dann, es wäre deine?"

April wusste nicht, was sie sagen sollte.

"Was beschäftigt dich sonst noch?", fragte Mom.

April dachte einen Moment nach.

"Mom, Jilly hat Recht. Ich denke nicht, dass Lois sich umgebracht hat. Und Tiffany glaubt es auch nicht. Ich kannte Lois. Sie war fröhlich, sie hatte alles im Griff. Und Tiffany hat zu ihr aufgesehen. Sie war Tiffanys Heldin. Es macht einfach keinen Sinn."

April konnte am Gesichtsausdruck ihrer Mutter sehen, dass sie ihr nicht glaubte.

Sie denkt, ich bin einfach hysterisch, dachte April.

"April, die Polizei muss annehmen, dass es sich um Selbstmord handelt, und ihre Mutter und ihr Vater––"

"Sie haben Unrecht!", sagte April, die von der Schärfe in der eigenen Stimme überrascht wurde. "Mom, du musst das überprüfen. Du weißt viel mehr über solche Sachen, als die anderen. Sogar mehr als die Polizei."

Mom schüttelte traurig den Kopf.

"April, das kann ich nicht tun. Ich kann nicht einfach los ziehen und etwas untersuchen, das bereits abgeschlossen ist. Denk nur, was die Familie davon halten würde."

April konnte die Tränen kaum zurückhalten.

"Mom, ich bitte dich. Wenn Tiffany die Wahrheit nicht herausfindet, dann wird das ihr Leben zerstören. Sie wird das nie überwinden können. Bitte, bitte tu etwas."

Es war ein großer Gefallen, um den sie bat, und April wusste es. Mom schwieg einen Moment. Sie stand auf, ging zu dem Fenster und sah hinaus. Sie schien tief in Gedanken versunken zu sein.

Immer noch nach draußen blickend, sagte Mom schließlich, "Ich werde morgen mit Tiffanys Eltern sprechen. Falls sie mit mir reden wollen. Mehr kann ich nicht tun."

"Kann ich mitkommen?", fragte April.

"Du hast morgen Schule", sagte Mom.

"Dann lass uns nach der Schule gehen."

Mom hielt kurz inne, sagte aber dann, "Okay."

April stand auf und nahm ihre Mutter fest in den Arm. Sie wollte sich bedanken, aber sie war so überwältigt von Emotionen, dass sie kein Wort herausbrachte.

Wenn jemand herausfinden kann, was passiert ist, dann Mom, dachte April.

 

KAPITEL DREI

 

Am nächsten Nachmittag fuhr Riley April zum Haus der Penningtons. Trotz ihrer Zweifel, dass Lois Pennington ermordet wurde, war sich Riley sicher, dass es das Richtige war.

Das bin ich April schuldig, dachte sie, während sie fuhr.

Schließlich wusste sie, wie es war, wenn man sich einer Sache sicher war, aber einem niemand glaubte.

Und April schien sich sicher zu sein, dass etwas nicht stimmte.

Soweit es Riley betraf, hatten sich ihre Instinkte noch nicht gemeldet. Aber während sie in die noblere Gegend von Fredericksburg fuhr, erinnerte sie sich selbst daran, dass Monster oft hinter den friedlichsten Fassaden lauerten. Viele der charmanten Häuser, an denen sie vorbeikamen, verbargen vermutlich dunkle Geheimnisse. Sie hatte schon zu viel Böses in ihrem Leben gesehen und kannte es zu gut.

Und ob es nun Selbstmord oder Mord gewesen war, es bestand kein Zweifel daran, dass ein Monster das scheinbar fröhliche Haus der Penningtons besetzt hatte.

Riley hielt vor dem Haus. Es war ein großes Haus, drei Stockwerke hoch, auf einem großen Grundstück. Riley erinnerte sich daran, was Riley über die Penningtons gesagt hatte.

"Nicht gerade reich, aber recht komfortabel."

