Als E-Book beim Hummelburg Verlag erschienen 2021
Die Print-Ausgabe erscheint im Hummelburg Verlag,
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
© 2021 Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH
Cover- und Innenillustration: Petra Hämmerleinova
Covertypografie: Petra Hämmerleinova
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch
Hummelburg Verlag
Imprint der Ravensburger Verlag GmbH,
Postfach 2460, D-88194 Ravensburg
ISBN 978-3-7478-0029-4
www.hummelburg.de
Alle meine Probleme begannen an einem Freitag.
Dem Dreizehnten.
Mein kleiner Bruder Tankred würde sagen, das ist ein Klischee. Er meint damit, dass üble Dinge natürlich nicht immer nur an einem Freitag dem Dreizehnten passieren.
Tankred ist erst sechs Jahre alt, aber schon in der dritten Klasse. Seine Lehrer sagen, er sei hochbegabt, aber ich glaube, er hat einfach nur einen gewaltigen Knall.
Mit dieser Klischeesache hat er allerdings vielleicht sogar recht. Nur kann ich ja schließlich nichts dafür, dass alles eben an diesem Freitag dem Dreizehnten begann.
Ich wachte davon auf, dass sich unsere Katze Kriemhild mit ihrem Hintern direkt auf mein Gesicht pflanzte (ich schlafe mit offenem Mund!).
Kriemhild ist ziemlich fett, und wie ich an diesem Morgen feststellen musste, selbst für eine Katze unglaublich haarig. Sie heißt Kriemhild, weil mein Vater eine Vorliebe für germanische Namen hat. Er ist Professor für Alte Geschichte an der Universität. Deshalb heißt die Katze Kriemhild, unser Wellensittich Waldemar, meine Brüder heißen Landogar und Tankred, und ich höre auf den Namen Elfrun. Bescheuert!
Vor allem wegen unseres Nachnamens: Schmidt. Elfrun Schmidt. Was ist das bitte für ein Blödsinn?
Weil der Name so doof ist, nennen mich alle nur Elfie. Aber das macht es auch nicht viel besser, finde ich.
Wegen der Kriemhild-Geschichte gurgelte ich an diesem Morgen zunächst eine halbe Stunde mit Mundwasser, bevor ich in die Küche hinunterging. Meine Familie saß bereits am Frühstückstisch. Tankred sagte mit seiner piepsigen Stimme: »David Southwick ist Leiter der königlichen Astronomiegesellschaft in Großbritannien. Er referiert auf Deutsch über schwarze Löcher in der allgemeinen Relativitätstheorie.«
Ich erwog kurz, einen Bogen um die Küche zu machen und ohne mein Müsli in die Schule zu radeln. Wer will beim Frühstück schon Sätze hören, in denen die Worte Relativitätstheorie und referieren vorkommen? Doch wegen meiner ausgedehnten Morgenhygiene knurrte mein Magen bereits wie wild.
»Schatz, das tut mir leid …«, sagte Mama gerade zu Tankred, als ich mich auf meinen Platz sinken ließ.
Ein Guten Morgen hatte niemand für mich übrig. Ich war mal wieder unsichtbar. Das passiert mir häufiger. Zum Beispiel immer dann, wenn sich das Gespräch bei uns zu Hause um irgendwelche dämlichen Ausstellungen, Vorträge oder, noch schlimmer: Landos Sportveranstaltungen dreht. Also immer dann, wenn meine Brüder das Thema sind. Und das sind sie eigentlich dauernd!
Das Problem ist, dass ich ein Sandwichkind bin. Ich liege genau in der Mitte. Tankred ist das Nesthäkchen und noch dazu »besonders«, wie meine Mutter immer sagt. Und Lando ist wichtig, weil er bald Abi macht, Kapitän im Fußballverein ist und nach den Sommerferien an irgend so einer besonderen Sport-Uni in Amerika studieren will.
