DIE BOTEN DER VERDAMMNIS
von
BERND TEUBER
IMPRESSUM
© der Digitalausgabe 2013 by EDITION BÄRENKLAU/Ein EDITION BÄRENKLAU eBook, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius
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Copyright © „Die Boten der Verdammnis“ by Bernd Teuber 2013
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Die Website des Illustrators: stevemayer.magix.net
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Ein CassiopeiaPress E-Book
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Boten der Verdammnis (Dämonenjäger Murphy)
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About the Publisher
Die schmale Gasse war menschenleer. Nur wenige Laternen verbreiteten ein diffuses Licht, das vergeblich gegen die Dunkelheit ankämpfte. Eine Gestalt tauchte zwischen den Häusern auf. Gary Fisher bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen. Er musste so schnell wie möglich aus Maidenhood verschwinden, ohne das man seine Flucht bemerkte. Etwas Unheimliches ging hier vor. Eine dunkle Macht hatte das Dorf in Besitz genommen und breitete sich wie ein Geschwür aus. Mehrere Menschen waren ihr schon zum Opfer gefallen.
Begonnen hatte es vor ungefähr vier Wochen. Heftige Stürme waren über den Ort hereingebrochen, und nur über ihn. Sonst harmlose Tiere spielten plötzlich verrückt. Zuerst traf es den alten Paul Travis. Er wurde von seinem Pferd zu Tode getrampelt. Drei Tage später starb Andrew Bates. Seine beiden Schäferhunde waren ohne ersichtlichen Grund über ihn hergefallen und hatten ihn zerfleischt. Scott Fearin und seine Frau Mary wurden von einem Schwarm Vögel attackiert. Sie überlebten den Angriff schwer verletzt. Das schrecklichste Ereignis lag noch keine achtundvierzig Stunden zurück. Den Pfarrer des Ortes fand man erhängt auf dem Friedhof. Die Polizei schloss ein Fremdverschulden aus. Aber entsprach das auch der Wahrheit?
Gary Fisher hatte jedenfalls nicht vor, das nächste Opfer zu werden. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Mitternacht. Dumpf ertönten Glockenschläge. Dann war es wieder still. Doch diese gespenstische Lautlosigkeit hatte etwas Bedrohliches. Der korpulente Mann mit dem schütteren Haar sah sich besorgt nach allen Seiten um. Er war allein. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Finger seiner rechten Hand umklammerten den Griff der schweren Reisetasche. Sie enthielt nur das Notwendigste. Alles andere musste er zurücklassen. Leid tat es ihm vor allem um seine Tischlerei. Aber die bedeutete ihm nicht soviel wie sein Leben. Er konnte sich jederzeit irgendetwas Neues aufbauen. Mit seinen fünfzig Jahren gehörte er noch längst nicht zum alten Eisen.
Plötzlich huschte ein schwarzer Schatten an ihm vorbei, blieb einige Meter entfernt sitzen und starrte ihn aus funkelnden Augen an. Fisher zuckte kurz zusammen. Dann holte er tief Luft und ging auf die schwarze Katze zu. Fauchend verschwand das Tier in der Dunkelheit.
„Blödes Vieh“, murmelte Fisher.
Blitze zuckten über den Himmel, gefolgt von einem leisen Grummeln. Der Mann beschleunigte seine Schritte und atmete erleichtert auf, als er das Ende der dunklen und engen Gasse erreichte. Die angrenzende Straße war ebenfalls menschenleer. Nur ein alter Toyota parkte unter einer Laterne. Wind kam auf. Er verfing sich in den Ästen und ließ die Bäume lebendig erscheinen. Fisher erreichte sein Fahrzeug. Hastig steckte er den Schlüssel ins Türschloss. Noch bevor er ihn herumdrehen konnte, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Schatten schoben sich aus der Dunkelheit hervor.
Katzen!