Das Haus bestätigte diesen Eindruck. Es war ein schönes Haus in einer netten Nachbarschaft. Das einzige, was ungewöhnlich schien, war das Absperrband, das vor den Türen der Garage hing, in dem die Eltern ihre Tochter gefunden hatten.

Die kalte Luft war beißend als Riley und April aus dem Auto stiegen und zum Haus gingen. Mehrere Wagen standen dicht gedrängt in der Auffahrt.

Sie klingelten und Tiffany begrüßte sie an der Tür. April warf sich in Tiffanys Arme und beide Mädchen fingen an zu weinen.

"Oh, Tiffany, es tut mir so leid", sagte April.

"Danke, dass du gekommen bist", erwiderte Tiffany mit erstickter Stimme.

Das geteilte Leid schnürte Riley die Kehle zu. Die beiden Mädchen erschienen ihr so jung, kaum mehr als Kinder. Es schien so schrecklich unfair, dass sie solche Qualen durchmachten. Dennoch spürte sie einen seltsamen Anflug von Stolz auf April und ihre herzliche Anteilnahme. April entwickelte sich zu einer mitfühlenden und fürsorglichen jungen Frau.

Ich muss zumindest etwas richtig machen als Mutter, dachte Riley.

Tiffany war ein wenig kleiner als April, noch ein wenig deutlicher der ungelenke Teenager. Sie hatte erdbeerblonde Haare und ihre Haut war blass und voller Sommersprossen, die durch die Röte um die Augen noch betont wurden.

Tiffany führte Riley und April ins Wohnzimmer. Tiffanys Eltern saßen auf der Couch, leicht voneinander getrennt. Sagte ihre Körpersprache etwas aus? Riley war sich nicht sicher. Sie wusste, dass Pärchen oft unterschiedlich mit Trauer umgingen.

Einige andere Menschen standen in der Nähe und unterhielten sich in gedämpften Stimmen. Riley nahm an, dass es Freunde und Verwandte waren, die gekommen waren, um zu helfen, so gut sie konnten.

Sie hörte leise Stimmen und Klappern aus der Küche, wo einige Leute Essen zuzubereiten schienen. Durch den Bogen, der in das Esszimmer führte, sah sie zwei Pärchen, die Bilder und Andenken auf dem Tisch arrangierten. Auch im Wohnzimmer standen Bilder von Lois und ihrer Familie in verschieden Lebensstadien.

Riley schauderte bei dem Gedanken, dass das Mädchen in den Bildern noch vor zwei Tagen lebendig gewesen war. Wie würde sie sich fühlen, wenn sie April so plötzlich verlieren würde? Es war eine schreckliche Vorstellung und es war schon zu oft knapp davor gewesen.

Wer würde zu ihrem Haus kommen, um Hilfe und Trost anzubieten?

Würde sie überhaupt wollen, dass jemand kam?

Sie schüttelte den Gedanken ab, als Tiffany sie ihren Eltern, Lester und Eunice, vorstellte.

"Bitte, bleiben Sie ruhig sitzen", sagte Riley, als das Pärchen sich erheben wollte.

Riley und April setzten sich neben sie auf die Couch. Eunice hatte die gleichen Sommersprossen und helle Haut, wie ihre Tochter. Lester war dunkler und sein Gesicht lang und dünn.

"Mein herzliches Beileid für Ihren Verlust", sagte Riley.

Das Pärchen bedankte sich. Lester schaffte es, ein gezwungenes kleines Lächeln zu zeigen.

"Wir haben uns nie kennen gelernt, aber ich kenne Ryan ein wenig", sagte er. "Wie geht es ihm?"

Tiffany reichte aus ihrem Sessel herüber und tippte ihrem Vater auf den Arm. Sie bedeutete ihm leise, "Sie sind geschieden, Dad."

Lesters Gesicht wurde rot.

"Oh, das tut mir leid", sagte er.

Riley spürte, wie sie ebenfalls rot wurde.

"Das braucht es nicht", sagte sie. "Wie die Leute heutzutage sagen – 'es ist kompliziert.'"

Lester nickte und lächelte schwach.