An mir ist nichts besonders. Dabei wäre ich, wenn man sich das Sandwich so betrachtet, doch eigentlich der Aufstrich, also der leckerste Teil. Aber bei unserem speziellen Geschwistersandwich sind die Brothälften anscheinend enorm dick. So dick, dass man den Aufstrich gar nicht mehr schmeckt. Oder vielleicht ist das Brot auch ganz normal, und ich bin einfach nur eine viel zu dünne Scheibe Käse oder ein viel zu kleines bisschen Erdnussbutter …
»Schatz, das tut mir leid«, sagte meine Mutter also gerade und sah meinen Vater flehend an.
»Wolf, könntest du vielleicht …?«
»Ich hab Vorlesung«, brummte Papa.
»Und ich muss für die Bioklausur lernen«, sagte Lando schnell. Etwas zu schnell, wie ich fand. Und wenn ich mich richtig erinnerte, hatte er Bio schon letzte Woche geschrieben.
Jetzt richteten sich alle Augen auf mich, denn in genau solchen Momenten wie diesem bin ich leider alles andere als unsichtbar. Plötzlich bin ich quasi eine besonders dicke Scheibe Edamer mit Gurken und zwei Schichten Majo obendrauf.
»Elfie?«, fragte Mama. Es folgte eine kurze Pause, in der alle am Tisch mich auffordernd ansahen und ich in meinem Hirn nervös nach einer eigenen Ausrede kramte. Zwar wusste ich noch nicht genau, worum es ging, aber es hatte mit Tankred und mit schwarzen Löchern zu tun. Das allein reichte an Information vollkommen aus.
»Kannst du Tankred heute ins Planetarium begleiten?«
Mama hypnotisierte mich mit diesem Blick, der einerseits sagte: Elfie, mein großes Mädchen. Was würde ich nur ohne dich tun?, und anderseits meinte: Elfie, du hast doch sowieso nichts Besseres vor. Jetzt geh mit deinem Bruder zu diesem verdammten Vortrag. Du weißt doch, wie schwer er es in seiner Klasse hat und wie unausgeglichen er immer wird, wenn …
Bla, bla, bla! Am liebsten hätte ich mir die Ohren zugehalten. Aber das hätten die anderen vermutlich sonderbar gefunden, schließlich hatte meine Mutter ja nicht wirklich etwas gesagt.
Leider ist ein weiteres Problem von mir, dass ich schlecht Nein sagen kann. Meine Tante Franzi hat das einmal für mich analysiert. Sie ist Psychologin und kennt sich mit solchen Dingen aus. Sie meinte, ich hätte Angst davor, nicht mehr geliebt zu werden, wenn ich etwas ablehne. Aber das glaube ich nicht. Aus meiner Sicht ist es nur dieser Augenblick, der mir Schwierigkeiten bereitet: der Moment, in dem ich Nein sage. Die Leute gucken dann immer so schrecklich enttäuscht. Das kann ich schlecht aushalten. Deswegen sage ich eben oft Ja, und das wird von meiner Familie schamlos ausgenutzt.
»Na gut«, stöhnte ich. Diesmal gab ich mich ziemlich schnell geschlagen, was vermutlich mit dem katastrophalen Tagesanfang zusammenhing.
»Um wie viel Uhr?«
»Der Vortrag beginnt um fünf«, sagte Tankred.
»Gut.« Ich nickte, was Mama mit einem dankbaren Händetätscheln belohnte.
Den Rest von meinem Müsli mümmelte ich schweigend, und um kurz nach halb acht stieg ich auf mein Rad.
Normalerweise holt mich meine beste Freundin Minh morgens immer ab. Aber die ist gerade mit ihren Eltern für ein Jahr in Paris. Ihr Vater ist Physiker. Er macht irgendwas mit Laser und Solarenergie oder so. In Paris muss er helfen, eine neue Firma aufzubauen. Für Minh ist das alles total aufregend. Für mich ist es einfach nur total unerfreulich, weil es bedeutet, dass ich nun bereits seit fast drei Monaten allein zur Schule radeln und allein den Schulalltag überstehen muss. Das ist meistens eine ziemliche Qual. Meine anderen Klassenkameraden sind nämlich leider komplett enthirnte Vollpfosten.
