Als E-Book beim Hummelburg Verlag erschienen 2021
Die Print-Ausgabe erscheint im Hummelburg Verlag,
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
© 2021 Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
Cover- und Innenillustration: Miryam Specht
Covertypografie: Behrend & Buchholz Grafik-Design GbR, Hamburg
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch
Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH,
Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
ISBN 978-3-7478-0045-4
www.hummelburg.de
Ich bin nicht so der Puzzle-Freak. Als ich klein war, da schon. Mama sagt, ich hatte ein Bauernhof-Puzzle mit ungefähr zehn Teilen, damit habe ich jeden Tag gespielt. Ich konnte es zuletzt in ein paar Minuten zusammensetzen, obwohl ich noch nicht mal zwei war.
Aber jetzt – ich weiß echt nicht, warum Leute sich einen Haufen bunte Pappstückchen auf den Wohnzimmertisch schütten und dann wochenlang an so einem Riesenbild werkeln! Und niemand darf am Tisch wackeln und am liebsten noch nicht mal kräftig lüften, damit bloß nicht ein paar Puzzleteile vom Tisch fallen. Oder runterwehen. Oder überhaupt verloren gehen. Denn dann ist ja das ganze Puzzle nichts mehr wert.
Nee, vielen Dank! Nicht meine Welt.
Und ausgerechnet mir muss diese Geschichte passieren! Denn diese Geschichte ist total wie ein Puzzle. Wie ein Puzzle mit ziemlich vielen Teilen, bei dem man ein Teil nach dem anderen zusammenfrickeln muss, damit endlich alles passt. Jedenfalls denkt man irgendwann, dass alles passt. So wie ich es gedacht habe.
Bis ich dann gemerkt habe, dass ich selber ein Teil von dem Puzzle bin.
Das Puzzleteil genau in der Mitte.
Ding-ding-ding-doooong! Ding-ding-ding-dooong! Es klingelt. Es klingelt Sturm. Ich habe sofort eine Ahnung, wie von etwas Großartigem, das gleich passiert. Ich springe auf und rase zur Wohnungstür wie hingebeamt und drücke fast den Türöffner kaputt. Einmal, zweimal, dreimal, und da höre ich auch schon, wie jemand die Treppen hinaufstürmt.
Er nimmt immer zwei Stufen auf einmal, und dann steht er vor mir. Er ist so groß, dass ich zu ihm hochgucken muss. Obwohl, ich bin ja ziemlich groß für mein Alter. Also ich muss nicht zu ihm hochgucken, oder jedenfalls nicht sehr. Und das sagt er auch: „Mein Gott, so ein großer Sohn!“ Er schüttelt den Kopf, als könnte er es gar nicht fassen, und er freut sich so, dass auch mir ganz warm wird vor Freude.
Er hat einen Bart, aber einen hippen Bart, und eine Brille, aber eine hippe Brille, und außerdem hat er einen Arztkittel an. Nein, er hat keinen Arztkittel an, das ist ja Quatsch – doch nicht auf der Reise! Er hat einen grauen Mantel an. Aber auch ohne Arztkittel weiß ich sofort, wer es ist.
„Papa!“ Ich werfe mich in seine Arme. Er riecht nach Meer, nach Wüstensand, nach Sehr-weit-weg, und auch ein bisschen nach Desinfektionsmittel. Klar, er ist ja Arzt.
Er umarmt mich ganz fest, und dann hält er mich von sich weg und strahlt mich an. Sein Gesicht ist braun, wie bei jemandem, der lange in heißen und sonnigen Ländern war. Seine Zähne blitzen, und in seinen Augenwinkeln bilden sich kleine freundliche Falten. Sie sind grün, die Augen, mit kleinen braunen Punkten, so wie meine Augen.
„Sie wollten mich nicht weglassen bei Ärzte ohne Grenzen“, sagt er. „Sie können mich ja eigentlich nicht entbehren, aber ich musste dich einfach sehen! Ich bin so stolz, dass ich so einen großen Sohn habe! Jetzt suche ich mir eine Stelle in der Nähe, und dann gehe ich nie wieder weg von euch!“
Mama kommt in den Flur, sie erkennt Papa natürlich sofort und er sie, und sie sehen sich an. Im Film – ich gucke manchmal mit Mama abends diese Filme, wo sie immer ein bisschen weint, aber zum Glück bloß vor Rührung – also, im Film würde man jetzt diese schmalzige Musik hören, und Mama und Papa würden in Zeitlupe aufeinander zulaufen.