Rote, Weiße, Schwarze und Gefleckte. In einem gespenstischen Reigen schlichen sie um den Wagen herum. Alles geschah völlig lautlos. Fisher schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, waren die Tiere immer noch da und kreisten ihn langsam ein. Wieder zuckten Blitze über den Himmel und wieder grollte der Donner. Hastig schloss Fisher die Wagentür auf. Gerade, als er einsteigen wollte, fielen die Tiere über ihn her und gruben ihre scharfen Zähne in seinen Körper. Der Mann stieß einige spitze Schreie aus und stürzte schwerfällig zu Boden. Verzweifelt versuchte, er die Angreifer anzuschütteln, doch seine Anstrengungen waren vergebens. Er blutete bereits aus zahlreichen Wunden. Seine Abwehrbewegungen wurden schwächer und hörten schließlich ganz auf. Ohne einen Laut von sich zu geben, verschwanden die Katzen wieder in der Dunkelheit. Nur ihr Opfer blieb zurück.
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DIE MEISTEN EINWOHNER des 300-Seelen-Dorfes Maidenhood waren früh zu Bett gegangen. Hier, im Herzen Mittelenglands schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Wären nicht einige Verkehrsschilder und ein paar Reklametafeln an den Hauswänden gewesen, hätte man meinen können, im tiefsten Mittelalter zu sein. Doch seit einiger Zeit war es vorbei mit der dörflichen Ruhe. Das Entsetzen regierte in Maidenhood. Und als die schrillen Schreie des Tischlers durch die Nacht hallten, war allen Bürgern bewusst, dass es ein neues Opfer gegeben hatte.
Vom Lärm angelockt kamen die Menschen aus ihren Häusern und versammelten sich um den Toten. Er lag auf dem Rücken. Eine Blutlache breitete sich unter ihm aus. Seine Augen waren gebrochen. Für den Bruchteil einer Sekunde warf ein Blitz sein gleißendes Licht auf die gespenstische Szenerie. Grollender Donner folgte, wie der Vorbote eines noch größeren Unheils.
„Wer tut denn so was?“, wollte eine Frau wissen, die sich nur eine Bettdecke über das Nachthemd geworfen hatte. Doch sie erhielt keine Antwort. Alle redeten wild durcheinander, sodass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Immer mehr Menschen kamen auf die Straße oder tauchten am Fenster ihres Hauses auf. Die Unruhe unter der Bevölkerung wuchs.
„Da kommt der Bürgermeister!“, rief jemand.
Eine imposante Erscheinung näherte sich der Menschenmenge. Sean Patterson war groß, hatte struppiges Kraushaar und ein kantiges Gesicht mit wasserhellen Augen.
„Was ist das für ein Tumult?“, fragte er. „Und wer hat vorhin geschrien?“
Da erst entdeckte er den Toten. Sofort wich sämtliche Farbe aus seinem Gesicht. Das Stimmengewirr verstummte.
„Mein Gott, wer ... wer hat das getan?, stammelte Patterson ohne den Blick von der Leiche zu nehmen.
„Also, ich würde auf ein Raubtier tippen“, sagte jemand.
„Aber warum?“, fragte ein anderer.
„Das ist doch völlig egal“, entgegnete der hagere Mann neben ihm. „Viel wichtiger ist meines Erachtens, das wir endlich etwas unternehmen. Es kann doch nicht sein, dass der Frieden von Maidenhood durch solche Vorkommnisse gestört wird.“
„Und was schlagen Sie vor?“, wollte Patterson wissen.
„Na, Sie sind doch der Bürgermeister“, entgegnete der Angesprochene. „Lassen Sie sich etwas einfallen.“
„Warum unternimmt die Polizei eigentlich nichts?“, fragte eine Stimme aus der Menge.
„Ja! Genau!“, riefen einige. „Es muss doch eine Erklärung für das hier geben.“
„Also, wenn Sie meine Meinung hören wollen“, sagte ein Mann mit schulterlangen braunen Haaren, „ich glaube, das Militär steckt dahinter. Die machen irgendwelche Wetterexperimente und werfen Chemikalien aus ihren Flugzeugen. Das macht dann die Tiere verrückt und beeinflusst das Wetter.“
„Ja, richtig“, meinte ein anderer Mann. „Das ist genauso wie mit diesen UFOs. Dahinter steckt auch das Militär. Haben sie neulich erst im Fernsehen gesagt.“
Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, begleitet von lauten Donnerschlägen. Direkt über dem Dorf brach ein Gewitter von ungeheurer Macht aus. Dunkle Wolken verdeckten den Mond und entledigten sich ihrer Last. Es begann, zu regnen. Blutrote Tropfen fielen vom Himmel herab.