Die Einzige, die ich außer Minh noch gern mag, ist Pia. Nur redet Pia schon seit Wochen von nichts anderem mehr als unserem neuen Referendar, Herrn Holthusen. Sie ist in ihn verknallt, was ich ganz schön eklig finde. Herr Holthusen ist zwar jünger als die meisten unserer Lehrer, aber doch mindestens achtundzwanzig. Er trägt immer so schlabbrige Cordhosen, die ihm fast vom Po rutschen, und Karohemden aus Flanell.
An diesem Freitag hatten wir in der ersten Stunde eigentlich Englisch, aber Frau Losekrug-Müller war krank. Deswegen kam Herr Holthusen als Vertretung. Er versuchte uns zu erklären, wie man den Flächeninhalt von Dreiecken berechnet. Ich verstand ungefähr die Hälfte, und Pia bekam überhaupt nichts mit. Anstatt zuzuhören, schrieb sie die ganze Zeit Hendrik auf einen kleinen Zettel und malte rosa Herzchen dazu. Hendrik heißt Herr Holthusen mit Vornamen.
In der zweiten Stunde hatten wir Physik und nach der Pause dann endlich Deutsch. Darauf freue ich mich immer. Es ist das einzige Fach, in dem ich über fünfzig Prozent kapiere. Der Habicht, unsere Deutsch- und Klassenlehrerin, die eigentlich Frau Haberich heißt, verteilte allerdings als Erstes einen unangekündigten Grammatiktest. Auf den hatte ich auch keine besonders große Lust. Ich war gerade dabei, die erste Frage zu lesen, da fing Pia an zu flüstern:
»Elfiiie …«
»Was?«
»Ist des Bruders Akkusativ oder Dativ?«
Der Habicht räusperte sich laut.
»Genitiv«, flüsterte ich trotzdem zurück, weil ich Pia schließlich nicht hängen lassen konnte.
»Und Freund?«
»Meinem Freund ist Dativ.«
Kurze Stille.
»Elfie?«
»Was?«
»Ja, was haben wir denn da?«
Der letzte Satz kam leider nicht von Pia, und er war auch nicht geflüstert, sondern ziemlich streng dahergesagt. Der Habicht, der plötzlich direkt hinter uns stand, deutete mit spitzem Finger auf ein Stück Papier, das zwischen Pia und mir auf dem Linoleum lag. Wahrscheinlich dachte der Habicht, es wäre ein Spickzettel. War es aber nicht. Es war das Blatt, auf das Pia vorhin in der Mathestunde die ganzen Herzchen gemalt hatte.
Ich wusste, dass ich schnell handeln musste. Pia saß da wie ein schockstarres Albinokaninchen, und wenn ich jetzt nichts machte, würde der Habicht den Zettel aufheben, eins und eins zusammenzählen und Herrn Holthusen im Lehrerzimmer die ganze Geschichte brühwarm auftischen. Der Habicht ist nämlich alles andere als diskret. Das weiß ich, weil meine Mutter mal bei ihm angerufen hat, um mich von dem Schulausflug zum Bauernhof abzumelden. Am nächsten Tag wusste die gesamte Schule, dass ich eine Heidenangst vor Kühen habe und deswegen den Ausflug geschwänzt hatte. Sogar jetzt passiert es mir manchmal noch, dass mir wildfremde Schüler im Treppenhaus oder auf dem Schulhof zumuhen. Und da der Herzchenzettel direkt zwischen mir und Pia lag, war er nicht genau zuzuordnen. Am Ende würde der Habicht dem Holthusen noch stecken, dass ich in ihn verschossen sei.
Blitzschnell bückte ich mich nach dem Papier, knüllte es zusammen, und weil mir nichts anderes einfiel, steckte ich es in den Mund und schluckte. Der Habicht sah mich angewidert an. Dann faselte er etwas wie:
»Das hätte ich aber nicht von dir gedacht, Elfie!« Und schließlich meinte er, ich solle mich in der nächsten großen Pause bei Direktor Wieland melden.
Großartig!
Davor hatten wir noch Chemie bei Frau Lohmeier, und das war fast noch schlimmer als eine Sitzung beim Wieland. Die Chemiestunden laufen immer total chaotisch ab. Die Lohmeier ist furchtbar verhuscht, deswegen gehen ihre Versuchsaufbauten meistens in die Hose. Außerdem ist sie einfach zu nett und kann nicht für Ordnung sorgen.