Sie schwiegen für einen Moment, während um sie herum weiter Aktivität herrschte.

Dann sagte Tiffany, "Mom, Dad – Aprils Mutter ist FBI Agentin."

Lester und Eunice starrten sie verdutzt an. Wieder peinlich berührt, wusste Riley nicht, was sie sagen sollte. Sie wusste, dass April Tiffany gestern angerufen und informiert hatte, dass sie kommen würden. Offenbar hatte Tiffany es bisher vermieden, ihren Eltern zu erzählen, was Riley beruflich machte.

Tiffany sah zwischen ihren Eltern hin und her, bevor sie sagte, "Ich dachte, vielleicht kann sie uns helfen, herauszufinden was … wirklich passiert ist."

Lester schnappte nach Luft und Eunice seufzte bitter.

"Tiffany, wir haben darüber geredet", sagte Eunice. "Wir wissen, was passiert ist. Die Polizei ist sich sicher. Wir haben keinen Grund etwas anderes anzunehmen."

Lester stand schwankend auf.

"Ich kann das gerade nicht", sagte er. "Ich kann einfach nicht."

Er drehte sich um und ging ins Esszimmer. Riley konnte sehen, dass die beiden Pärchen sofort zu ihm eilten, um ihn zu trösten.

"Tiffany, du solltest dich schämen", sagte Eunice.

Die Augen des Mädchens schwammen vor Tränen.

"Aber ich will einfach die Wahrheit wissen, Mom. Lois hat sich nicht umgebracht. Das kann sie einfach nicht getan haben. Das weiß ich."

Eunice sah Riley an.

"Es tut mir leid, dass Sie da mit hineingezogen worden sind", sagte sie. "Tiffany hat Probleme die Wahrheit zu akzeptieren."

"Du und Dad, ihr könnt die Wahrheit nicht akzeptieren", rief Tiffany.

"Schhh", sagte ihre Mutter.

Eunice reichte ihrer Tochter ein Taschentuch.

"Tiffany, es gibt Dinge, die du nicht über Lois wusstest", sagte sie langsam und vorsichtig. "Sie war unglücklicher als sie dir vermutlich erzählt hat. Sie hat das College geliebt, aber es war nicht einfach für sie. Sie stand unter großem Druck ihre Noten für das Stipendium zu halten und es war auch schwer für sie, von zu Hause weg zu sein. Sie hat Antidepressiva genommen und war in psychologischer Beratung am Byars. Dein Vater und ich dachten, dass es ihr besser ging, aber wir hatten unrecht."

Tiffany versuchte ihre Schluchzer unter Kontrolle zu bringen, aber sie schien immer noch sehr wütend zu sein.

"Die Schule ist ein schrecklicher Ort", sagte sie. "Da gehe ich niemals hin."

"Sie ist nicht schrecklich", sagte Eunice. "Es ist eine sehr gute Schule. Nur sehr fordernd, das ist alles."

"Ich wette, diese anderen Mädchen dachten nicht, dass es eine gute Schule ist", sagte Tiffany.

April hatte ihrer Freundin besorgt zugehört.

"Welche anderen Mädchen?", fragte sie.

"Deanna und Cory", sagte Tiffany. "Sie sind auch gestorben."

Eunice schüttelte traurig den Kopf und sagte zu Riley, "Zwei weitere Mädchen haben im letzten Semester am Byars Selbstmord begangen. Es ist ein fürchterliches Jahr gewesen."

Tiffany starrte ihre Mutter an.

"Das waren keine Selbstmorde", beharrte sie. "Lois dachte das nicht. Sie dachte, dass mit der Schule was nicht stimmt. Sie wusste nicht was, aber sie hat mir gesagt, dass es etwas wirklich Schlimmes ist."

"Tiffany, es waren Selbstmorde", sagte Eunice müde. "Jeder sagt das. Solche Dinge passieren eben."

Tiffany stand zitternd vor Wut und Frustration auf.

"Lois' Tod ist nicht 'einfach passiert'", sagte sie.