Sofort begannen die Menschen wild durcheinanderzureden. Die Aufregung wuchs immer mehr. Patterson versuchte zwar, seine eigene Unruhe zu überspielen, aber auch er war mit den Nerven fertig und kämpfte mit seiner Fassung. Eine Lösung musste her, so schnell wie möglich.
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SIE HATTEN EINEN TEIL ihrer Kindheit zusammen verbracht. Wenige Jahre nur, aber sie reichten aus, um eine tiefe Freundschaft entstehen zu lassen. Auch wenn mittlerweile jeder seinen eigenen Weg ging, so war der Kontakt zwischen ihnen doch nie abgebrochen. Und als Sean Patterson in seinem Brief den Dämonenjäger um Unterstützung bat, war es für David Murphy eine Selbstverständlichkeit, dieser Bitte nachzukommen.
Natürlich ahnte der Bürgermeister nichts von dessen wahrer Tätigkeit, geschweige denn etwas vom „Orden des Weißen Lichts“ und dem immerwährenden Kampf gegen die dunklen Mächte. Sean wusste nur, dass sein Freund sich manchmal mit Ereignissen beschäftigte, bei denen unheimliche Phänomene eine Rolle spielten.
Vor drei Stunden war Murphy auf dem Flughafen London-Heathrow gelandet, hatte einen Wagen gemietet und befand sich nun auf dem Weg nach Maidenhood. Unentwegt schaute er auf den grauen Asphalt der Landstraße. Die Reize eines herbstlichen Englands, dessen Natur sich auf den nahenden Winter vorbereitete, nahm er nicht ein einziges Mal wahr.
Alte Erinnerungen tauchten auf, Bilder aus der Vergangenheit. Anfangs waren sie nur verschwommen, doch die Konturen wurden sehr schnell schärfer. Murphy sah das Viertel, in dem er aufgewachsen war, die Straßen, die Geschäfte, die Menschen. Alles erschien plötzlich ganz klar vor ihm. Auch das Gesicht von Crow. Seinen richtigen Namen hatte Murphy nie erfahren. Alle im Viertel nannten ihn nur Crow. Jeder hatte Angst vor ihm und seiner Bande. Er war ein derber Kerl mit einem Raubvogelgesicht. Das linke Auge schielte nach außen. Man wusste nie, wohin er sah. Einen Schulabschluss zu machen, war ihm nie eingefallen, genauso wenig, wie sich eine geregelte Arbeit zu suchen. Er wollte Geld machen – soviel wie möglich, so schnell wie möglich und so bequem wie möglich. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Crow und seine Bande lebten von Erpressung, Raubüberfällen und Diebstählen.
Eines Tages hatten sie es auf David Murphy abgesehen, genauer gesagt, auf sein blaues Fahrrad. Als der Junge sich zur Wehr setzte, schlugen sie ihn zusammen und steckten ihn in einen Müllcontainer. Von selbst hätte Murphy sich niemals aus seiner misslichen Lage befreien können. Doch der Zufall kam ihm zur Hilfe. Sean Patterson wohnte auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hatte von seinem Fenster aus alles beobachtet. Ohne zu zögern, rief er die Polizei. Murphy wurde von den Beamten aus dem Container geholt. Seine Verletzungen waren zum Glück nicht lebensgefährlich und verheilten sehr schnell. Auch das blaue Fahrrad bekam er wieder. Und er hatte in Sean Patterson einen Freund gefunden. Crow starb einige Wochen später bei einem Schusswechsel mit der Polizei, als er versuchte, ein Juweliergeschäft auszurauben.
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ES WAR BEREITS SPÄTER Nachmittag, als ein unscheinbares Schild darauf hinwies, dass man die breite Landstraße verlassen musste, um Maidenhood zu erreichen. Zu dem kleinen Ort führte nur ein schmaler Weg mit Pfützen und ausgefahrenen Rinnen. Als er einige Meilen hinter sich hatte, fuhr Murphy in einen dichten Buchenwald. Gelegentlich zeigten sich Tannenhaine, deren dunkles Nadelgrün in der Kahlheit der Laubbäume wie eine undurchdringliche Mauer wirkte. Der Wagen geriet auf dem feuchten Laub ins Rutschen und brach aus. Murphy reagierte sofort. Er riss das Lenkrad herum und trat das Gaspedal durch. Die Reifen fassten endlich wieder festen Grund.