Aber es ist ja kein Film, sondern Wirklichkeit, und deswegen stehen sie nur da und sehen sich an. Und Mama sagt: „Komm erst mal rein!“
Beim Reingehen nimmt Papa ihre Hand, und da weiß ich, alles wird gut.
Ja, das wäre schön so. Wenn das die Wirklichkeit wäre!
„Bene?“, sagt Mama.
„Ja?“, frage ich.
Mama dreht an den Knöpfen ihrer türkisen Lieblingsbluse, schaut von mir weg und mich dann wieder an. „Es … äh … es sind doch jetzt bald Sommerferien“, beginnt sie.
Ich weiß, was sie meint. Ich weiß meistens vorher, was sie meint. Kein Wunder, ich kenne sie ja schon mein ganzes Leben. „Es macht nichts, dass wir nicht wegfahren können“, antworte ich schnell. „Das macht überhaupt nichts. Wir können wieder einen Ferienpass für mich beantragen, dann kann ich umsonst ins Freibad. Und vielleicht fährt Wunni ja auch nicht weg.“
Das stimmt leider nicht. Ich sage das nur, um es Mama leichter zu machen. Wunni hat mir gerade gestern erzählt, dass sie in diesem Jahr nach Frankreich fahren. Er hat sich fast entschuldigt, dass sie mir nicht anbieten mitzukommen, aber er hat eine große und eine kleine Schwester und einen Hund, und natürlich seine Eltern, da ist das Ferienhaus voll.
Wenn ich erwachsen bin und selber Geld verdiene, denke ich, kann ich für Mama und mich und unsere Freunde ein Ferienhaus mit Pool mieten. Ich sehe es genau vor mir, es liegt in der Nähe vom Strand, sodass man sich aussuchen kann, ob man am eigenen Pool liegen oder ins Meer rennen oder am Strand Frisbee spielen will.
Es könnte natürlich auch sein, dass Papa vorher wiedergekommen ist. Dann wird er natürlich das Haus am Meer mieten. Vielleicht sogar kaufen. Er wird gar nicht wissen, wohin mit dem Geld, er hat ja die ganze Zeit nur gearbeitet und sich für die Kranken eingesetzt. Er ist überhaupt nicht dazu gekommen, Geld auszugeben. Außerdem hat er es für uns gespart, besonders für mich. Wenn er nicht immer an mich denken würde, könnte er das gar nicht durchhalten, was er macht. So anstrengend und gefährlich, wie seine Arbeit ist! Abends liegt er dann immer in seinem Zelt, in dem Feldbett mit dem Mückennetz drüber. Um das Dschungelhospital keckern die Affen, man hört schrille Vogelrufe und manchmal sogar einen Elefanten trompeten. Und Papa hat nur einen Gedanken: dass er bald wieder bei uns ist. Vor allem bei mir.
Allerdings, ganz so schnell wird sich das wohl nicht machen lassen.
Die Kranken dort im Dschungel brauchen ihn, er ist der einzige Arzt weit und breit. Doc Wonderful nennen ihn die Kranken, weil sie seinen richtigen Namen nicht aussprechen können. Sie kommen kilometerweit aus ihren Dörfern, und für jeden hat er ein aufmunterndes Wort und die richtige Medizin. Er kann einfach noch nicht kommen, das sehe ich schon ein. Aber …
„Bene?“ Mama tippt mir auf den Arm. „Das ist doch toll, oder?“
Ich schüttele mich ein bisschen, damit ich mit den Gedanken wieder in die Wirklichkeit zurückkomme. „Ja, super“, murmele ich.
Mama lacht. „Du kannst es noch gar nicht richtig glauben, oder? Ich freu mich so, dass du dich auch freust. Ich hatte schon Angst – egal.“ Mama strahlt und sieht so erleichtert und froh aus, als wäre ihr gerade ein ganzer Steinbruch von der Seele gerutscht. „Gleich am ersten Ferientag geht’s los!“
„Äh – wie jetzt?“ Wovon redet sie? „Wohin geht’s los?“
„Bene!“ Mama nimmt mich an beiden Oberarmen und schüttelt mich sanft. „Wo bist du denn nur mit deinen Gedanken? Das hab ich dir doch gerade erzählt! Ein Freund von Sebastian hat ein kleines Ferienhaus in Schweden, an einem See, da können wir hin. Und es kostet nichts. Überhaupt nichts! Ich wollte schon so ewig mal wieder verreisen. Und du doch auch!“
Ich merke, wie um mich herum so was wie eine Mauer entsteht. Sie wächst und wächst, und an dieser Mauer prallt alles ab, was Mama sagt. „Wer ist wir?“, frage ich, obwohl ich es natürlich ganz genau weiß.