Nachdem wir die Stunde überlebt hatten und alle Richtung Klassentür drängten, rief Frau Lohmeier mich zu sich nach vorn. Mitfühlend schaute sie mich durch ihre flaschenbodendicken Brillengläser an.
»Frau Haberich hat mir vorhin auf dem Flur von deiner Vorladung zu Herrn Wieland erzählt«, sagte sie, und ich dachte mir, dass der Habicht wirklich die größte Tratschtante der gesamten westlichen Hemisphäre war.
Frau Lohmeier holte eine kleine Papiertüte aus ihrer Tasche, drückte sie mir in die Hand und strahlte mich an.
»Nusskuchen«, sagte sie. »Hab ich gestern selbst gebacken.«
Zwar bezweifelte ich, dass der Kuchen mir bei der Standpauke von Direktor Wieland weiterhelfen würde, aber ich aß ihn ein wenig später in seinem Vorzimmer trotzdem auf. Es waren zwei Stückchen mit ganz viel Schokoladenglasur, und sie schmeckten richtig lecker. Die Lohmeier war schon in Ordnung, und die Standpauke beim Wieland fiel dann gar nicht so schlimm aus, wie ich gedacht hatte. Ich glaube, im Geheimen mag er den Habicht auch nicht besonders.
Nach zwei weiteren Stunden Werkunterricht war der Schultag endlich beendet.
Kaum war ich zu Hause, fing Tankred an, mich zu nerven, dass wir bald losmüssten. Tankred ist so jemand, der bei allem immer mindestens eine halbe Stunde zu früh da sein muss. Aber ich hatte keine Lust, noch mehr Zeit von meinem kostbaren Nachmittag zu opfern. So war es schon zehn vor fünf, als wir das Planetarium erreichten. Wir reihten uns in die Schlange vor der Eingangstür zum großen Saal ein. Direkt vor uns wartete eine Dame mit grauen Pudellocken. Sie trug rote Stöckelschuhe zu einem viel zu engen Leopardenmusterkostüm und lächelte Tankred an. Erwachsene finden meinen Bruder oft niedlich. Sie kennen ihn ja auch nicht.
»Kannste ma eben meenen Hund nehmen, Kleener?«, fragte die Pudellockendame. »Ick muss nochma inne Keramikabteilung.«
Erst jetzt bemerkte ich ihre riesige Umhängetasche. Eine schmale Dackelschnauze lugte daraus hervor.
Tankred wurde sofort kalkweiß im Gesicht. Er hat eigentlich vor allen Tieren Angst. Sogar vor Marienkäfern und Schmetterlingen. Kriemhild durften meine Eltern nur anschaffen, nachdem sie an Tankreds Tür so ein Ultraschall-Katzenvertreibergerät angebracht hatten.
»Ich mach das«, sagte ich schnell.
»Der is och janz lieb«, versicherte mir die Frau und eilte mit Trippelschritten in Richtung Damentoilette davon.
Tankred nieste.
»Ich hab eine Hundehaarallergie.«
»Hast du nicht. Mama und Papa haben das testen lassen.«
Tankred nieste noch einmal. Dann begann er geräuschvoll Luft durch die Nase zu ziehen.
»Atme einfach ganz normal weiter. Dann passiert nichts«, sagte ich, während wir uns samt Hundetasche auf den Eingang des Kuppelsaals zubewegten.
Als ein Mann mit Eichhörnchengesicht an der Saaltür unsere Eintrittskarten verlangte, war die Frau immer noch nicht zurückgekehrt. Ich befürchtete schon, sie hätte sich vielleicht aus dem Staub gemacht und uns den Hund aufgehalst, da tauchte sie endlich hinter uns auf. Sie bedankte sich, zeigte ihre Eintrittskarte vor und drückte sich an uns vorbei in den Saal hinein. Unsere Plätze lagen ziemlich weit vorn. Wir schoben also an den Sitzreihen entlang und waren fast angekommen, als die Frau im Leopardenmusterkostüm, die immer noch vor uns herstöckelte, plötzlich zu schwanken begann wie ein Fahnenmast bei Windstärke zwölf. Sie stieß einen spitzen Schrei aus. Offenbar hatte sie sich mit einem ihrer Schuhabsätze irgendwo verfangen und drohte jetzt, über die gläserne Absperrung des Projektors zu kippen. Der Dackel in ihrer Tasche fiepte. Er warf seine kleine Hundeschnauze vor Aufregung von einer Seite auf die andere.