„Verflucht!“, knurrte Murphy. Um Haaresbreite hätte er den klobigen Stamm einer uralten Buche gestreift. Der Dämonenjäger atmete tief durch und fuhr weiter. Die Straße wurde kurvenreicher. Streckenweise kam er nur im Schritttempo vorwärts. Urplötzlich lichtete sich der Wald. Auf der linken Seite erhob sich jetzt eine Mauer aus moosbedeckten Feldsteinen und auf der anderen stand das erste Haus. Es war klein, aus verwitterten, rohen Brettern gebaut und schien uralt. Die Fenster wirkten wie blinde Augen.
Nach und nach erschienen zu beiden Seiten weitere Häuser. Er befand sich jetzt auf einer gepflasterten Straße. Langsam lenkte Murphy den Wagen durch den Ort. Die wenigen Menschen, die er sah, musterten ihn misstrauisch. In dieser Gegend, in der die Zeit stehengeblieben war, mochte man keine Eindringlinge. Vermutlich war das der Grund dafür, warum der Tourismus Maidenhood noch nicht erreicht hatte.
Murphy holte einen Zettel aus seiner Jackentasche. Es war ein Lageplan. Sean hatte ihn zusammen mit dem Brief geschickt. Auf ihm war die Stelle markiert, an der sich sein Haus befand. Der Dämonenjäger bog von der Hauptstraße ab, dann noch um eine Ecke und stoppte den Wagen vor einem zweistöckigen Haus. Es war ziemlich alt, aber trotzdem solide und von einem Hauch Romantik umgeben.
Murphy stieg aus. Er schloss die Augen und konzentrierte sich. Seine Sinne tasteten umher. Sie waren übersensibel. Auf einmal kroch ein eigenartiges, fast undefinierbares Gefühl in ihm hoch. Schlagartig öffnete er die Augen. Es existierte tatsächlich eine Gefahr. Er spürte sie mit aller Deutlichkeit, ohne jedoch ihre Herkunft genau lokalisieren zu können.
Der hochgewachsene Mann nahm seinen Reisekoffer vom Rücksitz, ging zur Haustür und betätigte den Klingelknopf. Einige Augenblicke später vernahm er Schritte. Die Tür wurde geöffnet und Sean Patterson erschien. Obwohl sie sich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten, erkannte der Bürgermeister seinen Besucher sofort.
„David“, sagte er aufgekratzt. „Schön, dass du da bist! Komm herein, wir haben uns viel zu erzählen.“
Er wollte Murphy den Koffer abnehmen, aber der Dämonenjäger blieb standhaft und trug ihn selbst. Sean führte seinen Gast in den Living-room und bat ihn, sich zu setzen. Es war ein großer, mit dunklen Möbeln eingerichteter Raum, der Behaglichkeit verströmte.
„Wie wäre es mit einem Begrüßungstrunk? Ich habe einen echten schottischen Whisky, zehn Jahre alt.“
Ja, gerne“, antwortete Murphy, während er sich in einen der großen Ledersessel sinken ließ.
Sean trat an die hohe Schrankwand heran, öffnete eine Klappe und machte sich im Barfach zu schaffen.
„Lebst du hier allein?“, fragte Murphy.
„Nein, zusammen mit Rick, meinem Sohn. Sarah und ich haben uns letztes Jahr scheiden lassen. Meine Frau wollte ihr Leben neu ordnen. Sie ist nach London gezogen – um sich selbst zu verwirklichen – wie sie es nannte. Dabei hat sie Großstädte immer gehasst. Sarah meinte, das wäre kein Ort, um eine Familie zu gründen und Kinder groß zu ziehen. Deshalb sind wir damals auch hierher gezogen.“
Sean machte eine kurze Pause und fuhr dann fort.