„Na ja“, Mama schluckt und setzt sich gerade hin und sieht ein bisschen so aus wie an dem Morgen, als sie vorhatte, Herrn Dürrmaul vom Supermarkt um eine Gehaltserhöhung zu bitten. Nicht dass es geklappt hätte, übrigens. „Du und ich und … äh … Sebastian“, sagt sie. „Wir drei. Dann könnt ihr euch auch ein bisschen besser kennenlernen, du und Sebastian.“
Wir drei! Ich bin so sauer, dass ich nach Luft schnappen muss.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich Sebastian zum ersten Mal begegnet bin. Das genügt mir eigentlich, vielen Dank! Näher will ich ihn gar nicht kennenlernen!
Wir waren unterwegs, um mir neue Sneakers zu kaufen. Nicht die, die ich gewollt hätte, die wären zu teuer gewesen. Noch nicht mal die zweitbesten. Aber die drittbesten waren auch ganz okay.
Das Leben hängt nicht davon ab, welche Schuhe man an den Füßen hat. Sagt Mama. Aber das sagt sie nur, weil wir uns eben manche Sachen nicht leisten können. Mamas Stelle an der Uni ist nicht verlängert worden, seitdem arbeitet sie als Kassiererin im Supermarkt. Wäre super, habe ich gedacht, wenn sie die ganze Kohle, die die Leute ihr geben, behalten könnte. Aber die sackt natürlich Herr Dürrmaul ein, und Mama bekommt nur gerade so viel, dass wir die Miete und das Essen und die Klamotten bezahlen können. Bei Klassenreisen zum Beispiel wird’s mit dem Geld schon knifflig. Oder als neulich unser Auto kaputtging, da hat Mama es gar nicht reparieren lassen, weil die Reparatur so teuer war, und ein neues Auto ist natürlich erst recht nicht drin. Zum Glück kann ich mit dem Bus zur Schule fahren, und Mama fährt mit dem Rad zum Supermarkt. Und da, an der Kasse, hat sie anscheinend Sebastian kennengelernt.
An dem Tag, als wir die Sneakers kaufen wollten, hat Mama gesagt: „Äh … es kommt noch jemand mit.“ Sie guckte irgendwie merkwürdig, gleichzeitig verlegen und stolz und auch ein bisschen froh. Beinahe glücklich. Das kam mir gleich so komisch vor. Mama guckt nicht mehr oft so. Früher ja.
Früher hat sie viel mit mir gelacht und getanzt und mir dabei das Lied Bene, bene, bene, tutto molto bene vorgesungen. Mama ist ja Italienerin, jedenfalls halb.
Ich war noch klein, aber ich erinnere mich gut. Ich habe lange gedacht, sie hätte sich das Lied extra für mich ausgedacht, weil ich Bene heiße. Als ich es dann irgendwann im Radio gehört habe, war ich richtig wütend. Ich hatte das Gefühl, sie hat mich beschummelt, als sie mir einfach ein Lied vorgesungen hat, das jemand ganz anders für alle gedichtet und gesungen hat. Danach fing es irgendwann an, dass Mama oft nicht mehr so fröhlich war. In meinem Kopf habe ich lange gedacht, dass das so war, weil ich die Sache mit dem Lied entdeckt hatte, dass ich sozusagen schuld wäre. Aber das ist natürlich Quatsch. Im Gegenteil! Mama sagt immer, wie froh sie ist, dass sie mich hat, und dass sie gar nicht wüsste, wie sie ohne mich auskommen sollte. Wunni meint, dass seine Mama das auch immer zu ihren Kindern sagt. Jedenfalls dann, wenn sie nicht gerade ausflippt und schreit, jetzt hätte sie aber genug von den ständigen Streitereien und sie weiß nicht, wie sie das noch eine Minute länger aushalten soll!
Aber bei uns ist das doch was anderes.
Ich mache Mama ihren Lieblingstee, wenn sie nicht aufstehen kann. Anis-Fenchel-Kümmel-Tee, und ich tue einen Löffel Honig rein, weil Honig gesund ist. Ich rufe im Supermarkt an und sage, sie hat leider Grippe. Und ich bringe sie zum Lachen, bis die Tränen, die ihr runterlaufen, Lachtränen sind und nicht die anderen Tränen.
Der Schleimer Sebastian weiß ja noch nicht mal, was Mama lustig findet! Er kennt sie doch überhaupt nicht!