Schnell tat ich zwei Schritte nach vorn und wollte der Dame hilfreich meine Arme entgegenstrecken, da wurde ich mit einem Mal heftig gestoßen. Bestimmt hatte irgend so ein Depp hinter mir denselben Einfall gehabt wie ich, nur mich dabei leider übersehen. Wieso auch nicht? War ja nichts Neues. Ich fiel zu Boden, und dann traf mich der Blitz.
Ich weiß, das klingt merkwürdig. Wer wird schon mitten in einem Planetarium vom Blitz getroffen? Aber anders kann ich es nicht beschreiben. Es war, als würden zehntausend Volt durch meinen Körper jagen. Ein kaltes, grelles Licht flutete meinen Brustkorb, meine Arme und Beine fühlten sich ganz steif an, und vor meinen Augen wurde es schwarz.
An was ich mich als Nächstes erinnere, ist das Gesicht einer Frau. Sie hatte hellblondes Haar. Es schimmerte fast weißlich … wie Kirschblüten. Aber mein Gehirn konnte nur einen verwackelten Schnappschuss von ihr aufnehmen. Nach dem Drücken des Auslöseknopfs machte der Akku sofort wieder schlapp, und es wurde erneut dunkel um mich.
Und dann … dann waren da plötzlich diese kastanienbraunen Augen. Ungelogen die schönsten Augen, die ich je gesehen hatte. Mandelförmig und umrahmt von dichten Wimpern.
»Alles okay?«
Ich versuchte mich aufzurichten, und der Besitzer der Augen streckte mir hilfsbereit eine Hand entgegen. Vorsichtig lehnte er mich mit dem Rücken gegen den Sitz eines Planetariumssessels. Erst da bemerkte ich die vielen Beine, die um mich herum aufragten. Die Leute schauten besorgt auf mich herab. Unter ihnen befand sich auch die Leopardenmuster-Frau. Offensichtlich war ihr also nichts geschehen. Dafür hockte neben mir auf dem Boden Tankred und sah aus, als würde er gleich anfangen zu heulen.
Mir fiel ein, dass der Kastanienjunge mich etwas gefragt hatte: »Äh, ja, ja … alles in Ordnung …«, stammelte ich, obwohl eigentlich nichts in Ordnung war. Mein Kopf fühlte sich an wie ein Bergwerk, in dem gerade ordentlich gehämmert wurde. Ich musste noch mehrfach versichern, dass es mir gut ging, bevor die Leute endlich ihre Plätze aufsuchten. Nur der Junge blieb.
»Kannst du aufstehen?«, fragte er.
Ich nickte und legte gerade eine Hand auf Tankreds Schulter, um mich in die Senkrechte zu drücken, da spürte ich, wie der Junge meine Hüfte umfasste. Bevor ich protestieren konnte, hob er mich bereits in die Höhe und stellte mich auf die Füße. Mir wurde wieder schwindelig, also hielt ich mich schnell an seinem Arm fest. Als ich den Jungen dann ansah, blieben meine Augen irgendwie an seinem Mund kleben. Fast so, als wäre der ein Magnet oder so. Er hatte die Farbe von Mohnblumen, und die Oberlippe war herzförmig geschwungen.
»Alles okay?«, fragte der Junge erneut, allerdings klang es diesmal weniger besorgt. Einer seiner Mundwinkel bog sich spöttisch nach oben.
»Ja, ja … mir geht’s gut. Danke«, presste ich hervor. Ich ergriff Tankreds Hand und wankte mit ihm im Schlepptau zu unseren Plätzen.