„Aber es wäre unfair, ihr allein die Schuld am scheitern unserer Ehe zu geben. Dazu gehören immer zwei. Es war, glaube ich, wie bei vielen Menschen. Irgendwann hat man sich einfach nichts mehr zu sagen. Glücklicherweise wurde aus unserer Scheidung keine Schlammschlacht. Wir haben uns in aller Freundschaft getrennt. Hauptsächlich natürlich wegen unseres Sohnes. Er sollte nicht im Minenfeld eines Scheidungskrieges aufwachsen. Heute herrscht zwischen Sarah und mir so etwas wie Waffenstillstand. Na ja, man könnte es auch als einen zaghaften Frieden bezeichnen. Aber heiraten werde ich bestimmt nie wieder. Das eine Mal hat gereicht.“
„Bist du dir so sicher?“, fragte Murphy.
„Allerdings! Wenn man Single ist, bleibt einem viel erspart. Außerdem lässt mir mein Beruf sowieso nicht allzu viel Zeit für ein Privatleben. Und das bisschen, was übrig bleibt, verbringe ich mit meinem Sohn.“
Sean wandte den Kopf.
„Was ist mit dir? Willst du eines Tages in den Hafen der Ehe einlaufen?“
„Darüber habe ich mir noch nicht allzu viele Gedanken gemacht. Im Moment geht die Arbeit vor.“
Sean brachte zwei mit Whisky gefüllte Gläser und reichte eins davon Murphy. Dann setzte er sich ihm gegenüber auf den zweiten Sessel.
„Um ehrlich zu sein“, begann der Dämonenjäger, „ich bin aus deinem Brief nicht so ganz schlau geworden.“
„Hauptsache, du bist da, David“, entgegnete der Bürgermeister lachend. Aber dieses Lächeln erreichte seine Augen nicht. Er war beunruhigt, das konnte Murphy ganz deutlich sehen.
„Um was geht es denn nun eigentlich? In deinem Brief standen nur vage Andeutungen.“
„Ich weiß auch nicht so recht, wie ich dir das erklären soll. Innerhalb von vier Wochen gab es in Maidenhood mehrere ungewöhnliche Todesfälle.“ Seine Lippen bebten. Er umklammerte das Glas mit beiden Händen und trank es in einem Zug leer. „In den meisten Fällen waren Tiere darin verwickelt. Zuletzt traf es unseren Tischler. Er wurde von einem Rudel Katzen zerfleischt. Und dann diese Stürme. Sie brechen aus heiterem Himmel über den Ort herein, merkwürdigerweise nur über diesen Ort. Genauso verhält es sich mit dem roten Regen. Die Straßen und Häuser von Maidenhood sehen danach jedes Mal so aus, als ob man sie in Blut getaucht hätte. Auffällig ist allerdings, dass diese Erscheinungen immer nur abends stattfinden, oder spät in der Nacht, aber niemals am Tage.“
„Was ist mit der Polizei?“, fragte Murphy und nippte an seinem Drink.
„Na ja, unser Ort ist zu klein für ein eigenes Revier, also haben wir die Beamten aus der nächstgelegenen Großstadt hergeholt. Aber sie sahen keinen Handlungsbedarf, weil fast alle Opfer von Tieren getötet wurden. Eine Ausnahme bildet lediglich unser Pfarrer. Er hatte sich auf dem Friedhof erhängt.“
Murphy strich sich mit den Fingern über seinen Bart. Er versuchte, einen Punkt zu finden, an dem er ansetzen konnte. Doch irgendwie wollte ihm das nicht gelingen. Ein paar entscheidende Teile fehlten noch in dem Puzzle. Es war unbestreitbar, dass hinter den Vorkommnissen eine dunkle Macht steckte, doch die Quelle konnte der Dämonenjäger nicht ausfindig machen. Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken.
Die Haustür wurde geöffnet und eine Kinderstimme verkündete: „Ich bin wieder da!“
Kurz darauf erschien ein etwa zwölfjähriger Junge im Zimmer.
„Hallo, Rick“, entgegnete der Bürgermeister. „Das ist mein Freund David Murphy.“ Er deutete auf den korpulenten Mann, der ihm gegenübersaß.