Sebastian, das war nämlich natürlich der, der an dem Tag mit den Sneakers zum Einkaufen mitkam. Er hat total geschleimt und versucht, nett zu mir zu sein. Wenn er zum Beispiel mein Lehrer gewesen wäre oder der Vater von einem Kumpel, dann hätte ich ihn wahrscheinlich sogar ganz cool gefunden.
Aber auf einmal nahm er Mama an der Hand, als wir über die Straße gingen. Ich sehe immer noch, wie in Großaufnahme, die beiden Hände. Ich weiß nicht, wie Sebastian gemerkt hat, dass mir das nicht recht war, jedenfalls ließ er sofort Mamas Hand los. Aber es war zu spät. Ich hatte es gesehen. Und ab da wusste ich natürlich Bescheid.
„Nee, Mama“, rufe ich, „ich komm nicht mit nach Schweden! Denk das bloß nicht! Dann …“ Ich schnappe nach Luft und überlege blitzschnell, und dann sage ich etwas Verrücktes. Das Verrückteste, was mir in den Kopf kommt. „… Dann fahre ich schon lieber zu Oma Renate!“
Uff! Wie gut, dass mir das eingefallen ist! Ich komme mir vor wie das schlaue Krokodil mit seinen cleveren Tricks in diesem einen Bilderbuch, das Mama mir vorgelesen hat, als ich noch klein war.
Denn ich weiß ja, dass Mama sich mit Oma Renate, ihrer Mutter, überhaupt nicht versteht. Wir waren noch nie in Duderstedt, wo Oma wohnt. Sie hat uns nur manchmal besucht, aber nicht oft. Vielleicht zwei oder drei Mal in den letzten Jahren. Und immer war es, als ob eine Gewitterwolke über unserer Wohnung hängt, und jeden Augenblick kann es anfangen zu donnern und zu blitzen.
Zu mir war Oma ja so weit ganz nett, aber zwischen Mama und Oma hat es gedonnert und geblitzt und gescheppert. Mit ihrer Mutter, also mit Oma, ist Mama ganz anders als mit anderen Leuten. Irgendwie immer gleich tierisch genervt und auf hundertachtzig. Sie erinnert mich dann an Wunnis große Schwester, kurz bevor sie nach einem Streit mit ihrer Mama in ihr Zimmer rennt und die Tür hinter sich zuknallt.
Und deswegen, denke ich, wird Mama auch nicht wollen, dass ich zu Oma Renate fahre, und dem Schleimer Sebastian wird sie absagen.
Echt coole Idee! Ich klopfe mir fast selber auf die Schulter.
Mama seufzt. „Willst du denn wirklich auf keinen Fall nach Schweden? Bene, überleg’s dir doch noch mal. Es sind noch nicht mal zwei Wochen! Vielleicht wird es echt nett. Es würde dir so guttun, mal rauszukommen!“
Ich schnaufe wütend. Demnächst wird sie noch sagen, dass sie es eigentlich nur für mich macht. Aber so blöd bin ich ja nun auch nicht.
Mama legt mir die Hand auf den Arm. „Es gibt ein Boot am See, und man kann auf der Wiese Frisbee spielen und Blaubeeren und Himbeeren pflücken, und ich backe uns Blaubeerkuchen!“
Mama sieht mich an, und ich merke, wie ich weich werde. Nicht wegen Schweden und See und Boot und Frisbee und Blaubeerkuchen, sondern weil ich spüre, wie froh Mama wäre, wenn ich mitkäme. Und ich möchte doch, dass sie froh ist. Aber das ist ja jetzt wohl was anderes! Ich mache mich hart und kalt wie die Statue, die bei uns vor der Stadtbibliothek sitzt und seit fünf Jahren immer auf dieselbe Buchseite starrt.
Blaubeerkuchen für uns! Für uns! Damit meint sie auch Sebastian. Als ob er schon zur Familie gehört. Und Papa? denke ich. Was wird, wenn Papa nach Hause kommt, und der Schleimer Sebastian sitzt auf dem Sofa? Neben Mama? Wenn ich mitkomme, dann … dann ist das so, als ob ich Papa nicht die Tür aufmache, wenn er klingelt.
Ich verschränke die Arme und schüttele den Kopf. „Nee, ich komm nicht mit!“
Mama schaut nachdenklich auf den Boden. „Ja, dann …“, sagt sie leise.
Ich boxe fast in die Luft vor Freude. Man muss nur stark bleiben und darf sich nicht belatschern lassen, sagt Wunni immer.
„Ja, dann …“, sagt Mama noch mal. „Dann rufe ich jetzt Oma Renate an.“