Was war eigentlich mit mir los? Die meisten Jungs, besonders die aus meiner Klasse, weckten in mir ähnliche Gefühle wie die Aussicht auf eine Doppelstunde Physik. Da dachte ich bestimmt nicht über braune Augen oder mohnblumenfarbene Lippen nach.
Kurz nachdem wir uns gesetzt hatten, erlosch bereits die Saalbeleuchtung. Ein Scheinwerfer sprang an, und David Southwick betrat das Podium.
Von seinem Vortrag bekam ich so gut wie gar nichts mit. Erstens war das Bergwerk in meinem Kopf noch immer viel zu laut, und zweitens musste ich mich krampfhaft bemühen, nicht die ganze Zeit nach dem Jungen zu schielen. Außerdem gingen mir der Blitz und dieses kalte Glühen in meinem Brustkorb nicht aus dem Kopf. Vielleicht war nur mein Kreislauf plötzlich abgesackt. Mama hatte mir mal erzählt, dass sie in der Pubertät öfter in Ohnmacht gefallen ist. Und mit dreizehn war ich ja wohl auf jeden Fall in der Pubertät!
Als Southwick zu Ende gesprochen hatte, brandete Applaus auf. Anschließend entstand das übliche Aufbruchsgewusel.
So unauffällig wie möglich schaute ich mich jetzt doch nach dem Jungen um, aber weil so ein Gedränge war, konnte ich ihn nirgends entdecken.
Tankred bestand darauf, noch ein Selfie mit David Southwick zu machen. So war die Eingangshalle bereits leer gefegt, als wir aus dem Kuppelsaal traten. Auch auf dem Vorplatz war der Junge nicht zu sehen. Enttäuscht fuhr ich mit Tankred nach Hause.
Am Abend erzählte ich meiner Mutter von den Ereignissen im Planetarium. (Natürlich nur von dem Blitzschlag, nicht von dem Kastanienjungen!) Sie hörte aufmerksam zu und meinte, dass es gewiss nur eine kleine Kreislaufschwäche gewesen sei. Trotzdem wollte sie mir in den nächsten Tagen Blut abnehmen und es mit ins Krankenhaus nehmen.
Meine Mutter ist Oberschwester in der Charité, dem ältesten Krankenhaus von Berlin. Manchmal ist ihr Beruf blöd, weil sie viel arbeiten muss und immer wechselnde Schichten hat. Aber sie kennt sich gut mit Krankheiten aus und kann Tankred prima beruhigen, wenn er mal wieder Visite geschaut hat und sicher ist, in den nächsten Stunden an einer unheilbaren Krankheit sterben zu müssen.
Als ich später meine Nachttischlampe ausschaltete, war ich heilfroh, diesen Tag endlich hinter mich gebracht zu haben.
Da wusste ich ja auch noch nicht, was in naher Zukunft so alles auf mich zurollen würde. Ein tonnenschwerer Schaufelbagger war gar nichts dagegen!
Aber in dieser Nacht schlief ich ruhig und friedlich.
Ich träumte von Mohnblumen.
Und von kastanienbraunen Augen.
Liebes Tagebuch,
das ist ja echt mal richtig bescheuert gelaufen!!!
Mama und Papa sind total sauer auf mich. Dabei hab ich gar nichts gemacht. Nur meinen Job erledigt!!!
Gut ist allerdings, dass ich jetzt den Nachmittagsunterricht schwänzen darf. Ich soll diese Elfie beschatten. Sie wissen nämlich noch gar nicht genau, was der Zauber bewirkt hat, und jetzt soll ich Babysitterin spielen. Dabei würde ich mich morgen viel lieber noch mal mit Jonas treffen. Der ist soooo süss!!!
Vielleicht gehe ich einfach mal bei seinem Proberaum vorbei. Nach Elfie kann ich ja später noch sehen. So schnell wird sich da eh nichts zeigen.
Wie war der Name von Jonas’ Band noch mal? Irgendwas mit Schrott oder so …
Na ja, egal. Der Typ ist echt supercool!
Mal sehen, ob ich morgen Abend schreiben kann, dass er mich geküsst hat. Oder ich ihn. Das wär mega!!!