Eunice sah zu ihr auf, "Wenn du älter bist, dann wirst du verstehen, dass das Leben härter sein kann, als dir jetzt klar ist. Jetzt setz' dich bitte wieder hin."

Tiffany ließ sich trotzig wieder in den Sessel fallen. Eunice starrte in die Ferne. Riley fühlte sich mehr als unbehaglich.

"Wir sind nicht hergekommen, um Sie aufzuregen", sagte Riley zu Eunice. "Ich entschuldige mich für das Eindringen. Vielleicht ist es besser, wenn wir jetzt gehen."

Eunice nickte schweigend. Riley und April verabschiedeten sich und gingen.

"Wir hätten bleiben sollen", sagte April unzufrieden, sobald sie vor der Tür waren. "Wir hätten mehr Fragen stellen sollen."

"Nein, wir haben sie nur aufgebracht", sagte Riley. "Das war ein Fehler."

Plötzlich lief April von ihr weg.

"Wo gehst du hin?", fragte Riley alarmiert.

April ging direkt auf die Seitentür der Garage zu. Absperrband war quer vor die Tür gespannt.

"April, komm da weg!", sagte Riley.

April ignorierte sowohl das Absperrband, als auch ihre Mutter, und drehte den Türknauf. Die Tür war nicht verschlossen und schwang auf. April duckte sich unter dem Absperrband hindurch und ging in die Garage. Riley eilte hinter ihr her, in der Absicht sie zurechtzuweisen. Stattdessen wurde sie von ihrer Neugier übermannt und sie sah sich vorsichtig in der Garage um.

Es standen keine Autos in der Garage, was die große Garage auf unheimliche Weise höhlenartig wirken ließ. Gedämpftes Licht schien durch mehrere Fenster.

April zeigte auf eine Ecke.

"Tiffany hat mir gesagt, dass sie Lois dort gefunden haben", sagte April.

Tatsächlich war Absperrband auf dem Boden zu sehen.

Ein großer Querbalken verlief unter dem Dach und eine Leiter lehnte an der Wand.

"Komm", sagte Riley. "Wir sollten nicht hier sein."

Sie führte ihre Tochter nach draußen und schloss die Tür. Während sie und April zurück zu ihrem Wagen gingen, visualisierte Riley die Szene. Es war einfach sich vorzustellen, wie das Mädchen auf die Leiter geklettert war und sich gehängt hatte.

Oder war das wirklich, was passiert war? fragte sie sich.

Sie hatte keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.

Trotzdem spürte sie ein leichtes Kribbeln des Zweifelns.

 

*

 

Als sie kurz darauf wieder zu Hause waren, rief Riley die örtliche Gerichtsmedizinerin Danica Selves an. Sie war seit Jahren mit Danica befreundet. Als Riley sie nach dem Lois Pennington Fall fragte, klang Danica überrascht.

"Warum bist du so neugierig?", fragte Danica. "Hat das FBI Interesse an dem Fall?"

"Nein, es ist etwas Persönliches."

"Persönlich?"

Riley zögerte und sagte dann, "Meine Tochter ist gut mit Lois' Schwester befreundet und kannte auch Lois ein wenig. Sowohl sie, als auch Lois' Schwester können nicht glauben, dass sie Selbstmord begangen hat."

"Ich verstehe", sagte Danica. "Nun, die Polizei hat keine Anzeichen eines Kampfes gefunden. Und ich habe die Tests und die Autopsie selber durchgeführt. Laut den Ergebnissen der Blutuntersuchungen, hat sie eine große Dosis Alprazolam kurz vor ihrem Tod genommen. Ich nehme an, dass sie einfach so wenig wie möglich mitbekommen wollte. Als sie sich gehängt hat, war ihr vermutlich bereits egal, was sie tat. Es wird einfach so gewesen sein."

"Also ist es wirklich ein klarer Fall", sagte Riley.

"Scheint mir so", bestätigte Danica.

Riley bedankte sich und beendete den Anruf. In dem Moment kam April mit einem Taschenrechner und einem Stück Papier in der Hand die Treppe herunter.