Rick hob grüßend die Hand. „Hallo, Mister Murphy!“
„Hallo, Rick!“
Der Junge wandte sich an seinen Vater. „Ich gehe nach oben und spiele noch ein bisschen am Computer.“
„Ist gut. Aber mach nicht so lange. Es gibt bald Abendessen.“
„Okay.“
Der Junge wandte sich um und verschwand im oberen Stockwerk. Murphy schaute aus dem Fenster. Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die Wolkenränder färbten sich leuchtend rot. Der Tag neigte sich dem Ende. Sean stellte sein Glas auf den Tisch und federte aus dem Sessel in den Stand.
„Komm“, sagte er, „ich zeige dir jetzt erstmal dein Zimmer, und anschließend werde ich uns ein anständiges Abendessen zubereiten. Was hältst du von Putenfilet in Senfsoße?“
„Klingt gut“, antwortete der Dämonenjäger.
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SEAN WAR WIRKLICH EIN ausgezeichneter Koch, das musste Murphy neidlos anerkennen. Die Filets schmeckten köstlich und zergingen fast auf der Zunge. Während des Essens drehte sich ihre Unterhaltung um alles Mögliche, nur nicht um die unheimlichen Vorgänge in Maidenhood. Murphy langte tüchtig zu. Immerhin hatte er seit Stunden nichts mehr gegessen, von der Bordverpflegung im Flugzeug einmal abgesehen. Aber dieser matschigen Fertignahrung konnte er noch nie etwas abgewinnen. Nach dem Essen war Rick sofort wieder in seinem Zimmer verschwunden.
„Was hältst du eigentlich davon“, fragte Sean, während er aufstand und die Teller abräumte, „wenn wir noch einen Spaziergang durchs Dorf machen?“
„Okay!“, erwiderte Murphy.
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„DAS WIRD NOCH EIN böses Ende nehmen.“
Jeffrey Rickman wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. Gerade hatte der Metzger einen halben Liter Bier in seine durstige Kehle fließen lassen. So, wie er es jeden Abend tat, wenn er unter den niedrigen, rauchgeschwärzten Balken vom GOLDEN LION hockte. In den Augen des Mannes mit den schwellenden Muskelpaketen stand Furcht. Er war davon überzeugt, dass selbst der stärkste Kerl der Welt nichts gegen die Gefahren dort draußen unternehmen konnte.
„Ein ganz böses Ende, das sage ich euch.“
Keiner der anderen beiden Zecher reagierte. Die Männer wussten, dass es nach Einbruch der Dunkelheit nicht mit rechten Dingen zuging in Maidenhood. Deshalb mussten sie sich auch gewaltig Mut antrinken, bevor sie sich auf den Heimweg machten. Und sie tranken ziemlich viel.
Charlie Stewart saß schon seit dem späten Nachmittag im Pub, was seiner Frau Alice mit Sicherheit nicht gefiel. Aber Standpauken, wenn er betrunken heimkam, war er mittlerweile gewöhnt. Auch Monty McCormick, der Besitzer des Lebensmittelgeschäfts, hatte schon etliche Biere in sich hinein geschüttet.
„Wir alle werden sterben“, sagte der Metzger.
Die anderen Männer starrten ihn vernichtend an. So, als ob er das Entsetzen einladen würde, in dem er es beim Namen nannte.
„Halt endlich die Klappe!“, knurrte Roger Barnett grob. Der Wirt und Inhaber vom GOLDEN LION hatte große Ähnlichkeit mit einem Grizzlybären, so stämmig gebaut und behaart war der Mann in der stets schmutzigen Schürze. Er hatte den Laden vor fast zwanzig Jahren von seinem Vater übernommen und verdiente damit gerade genug Geld, um seine Familie ernähren zu können, ohne großartig schuften zu müssen. Und das genügte ihm.
Barnett trat näher an den Meztger heran. „Trink lieber noch einen oder verschwinde. Aber lass endlich dein blödes Gequatsche. Ich will hier so etwas nicht hören, verstanden!“
Der Metzger senkte den Blick. Vor Barnett hatte selbst er Respekt, genauso wie die beiden anderen Zecher. Darum traute sich auch keiner von ihnen, seine Augen auf den Wirt zu richten. Der Metzger leerte sein Glas und hielt es Barnett entgegen.
„Hast ja Recht, Roger. Wir können doch nichts ändern. Gib mir noch ein Guinness.“
„In Ordnung“, knurrte der Mann hinter der Theke halbwegs besänftigt.
Auch die beiden anderen Männer wollten jetzt noch mehr Bier haben. Da ertönte vor der Tür ein Poltern. Die Männer zuckten zusammen. Sie saßen mit dem Rücken zur Tür. Keiner traute sich, den Blick nach hinten zu richten. Bisher war man in Maidenhood nachts in den Häusern relativ sicher gewesen. Aber was, wenn das nicht mehr galt?
Nun waren Schritte zu hören. Selbst dem breitschultrigen Wirt zitterten die Hände. Roger Barnett war eigentlich nie ängstlich gewesen, doch die unheimlichen Ereignisse hier im Ort hatten auch bei ihm Spuren hinterlassen. Die niedrige Decke der düsteren Schankstube schien sich nach unten zu senken, um die Männer unter sich zu zerquetschen. Doch das war nur eine Sinnestäuschung. Genau wie der eiskalte Hauch, den die Anwesenden plötzlich zu spüren glaubten. Langsam und knarrend schwang die schwere Holztür auf.
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VIER ÄNGSTLICH DREINBLICKENDE Augenpaare starrten David Murphy und Sean Patterson an, als sie den Pub betraten. Es dauerte einige Sekunden, bis die Anspanung in den Gesichtern der Männer am Tresen verschwand. Der Wirt fand als Erster seine Sprache wieder.
„Guten Abend, Bürgermeister“, sagte er mit leicht zitternder Stimme.
Der Angesprochene nickte kurz, dann setzten sich die beiden Männer an einen der Tische, der etwas abseits lag. Sich an der Theke niederzulassen, wäre nicht sehr vorteilhaft gewesen. Sie wollten ungestört sein. Barnett stand für einen Augenblick da, als sei er hinter dem Tresen festgewachsen. Doch dann erinnerte er sich daran, dass er ja der Besitzer war und ging mit schnellen Schritten auf den Tisch zu.
„Was darf‘s sein?“, fragte Barnett, während er sich die Hände an der dreckigen Schürze abwischte.
Sean Patterson lächelte und zeigte seine strahlend weißen Zähne. „Zwei Guinness, bitte.“
„Kommen sofort.“
Der Wirt bedachte Murphy mit einem missbilligenden Blick und trabte davon. Offenbar war er nicht gut auf Fremde zu sprechen. Auch dann nicht, wenn er dadurch Geld verdienen konnte.
„Die Nerven der Leute liegen blank“, sagte Sean, als wolle er damit das Verhalten des Wirts entschuldigen. „Normalerweise ist er nicht so abweisend.“
„Schon okay“, entgegnete Murphy.
Eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern. Sie wechselten kein Wort, als ob sie sich nichts mehr zu sagen hätten. Und dabei gab es in Wirklichkeit noch so viel zu besprechen.
„Sag mal“, unterbrach Murphy schließlich das Schweigen, „erinnerst du dich noch an den alten Paul Curtis?“
„Den Besitzer der Autoreparaturwerkstatt?“
„Ja.“
„Na klar, wie könnte ich den vergessen?“ fragte Sean grinsend. „Weißt du noch, wie oft wir als Kinder da herumgehangen haben, während er diese Schrottmühlen repariert hat?“
„Oh ja! Und es gab wirklich keinen Wagen, den er nicht wieder hinbekommen hätte.“
Sean Patterson seufzte. „Manchmal vermisse ich diese alten Zeiten.“
Ihre Unterhaltung wurde unterbrochen, als der Wirt herantrat und die bestellten Biere brachte. Sean drückte ihm ein paar Münzen in die Hand und Roger Barnett ging wieder.
„Auf die alten Zeiten“, sagte der Dämonenjäger und erhob sein Glas.
„Ja“, bestätigte Sean.
Die beiden Männer leerten ihre Gläser in einem Zug.
Dann fragte Murphy: „Lebt Curtis eigentlich noch?“
„Soweit ich weiß, ist er vor ein paar Jahren gestorben. Im Gefängnis.“
Murphy zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Curtis war im Knast? Weswegen?“
„Er hat gebrauchte Autos verkauft.“
„Seit wann ist das strafbar?“